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In die WildnisIn die Wildnis

In die Wildnis In die Wildnis - eBook-Ausgabe

Jon Krakauer
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Allein nach Alaska

— Das Buch zum Film "Into the wild"

Ein zutiefst bewegendes, ganz unsentimentales Abenteuerbuch. - Die Woche

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In die Wildnis — Inhalt

Ein Ausstieg auch um den Preis des Todes.

Im August 1992 wurde die Leiche von Chris McCandless im Eis von Alaska gefunden. Wer war dieser junge Mann, und was hatte ihn in die gottverlassene Wildnis getrieben? Jon Krakauer hat sein Leben erforscht, seine Reise in den Tod rekonstruiert und ein traurig-schönes Buch geschrieben über die Sehnsucht, die diesen Mann veranlasste, sämtliche Besitztümer und Errungenschaften der Zivilisation hinter sich zu lassen, um tief in die wilde und einsame Schönheit der Natur einzutauchen. – Verfilmt von Sean Penn mit Emile Hirsch.

€ 11,00 [D], € 11,40 [A]
Erschienen am 05.09.2007
Übersetzt von: Ulrike Frey, Stephan Steeger
304 Seiten, Broschur
EAN 978-3-492-25067-2
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€ 10,99 [D], € 10,99 [A]
Erschienen am 18.02.2013
Übersetzt von: Ulrike Frey, Stephan Steeger
304 Seiten
EAN 978-3-492-95777-9
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Leseprobe zu „In die Wildnis“

Vorbemerkung


Im April 1992 trampte ein junger Mann, der aus einer wohlhabenden Familie von der Ostküste stammte, nach Alaska und zog allein in die Wildnis nördlich des Mount McKinley. Vier Monate später stieß eine Gruppe von Elchjägern auf seinen stark verwesten Leichnam.Kurz nach dem Leichenfund wurde ich vom Chefredakteur der

Zeitschrift inside gebeten, über die rätselhaften Umstände zu berichten, die zu dem Tod des Jungen geführt hatten. Es stellte sich heraus, daß er Christopher Johnson McCandless hieß und in einem reichen Vorort von Washington, D. [...]

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Vorbemerkung


Im April 1992 trampte ein junger Mann, der aus einer wohlhabenden Familie von der Ostküste stammte, nach Alaska und zog allein in die Wildnis nördlich des Mount McKinley. Vier Monate später stieß eine Gruppe von Elchjägern auf seinen stark verwesten Leichnam.Kurz nach dem Leichenfund wurde ich vom Chefredakteur der

Zeitschrift inside gebeten, über die rätselhaften Umstände zu berichten, die zu dem Tod des Jungen geführt hatten. Es stellte sich heraus, daß er Christopher Johnson McCandless hieß und in einem reichen Vorort von Washington, D. C., aufgewachsen war. An der Schule ein Überflieger, war er auch im Sport einer der Besten seines Jahrgangs.

Unmittelbar nachdem er im Sommer 1990 mit Auszeichnung von der Emory University abgegangen war, verschwand McCandless. Er nahm einen anderen Namen an und spendete seine gesamten Ersparnisse – vierundzwanzigtausend Dollar – der Wohlfahrt. Er ließ seinen Wagen und den größten Teil seiner Habe zurück und ­verbrannte auch noch sein letztes Reisegeld. Und dann machte er sich daran, das Leben für sich neu zu erfinden. Er mischte sich unter die Randexistenzen der Gesellschaft, wanderte quer durch Nordamerika, auf der Su­che nach ungefilterten Erfahrungen. Seine Familie hatte keine Ahnung, wo er war, was aus ihm geworden war – bis zu dem Tag, als man seine sterblichen Überreste in Alaska fand.

Unter großem Termindruck schrieb ich einen etwa fünfseitigen Artikel, der in der Ausgabe vom Januar 199; von Outside erschien. McCandless’ Schicksal hielt mich jedoch weiter in seinem Bann, auch nachdem die Ausgabe an den Kiosken schon längst durch das journalis­tische Tagesgeschäft ersetzt worden war. Der Junge war verhungert, und die Einzelheiten seines Todes ließen mich nicht mehr los, zumal ich zwischen den Ereignissen seines und meines eigenen Lebens beunruhigende entfernte Parallelen entdeckte. Ich konnte und wollte die Sache nicht so einfach ad acta legen, und über mehr als ein Jahr hinweg verfolgte ich die verschlungene Spur, die zu seinem Tod in der Taiga Alaskas führte. Ich recherchierte die Details seiner Wanderschaft mit einer Neugierde, die fast an Besessenheit grenzte. Indem ich versuchte, McCandless zu begreifen, stieß ich unwillkürlich in andere, tiefergehende Themenbereiche vor: der Mythos der Wildnis, der nach wie vor die Phantasie der Amerikaner gefesselt hält, der Reiz der Gefahr, der immer mehr junge Männer zu hochriskanten Freizeitunternehmungen verführt, das komplexe, spannungsgeladene Verhältnis zwischen Vätern und Söhnen. Das vorliegende Buch ist das Ergebnis meiner auf Wegen und Neben­wegen wandelnden Recherche.

Ich kann nicht für mich in Anspruch nehmen, ein ­unvoreingenommener Beobachter zu sein. McCandless’ Geschichte berührte mich zutiefst, daher war mir eine ­leidenschaftslose Darstellung der Tragödie nicht mög-
lich. Größtenteils habe ich mich – hoffentlich erfolgreich – bemüht, mich als Autor möglichst rauszuhalten. Aber der Leser sei gewarnt: Ich unterbreche McCandless’ ­Geschichte mit der Erzählung von Vorfällen und Ereignissen aus meiner eigenen Jugend. Ich tue dies in der Hoffnung, daß meine Erfahrungen das Rätsel Chris ­McCandless etwas erhellen werden.

Er war ein unter ständiger Hochspannung stehender junger Mann, besessen von einem sturen Idealismus, der mit den Ansprüchen der heutigen Zeit nicht leicht zu vereinbaren war. Lange Zeit fesselten ihn die Werke des großen russischen Romanciers Leo Tolstoi, den er vor allem dafür bewunderte, die Annehmlichkeiten eines Lebens in Reichtum und privilegierter Bequemlichkeit aufgegeben zu haben, um sich unter die Armen und Entrechteten der Gesellschaft zu mischen. Auf dem College begann McCandless, Tolstois Asketentum und ethische Unbeugsamkeit nachzuahmen, und zwar in einem Maße, das seine nahe Umgebung zuerst verblüffte und dann alarmierte. Als der Junge in die Wildnis Alaskas zog, gab er sich keineswegs der Illusion hin, in ein Paradies einzukehren, in dem er unbeschwert umhertrecken konnte; vielmehr sehnte er sich nach Gefahren, Widrigkeiten und nach tolstoianischer Enthaltsamkeit – und genau dies sollte er auch zur Genüge vorfinden.

Trotz aller Schwierigkeiten schlug sich McCandless den größten Teil seiner sechzehnwöchigen Prüfung mit Bravour durch. Hätte er sich nicht ein, zwei scheinbar ­belanglose Schnitzer geleistet, wäre er im August 1992 ebenso anonym aus den Wäldern gewandert, wie er ­hi­neingewandert war. Statt dessen stellten sich seine in aller Unschuld begangenen Fehltritte als fatal und un­umkehrbar heraus. Sein Name kam in die Schlagzeilen, und seine bestürzten Angehörigen sahen sich dem Scher­benhaufen einer grimmigen und schmerzhaften Liebe gegenüber.

Eine erstaunlich große Anzahl von Menschen fühlte sich von der Geschichte von Chris McCandless’ Leben und Sterben zutiefst betroffen. Der Outside-Artikel verursachte in den Wochen und Monaten nach der Veröffent­lichung eine Flut von Leserbriefen, mehr als irgendein anderer Artikel in der Geschichte der Zeitschrift. Diese Briefe spiegeln, wie nicht anders zu erwarten war, höchst kontroverse Ansichten wider: Einige Leser brachten dem Jungen für seinen Mut und die hehren Ideale, von denen er sich leiten ließ, all ihre Bewunderung entgegen; andere dagegen wetterten, daß er ein leichtsinniger Idiot gewesen sei, ein Spinner, ein narzißtischer Traumtänzer, der aufgrund seiner Dummheit und Arroganz umkam – und der die große Aufmerksamkeit, die ihm in den ­Medien zuteil wurde, nicht verdient hatte. Meine eigenen Ansichten werden im Laufe des Buches deutlich zutage treten, doch der Leser möge sich sein eigenes Urteil über Chris McCandless bilden.

Jon Krakauer
Seattle

In die Wildnis


KAPITEL EINS


Im Herzen Alaskas

27. April 1992

Grüße aus Fairbanks! Dies wird meine letzte Nachricht an Dich sein, Wayne. Bin vor zwei Tagen hier angekommen. Das Trampen in der Gegend um den Yukon lief nicht so gut. Aber jetzt bin ich endlich hier.

Schicke bitte all meine Post an den Absender zurück. Es kann noch lange dauern, bis ich wieder im Süden bin. Dieses Abenteuer geht vielleicht tödlich aus, und es kann sein, daß Du nie wieder von mir hören wirst. Ich möchte aber, daß Du weißt, wie sehr ich Dich bewundere. Ich breche nun in die Wildnis auf. Alex.


Postkarte an Wayne Westerberg,
Carthage, South Dakota


Vier Meilen hinter Fairbanks sah Jim Gallien den Tramper. Er stand schlotternd im Schnee am Straßenrand, den Daumen in das fahle Morgengrauen Alaskas gereckt. Er schien noch recht jung zu sein: achtzehn, höchstens neunzehn. Aus seinem Rucksack ragte ein Gewehr, aber er machte einen ganz freundlichen Eindruck. Im neunundvierzigsten Staat ist ein Tramper mit einer halbautomatischen Remington kein ungewöhn­licher Anblick. Gallien hielt an und bedeutete dem Jungen, einzusteigen.

Der Tramper warf seinen Rucksack auf die Ladefläche des Fords und sagte, daß er Alex hieß. „Alex?“ erwiderte Gallien, der gerne auch den Nachnamen gewußt hätte.

„Einfach Alex“, blockte der Junge ab. Er war etwa einssiebzig groß und von drahtiger Gestalt. Wie sich herausstellte, war er vierundzwanzig Jahre alt und stammte aus South Dakota. Er wollte bis zum Denali-Nationalpark mitfahren. Von dort aus, sagte er, wolle er in die Wälder wandern und „ein paar Monate lang von dem, was das Land so hergibt, leben“.

Gallien, ein Elektriker, war auf dem George Parks Highway unterwegs nach Anchorage, zweihundertvierzig Meilen über Denali hinaus. Er sagte Alex, er könne so weit mitfahren, wie er wolle. Der Rucksack des Jungen sah aus, als würde er gerade einmal zehn, fünfzehn Kilo wiegen. Dies erschien Gallien – einem erfahrenen Jäger und Waldarbeiter – für einen mehrmonatigen Aufenthalt in einem fast menschenleeren Gebiet als viel zu dürftig, vor allem da der Frühling gerade erst angebrochen war. „Der Junge hatte für solch eine Tour nicht annähernd genug Verpflegung und Ausrüstung dabei“, erinnert sich Gallien.

Die Sonne ging auf. Als sie die bewaldeten Hügel oberhalb des Tanana River hinabrollten, starrte Alex über das windgepeitschte, sich endlos nach Süden erstreckende Tundramoor hinweg. Gallien fragte sich, ob er womöglich an einen dieser durchgeknallten Spinner aus dem Süden geraten war, die es immer wieder in den Norden zieht, um ihre naiven Jack-London-Phantasien auszu­leben. Alaska übte schon seit langem eine geradezu ­magnetische Anziehungskraft auf Träumer und Aussteiger aus: Typen, die sich einbildeten, daß eine Reise in die unberührte, endlose Weite des Last Frontier ihr zerrissenes Leben flicken würde. Die Wildnis ist jedoch uner­bittlich und schert sich nicht um Wünsche und Sehnsüchte.

„Die Leute von außerhalb“, erzählt Gallien in seiner tiefen, melodischen Stimme, „sehen eine Ausgabe von Alaska, blättern drin rum, und dann denken sie, ›Mann, da fahr ich jetzt hin, ernähr mich von Mutter Natur und leb ’n schönes, heiles Leben‹. Aber wenn sie dann hier sind und die Wildnis hautnah erleben – tja, so, wie das in den Zeitschriften ausgemalt wird, is’ es nun mal nicht. Die Flüsse hier sind riesengroß und können ganz schön tückisch sein. Die Moskitos fressen einen bei lebendigem Leibe. In den meisten Gegenden gibt es einfach nicht viel zu jagen. In der Wildnis zu leben ist was anderes als ’n Weekend auf dem Land.“

Die Fahrt von Fairbanks bis an die ersten Ausläufer des Denali-Parks dauerte zwei Stunden. Sie unterhielten sich und lernten sich ein wenig kennen. Der Junge schien nun doch nicht so durchgeknallt zu sein, wie Gallien anfangs befürchtet hatte. Er war sympathisch und machte einen gebildeten Eindruck. Er durchlöcherte Gallien mit detaillierten Fragen über die verschiedenen Arten von Niederwild, welche Beeren man essen könne – „und all solche Sachen“.

Und dennoch war Gallien beunruhigt. Alex mußte zugeben, daß seine Verpflegung nur aus einem Fünf-Kilo-Sack Reis bestand. An Kleidung und Ausrüstung hatte er nicht einmal das in Anbetracht des rauhen Klimas Allernotwendigste dabei. Es war April und das Landesinnere lag immer noch unter einer dichten Schneeschicht begraben. Alex’ billige Wanderstiefel waren weder wasserdicht noch ausreichend gefüttert. Die .22 Remington war ein Kaliber zu klein; man konnte sich nicht darauf verlassen, wenn man auch größeres Wild wie Elche und Karibus erledigen wollte. Und darauf wäre er angewiesen, wenn er tatsächlich länger bleiben wollte. Er hatte weder Axt noch Insektenkiller, weder Schneeschuhe noch Kompaß. Seine einzige Orientierungshilfe war eine zerfledderte Straßenkarte von Alaska, die er an einer Tankstelle geschnorrt hatte.

Einhundert Meilen hinter Fairbanks steigt der Highway in die unteren Ausläufer der Bergkette der Alaska Range hoch. Als der Pick-up über eine Brücke des Nenana River ruckelte, blickte Alex in die reißende Strömung hinab. Er fürchte sich vor Wasser, gestand er Gallien. „Vor einem Jahr bin ich unten in Mexiko mit einem Kanu aufs Meer hinausgepaddelt. Dann ist ein Sturm aufgezogen, und ich wäre beinahe ertrunken.“

Ein wenig später nahm Alex seine Straßenkarte heraus und zeigte auf eine gestrichelte rote Linie, die den Highway in der Nähe von Healy, einer kleinen Kohlebergbaustadt, durchschnitt. Es handelte sich um den Stampede Trail, eine unbefestigte, kaum benutzte Straße, die auf den meisten Karten Alaskas nicht einmal einge­zeichnet ist. Auf Alex’ Karte jedoch schlängelte sich die Linie vom Parks Highway etwa vierzig Meilen weit nach Westen, um sich schließlich inmitten der unwegsamen Wildnis nördlich des Mount McKinley zu verlieren. Dort, verkündete Alex, wolle er hin.

Gallien hielt die Pläne des Trampers für zu waghalsig und versuchte immer wieder, ihn davon abzubringen. »Ich hab ihm gesagt, daß es dort, wo er hin will, nicht so leicht ist, was zu jagen, daß er vielleicht tagelang nichts erlegen wird. Als das nicht wirkte, hab ich versucht, ihm mit Bären-Storys Angst einzujagen. Ich hab ihm gesagt, daß er einem Grizzly mit ’nem Zweiundzwanziger nichts anhaben kann, daß er ihn damit wahrscheinlich nur noch wütender macht. Hat den Jungen aber alles nicht son­derlich beeindruckt. ›Dann klettere ich eben auf einen Baum‹, hat er nur gemeint. Also hab ich ihn darüber aufgeklärt, daß die Bäume in der Gegend nicht besonders groß werden und daß so ein Bär eine von diesen dürren, kleinen Schwarzfichten mit einem Schlag umhaut. Aber der Knabe hat sich einfach nichts sagen lassen. Auf alles hatte er eine Antwort.«

Gallien bot Alex an, ihn bis nach Anchorage mitzunehmen, ihm eine anständige Ausrüstung zu kaufen und ihn wieder zurückzufahren.

„Nein, aber vielen Dank fürs Angebot“, antwortete Alex. „Ich werd mit dem, was ich hab, schon zurechtkommen.“

Gallien fragte, ob er eine Jagdlizenz habe.

„Nee, natürlich nicht“, sagte Alex spöttisch. „Wie ich mich ernähre, geht die Regierung einen Dreck an. Die können mich mal mit ihren blöden Regeln.“

Als Gallien fragte, ob seine Eltern oder ein Freund von seinem Vorhaben wüßten – ob es da irgend jemanden gibt, der Alarm schlägt, falls er in Schwierigkeiten gerät oder sich längere Zeit nicht meldet –, antwortete Alex seelenruhig, nein, daß niemand von seinen Plänen weiß, daß er ehrlich gesagt seit beinahe zwei Jahren mit seiner Familie kein Wort mehr gewechselt hat. „Wenn’s Schwierigkeiten gibt, werd ich damit schon allein fertig, hundertpro“, versicherte er Gallien.

„Es hatte überhaupt keinen Sinn, dem Jungen was ausreden zu wollen“, erinnert sich Gallien. »Er war felsenfest entschlossen. Durch nichts mehr zu bremsen. Richtig aufgeregt, wenn ich heute so drüber nachdenke. Er konnte es kaum erwarten, loszulegen und in die Wälder abzutauchen.

Drei Stunden hinter Fairbanks bog Gallien vom Highway ab und lenkte seine klapprige Allradkiste in eine tiefverschneite Nebenstraße. Die ersten paar Meilen war der Stampede Trail noch ganz passabel. Er führte an Blockhütten vorbei, die zwischen kümmerlichen Fichten und Espen verstreut standen. Als sie jedoch die letzte der Hütten hinter sich gelassen hatten, wurde es immer schlimmer. Der Trail war von Erlen überwuchert und verwandelte sich immer mehr in einen ruckeligen Pfad, der offensichtlich nicht instand gehalten wurde.

Im Sommer wäre der Trail zwar auch nicht viel besser, aber zumindest befahrbar. Jetzt, unter dem fünfzig Zentimeter hohen, matschigen Frühlingsschnee, war er praktisch unpassierbar. Als sie nach zehn Meilen eine leichte Anhöhe erreichten, hielt Gallien seinen Pick-up an. Er hatte Angst, steckenzubleiben. Die eisigen Gipfel des höchsten Bergmassivs Nordamerikas schimmerten am südwestlichen Horizont.

Alex bestand darauf, Gallien seine Uhr, seinen Kamm und etwas Kleingeld zu geben, das, wie er betonte, sein ganzes Vermögen darstellte: fünfundachtzig Cents. „Ich will dein Geld nicht“, protestierte Gallien, „und eine Uhr hab ich selber.“

„Wenn Sie’s nicht nehmen, werfe ich’s weg“, erwiderte Alex fröhlich. „Ich will nicht wissen, wie spät es ist. Ich will nicht wissen, welchen Tag wir haben oder wo ich bin. All das ist unwichtig.“

Bevor Alex ausstieg, langte Gallien hinter den Sitz, holte ein paar alte, robuste Gummistiefel hervor und überredete den Jungen, sie zu nehmen. „Sie waren ihm zu groß“, erinnert sich Gallien. „Aber ich sagte: ›Zieh dir zwei paar Socken über, dann müßten die Füße halbwegs warm und trocken bleiben.‹“

„Wieviel schulde ich Ihnen dafür?“

„Ist schon gut“, antwortete Gallien. Dann gab er dem Jungen einen kleinen Zettel mit seiner Telefonnummer, den Alex sorgfältig in einer kleinen Brieftasche aus Nylon verstaute.

»Ruf mich an, falls du hier lebend wieder rauskommst. Dann sag ich dir, wie du mir die Stiefel wieder zurück­geben kannst.«

Galliens Frau hatte ihm zwei gegrillte Sandwiches mit Käse und Thunfisch und eine Packung Maischips eingepackt. Er überredete den jungen Tramper, auch das Essen anzunehmen. Alex holte eine Kamera aus seinem Rucksack und bat Gallien, noch schnell ein Foto von ihm zu machen. Er schulterte das Gewehr und stellte sich vor dem Trail auf. Schließlich verschwand er mit breitem ­Lächeln den verschneiten Pfad hinunter. Es war Dienstag, der 28. April 1992.

Gallien wendete den Pick-up, fuhr zum Parks Highway zurück und setzte seinen Weg nach Anchorage fort. Nach ein paar Meilen kam er an Healy vorbei, wo die Alaska State Troopers einen Posten unterhalten. Gallien spielte kurz mit dem Gedanken, anzuhalten und die Leute dort von Alex zu unterrichten, ließ es dann aber bleiben. „Ich dachte, es wird schon irgendwie gutgehen“, erklärte er. »Ich dachte, wahrscheinlich wird er ziemlich schnell hungrig werden und einfach zum Highway zurück­gehen. So wie jeder normale Mensch.«


KAPITEL ZWEI

Der Stampede Trail

Jack London is King

Alexander Supertramp

Mai 1992


Inschrift auf einem Stück Holz, entdeckt an dem Ort, an dem
Chris McCandless starb.


Dunkler Tannenwald dräute finster zu beiden Seiten des Wasserlaufs. Der Wind hatte kürzlich die weiße Schneedecke von den Bäumen gestreift, so daß sie aussahen, als drängten sie sich unheimlich finster in dem schwindenden Tageslicht aneinander. Tiefes Schweigen lag über dem Lande, das eine Wildnis war, ohne Leben, ohne Bewegung, so einsam, so kalt, daß die Stimmung darin nicht einmal traurig zu sein schien. Vielmehr lag ein Lachen darüber, ein Lachen schrecklicher als jede Traurigkeit, freudlos wie das Lächeln der Sphinx, kalt wie der Frost und grimmig wie die Notwendigkeit. Die unerbitt­liche, unerforschliche Weisheit des Lebens und seiner Anstrengungen. Es war die echte Wildnis, die ungezähmte, kaltherzige Wildnis des Nordens.


Jack London, „Wolfsblut“


Am Nordrand der Alaska Range, kurz bevor die mächtgen Felswände des Mount McKinley und seiner Ableger sich der Kantishna-Ebene ergeben, liegt die sogenannte Outer Range, eine kleinere Bergkette, die von fern an die zerwühlte Decke eines ungemachten Betts erinnert. Zwischen den steinernen Gipfeln ihrer beiden äußersten Steilhänge verläuft von Osten nach Westen ein schmaler, etwa fünf Meilen langer Streifen sumpfiges Schwemmland. Durch dieses hügelige, von Erlenbüschen und lichten Fichtenreihen bestandene Gebiet schlängelt sich der Stampede Trail, den Chris McCandless auf seinem Weg in die Wildnis nahm.

Der Pfad war in den dreißiger Jahren von Earl Pilgrim, einem sagenumwobenen Bergarbeiter, erkundet und mar­kiert worden. Pilgrim hatte am Stampede Creek, etwas oberhalb der Stelle, an der sich der Toklat River ­gabelt, eine Reihe von Antimongruben abgesteckt. 1961 wurde eine Firma aus Fairbanks, die Yutan Construction Company, beim Bundesstaat von Alaska vorstellig (dem Land war erst zwei Jahre zuvor volle Souveränität ver­liehen worden) und erwarb das Recht, den Trail aus­zubauen. Der Pfad mußte gerodet und für Lastwagen ­befahrbar gemacht werden. Nur so konnte das Mineralgemenge abtransportiert und die Grube ganzjährig bewirtschaftet werden. Zur Unterbringung der Bauarbeiter legte sich die Yutan drei ausrangierte Omnibusse zu, stattete sie mit Kojen und einfachen Heizöfen aus und karrte sie mit einer D-9-Planierraupe in die Wildnis hinaus.

1963 wurde das Projekt fallengelassen. Inzwischen waren etwa fünfzig Meilen Straße fertiggestellt worden, allerdings ohne die erforderlichen Brücken – das Gebiet war von zahllosen Flüssen durchschnitten. Auftauendes Erdreich und jahreszeitlich bedingte Überschwemmungen machten den Trail schon wenig später unpassierbar. Die Yutan schleppte zwei der Busse wieder zum Highway zurück. Der dritte wurde etwa auf halber Höhe des Trails stehengelassen und sollte schon bald zu einem Zufluchtsort für Jäger und Trapper werden. In den folgenden drei Jahrzehnten wurde das Straßenbett durch die immer wiederkehrenden Überschwemmungen weiter ausgehöhlt. Der Trail wurde von Büschen und Sträuchern über­wuchert, Biberteiche taten ihr übriges. Der Omnibus ­jedoch blieb.

Der aus den Vierzigern stammende International Harvester hat mittlerweile fast Museumswert. Er steht gleich hinter der Grenze zum Denali-Nationalpark, etwa fünfundzwanzig Meilen Luftlinie westlich von Healy. Zwischen halbhohen Berufkrautsträuchern am Straßenrand rostet er, seltsam deplaciert, vor sich hin. Der Motor ist nicht mehr vorhanden. Fensterscheiben sind zersprungen oder fehlen gänzlich, und das Businnere ist mit den Scherben zerschlagener Whiskeyflaschen übersät. Die grünweiße Lackierung ist stark oxydiert. Eine verwitterte Beschriftung verweist noch auf den alten Besitzer: Fairbanks City Transit System, Bus 142. Heutzutage können gut und gerne sechs, sieben Monate vergehen, bevor ­irgendein einsamer Waldbesucher sich zu der Stelle mit dem alten Gefährt verirrt. An einem Nachmittag Anfang September 1992 fanden sich dort jedoch gleich sechs Personen dreier verschiedener Gruppen ein.

Der Denali-Nationalpark war 1980 um die Kantishna Hills und einen Gebirgszug am Nordrand der Outer Range erweitert worden. Inmitten des neuen Parkareals liegen jedoch auch die sogenannten Wolf Townships, die von der Neuordnung unberührt blieben. Es handelt sich dabei um eine langgezogene Niederung, durch die die erste Hälfte des Stampede Trail führt. Das sieben mal zwanzig Meilen große Areal wird an drei Seiten von ­Nationalparkgelände umschlossen und weist daher einen ungewöhnlich hohen Wildbestand auf. Wölfe und Bären, Karibus und Elche, aber auch andere Tierarten haben hier ihr Revier. Unter den Jägern und Trappern der Gegend ist dies ein sorgsam gehütetes Geheimnis. Sobald also im Herbst die Elchjagd beginnt, schauen immer ein paar von ihnen an der alten Busruine vorbei, die sich am Sushana River am westlichen Zipfel der Wolf Townships befindet, nur zwei Meilen von der Parkgrenze entfernt.

Ken Thompson, der Besitzer einer Karosseriewerkstatt in Anchorage, sein Angestellter Gordon Samel und ihr gemeinsamer Freund Ferdie Swanson, ein Bauarbeiter, brechen am 6. September 1992 zur Elchjagd in Richtung Bus auf. Dorthin zu gelangen ist allerdings leichter gesagt als getan. Etwa zehn Meilen nach dem befestigten Teil der Straße kreuzt der Stampede Trail den Teklanika River, einen reißenden, eiskalten Fluß, der weißlichen Glazialschutt mit sich führt. Gleich stromabwärts von der Stelle, an der der Trail auf das Flußufer stößt, liegt eine enge Schlucht, durch die der weiß brodelnde Teklanika geschossen kommt. Die Aussicht, diese milchfarbene Wasserflut überqueren zu müssen, schreckt die meisten Leute davon ab, weiterzuwandern.

Bei Thompson, Samel und Swanson handelt es sich jedoch um drei halsstarrige Alaskaner, die eine besondere Vorliebe dafür haben, mit ihren Autos genau die Stellen zu durchqueren, die als unpassierbar gelten. Kaum waren sie am Teklanika angekommen, entdeckten sie bereits eine breite, gewundene Furt, an der die Wasserflut sich in kleine, relativ seichte Flüßchen teilt. Und schon lenkten sie ihre Autos geradewegs in die Fluten.

„Ich bin vorangefahren“, sagt Thompson. »Der Fluß war an der Stelle an die fünfundzwanzig Meter breit, und die Strömung war richtig wild. Ich fahr ’nen getunten ’82er Dodge Pick-up. Die Reifen sind fast ’nen Meter hoch, und das Wasser ist immer noch leicht bis an die ­Motorhaube gekommen. Dann kam der Moment, als ich gedacht hab, ich schaff’s nicht. Gordon hat an seiner Kiste vorne ’ne Viertausend-Kilo-Hebe. Hab ihn gleich hinter mir fahren lassen, falls was schiefgeht und ich absaufe.«

Die drei gelangten ohne Zwischenfall ans andere Ufer. Zwei der Pick-ups hatten Geländefahrzeuge geladen: ein dreirädriges und ein vierrädriges. Sie fuhren ihre bulligen Allradbrummer auf eine Kiesbank, holten die Geländefahrzeuge von der Ladefläche und setzten die Fahrt mit den kleineren, wendigeren Maschinen in Richtung Bus fort.

Ein paar hundert Meter weiter versackte der Trail in einer Reihe brusttiefer Biberteiche. Die drei Alaskaner fackelten jedoch nicht lange und steckten ein paar Stangen Dynamit in die lästigen Holz- und Reisigdämme, sprengten sie in die Luft und legten die Teiche trocken. Sie fuhren weiter, erklommen ein steiniges Flußbett und manövrierten ihre Maschinen durch dichtes Erlengebüsch. Am späten Nachmittag erreichten sie endlich den Bus. Bei ihrer Ankunft stießen sie „auf ’nen Jungen und ’n Mädchen aus Anchorage. Die beiden haben zwanzig Meter vom Bus weg gestanden und sahen so aus, als hätten sie ’n Gespenst gesehen.“

Das junge Paar hatte den Bus zwar nicht betreten, war aber nahe genug dran herangegangen, um „einen echt üblen Geruch“ zu bemerken. Aus dem Heck des Busses, an einen Erlenast geknotet, hing ein roter, gestrickter Wadenwärmer von der Art, wie Tänzer ihn tragen. Das Ganze wirkte wie eine notdürftig improvisierte Signalflagge. An der Tür, die nur angelehnt war, klebte ein Zettel mit einer seltsamen, beunruhigenden Nachricht. Auf einer aus einer Gogol-Erzählung gerissenen Buchseite stand dort in sauberer Blockschrift:

s.o.s. ich brauche ihre hilfe: ich bin schwer verletzt, dem tode nah. ich bin zu schwach, um hier wegzukommen. ich bin ganz allein. dies ist kein scherz. in gottes namen, bitte gehen sie nicht weg, bitte retten sie mich. ich bin nicht weit, gehe jetzt beeren sammeln. bin gegen abend wieder da. danke, chris mccandless. august?

Das Paar aus Anchorage war von dem Inhalt der Nachricht und dem penetranten Fäulnisgeruch viel zu verängstigt, um in den Bus zu steigen und nachzusehen. Und so war es Samel, der sich, auf das Schlimmste gefaßt, zu einem der Fenster schlich und hineinspähte. Sein Blick fiel auf eine Remington und eine Plastikdose mit Patronen, dann auf acht oder neun Taschenbücher, eine zerrissene Jeans, Kochgeschirr und schließlich auf einen hochwertigen Rucksack. Auf einer aus billigem Holz zusammengezimmerten Koje im hinteren Teil entdeckte er einen blauen Schlafsack, in dem scheinbar irgend etwas oder irgend jemand lag, obwohl, sagt Samel, „man es nicht genau sehen konnte“.

„Ich hab mich auf einen Baumstumpf gestellt“, fährt Samel fort, »durch eines der Rückfenster gelangt und den Schlafsack ein bißchen geschüttelt. Irgendwas war drin, soviel war sicher, aber es war nichts Schweres. Erst als ich rumgegangen bin zur anderen Seite und den Kopf ge­sehen hab, der ein Stück rausgeguckt hat, da wußte ich’s.« Chris McCandless war bereits zweieinhalb Wochen tot.

Samel, kein Mann großer Umstände, befand, daß die Leiche sofort weggeschafft werden müsse. Aber weder in seinem noch in Thompsons kleinem Geländeflitzer war genügend Platz, und auch das Geländefahrzeug des jungen Paares war zu eng. Bald darauf fand sich eine sechste Person am Schauplatz ein, Butch Killian, ein Jäger aus Healy. Killian fuhr einen Argo – ein schweres, achträd­riges Amphibienfahrzeug –, und Samel schlug vor, daß Killian die Leiche bergen solle. Der war jedoch der Ansicht, daß dies eher Sache der Alaska State Troopers sei.

Killian, ein Bergarbeiter, der auch als Notarzthilfe für die Freiwillige Feuerwehr von Healy jobbt, hatte in seinem Argo ein Funkgerät. Von seinem Standort aus schaffte er es jedoch nicht, eine Verbindung herzustellen, und er fuhr ein Stück in Richtung Highway zurück. Nach fünf Meilen, kurz vor Einbruch der Dunkelheit, gelang es ihm endlich, das Kraftwerk von Healy anzufunken. „Dringende Nachricht“, meldete er, „hier spricht Butch. Ruft die Troopers, Leute. In dem Bus drüben am Sushana liegt ein Mann. Sieht aus, als wär er schon ’ne Weile tot.“

Am nächsten Morgen um halb neun dröhnten Rotorblätter über dem Bus, und ein Hubschrauber setzte in einem Wirbelsturm aus Staub und Espenlaub zur Landung an. Die Troopers suchten die Gegend ringsum kurz nach Spuren ab, um ein Verbrechen auszuschließen. Kurz darauf verschwanden sie wieder. Als sie abhoben, hatten sie neben Chris McCandless’ Leiche die Kamera des Toten mit fünf Rollen belichteten Films, den SOS-Zettel und ein paar Tagebuchnotizen dabei. Diese waren auf die beiden letzten Seiten eines Handbuchs über eßbare Pflanzen gekritzelt und hielten in einhundertdreizehn dichtgedrängten, kryptischen Einträgen die letzten Wochen im Leben des Jungen fest.

Die Leiche wurde nach Anchorage gebracht, wo im gerichtsmedizinischen Institut eine Autopsie durchgeführt wurde. Die Verwesung war zu weit fortgeschritten, um den genauen Zeitpunkt des Todes zu bestimmen. Es konnten jedoch weder Anzeichen innerer Verletzungen noch irgendwelche Knochenbrüche festgestellt werden. An der Leiche war kaum noch subkutanes Fett. Der Muskelschwund muß in den Tagen und Wochen vor dem Exitus beträchtlich gewesen sein. McCandless’ Gebeine wogen zum Zeitpunkt der Autopsie dreiunddreißig Kilo. Man ging davon aus, daß der Tod durch Verhungern eingetreten war.

McCandless hatte seinen Hilferuf zwar unterschrieben, und die Fotos, die man entwickeln ließ, enthielten viele Selbstporträts, da er aber keine Personalien bei sich getragen hatte, wußten die Beamten weder, wer er war, noch woher er kam und was er hier wollte.


KAPITEL DREI


Carthage

Was ich wünschte, war Bewegung und nicht ein ruhiges Dahinfließen des Lebens. Es verlangte mich nach Aufregungen und Gefahren, nach Selbstaufopferung um eines Gefühls ­willen. In mir war ein Überschuß von Kraft, der in unserem stillen Leben keinen Raum zur Bestätigung fand.


Leo N. Tolstoi,
„Familienglück“


Von Chris McCandless
angestrichener Passus aus einem der
mit der Leiche geborgenen Bücher.


Es läßt sich wohl kaum abstreiten, … daß die Vorstellung von einem freien, ungebundenen Leben uns seit jeher berauscht und beflügelt hat. In unserer Gedankenwelt verbinden wir damit die Flucht vor der Last der Geschichte, vor Unterdrückung, dem Gesetz und lästigen Verpflichtungen. Wir sehnen uns nach der absoluten Freiheit, und der Weg dorthin führte schon immer gen Westen.


Wallace Stegner,

„The american west as living space“


Carthage in South Dakota ist ein kleines, verschlafenes Nest mit 274 Einwohnern. Die Schindelhäuser mit den gepflegten Gärten und die verwitterten Backsteinfronten der Geschäfte ragen in zeitloser Einfachheit aus der un­ermeßlichen Weite der nördlichen Prärie der USA. Die Schatten von imposanten Pappelspalieren legen sich über ein kleines, numeriertes Straßennetz, durch das kaum je ein Auto fährt. In Carthage gibt es einen Lebensmittelladen, eine Bank, eine einzige Tankstelle und eine einsame Bar – das Cabaret, in dem Wayne Westerberg ­gerade an einem Cocktail nippt, an einer süßen Zigarre kaut und an den seltsamen jungen Mann namens Alex denkt.

Die sperrholzverkleideten Wände des Cabaret sind mit Hirschgeweihen geschmückt, die zwischen alten ­Reklametafeln für Old-Milwaukee-Bier und kitschigen ­Öl­gemälden von davonfliegendem Flugwild hängen. Rauchfäden schlängeln sich aus zusammensitzenden Farmergrüppchen hoch. Die Männer tragen Overalls und staubige Baseballmützen mit Firmenlogos. Ihre müden Gesichter sind so rußig wie die Gesichter von Bergbau­arbeitern. Sie sprechen in kurzen, nüchternen Sätzen und beschweren sich über das launische Wetter und die Sonnenblumen­felder, die noch zu feucht zum Mähen sind, während Ross Perots spöttisch grinsende Visage über einen stummgeschalteten Bildschirm hoch über ihren Köpfen flimmert. In acht Tagen wird die Nation Bill Clinton zum Präsidenten wählen. Der Leichenfund in Alaska ist inzwischen knapp zwei Monate her.

„Alex’ Lieblingsgetränk“, sagt Westerberg mit einem Stirnrunzeln und rührt im Eis seines White Russian. „Er hat immer genau dort am Ende der Theke gesessen und uns diese unglaublichen Geschichten von seinen Reisen erzählt. Oft stundenlang. Viele hier im Dorf haben den guten Jungen irgendwann richtig ins Herz geschlossen gehabt. Ganz schön hart, was da mit ihm passiert ist.“

Westerberg, ein breitschultriger Mann mit schwarzem Ziegenbart, der unter gelegentlichen Zuckungen leidet, ist Besitzer zweier Getreidesilos, das eine in Carthage, das zweite ein paar Meilen außerhalb der Stadt. Zu Beginn jeden Sommers trommelt er jedoch eine Ernte­kolonne zusammen und fährt mit ihr nach Texas hin­unter. Von dort aus folgen sie der Ernte mit ihren Mähdreschern bis an die kanadische Grenze hoch. Im Herbst 1990 war er im Norden Montanas und erntete die Hopfenfelder von Coors und Anheuser-Busch ab, der letzte Auftrag der Saison. Am Nachmittag des 10. September, als er gerade Cut Bank verließ, wo er Ersatzteile für einen defekten Mähdrescher gekauft hatte, nahm er einen Tramper mit, einen liebenswürdigen Jungen, der sagte, er heiße Alex McCandless.

McCandless war eher klein von Gestalt und hatte den knochigen, sehnigen Körperbau eines Wanderarbeiters. Er hatte markante Augen. Dunkel und gefühlvoll verwiesen sie auf exotisches Blut in seiner Ahnenreihe – griechisch vielleicht oder chippewa-indianisch. Die Verletzlichkeit in diesen Augen berührte Westerberg, und er beschloß, Alex unter seine Fittiche zu nehmen. Der Junge hatte dieses feinfühlige, sensible Aussehen, um das die Frauen immer so ein Theater machen, dachte Westerberg bei sich. Auffällig waren auch seine Gesichtszüge, die von einer seltsamen Geschmeidigkeit waren: eben noch träge und ausdruckslos, verwandelten sie sich im nächsten ­Moment in ein breites, entstellendes Grinsen, unter dem ein riesiges Pferdegebiß zum Vorschein kam. Er war kurzsichtig und trug eine Brille mit Metallgestell. Er sah hungrig aus.

Zehn Minuten nachdem er McCandless aufgesammelt hatte, hielt Westerberg in dem kleinen Ethridge, um bei einem Freund ein Paket abzugeben. „Mein Freund hat uns beiden ein Bier angeboten“, erzählt Westerberg, „und dann hat er Alex gefragt, wann er denn das letzte Mal was gegessen hätte. Alex mußte zugeben, daß das schon ein paar Tage her war und daß ihm irgendwie das Geld ausgegangen ist.“ Die Frau des Freundes bekam dies zufällig mit und bestand darauf, Alex ein richtiges Abendessen zu kochen, das er dann auch prompt verschlang. Kurz darauf fielen ihm die Augen zu, und er schlief am Tisch ein.

McCandless hatte Westerberg erzählt, daß er nach Saco Hot Springs wolle, zweihundertvierzig Meilen östlich des U.S. Highway 2. Ein paar „Gummi-Tramps“ (Travelers, die mit dem Wagen unterwegs sind; im Unterschied zu den „Leder-Tramps“, die nur ihre Schuhsohlen haben und gezwungen sind, per Anhalter zu reisen oder zu Fuß zu gehen) hätten ihm von dem Ort erzählt. Westerberg hatte dem Jungen daraufhin erklärt, daß er ihn nur noch zehn Meilen mitnehmen könne. Dann müsse er die Abbiegung nach Norden nehmen, Richtung Sunburst. Dort, an einem Getreidefeld, das er gerade aberntete, stehe sein Wohnwagen. Als Westerberg schließlich an den Straßenrand fuhr, um McCandless aussteigen zu lassen, war es bereits halb elf. Es hatte fürchterlich zu regnen begonnen. „Mann“, sagte Westerberg, „ich kann dich doch hier unmöglich rauswerfen, bei dem, was da runterkommt. Du hast doch ’nen Schlafsack – komm doch einfach mit nach Sunburst. Du kannst bei mir im Wohnwagen pennen.“

McCandless blieb drei Tage bei Westerberg, fuhr jeden Morgen mit der Crew aufs Feld hinaus und sah den Jungs dabei zu, wie sie ihre rumpelnden Mähdrescher durch das weite, reife Getreidemeer manövrierten. Als sich dann McCandless’ und Westerbergs Wege wieder trennten, sagte Westerberg ihm, daß er jederzeit bei ihm in Carthage vorbeischauen kann, falls er mal einen Job braucht.

„Keine zwei Wochen später tauchte Alex hier auf“, erinnert sich Westerberg. Er gab McCandless einen Job im Getreidesilo und vermietete ihm zum Freundschaftspreis ein Zimmer in einem seiner beiden Häuser.

„Ich hab über die Jahre ’ner Menge Anhalter Jobs gegeben“, sagt Westerberg. »Die meisten waren nicht viel wert, hatten keine richtige Lust zum Arbeiten. Alex war ganz anders. Er konnte richtig schuften, mehr als jeder andere. Egal was anfiel, er hat’s gemacht: harte, körper­liche Arbeit, verfaultes Getreide und tote Ratten vom Siloboden ausmisten – richtige Schinderjobs, bei denen du so dreckig wirst, daß du am Feierabend in den Spiegel schaust und dich selbst nicht wiedererkennst. Und er hat nie mittendrin aufgegeben. Was er angefangen hat, hat er auch zu Ende geführt. War Ehrensache für ihn. Er war richtiggehend ethisch, wie man so sagt. Hat ganz schön hohe Maßstäbe an sich angelegt.

Man hat gleich gemerkt, daß der Junge richtig was auf dem Kasten hat«, sagt Westerberg nachdenklich und leert seinen dritten Drink. »Er hat viel gelesen und manchmal richtig philosophisch geredet. Ich schätze, das hat ihm am Ende auch das Genick gebrochen, daß er zuviel nachgedacht hat. Er mußte immer nach dem Sinn fragen, hat unbedingt wissen wollen, warum die Welt so ist, wie sie ist, warum die Leute oft so gemein zueinander sind; ’n paar Mal hab ich schon versucht, ihm zu sagen, daß er sich über so was nicht den Kopf zerbrechen soll, daß das ein Fehler ist, daß er sich da in was verrennt, aus dem er nicht mehr rauskommt. Aber so war er halt. Er mußte immer haargenau wissen, ob das richtig ist, was er da ­gerade macht, sonst hat er gar nicht erst angefangen.«

Irgendwann entdeckte Westerberg anhand eines ­Steuerformblatts, daß McCandless in Wirklichkeit Chris und nicht Alex hieß. „Er hat mir nie gesagt, warum er den Namen überhaupt geändert hat“, erzählt Westerberg. „Aus dem, was er so erzählt hat, hat man sich aber denken können, daß zwischen ihm und seiner Familie nicht alles zum besten stand. Aber ich misch mich nicht gerne in die Angelegenheiten anderer Leute ein und hab ihn deshalb auch nie danach gefragt.“

Falls McCandless sich von seinen Eltern und Ge­schwistern tatsächlich entfremdet fühlte, so hatte er in Westerberg und seiner Crew zumindest eine Ersatzfamilie gefunden. Die meisten wohnten in Westerbergs Haus in Carthage, einem einfachen, zweistöckigen viktorianischen Bau im Queen-Anne-Stil mit einer riesigen amerikanischen Pappel im Vorgarten, nur ein paar Straßenzüge von der Ortsmitte entfernt. Es muß dort recht locker und lustig zugegangen sein. Die vier oder fünf Mitbewohner wechselten sich beim Kochen ab, gingen gemeinsam zum Trinken und stiegen, ebenfalls gemeinsam, erfolglos den Frauen nach.

McCandless war von diesem kleinen Städtchen schnell angetan. In dem Ort herrschte ein gewisser Stillstand der Zeit, der ihm zusagte, ebenso wie die schlichten Tugenden und die unkomplizierte Atmosphäre. Der Ort war eine Art Staustufe, an der sich menschliches Strandgut sammelte, das dem Sog des allgemeinen Trends entkommen war, und das war ihm gerade recht. In jenem Herbst entwickelte sich ein bleibendes Band zwischen ihm, Carthage und Wayne Westerberg.

Westerberg, inzwischen Mitte dreißig, war als kleiner Junge durch seine Adoptiveltern nach Carthage gekommen. Wie so viele Menschen im Mittleren Westen ist er eine Art Alleskönner. Er bewirtschaftet eine Farm, ist ein erstklassiger Automechaniker, kennt sich im Immobi­liengeschäft aus und verdient sich immer wieder mal ein Zubrot als Maschinenschlosser, Computerprogrammierer oder lizenzierter Flugzeugpilot. Nebenher springt er als Troubleshooter bei Haushaltsgeräten und Reparaturfachmann für Videospiele ein. Kurz bevor er McCandless kennenlernte, hatte ihn jedoch eines seiner vielen Talente in Konflikt mit dem Gesetz gebracht.

Westerberg hatte sich auf einen illegalen Ring ein­gelassen, der „Black Boxes“, Geräte zur Dekodierung von Satellitenprogrammen, herstellte und verschob, mit denen verschlüsselte Programme empfangen werden konnten, ohne daß man einen Pfennig dafür zahlen mußte. Das FBI bekam Wind davon, schleuste einen verdeckten Ermittler als Käufer ein und nahm Westerberg in Haft. Er zeigte sich geständig, und der Anklagepunkt auf Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung wurde fallengelassen. Dennoch mußte er am 10. Oktober 1990, etwa zwei Wochen nachdem McCandless in Carthage angekommen war, eine viermonatige Haftstrafe wegen Betrugs in Sioux Falls antreten. Da Westerberg im Knast saß, gab es für McCandless keine Arbeit in den Silos, und am 2 – 3. Oktober – früher, als er es vielleicht unter anderen Umständen getan hätte – verließ der Junge die Stadt und nahm wieder sein Nomadenleben auf.

McCandless’ Zuneigung für Carthage war jedoch un­gebrochen. Bevor er ging, schenkte er Westerberg eine Ausgabe aus dem Jahr 1942 von Tolstois Krieg und Frieden, an der er sehr hing. Auf das Titelblatt schrieb er: „Für Wayne Westerberg von Alexander. Oktober 1990. Höre auf Pierre.“ (Letzteres ist eine Anspielung auf Tolstois Helden und Alter Ego, Pierre Bezuhov – uneigennützig, rastlos suchend, unehelich geboren.) Und auch später, als McCandless den Westen durchstreifte, ließ er den Kontakt zu Westerberg nie abreißen, rief ihn an oder schrieb ihm alle ein, zwei Monate. Er ließ seine gesamte Post an Westerbergs Adresse nachsenden und behauptete gegenüber fast allen, die er noch treffen sollte, er stamme aus South Dakota.

In Wahrheit wurde McCandless in den sorgenfreien Gefilden der oberen Mittelschicht in Annandale, Virginia, groß. Sein Vater, Walt, ist ein bedeutender Ingenieur in der Raumfahrtindustrie, der in den sechziger und sieb­ziger Jahren bei der NASA und Hughes Aircraft hochkomplizierte Radarsysteme für die Space Shuttle und ­andere spitzentechnologische Projekte entwickelte. Walt machte sich 1978 selbständig und gründete eine kleine, nach einiger Zeit jedoch höchst erfolgreiche Beraterfirma, User Systems, Inc.. Chris’ Mutter, Billie, fungierte als Teilhaberin und arbeitete in der Firma. Die Familie hatte nun acht Mitglieder: eine jüngere Schwester, ­Carine, der Chris sehr nahestand, und sechs Halbgeschwister aus Walts erster Ehe.

Im Mai 1990 schloß Chris sein Studium an der Emory University von Atlanta ab. Er hatte Geschichte und Anthropologie als Hauptfächer studiert und stets mit hervorragenden Zensuren geglänzt. Außerdem hatte er sich dort als Kolumnist und Redakteur der Studentenzeitung Die Emory Wheel hervorgetan. Als ihm in der Phi Beta Kappa, einer studentischen Vereinigung wissenschaftlich hervorragender Akademiker, die Mitgliedschaft angetragen wurde, lehnte er mit der Begründung ab, daß Titel und Ehren bedeutungslos seien.

Die letzten zwei Jahre seines Studiums waren durch ein Vierzigtausend-Dollar-Erbe finanziert worden, das ihm von einem Freund der Familie vermacht worden war. Als er seinen Bachelor schließlich in der Tasche hatte, waren von dem Erbe noch vierundzwanzigtausend Dollar übrig. Geld, von dem seine Eltern annahmen, daß er es für ein weiterführendes Jurastudium verwenden wolle. „Wir hatten die Signale falsch gedeutet“, räumt sein Vater ein. Was Walt, Billie und Carine nicht ahnten, als sie zu Chris’ Abschlußfeier nach Atlanta flogen – was niemand ahnte –, war, daß Chris kurz darauf das gesamte Geld OXFAM America spenden würde, einer Hilfsorganisation, die sich dem Kampf gegen den Welthunger verschrieben hat.

Die Abschlußzeremonie fand am 12. Mai statt, einem Samstag. Die Familie hörte sich eine langatmige Ansprache von Arbeitsministerin Elizabeth Dole an, und als der große Augenblick schließlich gekommen war, machte Billie ein paar Fotos von ihrem Chris, wie er mit breitem Lächeln das Podium betrat und sein Diplom entgegennahm.

Der nächste Tag war Muttertag. Chris schenkte Billie Konfekt, Blumen und eine rührende Glückwunschkarte. Sie war überrascht und tiefbewegt: Es war seit über zwei Jahren das erste Geschenk von ihrem Sohn. Damals hatte er seinen Eltern eröffnet, daß er in Zukunft aus Prinzip Geschenke weder annehmen noch verteilen werde. Erst kürzlich hatte Chris seinen Eltern einen Rüffel erteilt, weil sie ihm zum Uni-Abschluß einen neuen Wagen kaufen wollten. Außerdem boten sie ihm an, das Jurastudium zu finanzieren, falls sein Studienfonds nicht aus­reichen sollte.

Er habe bereits einen prima Wagen, beharrte er: seinen heißgeliebten 82er Datsun B120, ein wenig zerbeult zwar, aber ansonsten voll funktionstüchtig, mit 128 000 Meilen auf dem Buckel. „Ich kann einfach nicht fassen, daß sie mir unbedingt einen neuen Wagen aufschwatzen wollen“, beschwerte er sich später in einem Brief an Carine:


… oder daß sie glauben, ich würde mir tatsächlich von ihnen das Jurastudium finanzieren lassen, falls ich es überhaupt anfange … Ich habe ihnen bereits tausendmal gesagt, daß ich den besten Wagen habe, den es überhaupt gibt, einen Wagen, der den ganzen Kontinent durchquert hat, von Miami bis Alaska, einen Wagen, der mich auf diesen Tausenden von Meilen nicht ein einziges Mal im Stich gelassen hat, einen Wagen, den ich für nichts in der Welt hergeben würde, einen Wagen, der mir unglaublich viel bedeutet – und jetzt ignorieren sie einfach, was ich sage und glauben tatsächlich, daß ich mir einen neuen Wagen von ihnen schenken lasse! Ich werde in Zukunft ganz schön aufpassen müssen und überhaupt keine Geschenke mehr von ihnen annehmen, weil sie sonst nämlich glauben, sie hätten damit meinen Respekt erkauft.


Chris hatte den gelben Datsun in seinem letzten Jahr auf der High-School gebraucht gekauft. Die nächsten Jahre hatte er damit während der Semesterferien regelmäßig auf eigene Faust lange Reisen unternommen, und auch an dem Wochenende der Abschlußfeierlichkeiten erwähnte er gegenüber seinen Eltern beiläufig, daß er diesen Sommer wieder unterwegs sein werde. Seine genauen Worte lauteten: „Ich glaub, ich werd mal wieder für ’ne Weile verschwinden.“

Weder sein Vater noch seine Mutter dachten sich damals viel bei dieser Ankündigung, obwohl Walt seinen Sohn vorsichtig mit den Worten ermahnte: „Versuch es so einzurichten, daß du vorher noch auf einen Sprung zu uns kommst, junge.“ Chris lächelte und nickte halbherzig, was Walt und Billie als eine Art Zusage auffaßten, sie noch vor Ende des Sommers in Annandale zu besuchen. Dann verabschiedeten sie sich.

Gegen Ende Juni schickte Chris, der immer noch in ­Atlanta war, seinen Eltern eine Kopie seines Abschlußzeugnisses: eine Eins in »Apartheid in der südafrika­nischen Gesellschaft« sowie in »Die Geschichte der ­Anthropologie«; Eins minus in „Zeitgenössische afrikanische Politik und die Ernährungskrise in Afrika“. Dem Zeugnis lag eine kurze Notiz bei:


Hier also eine Kopie meines Abschlußzeugnisses. Ich habe einen recht hohen Durchschnitt. Was die Noten angeht, lief es also ganz gut.

Vielen Dank für die Fotos, und auch für das Rasierset und die Postkarte aus Paris. Scheint, als wäre die Reise ein Volltreffer gewesen. Muß echt Spaß gemacht haben.

Ich habe das Bild von Lloyd [Chris’ bester Freund auf Emory] bereits an ihn weitergegeben, und er hat sich echt ­gefreut. Er hatte noch kein Foto von sich, auf dein er das ­Diplom entgegennimmt.

Sonst ist hier nicht viel los. Nur daß es langsam anfängt, richtig heiß und schwül zu werden. Grüße an alle.


Dies war das letzte Lebenszeichen, das Chris’ Familie je von ihm erhalten sollte.

Chris hatte das letzte Jahr in Atlanta außerhalb des Universitätsgeländes in einer Kammer verbracht, die in ihrer kargen Ausstattung an eine Mönchszelle erinnerte: ein Tisch, ein paar Milchkästen und eine Matratze auf dem Boden, das war alles. In der Kammer sah es stets so sauber und ordentlich aus wie in einer Militärbaracke. Er hatte auch kein Telefon; Walt und Billie konnten ihn also nicht anrufen.

Als Chris’ Eltern Anfang August 1990 immer noch nichts von ihrem Sohn gehört hatten, beschlossen sie, nach Atlanta zu fahren und ihn zu besuchen. Dort angekommen, mußten sie feststellen, daß seine Wohnung leer war. Ein Schild mit der Anschrift „Zu vermieten“ klebte am Fenster. Von dem Hausmeister erfuhren sie, daß Chris Ende Juni ausgezogen war. Wieder zu Hause angekommen, fanden sie sämtliche Briefe vor, die sie ihrem Sohn im Laufe des Sommers geschrieben hatten. Sie waren in einem Bündel zusammengepackt an sie zurückgeschickt worden. „Chris hatte sein Postamt angewiesen, sie bis zum 1. August aufzubewahren, offenbar, damit wir nichts merken“, sagt Billie. „Wir haben uns die entsetzlichsten Sorgen gemacht.“

Chris selbst war zu diesem Zeitpunkt längst über alle Berge. Fünf Wochen zuvor hatte er seine gesamte Habe in den kleinen Datsun gepackt und sich mit unbekanntem Ziel Richtung Westen aufgemacht. Der Trip sollte eine Odyssee im wahrsten Sinne des Wortes werden, eine epische Reise, die alles von Grund auf ändern würde. In den vergangenen vier Jahren hatte er sich – so empfand er es – einer absurden, nervtötenden Pflicht unterzogen: ein abgeschlossenes Studium hinter sich zu bringen. Nun war er endlich frei, befreit von der erdrückenden Welt seiner Eltern und Kommilitonen, einer unwirk­lichen Welt der Geborgenheit und des materiellen Überflusses, einer Welt, in der er das pulsierende, nackte Leben, nach dem er sich so sehnte, nie kennenlernen würde.

Als er aus Atlanta aufbrach, wollte er für sich ein vollkommen neues Leben erfinden, ein Leben der ungefil­terten Erfahrung. Um dem unwiderruflichen Bruch mit seinem bisherigen Dasein ein sichtbares Zeichen zu geben, nahm er sogar einen neuen Namen an. Er hörte nicht mehr auf Chris McCandless. Er war nun Alexander Super­tramp, Herr seines Schicksals.

Jon Krakauer

Über Jon Krakauer

Biografie

Jon Krakauer, geboren 1954, arbeitet als Wissenschaftsjournalist für amerikanische Zeitschriften. Er wurde durch den Millionenbestseller „In eisige Höhen“, in dem er den Überlebenskampf der Bergsteiger am Mount Everest schildert, weltberühmt. Für seine Reportagen wurde er mit zahlreichen Preisen...

Wer war das Aussteigeridol Chris McCandless?

„Er nahm einen anderen Namen an und spendete seine gesamten Ersparnisse – vierundzwanzigtausend Dollar – der Wohlfahrt. Er ließ seinen Wagen und den größten Teil seiner Habe zurück und verbrannte auch noch sein letztes Reisegeld. Und dann machte er sich daran, das Leben für sich neu zu erfinden. ”

Eine kleine Pistole und ein Fünf-Kilo-Sack Reis – das war die einzige Ausstattung des jungen Chris McCandless, mit der er sich in die Wildnis Alaskas begab. Seine gesamten Ersparnisse von fünfundzwanzigtausend Dollar hatte er gespendet und das restliche Bargeld verbrannt – er wollte ein neues, ganz anderes Leben beginnen.

Vier Monate später wurde seine Leiche in der Wildnis von Alaska von einem Elchjäger gefunden. Jon Krakauer, für seine spektakulären Reportagen bereits mehrfach preisgekrönt, hat die abenteuerliche Wanderung des Chris McCandless anhand von Tagebucheintragungen, Postkarten und Interviews rekonstruiert.

War Chris ein hoffnungsloser Romantiker oder einfach nur ein Spinner? Oder wurde er von einer Sehnsucht getrieben, die nur zu typisch ist für unsere Zeit? Eine packende Reportage vom Autor des Bestsellers „In eisige Höhen“.

„Ich kann nicht für mich in Anspruch nehmen, ein ­unvoreingenommener Beobachter zu sein. McCandless’ Geschichte berührte mich zutiefst, daher war mir eine ­leidenschaftslose Darstellung der Tragödie nicht möglich." - Jon Krakauer

Bild: Von Erikhalfacre - Eigenes Werk as seen here [1], CC BY-SA 3.0, commons.wikimedia.org/w/index.php

 

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