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Ein letzter TanzEin letzter Tanz

Ein letzter Tanz Ein letzter Tanz - eBook-Ausgabe

Judith Lennox
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Roman

— Ein bittersüßer historischer Roman für Romantiker

„Buch für Romantiker“ - Frau von Heute

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Ein letzter Tanz — Inhalt

Eine opulente Familiensaga, die mehr als ein halbes Jahrhundert umspannt
Anlässlich ihres 75. Geburtstags lädt Esme ihre Kinder und Enkel in das leer stehende Herrenhaus Rosindell an der Küste von Devon ein. Alles hier erinnert sie an glamouröse Zeiten mit rauschenden Sommerfesten, an den Beginn der einen großen Liebe ihres Lebens – aber auch an jene unheilvolle Affäre, die hier einst begann und in eine Tragödie mündete, die noch zwei Generationen später nachklingt. Erst jetzt hat Esme den Mut, das Geheimnis ihrer Familie aufzuklären und dem Fluch ein Ende zu setzen.

„Für Fans von ›Downton Abbey‹“ Woman 

Bewegende Frauenschicksale, viel Atmosphäre und Zeitkolorit: Ihre Romane „Das Winterhaus“ und „Die Mädchen mit den dunklen Augen“ machten Judith Lennox berühmt. Seitdem verzaubert sie ihre LeserInnen mit jedem neuen Roman und ist regelmäßig in den Spiegel-Bestsellerlisten zu finden.

€ 14,00 [D], € 14,40 [A]
Erschienen am 01.02.2016
Übersetzt von: Mechtild Ciletti
592 Seiten, Broschur
EAN 978-3-492-30767-3
Download Cover
€ 4,99 [D], € 4,99 [A]
Erschienen am 13.10.2014
Übersetzt von: Mechtild Ciletti
592 Seiten
EAN 978-3-492-96763-1
Download Cover

Leseprobe zu „Ein letzter Tanz“

Esme



18. September 1974



Und in der Ferne das Geräusch des Meeres.
Mit geschlossenen Augen lauscht sie dem Auf und Ab der Wellen. Sie sieht die wogende Brandung vor sich, die am Strand einen Schaumstreifen hinterlässt, wenn sich das smaragdgrüne Wasser, in dem hundert glänzende rosa und gelbe Kiesel schwimmen, wieder zurückzieht. Sie sieht die schwankenden schwarzgrünen Wipfel der Kiefern auf den Felsen und den windbewegten Ginster.
Esme öffnet die Augen. Sie ist in ihrem Schlafzimmer in Little Coxwell, hundertzwanzig Kilometer von der Küste entfernt. [...]

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Esme



18. September 1974



Und in der Ferne das Geräusch des Meeres.
Mit geschlossenen Augen lauscht sie dem Auf und Ab der Wellen. Sie sieht die wogende Brandung vor sich, die am Strand einen Schaumstreifen hinterlässt, wenn sich das smaragdgrüne Wasser, in dem hundert glänzende rosa und gelbe Kiesel schwimmen, wieder zurückzieht. Sie sieht die schwankenden schwarzgrünen Wipfel der Kiefern auf den Felsen und den windbewegten Ginster.
Esme öffnet die Augen. Sie ist in ihrem Schlafzimmer in Little Coxwell, hundertzwanzig Kilometer von der Küste entfernt. Draußen regt sich kein Lüftchen, und doch kann sie noch immer das Meer hören. Wird sie vielleicht langsam verrückt, dement – oder kann es sein, dass sie tatsächlich im Sterben liegt, ihr müdes Herz jetzt einfach aufgibt und sie schon auf dem Weg ins Paradies ist?
Heute nicht, denkt sie. Heute habe ich zu tun.
Der Schlag der Wellen wird jetzt schwächer, und sie erinnert sich, dass sie vom Meer geträumt hat. In dem Traum ist sie mit ihrer Schwester Camilla den Strand entlanggerannt. Sie spürt immer noch den harten, festen Sand unter ihren bloßen Füßen, das Reiben der Körnchen zwischen ihren Zehen und, an der Fußsohle, den Schmerz vom Tritt auf eine scharfkantige Muschel. Sie läuft, so schnell sie kann, mit keuchenden Atemstößen, um Camilla einzuholen, deren flachsblonde Zöpfe wie Banner hinter ihr herfliegen und die immer kleiner zu werden scheint. Als Esme endlich das andere Ende der Bucht erreicht, ist ihre Schwester schon die schroffen Felsen hinaufgeklettert. Sie steht oben auf dem Vorsprung, der ins Wasser hineinragt, und lacht, während die weiße Gischt der Wellen sie durchnässt, lacht über die dumme kleine Esme, die vor Höhen und dem Meer Angst hat.
Das alles ist Erinnerung. Sie sieht Tom noch durch die weiß gesäumten Wellen laufen, sieht sich, wie sie ihren kleinen ­Eimer umkippt und einen makellosen Sandkegel auf den Strand setzt. Sieht die Kinderfrau das Picknick auspacken; den Chauffeur dösend im Daimler, der im Schatten der Bäume steht.
Sie muss fünf oder sechs Jahre alt gewesen sein. Ein paar Jahre später hätten ihre Mutter oder die Kinderfrau geschimpft, sie benähmen sich wie ungezogene Rangen. Rangen, denkt sie, in ihrem Bett ausgestreckt, ganz wach jetzt, während ihr Blick zu dem grauen Streifen Licht zwischen den Vorhängen wandert. Sie hat das Wort seit Jahren nicht mehr gehört. Gibt es heute überhaupt noch Rangen? Die Zeiten ändern sich, geht ihr durch den Kopf. Sie erinnert sich an die Sommerkleider, die sie und Camilla trugen. Schichten von Hemdchen, Unterhöschen, Unterrock, rüschenbesetztem Voilekleidchen und Trägerschürze hatten damals als passend für einen Tag am Strand gegolten. Sie denkt an Corals Jeans und ärmellose T-Shirts. Ja, die Zeiten ändern sich, und manchmal zum Besseren.
Das Rauschen des Meeres wird leiser und verstummt. Sie schaut auf die Uhr und seufzt. Zwanzig nach fünf: so lange noch, bis Zoe kommt. Eine Mischung aus Ungeduld und Angst quält sie, ähnlich wie vor dem Start eines Flugzeugs, wenn man den Moment endlich hinter sich haben möchte. Oder wie vor einem Tanzabend. Sie ist immer die weniger auffallende, weniger beachtete Tochter gewesen, das Mädchen, das im Ballsaal unsicher und gehemmt im Hintergrund stand und sich fragte, was die Leute von ihr dachten. Das ist einer der großen Vorteile des Alters, denkt sie, dass ihr das längst egal ist.
Diese Beklemmung, dieser Druck im Magen, wenn sie an das Sommerfest heute Abend denkt, sind nichts als Angst vor dem Versagen, das weiß sie. Sie hat alles sorgfältig geplant, aber es kann immer etwas schiefgehen, sie kann etwas falsch eingeschätzt oder vergessen haben, es kann sein, dass ihre störrische, zerrissene Familie nicht mitmacht. Oder einfach nicht erscheint. Das ist vielleicht mein letzter Geburtstag, in meinem Alter weiß man nie. Sie hat ein bisschen auf die Tränendrüse gedrückt, mehr als einmal in den vergangenen Wochen die hinfällige alte Dame gespielt.
Der Tag kann ihr trotzdem entgleiten, in die Vergangenheit entschwinden wie die davonrennende Camilla. Sie hat Angst, dass sie zögern, dass ihr die Courage fehlen wird, der Vergangenheit ins Auge zu sehen, und dass sie wieder unten im Sand stehen wird, während Camilla von oben triumphierend auf sie herabschaut und sie ein letztes Mal auslacht. Sie hat Angst, dass ihr Herz, von dem ihr Arzt, der jung und taktlos ist, sagt, dass es langsam „schlappmacht“, nicht durchhält und sie die Wahrheit nie erfahren wird.
Sie merkt, wie ihre Ängste über ihr zusammenzuschlagen drohen wie Meereswellen, und versucht mit geschlossenen Augen tief durchzuatmen. Seit einiger Zeit geht sie einmal in der Woche zu einem Yogakurs im Gemeindehaus des Dorfes – sie mit einer Handvoll junger Mütter, die die Schwangerschaftspfunde loswerden wollen –, und nun sagt sie sich im Kopf die Anweisungen der springlebendigen jungen Lehrerin vor: einen Muskel nach dem anderen entspannen; aus dem Zwerchfell atmen, nicht aus der Brust; den Kopf leer machen.
Ihre Gedanken wandern, und sie ist wieder in Rosindell. Sie geht durch den Garten, weg von den Gästen auf der Loggia und der Terrasse. Die Musik, irgendein ­altes Lied, klingt ferner und ferner, während sie dem Bachlauf zu den Bäumen folgt. Ein kalter weißer Mond verwandelt das Gras in Eisenspäne, und die tiefroten Kerzen der Rhododendren scheinen zu glühen. Die Lichter vom Haus verschwinden, wie in ­einem Traum geht sie unter den Steineichen hindurch, und die nassen Farnblätter streifen ihre Füße. Sie hört das Meer, sie riecht die würzig-salzige Luft. Sie steht oben auf den Klippen, und schwindelerregend tief unter ihr krachen die Wellen an den Fels.
Sie muss eingeschlafen sein. Das Läuten des Telefons schreckt sie auf. Ihr Herz – ihr schlappes Herz, denkt Esme verdrossen – schlägt wie wild, als sie ihren Morgenrock überzieht und nach unten läuft. Zoe drängt sie immer wieder, im Schlafzimmer einen zweiten Apparat aufstellen zu lassen, doch davon will Esme nichts wissen: Was das kosten würde. Außerdem gehört sie einer Generation an, der das Telefon Respekt und eine gewisse Furcht einflößt. Man benutzt es sparsam oder in Notfällen.
Sie hat Mühe beim Atmen, als sie den Fuß der Treppe erreicht, und ihre rechte Hüfte tut weh. Sie greift nach dem Hörer und nennt ihren Namen.
„Mama, ich bin’s nur, keine Sorge.“ Zoes Stimme. „Alles Gute zum Geburtstag.“
„Danke, Schatz.“
„Entschuldige, dass ich so früh anrufe, aber ich habe heute einen Haufen zu erledigen. Übrigens, Philippe kommt auch.“
„Philippe?“
„Du weißt doch, Corals Vater.“ Der gönnerhafte Ton, mit dem die Jungen das unzuverlässige Gedächtnis der Alten anstoßen. „Er hat gestern Abend angerufen und gefragt, ob er mitkommen kann. Es soll eine Überraschung werden, wir dürfen also Melissa und Coral nichts verraten.“ Zoe wirkt zerstreut. Esme stellt sich ihre Tochter vor, wie sie, den Telefonhörer zwischen Ohr und Schulter geklemmt, beim Reden Zahlenreihen prüft.
„Natürlich, Schatz.“ Müde und immer noch beklommen, denkt sie doch daran zu sagen: „Lieb von dir, dass du das tust, Zoe.“
„Kein Problem. Also dann um drei, Mama.“
Als Esme sich eben verabschieden will, sagt Zoe plötzlich: „Ich bin immer noch überrascht – überrascht, dass du es in Rosindell machen willst.“
„Tatsächlich?“, erwidert Esme nur. „Na ja, ich gehe jetzt besser meine Sachen zurechtlegen.“
„Du hast noch nicht gepackt?“
Esme weiß, dass Zoe ihre Garderobe für das Wochenende schon Tage im Voraus geplant haben wird. Sie wird ihren Koffer am Freitag nach der Arbeit gepackt und das Kleid für die Party in Seidenpapier gehüllt haben, damit es nicht zerknittert.
„Ach, das geht ganz schnell“, sagt sie beschwichtigend. „Ich stehe pünktlich mit meinem Koffer in der Hand vor der Tür, ich verspreche es.“
Sie beendet das Gespräch. Es ist Viertel nach sieben Uhr morgens, und der Garten ist früh am Tag immer am schönsten. Sie zieht ihren Trenchcoat über Nachthemd und Morgenrock, steigt in ein Paar Gummistiefel und geht hinaus.
Die Tautropfen im Gras blitzen wie Diamanten. Es ist nur ein kleiner Flecken Gras – sie mag Rasen nicht, dieses dauernde Mähen und Düngen –, doch sie hat Schlüsselblumen und Kaiserkronen angepflanzt, und im Frühjahr erinnert sie das kleine grüne Viereck an die blumenprächtigen Wiesen ­ihrer Kindheit in Devon. Esmes Haus steht in der Mitte ­eines Gartens von vielleicht einem Viertel Morgen. Das Cottage mit den kleinen Fenstern und den niedrigen Decken ist altmodisch und wenig komfortabel, sie hat es wegen des Gartens gekauft. Er ist ihr kleines Paradies, von Mauern umgeben, die sie vom Dorf abschließen. Natürlich war es Rosindell, das sie diese Gewohnheit des Alleinseins gelehrt hat.
Schmale Kieswege teilen die Beete, Bienen summen über den Fetthennen, die jetzt blühen. Sie mag den September, ihren Geburtsmonat: Er kann noch Fülle bieten und hat doch nicht die trockene, drückende Hitze des Augusts, die in ­einem kühlen, regnerischen Land immer unnatürlich erscheint.
Esmes Hühner, hübsche, kecke Buff Orpingtons, scharren im Gebüsch. Im Apfelbaum sitzt eine Drossel und singt. Sie weiß, warum sie von Camilla geträumt hat, doch der Traum hat sie auch an etwas erinnert, woran sie seit Jahren nicht gedacht hat: die Eifersucht auf ihre ältere Schwester, die sie als Kind so bitter gequält und ihr inneres Gleichgewicht erschüttert hat. Seltsam, denkt sie, wie die alten Unsicherheiten bleiben, selbst nach so langer Zeit ihre Macht behalten. Glück und Unglück der Kindheit sind so leicht abgetan, doch die Folgen haben sie ihr Leben lang begleitet. Sie weiß jetzt, dass es allzu leicht ist, von Bevorzugung oder Benachteiligung zu sprechen. Auch sie hat Schuld auf sich geladen. Verlustgefühle und Sehnsucht werden sie immer plagen. Eifersucht und Sehnsucht, denkt sie, das sind die Gefühle, die mein Leben am meisten beeinflusst haben.
Sie geht ins Haus zurück. Oben holt sie ein einfaches schwarzes Kleid aus dem Schrank, ein Paar flache schwarze Schuhe und ihre Perlen. Sie nimmt ein kleines Bündel Papiere – das Beweismaterial, wie sie es für sich nennt – von der Kommode, setzt sich aufs Bett und blättert es durch. Die Foto­gra­fien aus Country Life und eine weit ältere Aufnahme von den Hausangestellten Rosindells, in Reih und Glied vor der Haustür aufgestellt. Ein Bild, das sie aus einem Biblio­theks­buch herausgerissen hat, von einer Strandparty in Cannes. Esme kann den Leuten darauf ansehen, dass sie sich als verruchtes, fortschrittliches Völkchen betrachten, dabei wirken ihre altmodischen Badeanzüge jetzt lächerlich und die Frisuren wie gedrechselt und wenig schmeichelhaft.
Alte Geheimnisse, hässliche alte Intrigen. Doch sie ist jetzt ruhig. Sie denkt, heute werde ich die Wahrheit erfahren. Aber wo liegt der Anfang der Wahrheit? Man muss einen weiten, weiten Weg zurückgehen. Zum Krieg, zum ersten Krieg, der ihre Generation wie ein Erdbeben erschüttert und Blut und Zerstörung über sie gebracht hat. Niemand, der ihn nicht selbst erlebt hat, kann die Urgewalt dieses Krieges verstehen, der keinen Stein auf dem anderen ließ. Ihrer aller Leben war danach verdunkelt. Vielleicht zehrt diese Dunkelheit heute noch an ihr. Vielleicht zehrte sie an Camilla, die während des Krieges als Krankenschwester arbeitete. Jetzt fragt sie sich, ob das der Grund dafür ist, dass Camilla tun konnte, was sie tat, weil sie so viel Tod und Verrat gesehen hatte, dass sie ihr nicht mehr wichtig schienen.
Wenn man der Wahrheit auf den Grund kommen will, denkt sie, muss man ins Jahr 1917 zurückkehren, zu Devlin Reddaway, der damals auf Urlaub von der Westfront war.





Teil 1
Das Erbe
1917 – 1932



1

London, Januar 1917



Ein Hausmädchen führte Devlin Reddaway in den Salon des herrschaftlichen Hauses am Belgrave Square. Ein halbes Dutzend Leute saß in den Sesseln und Sofas. Er sah Camilla Langdon sofort. Sie trug ein hellgrünes Kleid, weiße Strümpfe und weiße Schuhe mit niedrigem Absatz. Ihr helles, silbrig blondes Haar war im Nacken hochgesteckt.
Sie stand lächelnd auf und reichte ihm die Hand. „Devlin, wie schön, dich zu sehen. Wie geht es dir?“
„Sehr gut, danke. Und dir?“
„Danke, ich erfreue mich bester Gesundheit. Lady Clare, das ist Hauptmann Reddaway, ein Freund von zu Hause.“
Lady Clare thronte auf dem Sofa in der Mitte. Scharfe graue Augen musterten Devlin, während man Begrüßungen murmelte.
Es sei lange her, meinte Lady Clare sinnend, dass sie als junges Mädchen Rosindell zuletzt gesehen habe. Sei das Haus nicht einmal berühmt gewesen für sein großes Sommerfest? Traurig, wenn alte Traditionen verschwänden. Doch man müsse schließlich mit der Zeit gehen.
Camilla stellte Devlin der Frau vor, die neben Lady Clare saß, Mrs. Sheridan, eine hübsche Person mit rundem Gesicht und glatten, rosigen Wangen. Das Mädchen im blauen Kleid, das neben Camilla auf dem Sofa saß, war Edna Clare, Lady Clares Tochter. Neben Devlin waren noch zwei andere Armeeoffiziere da, einer trug den Arm in der Schlinge, der andere, mit lockigem Haar und Sommersprossen, war fast noch ein Junge.
Der Tee wurde serviert, Gebäck herumgereicht. Anfangs bestimmte Lady Clare das Gespräch; als sie nach einer Weile den Salon verließ, rückte Mrs. Sheridan in den Mittelpunkt. Die Unterhaltung drehte sich um Oberflächliches, das kalte Wetter, die vergangenen Weihnachtsfeiertage und einen Film, den Mrs. Sheridan gesehen hatte. Devlins Blick glitt immer wieder zu Camilla. Er glaubte, in ihren Augen eine Herausforderung zu erkennen, eine sorglose Unbekümmertheit in ihrem Lächeln. Ihr kräftiges, jungenhaftes Lachen verblüffte ihn.
Camillas Nachfragen bei dem jungen Offizier mit den Locken riefen Erröten und Gestammel hervor.
„Ich – äh – f-fahre morgen nach Hause, Miss Langdon. Z-zu meinen Eltern in S-Suffolk.“
Camilla wandte sich Devlin zu. „Fährst du in diesem Urlaub heim?“
„Ich sollte eigentlich. Ich war mehr als ein Jahr nicht mehr dort. Wenn mein Vater und ich es nur zwei Tage miteinander aushalten müssen, zerstreiten wir uns vielleicht nicht.“
Edna Clare mischte sich ins Gespräch. Sie hatte eine leise, angenehme Stimme. „Ach, in Zeiten wie diesen wird so ein Familiengezänk doch unwichtig.“
Die letzte Auseinandersetzung mit seinem Vater war so bitter gewesen, dass Devlin das bezweifelte, doch er sagte: „Ja, da haben Sie wahrscheinlich recht, Miss Clare.“
„Edna, Liebes, du bist ein versöhnlicherer Mensch als ich.“ Camilla lächelte ihre Freundin an. „Streit bleibt Streit, wenn du mich fragst. Daran kann weder die Zeit noch ein Krieg noch irgendetwas sonst etwas ändern.“
„Das meinst du doch gar nicht ernst“, entgegnete Edna.
„Doch. Aber lassen wir das. Mit dir will ich wirklich nicht streiten.“ Sie richtete das Wort wieder an Devlin. „Wie geht es deinem Vater?“
Walter Reddaway war schon seit einigen Jahren bei schlechter Gesundheit. „Soviel ich weiß, hat sich sein Zustand nicht verschlechtert“, antwortete Devlin. „Und wie geht es deinen Eltern? Und Tom? Und …“ Er wusste, dass sie eine Schwester hatte, doch ihr Name fiel ihm nicht ein, sosehr er sein Gedächtnis anstrengte. Er musste müde sein, sagte er sich, denn im Moment konnte er sich an nichts weiter erinnern als ein großes, dünnes Mädchen mit einer Fülle von schwerem bernsteinbraunem Haar.
„Esme? Ich glaube, es geht ihr gut. Tom ist in Portsmouth stationiert, darf aber nicht aufs Wasser. Sehr zu seinem Ärger.“ Camilla sah ihn stirnrunzelnd an. „Ich hatte schon gefürchtet, du würdest nicht kommen. Ich bin so eine hoffnungslose Briefschreiberin. Ich dachte, du seist mir vielleicht böse.“
Um fünf Uhr begann die Gesellschaft sich aufzulösen. Bevor Devlin ging, sprach er noch einmal mit Camilla.
„Kann ich dich wiedersehen?“
„Heute Abend habe ich etwas vor. Morgen, wenn du möchtest.“
„Morgen besuche ich einen Freund in Derbyshire.“
„Bist du bis zum Abend zurück?“
Er bejahte. Camilla wandte sich an Mrs. Sheridan. „Hauptmann Reddaway kann uns doch morgen Abend Gesellschaft leisten, Sally?“
„Ja, das wäre ganz reizend.“ Mrs. Sheridan schenkte ihm ein Lächeln. „Je mehr, desto fröhlicher.“
Devlin Reddaway war vor zwei Tagen von der nordfranzösischen Kriegsfront aufgebrochen und erst an diesem Morgen in London eingetroffen. Ein Bummelzug, der immer wieder auf offener Strecke hielt, hatte ihn von den Schlachtfeldern durch graues und braunes Land nach Le Havre gebracht. Von dort hatte er über Nacht nach Southampton übergesetzt und war dann mit der Eisenbahn, wieder im Schneckentempo, aber jetzt durch englische Felder und Wälder, nach London weitergereist. Nach der Ankunft fuhr er mit der Untergrundbahn bis Victoria und ging dann die letzte Etappe zum Marble Arch zu Fuß, weil er das Gefühl hatte, dringend frische Luft zu brauchen. Die Wohnung dort, die ihm ein Offizierskollege zur Verfügung gestellt hatte, erschien ihm allzu maskulin mit ihren Ledersesseln und indischen Teppichen. Während er seinen Seesack auspackte, kamen ihm die vier fremden Zimmer kühl und abweisend vor. Einzig der Brief von Camilla, den der Portier ihm im Foyer übergeben hatte, eine Einladung zum Tee am Belgrave Square am selben Nachmittag, hatte seine Stimmung ein wenig aufgehellt.
Camilla Langdons Familie lebte in Dartmouth, in Süddevon. Charles Langdon, Camillas Vater, war Eigner einer Bootswerft am Dart, dem Fluss, an dem das Städtchen gelegen war. Ihre Mutter, Annette Langdon, war eine hübsche rundliche Blondine mit gesellschaftlichen Ambitionen. Um von Dartmouth in das Dorf Kingswear zu gelangen, musste man die Fähre über die Dartmündung nehmen. Knapp fünf Kilometer von Kingswear entfernt stand einsam auf einer stürmischen Landspitze Rosindell, Devlins Elternhaus.
Die Geschichte Rosindells war in Holz und Stein gehauen. Die ersten Bauten auf dem Gelände, ein Hospitium und eine Kapelle, waren im vierzehnten Jahrhundert errichtet worden. Später waren ein Rittersaal und mehrere landwirtschaftliche Gebäude hinzugekommen. In der Tudorzeit hatte
man das Haus nochmals vergrößert, doch als sich König Heinrich VIII. von der römischen Kirche lossagte und die Familie allen Repressalien zum Trotz am alten Glauben festhielt, erlebte Rosindell eine Periode des Niedergangs, die sich fortsetzte, als sich die Familie auch im späteren englischen Bürgerkrieg auf die falsche Seite schlug. Rund um das Haus grasten Rinder, Dornengestrüpp breitete sich aus, und Efeu ergriff mit langen Ranken von den Mauern Besitz. Rosindell war dem völligen Verfall nahe gewesen, als George Reddaway im neunzehnten Jahrhundert das Haus restaurierte und auf das Doppelte seiner ursprünglichen Größe erweiterte. Fortan lebten und starben die Reddaways hier in Wohlstand. Nun jedoch erlebte Rosindell eine zweite Periode des Niedergangs.
Walter Reddaway, Devlins Vater, und Charles Langdon, der Vater Camillas, hatten nur milde Verachtung füreinander übrig. Die Langdons protzten in Dartmouth mit einem großen neuen Haus; Rosindell stand seit Jahrhunderten in demselben abgeschiedenen Tal inmitten fruchtbarer Felder. Doch Devlin und Tom, Camillas Bruder, die dasselbe Internat besuchten, hatten sich gut verstanden. Tom, wenig strebsam, dafür umso geselliger, hatte damals bei Bootsausflügen oder wenn sie loszogen, um Vogeleier aus den Nestern zu holen, stets für gute Stimmung gesorgt. Devlin, ein verschlossener und grüblerischer Junge, hatte dessen Schwester Camilla bewundert.
Kurz nach dem Ausbruch des Krieges 1914 hatte er sich zur Front gemeldet und war im Sommer 1915 nach Frankreich geschickt worden. Schon im September wurde er in der Schlacht bei Loos verwundet. Nach seiner Entlassung aus dem Lazarett kehrte er nach Rosindell zurück. Dort stritt er mit seinem Vater und tat, was er konnte, um Haus und Besitz irgendwie instand zu halten. An einem Nachmittag in Dartmouth begegnete er am Hafen Camilla. Als plötzlich ein heftiger Regenguss niederging, hob sie das Gesicht zum Himmel und lachte. In diesem Moment wurde Neigung zu Besessenheit und Bewunderung zu Begehren. Ihre blonde Hübschheit, selbst die Vollkommenheit ihrer Züge hätten bei einer anderen Frau vielleicht fade gewirkt, doch Camillas Schönheit war wie eine blasse Flamme, strahlend und ruhelos. Ihr fein geschwungener kleiner Mund und die Augen, tiefblau wie Ehrenpreisblüten, wurden von rasch wechselnden Emotionen belebt: Erheiterung, Zorn, Erregung.
Als sie sich in ihrem regennassen Mantel zum Gehen wandte, sagte er: „Schreibst du mir, Camilla?“
„Ja, wenn du willst“, antwortete sie und fügte gleich hinzu: „Aber sei mir nicht böse, wenn ich es vergesse.“
Im Jahr danach hatte er in Frankreich vier Briefe von Camilla erhalten. Der letzte war in London abgestempelt gewesen. Camilla schrieb ihm, dass sie nach London übergesiedelt war, um als Krankenschwester in einem Lazarett zu arbeiten. Es war im Ballsaal eines Herrschaftshauses am Belgrave Square eingerichtet worden, das der Mutter ihrer Schulfreundin Edna Clare gehörte. Ich habe Monate gebraucht, um meine Mutter zu überreden, mich nach London gehen zu lassen. Zum Glück ist Ednas Mutter Lady Clare und Mama so ein Snob.
Als Devlin Lady Clares Haus verließ, erschienen ihm die Straßen Londons in der Verdunkelung düster und unheimlich. Wäre nicht der grelle schmale Strahl eines Suchscheinwerfers gewesen, der über den kohlschwarzen Himmel tanzte, hätte er sich in die finsteren Nächte seiner Kindheit auf dem Land zurückversetzt geglaubt. Die Pubs hatten inzwischen geöffnet, und Devlin trank ein Glas wässriges Bier, bevor er sich ein ruhiges Restaurant suchte, um zu Abend zu essen. Eine bleierne Schläfrigkeit überfiel ihn, als er seinen Kaffee trank, und er beschloss, gleich nach Hause zu gehen.
Sobald er sich aufs Bett gelegt hatte, glitt er in einen Traum, in dem er von den Küstenfelsen in Rosindell in die See hinuntergestürzt war. Immer wieder streckte er die Arme aus, um einen Felsen zu fassen und sich aus dem Wasser zu ziehen, doch das Gestein hatte entweder messerscharfe Kanten, die seine Hände aufrissen, oder es war so glitschig von Seetang, dass er sich nicht daran festhalten konnte.
Der Zug war voll, als er am nächsten Morgen nach Sheffield fuhr. Devlin überließ seinen Sitzplatz einer Frau mit Kind und stellte sich in den Gang. Eine Schulter an die Fensterscheibe gelehnt, ließ er die winterlichen Felder an sich vorüberziehen und nickte hin und wieder ein paar Minuten ein. In Sheffield stieg er um in einen Bummelzug, der ihn durch die eindrucksvolle Landschaft des Peak District mit seinen majestätischen schneebedeckten Gipfeln trug. In Hathersage angekommen, ging er die steile Straße zum Haus der Hutchin­sons hinauf. Der Weg war ihm vertraut, er war als Junge zwei-, dreimal in den Schulferien hier gewesen.
Er wappnete sich, bevor er an die Tür klopfte. Mrs. Hutchin­son machte ihm auf. „Devlin, wie lieb von dir, uns zu besuchen.“ Sie umarmte ihn. „Mein lieber Junge. Wir freuen uns schon so, dich zu sehen.“
Devlin hängte seinen Mantel im Flur an der Garderobe auf und legte Mütze und Handschuhe auf einen Tisch. „Wie geht es Eddie?“
„Ach, er hatte eine schlimme Nacht. Du darfst es nicht krummnehmen, wenn …“ Sie sprach nicht weiter.
Sie war eine gutherzige, mütterliche Frau, die er als Junge sehr gerngehabt hatte. Edwards Vater, früher Pfarrer, war jetzt im Ruhestand. Die Hutchinsons hatten spät geheiratet und hatten nur den einen Sohn.
Mrs. Hutchinson tätschelte Devlins Arm. „Es ist eine Freude, dich zu sehen. Und du siehst so wohl aus. Komm, gehen wir zu Edward. Er sitzt im Wohnzimmer in der Sonne.“
Devlin folgte Mrs. Hutchinson durch das Haus nach hinten. Ein großes Fenster umrahmte einen Blick auf die Berge. Edward, der bei einem Frontgefecht beide Beine verloren hatte, saß im Rollstuhl neben dem Fenster. Eine karierte ­Decke lag über seinen Beinstümpfen.
„Hallo, Eddie“, sagte Devlin.
Edward wandte ihm sein von Narben verwüstetes Gesicht zu. „Du hättest nicht kommen sollen.“
„Liebling“, sagte Mrs. Hutchinson behutsam, doch ­Edward wandte sich ab und schaute zum Fenster hinaus.
„Ich hätte nichts gegen eine Tasse Tee, wenn Sie einen Moment Zeit haben, Mrs. Hutchinson“, sagte Devlin. „Im Zug gab es keinen.“
„Tee“, sagte Mrs. Hutchinson atemlos. „Natürlich. Entschuldige, du armer Junge, du bist sicher halb verdurstet. Und ein Stück Kuchen – du isst doch ein Stück Obstkuchen?“
Als sie gegangen war, zog Devlin sich einen Stuhl heran und setzte sich Edward gegenüber. Noch ehe er etwas sagen konnte, sagte Edward: „Es war mir ernst, du hättest nicht kommen sollen. Ich bin zum Sterben langweilig, und du hast bestimmt nur – was? – eine Woche Urlaub?“
„Fünf Tage ohne die Reise.“
„Die solltest du nicht an mich verschwenden.“
„Ich verschwende sie nicht. Ich wollte dich sehen.“
„Bitte sehr.“ Edward lächelte bitter. „Ich bin eine echte Sehenswürdigkeit. Der Dreifünftelmann, ich hab’s ausgerechnet. Zwei Beine weg und ein halbes Gesicht. Nein, sag’s nicht“, sagte er heftig, als Devlin sprechen wollte.
„Was soll ich nicht sagen?“
„Dass ich im Inneren immer noch derselbe Mensch bin oder irgend so was Idiotisches. Das stimmt nämlich nicht.“ Er wies mit einer Kopfbewegung zu den Bergen. „Ich werde nie wieder dort draußen wandern können. Ich werde nie wieder allein auf einem Berg stehen und ins Tal hinunterschauen und die ganze Welt zu meinen Füßen sehen. Ich wäre lieber tot. Sie weiß das. Deshalb lässt sie mich nie allein. Deshalb schickt sie meinen Vater zum Einkaufen. Annie, unser Hausmädchen, ist gegangen. Sie hat meinen Anblick nicht ausgehalten. Sie hat immer mit mir geflirtet, als ich noch ganz war.“
Geschirr klapperte. Devlin nahm Edwards Mutter das Tab­lett ab und stellte es auf den Tisch. Während der Tee eingeschenkt und der Kuchen herumgereicht wurde, bot sich Gelegenheit zu ein paar leichten Worten. Edwards Tasse schlug an die Untertasse. Als seine Mutter den vergossenen Tee wegwischte, sah er sie mit einer Mischung aus Verachtung und Groll im Blick an. Devlin suchte verzweifelt nach einem Gesprächsthema, verwarf in rascher Folge London, Camilla und den Krieg als taktlos und unpassend. Rosindell: Doch er hatte Edward nie nach Rosindell eingeladen. Zu peinlich waren ihm der he­run­ter­ge­kommene Zustand des Hauses und die Schrullen und Zornesausbrüche seines Vaters gewesen.
Sein Blick blieb an einem Bibliotheksbuch auf dem Fensterbrett haften. Er fragte Edward danach, und der gab eine brummige Antwort, dann steuerte Mrs. Hutchinson ein paar künstlich heitere Kommentare bei, und Devlin erzählte von einem Buch, das er gelesen hatte. Über eine Stunde lang schleppte sich das Gespräch so hin, an dem Edward kaum Anteil nahm. Oft stand ein Ausdruck ungeheurer Wut ganz unverhüllt in seinen Augen.
Devlin brach bald nach dem Mittagessen auf, nachdem er sich wegen einer Verabredung am Abend entschuldigt und versprochen hatte, in seinem nächsten Urlaub wiederzukommen. Im Zug setzte er sich auf einen Fensterplatz. Ich werde nie wieder hier draußen wandern. Er wandte den Blick von der Aussicht und konzentrierte sich darauf, eine Zigarette anzuzünden. Nach dem Umsteigen suchte er sich im Londoner Zug einen Platz in einer Ecke und machte die Augen zu. Doch er schlief nicht. Er merkte, dass er sich kaum noch an den Edward erinnern konnte, den er einmal gekannt, mit dem er in der Schule gespielt hatte und im Peak District gewandert und geklettert war. Es war, als hätte der Anblick des Freundes, wie er ihn an diesem Tag erlebt hatte, alle diese Erinnerungen für immer vernichtet. Und es war ja nicht nur ­Edwards Leben zerstört worden, sondern das seiner ganzen Familie, die ihm einmal als das Ideal der glücklichen Familie erschienen war, vielleicht sogar als Vorbild für das, was hätte sein können, wäre seine eigene Mutter am Leben geblieben. Seit ihrem Tod, als Devlin fünf Jahre alt gewesen war, hatte sein Vater sich von der Welt zurückgezogen, alle Besucher mit seiner Grobheit und seinem Missmut vertrieben. Er hatte sich nicht mehr um Rosindell gekümmert, und nun leckte das Dach über dem ältesten Teil des Gebäudes, und im Winter standen die Kellerräume unter Wasser.
In Doncaster wurde der Zug voll, ehe er weiterzuckelte. Sein Gespräch mit Camilla am vergangenen Abend erschien Devlin jetzt wie ein bloßer Austausch von Höflichkeiten, der nichts versprach. Ein Bekannter von zu Hause, der sich in London aufhielt und nicht recht wusste, wohin; hätte sie denn etwas anderes tun können, als ihn aufzufordern, sich ihrer Clique anzuschließen? Was erhoffte er sich? Er wollte Camilla Langdon nicht begehren. In Flandern hatte er es sich abgewöhnt, etwas haben zu wollen. Da draußen war ihm beigebracht worden, sich ganz anderes zu wünschen – etwas nicht haben zu wollen, nämlich Kälte, Regen, Angst, Morast. Doch gestern Abend waren die alten Wünsche wieder erwacht und hatten jäh die Leere gefüllt.
Er kam um Viertel nach sieben in London an. Da er bis zu seiner Verabredung mit Camilla und ihren Freunden noch Zeit hatte, aß er in irgendeinem kleinen Restaurant etwas zu Abend und suchte sich dann ein Pub. Frauen, die sich in dünnen Mänteln in Türnischen drückten, lächelten ihn mit geschminkten Gesichtern an, als er zum Piccadilly ging. London war laut, aufdringlich und hohl. Wenn man an der Tünche kratzte, würde man nichts darunter finden.
In dem Nachtlokal, in dem sie verabredet waren, bestellte er sich noch etwas zu trinken. Er wusste schon jetzt, wie der Abend verlaufen würde, und es langweilte ihn. Er war nichts weiter als ein Außenseiter, der sich unerwünscht in Camillas Kreis gedrängt hatte und aus Mitleid geduldet wurde. Er würde um einen Moment allein mit ihr buhlen müssen.
Eine halbe Stunde verging, ehe sie kamen, die Frauen in farbenprächtiger Seide, die sich vom stumpfen Kaki der Uniformen der Männer abhob. Camilla trug ein einfaches weißes Abendkleid, in dem sie leuchtend blass wirkte, beinahe wie eine Geistererscheinung. Um ihre Schultern lag eine weiße Pelzstola, die im Licht schimmerte. Devlin sah ein Hermelin vor sich oder einen Schneehasen, der frei und ungebunden in spielerischen Wendungen über ein verschneites Feld lief und eine bewegte Spur hinterließ.
Er lernte Mrs. Sheridans Mann kennen, rotblond mit der nervösen Angewohnheit, den Kopf alle paar Minuten ruckar-
tig seitwärts zu werfen, und ein zweites Ehepaar, die Crowthers, sie dunkel und lebhaft mit dicken Augenbrauen, er doppelt so alt wie sie. Edna Clare kam in Begleitung eines Cousins, der bei der Guards Division diente.
Ein hochgewachsener Mann mit sauber gestutztem Oberlippenbärtchen musterte Devlin mit gelangweiltem Blick, als Camilla ihn zu ihm führte.
„Devlin, darf ich dich mit Major de Grey bekannt machen? Victor, das ist Hauptmann Reddaway, ein Freund von mir.“
Nachdem alle Platz gefunden hatten, wurden Getränke bestellt. Devlin saß zwischen Hauptmann Sheridan und Mrs. Crowther. Mrs. Sheridan erzählte von ihren Nichten, während ihr Mann stumm dabeisaß und zur Tanzfläche starrte. Camilla und de Grey saßen Devlin gegenüber. Camilla unterhielt sich mit de Grey, doch Devlin bekam kaum etwas von dem Gespräch mit, das von Mrs. Sheridans Stimme und der Musik der Dreimannkapelle übertönt wurde. Der Major wirkte distanziert, und wenn er gelegentlich lächelte, so nur kurz und gezwungen.
Devlin unterbrach Mrs. Sheridans Monolog und fragte mit ­einem Blick über den Tisch: „Kennen Camilla und Major de Grey sich schon lange?“
„Ich glaube nicht. Major de Greys Schwester ist mit meinem Cousin verheiratet. Greenwell, der Landsitz der de Greys, liegt in Gloucestershire. Kennen Sie ihn? Reggie und ich waren vor dem Krieg einmal einen Sommer dort. Der Park ist berühmt wegen seiner ineinander verflochtenen Lindenalleen.“
Devlin spürte plötzliche Eifersucht, als er sah, dass de Grey Camilla zur Tanzfläche führte. Gefiel ihr de Grey? Unmöglich – der Mann wirkte kalt wie ein Fisch.
Jemand rief ihn an. Als er hochblickte, sah er einen Offizier, den er vom Ausbildungslager kannte. „Hallo, Bridges“, sagte er.
„Nett, Sie zu sehen, Reddaway. Trinken wir ein Glas zusammen?“
Da es Camillas Freunden nicht einfiel, zusammenzurücken und Bridges Platz zu machen, setzte sich Devlin mit ihm an ­einen anderen Tisch. Bridges war ein wenig einnehmender Mann, klein und stupsnasig, mit immer feuchten Lippen. Devlin hatte ihn als sanften und umgänglichen Menschen in Erinnerung, der so gar nichts Kriegerisches an sich hatte. Er gehörte zu jenen, von denen man angenommen hätte, dass sie gleich in einer der ersten Kampfhandlungen sinnlos fallen würden.
Er sei Ausbilder in einem Ausbildungslager in Hert­ford­shire, berichtete er. „Ich kenne mich mit Karten aus“, sagte er.
„Seien Sie froh.“
„Ich beneide natürlich Sie alle, die an vorderster Front kämpfen.“
„Wirklich?“
Bridges senkte den Kopf. „Ich fühle mich verpflichtet, das zu sagen. Es ist doch feige, froh zu sein, dass man zu Hause hängen geblieben ist.“
„Blödsinn. Genießen Sie es.“
„Das sagt Louisa auch immer.“
„Louisa?“
„Meine Frau.“ Er zog ein Foto aus seiner Brieftasche, das Hochzeitsporträt einer Frau, die bis zum vollen Kinn hinauf in weißer Spitze steckte.
„Hübsche Frau“, sagte Devlin. „Gratuliere.“
„Sie ist nur leider zurzeit in Lancashire bei ihrer Mutter, weil sie ein Kind erwartet. Sonst wäre ich heute Abend mit ihr hier. Ich mag diese Lokale eigentlich nicht besonders, aber ich brauchte was zu trinken.“
Der Tanz ging zu Ende. Devlin sah, dass Camilla und de Grey sich trennten, murmelte eine Entschuldigung und stand auf. Die Kapelle stimmte „If You Were the Only Girl In the World“ an und schwelgte in schmalzigen Tönen, als Devlin Camilla zum Tanz aufforderte.
„Ich habe gleich gewusst, dass du ein guter Tänzer bist“, sagte sie nach den ersten Schritten und Drehungen. »So etwas merke ich immer. Victor hasst tanzen. Er kann ein uner­träg­licher Langweiler sein.«
Devlin fühlte ihren breiten, geraden Rücken mit seinen kräftigen Muskeln unter seiner Hand. Eine Haarlocke lag an ihrer Wange wie eine goldene Kräuselwelle auf weißem Sand. Seine Finger glitten vom Satin ihres Kleides ab, so wie sie in seinem Traum vom tangüberzogenen Felsen abgeglitten waren.
„Ich hatte den Eindruck, ihr stündet einander nahe.“
»Wirklich? Ich bezweifle, dass Victor irgendjemandem ­nahesteht. Er hat immer etwas Distanziertes an sich. Er gibt sich keine Mühe zu gefallen. Wie geht es deinem Freund in Derbyshire?«
„Leider ziemlich übel.“
„Wieso? Was ist mit ihm?“
„Er hat gleich am ersten Tag an der Somme beide Beine verloren.“
Er spürte, wie sie schauderte, und sagte: „Entschuldige, das war brutal von mir.“
„Man sollte meinen, ich hätte mich an diese Dinge gewöhnt. Schließlich arbeite ich in einem Krankenhaus. Aber man gewöhnt sich nie daran. Ich finde es nur immer grauenvoller.“
„Ich hatte ein schlechtes Gewissen, dass ich nicht über Nacht blieb. Seine Mutter hätte es gewünscht. Ich glaube, sie sind ziemlich einsam dort draußen. Aber ich wollte nur weg. Ich war froh, dass ich die Verabredung mit dir heute Abend als Entschuldigung vorschieben konnte.“
„Aha, ich bin also eine Entschuldigung?“ Ihr scherzhaftes Lächeln trübte sich. „Manchmal halte ich es kaum aus, diese Männer zu sehen. Wir sind eigentlich ein Genesungsheim, da kamen anfangs nur die erträglicheren Fälle zu uns. Aber jetzt schicken sie uns alles.“
„Hast du vor aufzuhören?“
„Ganz bestimmt nicht. Dann müsste ich ja wieder nach Hause. Devlin, ich versuche dir zu erklären, warum ich nicht besonders oft geschrieben habe. Ich hatte Angst, dir könnte etwas passieren. So viele Männer bitten mich, ihnen zu schreiben.“
Er spürte seinen Groll gegen diese unbekannten aufdringlichen Männer. „Und tust du es?“
„Nein. Die meisten vertröste ich. Du fängst an, jemanden zu mögen, und dann passiert etwas Entsetzliches. Die anderen Mädchen schreiben an Soldaten und warten ständig auf Post. Das könnte ich nicht. Ich hasse es, warten zu müssen.“
„Aber mir hast du geschrieben.“
„Es gibt immer Ausnahmen.“
„Und ich bin eine Ausnahme?“
„Ja.“ Sie lachte. „Soll ich dir schmeicheln und dir sagen, warum?“
„Wenn der Grund schmeichelhaft ist, ja.“
„Ich weiß nicht, ob du ihn für so schmeichelhaft halten wirst. Als wir uns das letzte Mal in Dartmouth begegnet sind, habe ich so etwas Wildes an dir gesehen. Wild und unberechenbar. Hinter einer zivilisierten Fassade. Die Reddaways sind berüchtigt, weißt du?“
Er zog sie an sich. „Für mich warst du die schönste Frau, die ich je gesehen hatte.“ Ihr Kopf passte gerade richtig unter sein Kinn, und er konnte das rasche Auf und Ab ihres Atems spüren. Der Tanz endete, es gab dünnen Applaus. Als sie zum Tisch zurückkehrten, sagte sie: „Wann fährst du nach Rosindell?“
„Morgen.“
„Fahr nicht.“ Einen Moment trafen sich ihre Blicke, dann setzte sie sich wieder an ihren Platz neben de Grey.
Eine Frau trat zur Kapelle auf die Bühne und begann „Roses of Picardy“ zu singen. Mrs. Sheridan schien endlich das ­Reden vergangen zu sein. Es war still am Tisch, bis Mrs. Crowther schließlich leise sagte: „Gott gebe, dass der Krieg dieses Jahr endet.“
„Er muss enden, das ist doch klar“, versetzte Mrs. Sheri-
dan.
„Warum?“, fragte ihr Mann und warf wieder ruckartig den Kopf zur Seite. „Warum muss er enden?“
„Er kann ja nicht ewig dauern.“
Sheridan strich mit der Hand über die Bügelfalte seiner Hose. „Und warum nicht? Wir sind in eine Grube gefallen und finden nicht mehr heraus.“
De Grey sagte: „Dieses Jahr, nächstes Jahr, früher oder später wird es einen Durchbruch geben. Es geht darum, den Feind zu zermürben.“
„Wir werden zermürbt“, entgegnete Sheridan. „Wir sind schon fast völlig zermürbt.“
„Kommen Sie, kommen Sie, da übertreiben Sie aber. Wir halten die Linien seit zwei Jahren. Früher oder später wird sich das Blatt wenden.“
„Der Grabenkrieg begünstigt immer die Armee, die sich verteidigt“, warf Crowther ein. „Sie müssen zugeben, dass Sheridan nicht ganz unrecht hat. Wir greifen sie an, sie drängen uns zurück, und nichts ändert sich.“
„Sie täuschen sich, mein Freund.“ Sheridans Hand bewegte sich immer schneller, als wollte er etwas wegwischen. Er stieß ein hohes, zittriges Gelächter aus. „Es ändert sich sehr wohl etwas. Jedes Mal krepieren ein paar Tausend Männer mehr. Das wird ewig so weitergehen, sag ich Ihnen, oder mindestens so lange, bis keiner von uns mehr übrig ist.“ Seine Stimme war schrill und schwankend geworden, und an den anderen Tischen drehten sich Köpfe.
„Ruhig, alter Junge, ruhig“, mahnte Crowther.
„Hier.“ Devlin schob Sheridan sein Glas hin.
„Komm, gehen wir nach Hause, Reggie“, sagte Mrs. Sheridan.
Ihr Gesicht war zusammengefallen wie eine verwelkte Blüte.
Die Sheridans gingen. Einige kleine Redescharmützel folgten auf ihren Abgang und versandeten. Die Stimme der Sängerin hatte einen harten Klang, und die Tanzfläche hatte sich geleert. Devlin war bedrückt von Sheridans heftigen Worten, umso mehr, als er mit allem übereinstimmte, was der Mann gesagt hatte.
„Es ist spät“, sagte Camilla. „Kommst du, Edna?“
Devlin erbot sich, die zwei jungen Frauen nach Hause zu bringen.
„Es liegt auf meinem Weg, ich mache das schon“, sagte de Grey.
„Nein danke, Victor.“ Camilla zog ihre Pelzstola zurecht. „Hauptmann Reddaway wird es sicher schaffen, uns ein Taxi zu besorgen.“
Auf der kurzen Taxifahrt saß Camilla zwischen Devlin und Edna Clare. Draußen zogen die abgedunkelten Lichter der Straßenlaternen vorüber, während die beiden Frauen über ihre Arbeit redeten. Devlin spürte eine tiefe Erregung. Ab und zu streifte Camillas Schulter die seine. Es würde etwas geschehen. Er wusste, dass er die Dinge nur anzustoßen brauchte.
Vor dem Haus am Belgrave Square bedankte sich Edna Clare für seine Begleitung.
„Geh schon voraus, Edna.“ Camilla sah ihre Freundin lächelnd an. „Ich komme gleich nach.“
Sobald Edna Clare außer Hörweite war, sagte Devlin: „Ich muss dich wiedersehen.“
„Ich dachte, du wolltest nach Rosindell fahren.“
„Das kann warten. Allein, Camilla. Nicht mit den anderen zusammen. Geht das?“
„Ja“, antwortete sie leise.
„Kennst du die Long Bar im Criterion? Dort warte ich morgen Abend auf dich.“
Ihre warmen, samtig weichen Lippen streiften seine Wange, dann war sie fort.
Während Devlin am folgenden Abend in der messingglänzenden Pracht der Long Bar wartete, beobachtete er mit beiläufigem Interesse einen Major der Infanterie, der sich über die französischen Eisenbahnen erregte, und eine Clique dicker grauhaariger Männer im Abendanzug.
Im metallischen Glanz des Lichts, das sich in den Wänden spiegelte, sah er sie im Türrahmen stehen wie ein Bildnis. Die weiße Pelzstola hob sich von einem schwarzen Kleid ab, das am Hals mit Spitze besetzt und in der Taille mit zwei cremefarbenen Rosen geschmückt war. Eine dritte Rose zierte das helle, hoch im Nacken aufgesteckte Haar.
„Du siehst hinreißend aus“, sagte er.
„Ich komme mir eher billig vor. Künstliche Blumen …“
„Ich habe sie für echt gehalten.“
„Wirklich? Wie lieb von dir. Aber sie sind leider nur aus Seide. In der ganzen Stadt sind keine Gewächshausblumen aufzutreiben, weder für Geld noch gute Worte.“ Sie strich mit den Fingern über ihre Pelzstola. „Wir sollten uns ja eigentlich in Kriegszeiten eher bescheiden kleiden, nicht? Aber ich musste mich einfach schön machen.“
„Danke, dass du gekommen bist, Camilla.“
„Du brauchst mir nicht zu danken.“ Ihr Gesichtsausdruck war lebhaft und zugleich spöttisch. „Ich tue immer nur das, was mir Spaß macht. Es macht mir Spaß, dich zu sehen, Devlin, das ist alles.“
„Ich habe uns im Restaurant einen Tisch bestellt“, sagte Devlin. „Ich war nicht sicher, wie lange du bleiben kannst.“
„Ich bleibe, solange ich will. Lady Clare beobachtet mich auf Schritt und Tritt mit Argusaugen. Ich glaube, sie ist nicht begeistert von mir. Ich habe versucht, dich als alten Freund der Familie auszugeben, nur sehen alte Familienfreunde leider selten so gut aus. Aber da ich zuverlässig bin und hart arbeite, duldet sie mich. Ich muss mich gut mit ihr stellen, sonst schickt sie mich postwendend nach Hause.“
„Und das möchtest du nicht?“
„Ganz sicher nicht.“
„Warst du denn nicht glücklich zu Hause?“
„Devlin! Du etwa?“
„Eigentlich schon.“
„Du meinst, wenn du nicht gerade mit deinem Vater Streit hattest. Worüber habt ihr eigentlich gestritten?“
„Meistens ging es um das Haus. Meinen Vater scheint es überhaupt nicht zu stören, dass es langsam, aber sicher ins Meer bröckelt.“
„Und du willst keine romantische Ruine erben?“
„Nein, nicht unbedingt. Wie bist du denn Lady Clares Argusaugen entkommen?“
Camilla machte ein leidendes Gesicht. „Ich habe eine schreckliche Migräne und liege zu Bett. Sehe ich sehr unwohl aus, Darling?“
„Du siehst aus wie das blühende Leben. Wie immer. Und du hast keine Angst, dass deine Freundin nach dir sieht?“
„Edna? Doch, sie wird natürlich versuchen, mich zu betun. Sie kann in der Beziehung ziemlich lästig sein.“
„Aber es ist doch nett von ihr, sich zu kümmern.“
„Vielleicht, aber manchmal, wie jetzt zum Beispiel, ist es lästig. Aber Jane Fox wird sie schon abwimmeln.“
„Jane Fox?“
„Sie ist mit mir hierhergekommen. Sie macht mir die Haare und pflegt meine Kleider, wenn sie nicht gerade als Helferin auf der Station schuftet. Sie ist ein sehr nettes Mädchen, sehr geschickt, und sie tut alles, worum ich sie bitte. Du kennst sie doch, oder nicht?“
„Flüchtig.“ Janes ältere Schwester Sarah war Hausmädchen in Rosindell. Auch Jane hatte vor ein paar Jahren kurz dort gearbeitet. Devlin erinnerte sich an ein junges Mädchen mit magerem Gesicht und fuchsrotem Haar, das zu ihrem Nachnamen passte.
„Wie war dein Tag?“, fragte er.
»Ziemlich übel. Ich habe verschlafen, und die Clare hat mich fürchterlich abgekanzelt. Sie hat eine Art, jeden wie ­einen Dienstboten zu behandeln. Ich freue mich schon auf den Tag, wenn ich der dummen Kuh sagen kann, was ich von ihr halte.« Camilla warf ihm einen schnellen Blick zu. „Das hätte ich nicht sagen sollen. Was wirst du von mir den-
ken?“
„Dass du müde bist und zu viel arbeitest.“
„Heute Morgen sind mehr als zehn neue Patienten gekommen. Es ist immer so eine Hetzerei, wenn so viele auf einmal ankommen, und einige von ihnen waren in furchtbarer Verfassung.“ Sie verzog den Mund. „Wenn ich das hinter mir habe, tu ich nie wieder etwas, was mir so viel abverlangt. Dann werde ich nur noch das Leben genießen.“
„Gute Idee.“
„Das stört dich nicht?“
„Überhaupt nicht. Mach dir das Leben so schön, wie du magst.“
„Genau das habe ich vor. Ich werde auf Feste gehen. Ich kaufe mir ein Automobil und sause darin herum wie der Teufel.“
Während sie sprach, hing sein Blick bewundernd an ihrem schönen Gesicht, dem langen schlanken Hals, den tiefblauen Augen, in denen ein Funke Spott glitzerte.
„Und du, Devlin?“, fragte sie. „Was hast du vor, wenn der Krieg vorbei ist?“
Es war nicht vorstellbar, nicht wert, darüber nachzudenken, jeder Gedanke daran wäre eine Versuchung des Schicksals, doch er sagte zu seiner eigenen Überraschung: „Ich gehe nach Hause und gehe nie wieder weg.“
„Das ist das, was du dir am meisten wünschst? Auf der ganzen Welt?“
„Es ist eins der Dinge, die ich mir am meisten wünsche.“
„Was noch?“
„Dich. Ich wünsche mir dich, Camilla.“
„Sie sind sehr direkt, Hauptmann Reddaway.“
„Ich habe wenig Zeit“, erwiderte er kurz. „Das musst du begreifen.“
Der Kellner kam, um ihnen zu melden, dass ihr Tisch bereit sei.
Sie habe einen wahren Bärenhunger, sagte Camilla, als sie aufstanden und zum Restaurant gingen. Dann lachte sie laut und ungehemmt, und alle drehten sich nach ihr um.
„Du musst entschuldigen“, sagte sie, „aber ich kann diesen Quatsch nicht mitmachen. Immer so zu tun, als äße ich wie ein Vögelchen. Ich wette, diese Frauen schleichen nachts in die Speisekammer und stopfen sich bis obenhin voll.“
Beim Essen im Criterion hatte man das Gefühl, in einem Schmuckkasten eingeschlossen zu sein. Das Gold, die Spiegel und die Mosaiken schienen eine passende Umrahmung für Camilla, die selbst wie ein Edelstein schimmerte und glänzte. Als das Essen auf dem Tisch stand, beugte sie sich zu Devlin, als wollte sie ihm ein Geheimnis anvertrauen.
„Jane Fox hat mir erzählt, dass sie in Rosindell ein Gespenst gesehen hat.“
„Jane war noch ein halbes Kind, als sie zu uns kam. Ein Kind mit einer blühenden Phantasie offensichtlich.“
„Also keine Nonnen ohne Kopf?“
„Leider nein.“
„Du enttäuschst mich, Devlin. Wenn du mir schon keine Geistergeschichten erzählen kannst, musst du dir etwas anderes einfallen lassen, um mich zu unterhalten. Sonst verzeihe ich dir nicht.“
„Wirklich nicht?“ Er sah ihr tief in die Augen.
„Du weißt doch, ich verzeihe nicht so leicht.“
„Dann werde ich mir große Mühe geben. Rosindell ist ein altes Haus. Alte Häuser haben immer ihre Geschichten. Die Leute aus den Städten und Dörfern sind die Abgeschiedenheit nicht gewöhnt und lassen ihrer Phantasie freien Lauf. Die Balken knarren und ächzen im Wind, und sie meinen vielleicht, Schritte zu hören. Oder eine Lampe wirft einen Schatten, und sie glauben … Ach, du weißt schon, was sie alles glauben. Jeden möglichen Blödsinn.“
„Beschreib es mir doch mal. Ich bin ein-, zweimal mit dem Boot in der Bucht gewesen, aber das Haus konnte ich nicht sehen.“
„Nein, vom Meer aus sieht man es nicht. Es liegt versteckt in einem Tal, das zu den Klippen führt. Von der Architektur her ist es ein ziemliches Durcheinander, aber für mich ist es vollkommen.“ Er sah das Haus vor sich, einsam und von Stürmen umtost, der Herrensitz der Reddaways.
„Wenn ich dich höre, schäme ich mich fast dafür, dass ich dich überredet habe, in London zu bleiben anstatt nach Hause zu fahren.“
Er nahm ihre Hand. „Ich weiß, was ich will, Camilla.“
„Ja, das kann ich mir vorstellen. Und ich nehme an, meistens bekommst du es auch. Du bist ein Mann, und die Welt wird von Männern beherrscht.“ Ihr Ton war bitter geworden.
„Das mag wahr sein, aber Frauen verfügen über ihre eigene Macht.“
„Und vor der habt ihr so große Angst, dass ihr uns mit Regeln und Vorschriften fesselt, sodass wir sie kaum ausüben können. Soll ich dir mal sagen, wann ich am glücklichsten war? Ich kann mich genau an den Moment erinnern. Ich war auf der Jacht von Freunden, und es blies ein so starker Wind, dass wir nur so über die Wellen geflogen sind. Es war großartig und wunderbar. Aber jedes Mal musste ich bei meiner Mutter bitten und betteln, dass ich überhaupt zum Segeln durfte. Und immer musste irgendein langweiliger alter Verwandter oder Familienfreund mitkommen. Wenn sich niemand gefunden hat, musste ich mit meiner Schwester zu Hause hocken.“ Erstaunt bemerkte Devlin einen Anflug von Furcht in Camillas Augen. „Manchmal“, schloss sie mit ­einem kurzen Auflachen, »habe ich Angst, ich ende mal mutterseelenallein in einem elenden kleinen Zimmer in Bays­water.«
„Das glaube ich kaum. Soll ich deutlicher werden?“
„Bitte, ja.“
„Camilla, ich glaube – ich weiß –, dass ich dich liebe.“
Ihre Lippen öffneten sich ein wenig. Sie sagte nichts, nickte nur ganz leicht.
Um elf brachte er sie zurück zum Belgrave Square. Ihre Haut schimmerte wie Perlenglanz im Mondlicht, und ihr Haar war ein Gespinst aus Reiffäden.
Vor dem Haus pfiff Camilla einmal leise. In einem der oberen Fenster bewegten sich die Vorhänge, dann erschien, blass wie der Mond zwischen den Wolken, ein Gesicht hinter den Scheiben. Devlin schlang den Arm um Camillas Taille, ihre Lippen fanden sich, und sie küssten sich lange. Dann wurde eine Seitentür geöffnet, und Camilla huschte ins Haus.
Den ganzen nächsten Morgen suchte er nach Blumen für sie. Was sie gesagt hatte, stimmte, es gab nirgends welche. Doch er gab nicht auf und lief durch ganz London, bis er vor dem Waterloo-Bahnhof auf ein junges Mädchen traf, das gerade aus Hampshire angekommen war und einen Korb voll Schneeglöckchen am Arm trug.
Von der Waterloo-Brücke aus schaute er den Schiffen zu, die sich auf der Themse drängten. Ein halbes Dutzend Kohlenkähne glitt wie an einer Kette aufgefädelt unter den Steinbögen hindurch, und vom Wasser stieg der Geruch nach Salz und faulender Vegetation auf. Plötzliches Heimweh nach dem tieferen Grün eines anderen, vertrauteren Flusses ergriff ihn und schien ihn fort aus der Stadt nach Devon und zum Dart zu tragen und von dort in die Einsamkeit der Land­spitze, auf der Rosindell stand. Das Donnern des Verkehrs wich dem Donnern der Wellen in der Bucht und dem Pfeifen des Windes über Felsen und Tal. Der Geruch der Abgase verwandelte sich in die Düfte von brennendem Holz, Meersalz und
Rosen.
Mittags traf er sich mit Camilla. Sie senkte das Gesicht in die Schneeglöckchen und schloss die Augen. In einem Café aßen sie etwas zu Mittag, eine kurze halbe Stunde, bevor sie zur Arbeit zurückmusste. Als er sich von ihr trennte, drückte Erschöpfung ihn nieder wie eine erstickende Decke, und auf dem Weg zum Marble Arch hatte er das Gefühl, mit den Menschenmengen kämpfen zu müssen, um vorwärtszukommen.
In der Wohnung legte er sich aufs Sofa und schlief ein, ohne auch nur die Senkel seiner Stiefel geöffnet zu haben.
Er war einer in einer langen Kette von Männern, die auf ­einem Bohlenweg durch Niemandsland marschierten. Schneeglöckchen blühten im Morast, ein ganzes großes Feld. Nebel fiel und verbarg die Männer seiner Einheit, und als die Schwaden sich lichteten, sah er, dass er allein war, allein auf der Straße nach Rosindell. Er marschierte weiter, die schmale Straße zwischen den hohen Hecken hinauf. Die Sonne glänzte durch Nebelfetzen, und Licht lag auf den umgepflügten Furchen der Felder. Ein helles Stück Himmel zeigte ihm, wo das Meer war, über dem Hügel im Süden. Doch als er die Anhöhe erreichte und hinunterschaute in die Senke, wo das Haus hätte sein müssen, war da nichts.
Er erwachte und sah auf seine Armbanduhr. Er hatte drei Stunden geschlafen. In Gedanken kehrte er noch einmal nach Rosindell zurück; nicht zu dem verschwundenen Rosindell seines Traums, sondern zu dem lebendigen Haus, vertraut und doch geheimnisvoll, versteckt in jenem entlegenen Winkel Devons. So klar und deutlich wie auf einem Bild in einem Buch sah er, was er tun wollte, um es zu einem angemessenen Heim für Camilla zu machen.
Am Abend, beim Essen, erzählte er ihr von seinen Plänen. Er würde die dicht um das Haus gruppierten alten Scheunen und Stallgebäude abreißen und auf dem frei gewordenen Grund rund um das alte Haus ein neues Rosindell bauen. Es sollte ein moderner Bau werden mit geräumigen Zimmern und großen Fenstern, die zum schmalen Tal hinunterblickten, in dem seine Mutter einen Garten gepflanzt hatte.
Später, auf dem Rückweg zum Belgrave Square, zog er sie in den Schutz einer Tornische und küsste sie. Sie schien in seinen Armen zu schmelzen und schmiegte sich so drängend an ihn, dass er die Rundung ihres Busens und ihre leicht vorspringenden Hüftknochen spüren konnte. Hör jetzt nicht auf, murmelte sie, als er die Hand unter den weichen Pelz ihrer Stola schob und die Fingerspitzen über den harten Grat ihres Schlüsselbeins in die weiche Grube an ihrem Hals gleiten ließ. Mit geschlossenen Augen warf sie den Kopf zurück und öffnete die Lippen, als sie seine Hand auf ihrer Haut spürte. Sein Mund fand die glatte, blasse Schwellung ihrer Brust, seine Hand umspannte den Bogen ihrer Hüfte. Er spürte ihr Drängen und hörte ihre hastigen Atemstöße, als sie ihm leidenschaftlich und fordernd entgegenkam.
Ein älteres Paar, das sich laut über den Preis seines Hotels beschwerte, kam auf dem Gehweg auf sie zu. Camilla richtete ihre Kleider, und sie gingen weiter. Vor dem Haus der Clares pfiff sie wie am Abend zuvor. Wieder erschien das mondbleiche Gesicht am Fenster, die Seitentür wurde geöffnet, und Camilla huschte ins Haus.
Am Morgen seines letzten Tages in London suchte Devlin seine Bank auf und kaufte dann im Army & Navy Store alles ein, was er brauchte. Am Nachmittag packte er. Ohne seine Sachen wurde die Wohnung wieder zu dem, was sie bei seiner Ankunft vor einer Woche gewesen war, ein Rastplatz für Durchreisende.
Die Minuten bis zum Wiedersehen mit ihr zogen sich hin und schienen doch angesichts der bevorstehenden Trennung zu fliegen. Devlin, der sich nach jedem Zusammensein mit ihr schwindlig vor Glück fühlte und wie berauscht von ihrer Schönheit und ihrem Glanz, konnte die Vorstellung nicht ertragen, dass er sie nun Monate oder vielleicht sogar Jahre nicht mehr sehen würde. Den Gedanken, dass er sie vielleicht niemals wiedersehen würde, ließ er gar nicht erst zu.
Er schulterte seinen Seesack, schlug die Wohnungstür hinter sich zu und übergab den Schlüssel dem Portier. Sein Zug fuhr um fünf Uhr vom Victoria-Bahnhof. Zu Fuß ging er noch einmal zum Belgrave Square. Die Rasenflächen und Bäume des Hyde Park waren ihm jetzt vertraut, und die Herrenhäuser, an denen er vorüberkam, erschienen ihm wie alte Bekannte. Die Zeit rann ihm wie Sand durch die Finger.
Sie hatten vereinbart, dass er auf der anderen Seite des Platzes auf sie warten würde. Sie hatte an diesem Nachmittag Dienst, wollte jedoch auf einen Sprung herauskommen, um sich von ihm zu verabschieden.
Er stellte sich an eine Ecke des Geländers rund um die Grünanlage in der Mitte des Platzes, von wo er die Haustür sehen konnte. Es war vier Uhr, und während er wartete, fielen die ersten Schneeflocken, golden angehaucht vom matten Schein der Straßenlaternen.
Er sah auf die Uhr. Es war inzwischen Viertel nach vier geworden. Der Schnee fiel jetzt dichter und überzuckerte die Spitzen der Geländer und die Äste der Bäume. Als die Haustür drüben geöffnet wurde, blickte Devlin gespannt hinüber. Doch es war nicht Camilla, die herauskam; die Frau, die die Treppe hinunterstieg, war kleiner und fülliger als sie. Eine tiefe Enttäuschung erfasste ihn, die Vorahnung weit schlimmeren Schmerzes.
Halb fünf. Er lief zum Haus hinüber und klopfte. Das Hausmädchen öffnete.
„Kann ich einen Moment mit Miss Langdon sprechen?“
Während er im Foyer wartete, betrachtete er die Ölgemälde an den Wänden und sah dann hinunter auf die Pfützen, die seine nassen Schuhe auf den schwarz-weißen Fliesen hinterließen.
Schritte. Sein Herz tat einen Sprung. Doch es war Edna Clare, nicht Camilla.
„Hauptmann Reddaway, es tut mir so leid, aber Camilla ist im Augenblick leider unabkömmlich.“
„Fünf Minuten“, sagte er. „Ich muss ihr doch Auf Wiedersehen sagen.“
Edna Clare strich sich mit einer Hand über die Schürze. Zum ersten Mal bemerkte er die roten Flecken auf dem weißen Stoff. „Es sind gerade noch einmal zehn Patienten eingeliefert worden.“ Ihr Ton war freundlich. „Wir haben wirklich alle Hände voll zu tun.“
„Ja, natürlich“, sagte er. „Entschuldigen Sie, dass ich gestört habe, Miss Clare.“
„Ich sage ihr, dass Sie hier waren. Alles Gute, Hauptmann Reddaway, Gott schütze Sie.“
Er ging. An der Ecke des Platzes blickte er noch einmal zurück, doch im dichten Schneefall und der Dunkelheit war das Haus schon nicht mehr zu erkennen. Als er sich im Victoria-Bahnhof durch die Menge drängte, sah er immer wieder zum Eingang hin. Menschen eilten hinaus und hinein, und er verwünschte jeden von ihnen dafür, dass er nicht Camilla war.
Auf dem Bahnsteig verabschiedeten sich Soldaten von ihren Frauen und Müttern. Einer lehnte rauchend an der offenen Wagentür; ein anderer schrie seinem Kameraden zu, er solle sich beeilen. Türen wurden knallend zugeschlagen. Draußen vor dem Bahnhof wirbelten Schneewolken im ockergelben Licht über den Gleisen.
In dem ganzen Getöse hörte er plötzlich jemanden seinen Namen rufen, und als er sich hastig umdrehte, erkannte er Camilla. Mit Gewalt bahnte er sich einen Weg zu der weißen Schwesternhaube, die im Rhythmus ihres Laufs auf- und niederwippte.
Sie warf sich in seine Arme. „Es tut mir so leid – ich konnte nicht weg – Edna hat mir gesagt, dass du da warst.“
„Es spielt keine Rolle.“ Er küsste sie, drückte sie an sich, atmete ihr Parfüm, versuchte, sich die Weichheit ihrer Haut einzuprägen, die Haltung ihres Körpers, stark und gerade wie eine Birke. „Nichts spielt eine Rolle, außer dass du hier bist.“
„Ich hatte Angst, du wärst vielleicht schon im Zug und ich könnte dich nicht finden. Ich hatte Angst, du hättest nicht gewartet.“ Sie lachte und weinte zu gleicher Zeit.
„Ich würde ewig auf dich warten. Wirst du auch auf mich warten?“ Er blickte voller Liebe zu ihr hinunter. „Camilla, willst du mich heiraten?“
Ihre Lippen öffneten sich; sie sagte etwas, doch der schrille Pfiff des Schaffners übertönte ihre Stimme. Dampfwolken schossen aus dem Schornstein der Lokomotive.
„Heirate mich, Camilla“, sagte er heftig. „Heirate mich, und ich baue ein neues Rosindell für dich. Ich erwecke das Haus für dich wieder zum Leben.“
„Ja“, murmelte sie.
Als der Zug sich in Bewegung setzte, wurde die Tür des nächsten Wagens aufgerissen, und jemand rief laut: „Steigen Sie ein, Sir.“
Camilla trat einen Schritt zurück, und Devlin schwang sich in den Wagen. Der Zug fuhr schneller, und er beugte sich weit aus dem Fenster, die Hand zum Gruß erhoben, den Blick unverwandt auf sie gerichtet, bis die verschwommene Gestalt in Blau und Weiß mit der Menge verschmolz.

Judith Lennox

Über Judith Lennox

Biografie

Judith Lennox, geboren 1953 in Salisbury, wuchs in Hampshire auf. Sie ist eine der erfolgreichsten Autorinnen des modernen englischen Gesellschaftsromans und gelangt mit jedem neuen Buch auf die deutschen Bestsellerlisten. Judith Lennox liebt Gärtnern, ausgedehnte Wanderungen, alte Häuser und...

Judith Lennox über ihren Roman

Im vorliegenden Roman wollte ich zeigen, wie übermächtig die Liebe zu einem Haus werden kann. Ich wollte zeigen, was passiert, wenn man seine Liebe auf ein Haus projiziert, weil die Kriegserfahrung einen zu ängstlich gemacht hat, um einen Menschen zu lieben.

Ende August 2011 hatten wir eine Reise durch Neuengland mit dem Auto geplant. Wenige Tage, bevor wir fliegen wollten, traf Hurrikan Irene auf die Ostküste der Vereinigten Staaten. Während unserer Abwesenheit sollten bei uns daheim Holzböden verlegt werden, das bedeutete, dass wir eine Woche lang das Erdgeschoss unseres Hauses nicht würden betreten können. Wir mussten uns also ein anderes Reiseziel suchen, und zwar schleunigst. Den Westen von England habe ich stets geliebt, und aus meiner Kindheit habe ich wunderschöne Erinnerungen an Dartmouth an der Südküste der Grafschaft Devon. Als ich ein Hotel in der Stadt auftat, das für eine Woche ein Zimmer frei hatte, griff ich zu.

So lernte ich Coleton Fishacre kennen. Um von Dartmouth aus dorthin zu gelangen, setzt man mit der Fähre über den Dart nach Kingswear über und fährt dann auf immer schmaler werdenden Landstraßen Richtung Küste. Coleton Fishacre war einst der Landsitz von Dorothy und Rupert D’Oyly Carte, dem Eigentümer der D’Oyly Carte Opera Company und des Hotel Savoy; heute befindet es sich im Besitz­ des Natio­nal Trust.

Mit seinen ruhigen, unprätentiösen und minimalistisch gestalteten Räumen ist es der perfekte Wohnsitz im Stil der 1920er-Jahre. Das Haus ist von mehreren Hektar traumhaften Gärten umgeben. Ein waldreiches Tal führt zu einem hoch gelegenen Kliff mit Blick auf den Sandstrand und das türkisblaue Wasser. Das Anwesen ist großzügig, aber nicht übertrieben groß. Man könnte sich gut vorstellen, selbst dort zu leben und dabei sehr glücklich zu sein. Doch auch wenn das Haus heiter und sorglos erscheint, das Leben der D’Oyly Cartes war es nicht. Sie erlebten zwei Weltkriege und die Weltwirtschaftskrise und erlitten einen großen persönlichen Verlust, als ihr Sohn im Alter von einundzwanzig Jahren bei einem Verkehrsunfall starb; neun Jahre später ließen sich ­Rupert und Dorothy scheiden.

Das Bild dieses wunderbaren Hauses am Wasser begleitete mich, als ich mir die Ideen für mein nächstes Buch überlegte. Tragik und Verlust vor dem Hintergrund einer idyllischen Landschaft wurden zum Ausgangspunkt für „Ein letzter Tanz“. Da das Buch 2014, hundert Jahre nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs, erscheinen würde, entschied ich mich, die Eingangskapitel diesem Konflikt zu widmen, der die alte Welt, wie sie gewesen war, für immer von der neuen scheiden sollte.

„Ein letzter Tanz“ ist kein Buch über den Ersten Weltkrieg – es spielt größtenteils nach Kriegsende –, aber die zentrale Figur darin, Devlin Reddaway, der im Schützengraben kämpft, wird nie ganz frei davon sein. Der Krieg bleibt das bestimmende Element seines Lebens, er prägt seinen Charakter und seine Persönlichkeit und lässt ihn niemals los. Obwohl er seinen Familiensitz, Rosindell, wiederaufbaut, voll Schönheit und Licht, umgeben ihn doch stets die finsteren Geister des Krieges.

Ich wollte, dass Rosindell, das Haus der Reddaways, das von Coleton Fishacre inspiriert ist, im Roman fast die Rolle einer handelnden Figur spielt. Rosindell macht Devlin nach dem Grauen der Schützengräben wieder gesund, aber er ist auch davon besessen. Seine Frau Esme, die ihn liebt, hat das Gefühl, dass sie mit dem Haus um Devlins Zuneigung konkurriert. Und Rosindell kann manchmal scheinbar seinen eige­nen Willen haben, kann Ereignisse beeinflussen oder das zukünftige Leben derer, die darin wohnen, entscheidend ­prägen.

In den Jahrzehnten nach dem Ersten Weltkrieg wurden viele große englische Adelssitze zerstört. Die einen brannten nieder, andere wurden vernachlässigt und dem Verfall überlassen, weil ihre Eigentümer sich ihren Unterhalt nicht mehr leisten konnten. Manche Häuser wurden auch absichtlich abgerissen. Arbeitskräfte verließen die ländlichen Gebiete und traten zu besseren Bedingungen und mit besserer Bezahlung in Geschäften, Fabriken und Büros an; es gab keine Dienstboten mehr, die die Häuser putzten, schrubbten und in Stand hielten. Oder sie galten als altmodische Überbleibsel einer Vergangenheit, mit der man längst abgeschlossen hatte.

Pressestimmen
Frau von Heute

„Buch für Romantiker“

Taschenbuch Magazin

„Judith Lennox gilt als Königin des großen englischen Gesellschaftsromans. In ›Ein letzter Tanz‹ verbindet sie meisterhaft das Zeitkolorit des 20. Jahrhunderts mit einer mitreißenden Saga.“

plus Magazin

„Bittersüßer Roman, der beiläufig ein halbes Jahrhundert Zeitgeschichte erzählt.“

Woman (A)

„Für Fans von ›Downtown Abbey‹“

Luzerner Rundschau (CH)

„Liebe und Leidenschaft, dramatische Affären, Lügen und Betrug sind Essenzen dieses Romans, der mit interessanten Protagonisten und schönen Landschaftsschilderungen beste Unterhaltung bietet.“

Neue Woche

„Berührend“

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