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Ist Shakespeare tot?

Ist Shakespeare tot? - eBook-Ausgabe

Mark Twain
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„Ein pointiertes Stück für Literaturliebhaber, das heute noch so aktuell ist wie 1909.“ - Morgenpost am Sonntag

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Ist Shakespeare tot? — Inhalt

Ein Dichter ohne Bücher? Ein Autor, der nicht einen Brief schrieb? Ein gefeierter Dramatiker und Schauspieler, an den sich kurz nach seinem Tod schon niemand mehr erinnert? Das Leben eines gewissen William Shakespeare aus dem englischen Provinzort Stratford upon Avon gab dem amerikanischen Literaten und scharfzüngigem Beobachter Mark Twain zu denken. Er besah sich die Tatsachen und formulierte seine Antwort auf die drängendste Frage der englischen Literaturgeschichte: War William Shakespeare wirklich der Dichter, für den wir ihn halten? - Niemand hat sich seither diesem unerschöpflichen Thema amüsanter und pointierter genähert als Mark Twain. „Ist Shakespeare tot?“ ist ein Glanzstück literarischer Satire.

€ 8,99 [D], € 8,99 [A]
Erschienen am 01.04.2016
Übersetzt von: Nikolaus Hansen
128 Seiten
EAN 978-3-492-97407-3
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Leseprobe zu „Ist Shakespeare tot?“

I
Hier und da verteilt in den Stapeln unveröffentlichter Manuskripte, aus denen sich meine eindrucksvollen Lebenserinnerungen und Tagebücher zusammensetzen, wird in ferner Zukunft manch ein Kapitel auftauchen, in dem es um anmaßende Leute geht – um historisch berühmt-berüchtigte Anmaßende : Satan, anmaßend ; das Goldene Kalb, anmaßend ; der verschleierte Prophet von Khorasan1, anmaßend ; Ludwig XVII.2, anmaßend ; William Shakespeare, anmaßend ; Arthur Orton3, anmaßend ; Mary Baker G. Eddy4, anmaßend – und all die anderen. Berühmte Anmaßende, erfolgreiche [...]

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I
Hier und da verteilt in den Stapeln unveröffentlichter Manuskripte, aus denen sich meine eindrucksvollen Lebenserinnerungen und Tagebücher zusammensetzen, wird in ferner Zukunft manch ein Kapitel auftauchen, in dem es um anmaßende Leute geht – um historisch berühmt-berüchtigte Anmaßende : Satan, anmaßend ; das Goldene Kalb, anmaßend ; der verschleierte Prophet von Khorasan1, anmaßend ; Ludwig XVII.2, anmaßend ; William Shakespeare, anmaßend ; Arthur Orton3, anmaßend ; Mary Baker G. Eddy4, anmaßend – und all die anderen. Berühmte Anmaßende, erfolgreiche Anmaßende, unterlegene Anmaßende, fürstliche An­maßende, plebejische Anmaßende, protzige Anmaßende, schäbige Anmaßende, geachtete Anmaßende, geächtete Anmaßende, sie alle blinzeln hier, da und dort sternengleich durch die Nebel der Geschichte und der Legende und der Tradition herab vom Firmament – und siehe da, die ganze geliebte Sippschaft ist gehüllt in Geheimnis und Romantik, und wir lesen mit größtem Interesse über sie und sprechen von ihnen, je nachdem, auf welche Seite wir uns schlagen, mit herzlicher Sympathie oder bitterem Groll. So war es schon immer mit dem Menschengeschlecht. Es gab niemals einen Anmaßenden, wie faden­scheinig oder offenkundig verlogen seine Sache auch gewesen sein mochte, der weder Gehör zu finden noch eine leidenschaftliche Gefolgschaft hinter sich zu versammeln in der Lage war. Arthur Ortons Anspruch, er sei der verschollene Baronet Tichborne und habe überlebt, war ebenso fadenscheinig wie Mrs Eddys Behauptung, ihr Hauptwerk Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift sei ihr direkt von Gott in die Feder diktiert worden ; doch verfügte Orton in England vor fast vierzig Jahren über eine gewaltige Gefolgschaft von unbeirrbaren Gläubigen, die auch dann noch stur auf ihrer Überzeugung beharrten, als ihr fettleibiger Gott längst des Betruges überführt war und wegen Meineids im Gefängnis saß, und die Anhängerschaft von Mrs Eddy ist bis heute nicht nur riesengroß, vielmehr wächst tagtäglich ihre Zahl und ihr Enthu­siasmus. Unter Ortons Anhängern befanden sich zahlreiche kluge und gut ausgebildete Köpfe, und das Gleiche lässt sich von Anfang an über die Gefolgschaft von Mrs Eddy sagen. Ihre Kirche ist personell ebenso gut bestückt wie jede andere Kirche auch. Anmaßende können immer mit Gefolgschaft rechnen, ganz gleich, wer sie sind, was sie behaupten und ob sie irgendwelche Belege vorzuweisen haben oder nicht. Das war schon immer so. Wenn man genau hinhört, kann man da draußen, in den uralten Gefilden der tiefsten Vergangenheit, über den Abgründen der Jahrhunderte noch immer die Scharen der Gläubigen nach Perkin Warbeck und Lambert Simnel5 rufen hören.
Ein Freund hat mir ein eben erschienenes Buch aus England geschickt – The Shakespeare Problem Restated6 –, gut erzählt und scharfsinnig argumentiert ; und mein seit fünfzig Jahren währendes Interesse an diesem Thema – das in den letzten drei Jahren ruhte – war umgehend neu entfacht. Geweckt worden war mein Interesse ursprünglich – vor Urzeiten – 1857, oder vielleicht 1856, von Delia Bacons Buch7. Ungefähr ein Jahr später vermittelte mich mein Lotsen-Lehrherr Bixby von seinem Dampfschiff auf die Pennsylvania und damit unter die Befehlsgewalt und Obhut von George Ealer – der inzwischen seit vielen, vielen Jahren tot ist. Ich habe endlose Monate bei ihm gesteuert – das war die selbstverständliche Pflicht des Lotsen-Lehrlings : Ich ging die Tageswache und drehte das Steuerrad unter der strengen Aufsicht und gemäß den Anweisungen des Kapitäns. Er spielte hervorragend Schach und verehrte Shake­speare. Er spielte mit jedem Schach ; sogar mit mir, und das war eine erhebliche Herausforderung für die Würde seines Amtes. Auch las er mir – ganz und gar unaufgefordert – Shakespeare vor ; nicht nur ab und an, sondern stundenlang, wenn er die Wache und ich das Ruder übernahm. Er las gut, aber für mich nicht gewinnbringend, weil er ständig Befehle in den Text einfließen ließ. Damit zerstörte, vermischte, vermengte er alles – und zwar so sehr, dass ein uneingeweihter Beobachter bisweilen nicht mehr hätte sagen können, welche Beobachtungen Shakespeare und welche Ealer zuzuschreiben gewesen wären, wenn wir uns in einem schwierigen Flussabschnitt befanden. Zum Beispiel :
Was einer wagt, wag’ ich !
Komm du mir nah, wie bloß steuerst du die Enge an ? Welch irre Idee ! Als zott’ger, ein bisschen mehr Steuerbord, mehr Steuerbord ! russ’scher Bär, geharn’scht Rhinozeros, oder den jetzt kommt er ! Stützruder, Stützruder ! war doch klar, dass sie das Riff förmlich riecht, wenn du ihm derart auf die Pelle rückst, hyr’kanscher Tiger ; nimm jegliche Gestalt, nur diese nicht – nie werden meine festen Nerven beben, aber eh du dich’s versiehst, steckt sie im Ufergebüsch ! Steuerbord stopp ! Backbord volle Kraft voraus ! Steuerbord zurück ! … So, jetzt kommst du klar ; Steuerbord langsame Kraft voraus ; Schiff ausrichten und recht voraus, niemals beben. Oder sei lebend wieder ; fordre mich in einer Wüst’ verdammt noch mal, kannst du dich nicht frei halten vom flachen Wasser ? Zieh sie rüber ! Reiß sie rüber ! Fordre sie aufs Schwert ; verkriech ich mich, dann zitternd, jetzt recht voraus auf die Enge zu ! Nein, nur die Steuerbordmaschine, Finger weg von der anderen, ruf mich aus als Dirnenpuppe. Hinweg ! gräßlicher Schatten ! acht Glasen – der Wachgänger ist schon wieder eingepennt, schätze ich, geh hinab und weck Brown selbst, un­körperliches Blendwerk, fort !
Er war ohne jeden Zweifel ein guter Vorleser und großartig packend und stürmisch und tragisch, aber an mir hat er sich vergangen, denn ich war seither nie wieder in der Lage, Shakespeare ruhig und gelassen zu ­lesen. Ich vermag die Lektüre nicht mehr zu trennen von seinen explosiven Einwürfen, sie schieben sich überall dazwischen mit ihrem banalen „ Was zum Teufel hast du jetzt vor ! Reiß sie rüber ! Mehr ! Mehr ! – So ist gut, jetzt weiter recht voraus “, und von den anderen störenden Unterbrechungen, die in endloser Folge seinem Mund entströmten. Wenn ich heute Shakespeare lese, höre ich sie ebenso deutlich wie in jener Zeit, die lange zurückliegt – einundfünfzig Jahre. Ich habe ­Ealers Vorlesen nie als lehrreich empfunden. In Wahrheit war es zu meinem Schaden.
Seine Ergänzungen zum Text hatten kaum je ver­bessernde Wirkung, doch wenn ich diesen Umstand außer Acht lasse, war er ein guter Vorleser, so viel kann ich zu seiner Ehrenrettung sagen. Er benutzte kein Buch als Vorlage, und das brauchte er auch nicht ; er kannte seinen Shakespeare so gut wie Euklid seine Multiplikationstabellen.
Hatte er etwas zu sagen – dieser Shakespeare ver­ehrende Mississippi-Lotse –, was über Delia Bacons Buch hinausging ? Ja. Und er sagte es auch ; brabbelte es die ganze Zeit vor sich hin, über Monate hinweg – auf der Morgenwache, der Mitternachtswache, der Hundewache ; und brabbelte es wohl noch im Schlaf. Er kaufte die Bücher über den Disput, sobald sie erschienen, und wir redeten über nichts anderes während der gesamten eintausenddreihundert Meilen, die wir in jeweils fünfunddreißig Tagen viermal abfuhren – so lange be­nötigte jenes schnelle Schiff für zwei volle Rundreisen. Wir diskutierten und diskutierten und diskutierten, und wir stritten und stritten und stritten ; er jedenfalls tat es, und ich konnte ab und an einen Satz dazwischenschieben, wenn er einen Fehler machte und eine Lücke entstand. Er argumentierte hitzig, energisch, heftig ; und ich argumentierte zurückhaltend, moderat als Untergebener, der nicht aus einem Ruderhaus geworfen werden möchte, das sich zwölf Meter über der Wasseroberfläche befindet. Er stand in unverbrüchlicher Loyalität zu Shakespeare und empfand nichts als Verachtung für Bacon und alle Anmaßungen der Baconianer. Und ich ebenso – zunächst. Und zunächst freute er sich über diese meine Haltung. Es gab sogar Anzeichen dafür, dass er sie bewunderte ; die Anzeichen schwanden, das ist wahr, mit dem Abstand zwischen den erhabenen Höhen des Lotsen-Herrn und meinen weitaus bescheideneren, aber sie waren spürbar für mich ; spürbar und übersetzbar in ein Kompliment – ein Kompliment, das von oberhalb der Schneegrenze herabkam und auf dem Weg nach unten nicht so recht auftaute und kaum geeignet war, irgendetwas zu befeuern, nicht einmal den Dünkel eines Lotsen-Novizen ; trotzdem ein wahrnehm­bares – und wertvolles – Kompliment.
Natürlich veranlasste es mich, Shakespeare gegenüber noch loyaler zu sein, als ich es ohnehin schon war – sofern möglich – ; und voreingenommener gegenüber Bacon, als ich es ohnehin schon war – sofern möglich. Und so diskutierten und diskutierten wir, beide auf derselben Seite stehend, und waren glücklich. Für eine Weile. Nur für eine Weile. Nur für eine sehr kurze Weile, eine sehr, sehr, sehr kurze Weile. Dann änderte sich die Stimmung ; sie kühlte merklich ab.
Ein klügerer Mensch hätte vielleicht früher als ich begriffen, worin das Problem bestand, aber ich begriff es früh genug, um die nötigen praktischen Konsequenzen zu ziehen. Man muss wissen, dass er ein streitbares Wesen besaß. Weshalb es ihn nach kürzester Zeit langweilte, mit einem Menschen zu debattieren, der mit ­allem einverstanden war, was er sagte, und ihn folglich nie dazu reizte, aufzubrausen und zu zeigen, was in ihm steckte, wenn es ums klare, eiskalte, harte, geschliffene, vielschichtige, blitzgescheite Argumentieren ging. Der Begriff stammte von ihm. Er hat seither, in selbstgefälli­gem Sinne, im Bacon-Shakespeare-Zwist weit mehr als einmal Verwendung gefunden. Aufseiten der Shake­spearianer.
Dann geschah, was nicht allein mir geschah, sondern was immer geschieht, wenn Grundsätze und persönliches Interesse in Gegensatz zueinander geraten und eine Entscheidung getroffen werden muss : Ich ließ die Grundsätze sausen und wechselte auf die andere Seite. Nicht ganz und gar, aber weit genug, um den Ansprüchen der Sache zu genügen. Genauer gesagt vertrat ich folgende Position : Ich glaubte lediglich, Bacon habe Shakespeare geschrieben, während ich zugleich wusste, dass Shakespeare selbst es nicht gewesen sein konnte. Ealer war zufrieden damit, und der Krieg konnte losbrechen. Fleiß, Übung, Erfahrung mit meiner Sicht der Dinge versetzten mich sogleich instand, meine neue Posi­tion annähernd ernst zu nehmen ; sie ein wenig später äußerst ernst zu nehmen ; und sie noch ein wenig später voller Liebe, Dankbarkeit und Hingabe zu vertreten ; schließlich : erbittert, fanatisch, kompromisslos. Von da an war ich mit meiner Überzeugung fest verschweißt, theoretisch war ich bereit, dafür zu sterben, und ich sah voller Mitleid, gemischt mit Verachtung, auf jene Überzeugungen herab, die sich von der meinen unterschieden. Jene Überzeugung, die ich mir aus Eigen­nutz in diesen vergangenen Zeiten zugelegt hatte, ist noch heute die meine, und ich finde Trost, Aufmunterung, Frieden und unfehlbare Freude in ihr. Daran lässt sich erkennen, wie eigenartig theologisch sie ist. Der sogenannte Reis-Christ im Orient durchläuft genau dieselben Stufen, wenn er es auf den Reis und der Missionar es auf ihn abgesehen hat ; er entscheidet sich für den Reis und verharrt im Gebet.
Ealer erledigte den größten Teil unseres „ Argumentierens “ – im Grunde übernahm er es ganz und gar. Die Anhänger seines Kults verwenden voller Leidenschaft dieses große Wort dafür. Wir anderen geben unseren Induktionen und Deduktionen und Reduktionen keinen eigenen Namen. Sie zeigen von selbst, was sie sind, und wir können es in aller Seelenruhe der Welt überlassen, sie mit einem Titel ihrer Wahl zu adeln.
Ab und an, wenn Ealer innehalten musste, um zu husten, besann ich mich meiner Induktionstalente und übernahm am umstrittenen Engpass selbst das Ruder : immer mindestens acht Fuß unterm Kiel (2,40 m), achteinhalb (2,55 m), oft auch neun (2,70 m), manchmal sogar ein Viertel unter Twain (2,80 m) – so glaubte ich ; er hingegen sprach immer nur von „ kein Grund “.
Nur ein einziges Mal schaffte ich es, ihn nieder­zuringen. Ich bereitete mich vor. Ich schrieb mir eine Stelle bei Shakespeare heraus – es mag dieselbe gewesen sein, die ich vorher zitiert habe, ich erinnere mich nicht mehr – und verschnitt sie mit seiner ungestümen Dampfschifffahrts-Terminologie. Eines schönen Sommertages, nachdem er eine komplizierte Passage, die „ Ein halber Hektar Hölle “ genannt wurde, ausgelotet und mit Bojen markiert hatte und wieder zurück an Bord war und die Pennsylvania erfolgreich, und ohne ein einziges Mal über den Sand zu kratzen, durch die Enge gelotst hatte, während die A. T. Lacey, die in unserem Kielwasser folgte, stecken blieb, und er sich rund­um gut fühlte, bot sich eine ungefährliche Möglichkeit, sie ihm zu zeigen. Er war belustigt. Ich bat ihn, ihr die Ehre zu erweisen : Lesen Sie vor ; lesen Sie vor, fügte ich diplomatisch hinzu, denn nur er könne dramatische Dichtung angemessen vortragen. Das Kompliment traf ihn im tiefsten Inneren. Er las vor ; las vor mit überwältigender Energie und einzigartigem Temperament ; las vor, wie dieses Stück nie wieder gelesen werden wird ; denn nur er verstand es, den tosenden Einsprengseln die richtige Melodie zu geben und sie als Teil des Textes erscheinen zu lassen, ihnen einen Klang zu verleihen, als brächen sie aus Shakespeares eigenstem Inneren hervor, als wäre jedes einzelne eine goldene Inspiration, die auf keinen Fall übergangen werden durfte, wollte man dem geballten, großartigen Ganzen keinen Schaden zufügen.
Ich wartete eine Woche, um den Vorfall ein wenig verblassen zu lassen ; wartete länger ; wartete, bis er im Rahmen einer Argumentation und Schmähung meine Paradeposition ins Gespräch brachte, meine Lieblingsposition, die ich allen anderen in meinem Munitions­lager deutlich vorzog und die lautete : Shakespeare kann Shakespeares Werke unmöglich verfasst haben, weil der Mann, der sie schrieb, über intimste Kenntnisse der Gesetze, der Gerichte und der Rechtsprechung, der Anwaltsterminologie und der Verfahrensweisen von Anwälten verfügt haben muss – und sollte Shakespeare dieses grenzenlose und sich immer weiter verzweigende Universum, das solchen unermesslichen Reichtum begründete, tatsächlich ganz und gar erfasst haben, woher erwuchs ihm diese Möglichkeit, und wo, und wann ?
„ Aus Büchern. “
Aus Büchern ! Das war stets die Erklärung. Ich antwortete so, wie es mich die auf meiner Seite der großen Kontroverse stehenden Meister gelehrt hatten : Kein Mensch kann den Jargon eines Gewerbes, in dem er nicht selbst tätig gewesen ist, schlagfertig und gewandt und sicher handhaben. Er wird Fehler machen ; er wird und kann sich der Terminologie des Gewerbes nicht präzise und exakt bedienen ; und in dem Moment, da er von den Gepflogenheiten des Gewerbes auch nur um ein Gran abweicht, wird ein Leser, der in dem betreffenden Gewerbe tätig war, wissen, dass dies für den Autor nicht zutrifft. Ealer ließ sich nicht überzeugen ; er sagte, ein Mann könnte sich durch sorgfältige Lektüre und Studium die Feinheiten und Geheimnisse und Frei­maurereien eines jeglichen Gewerbes aneignen. Doch als ich ihn bat, die Shakespeare-Passage mit den Einsprengseln noch einmal vorzulesen, da bemerkte auch er, dass es einem Studenten unmöglich wäre, die irritierende Vielzahl von Lotsen-Begriffen aus Büchern derart allumfassend und perfekt zu erlernen, dass er sie in Buch und Spiel und Gespräch selbstverständlich und frei von Fehlern, die nicht sogleich jedem Lotsen auf­fallen würden, zu verwenden vermöchte. Das war ein Triumph für mich. Er schwieg eine Weile, und ich wusste, was vorging : Er verlor die Fassung. Und ich wusste, dass er das Gespräch in Kürze mit dem immer gleichen uralten Argument beenden würde, das ihm bei Bedarf stets Halt und Schutz bot ; das immer gleiche uralte Argument, auf das ich keine Antwort hatte – weil es keine gab : das Argument, ich sei ein Arschloch und hielte am besten den Mund. Er brachte es vor, und ich gehorchte.
Oh meine Güte, wie lang ist das her – wie herz­ergreifend lang ist das her ! Und nun sitze ich hier, alt, einsam, verzweifelt und allein, und wieder versuche ich, jemandem dieses Argument zu entlocken.
Wer eine Leidenschaft für Shakespeare hegt, wird sich selbstverständlich auch mit Standardwerken an­derer Autoren umgeben. Bei Ealer stand stets eine ganze Reihe erstklassiger Bücher im Ruderhaus, und er las die immer gleichen wieder und wieder, ohne sich für neuere und frischere Werke zu interessieren. Er spielte gut Flöte und hatte große Freude daran, sich selbst spielen zu hören. Das Gleiche galt für mich. Er war der Mei­nung, es täte der Gesundheit einer Flöte gut, dass man sie in ihre Teile zerlegte, wenn sie nicht im Einsatz war ; so kam es, dass die Flöte, so sie nicht gerade gespielt wurde, auseinandergenommen im Kompassregal unterhalb der Brüstung ruhte. Als die Pennsylvania explodierte und sich in ein treibendes Spantenknäuel verwandelte, beladen mit verwundeten und sterbenden Überresten bedauernswerter Seelen (darunter mein jüngerer Bruder Henry), hielt Lotse Brown unter Deck Wache und schlief möglicherweise gerade, sodass er nie erfuhr, was es genau war, das ihn das Leben kostete ; Ealer hingegen kam unverletzt davon. Er und sein Ruderhaus wurden in die Luft katapultiert ; dann stürzten sie hinab, und Ealer sank durch das klaffende Nichts, wo sich einst das Sturmdeck und der Kesselraum befunden hatten, in die Tiefe und landete in einem Trümmergewirr auf dem Hauptdeck, und zwar bäuchlings auf einem Kessel, der nicht explodiert war, in eine Wolke kochend heißen und tödlichen Dampfs gehüllt. Aber dort lag er nicht lange. Er verlor nicht die Nerven : Der jahrelange Umgang mit gefährlichen Situationen hatte ihn gelehrt, in allen Notlagen einen klaren Kopf zu bewahren. Mit einer Hand hielt er seine Mantelaufschläge unter der Nase zusammen, um den Dampf abzuhalten, mit der anderen wühlte er herum, bis er die Teile seiner Flöte fand, dann ergriff er Maßnahmen zur Rettung seines Lebens, mit Erfolg. Ich war nicht an Bord. Mich hatte Kapitän Klinefelter in New Orleans an Land gesetzt. Der Grund – nun, ich habe das alles bereits in einem Buch mit dem Titel Old Times on the Mississippi dargelegt, und es ist ohnehin nicht von Bedeutung, es ist so lange her.

Über Mark Twain

Biografie

Mark Twain, geboren als Samuel Langhorne Clemens 1835 in Florida, arbeitete als Reisejournalist und Lotse auf dem Mississippi und machte große Reisen, darunter nach Hawaii, Europa und Palästina. Berühmt wurde er vor allem durch seine Jugendbücher „Tom Sawyers Abenteuer“ und »Huckleberry Finns...

Gab es Shakespeare wirklich?

„Wir können in den Archiven stöbern und die Lebensgeschichte jedes gefeierten Rennpferdes der Neuzeit rekonstruieren – aber nicht die Shakespeares!“, schreibt Twain - halb klagend, halb belustigt über diese Ironie. Er schlussfolgert: „Es gibt viele Gründe, warum das so ist […]; doch es gibt einen Grund, der alle anderen zusammengenommen aufwiegt, und dieser Grund ist, für sich allein, vollkommen hinreichend – er hatte keine Lebensgeschichte, die festzuhalten wert gewesen wäre.“

Leander Haußmann widerspricht und setzt sich mit Twains Spotttext auseinander. Haußmann, selbst Film- und Theaterregisseur und Schauspieler, war schon in seiner Kindheit begeisterter Shakespeare- und Twain-Leser und sieht sich nun den einen vor dem anderen verteidigen: „War nicht Shakespeare einfach ein genialer Autodidakt“, fragt sich Haußmann in seinem Vorwort und setzt Idealismus gegen Twains rabenschwarzen Zynismus. „Oder steckte hinter dem Namen Shakespeare eine ganze Gruppe erfahrener Literaten und Dramatiker, deren komplexe Zusammenarbeit unter dem Alias die Genialität der Werke ja aber wahrhaftig nicht mindern würde?“, fragt Haußmann weiter.

Aber es ist schwer, Twains satirischem Scharfsinn Paroli zu bieten, wenn er schreibt, er habe nicht die Absicht oder halte es gar für unmöglich, irgendjemanden zu überzeugen. Eine Debatte, bei der es der einen Seite an Fakten und der anderen an Sympathie mangelt, ließe sich niemals beenden. Der Kult um Shakespeare sei ein inzwischen jahrhundertealter Kampf zwischen Faszination und Beweismangel, der in einer Art Glauben gipfele. Und der Glauben muss wahrhaftig stark sein, wenn einer, der ein großer Dichter gewesen sein soll, bei seinem Tod kein einziges Buch sein eigen nannte, kommentiert Mark Twain. Und wer seine unnachsichtige, amüsante Majestätsbeleidigung liest, dessen Glaube mag ins Wanken geraten.

Pressestimmen
Münchner Feuilleton

„Twains Text ist bei allem Ernst in der Sache bestes Kabarett, frech, klug, political incorrect, ironisch überspitzt und von einer Mission getrieben.“

Morgenpost am Sonntag

„Ein pointiertes Stück für Literaturliebhaber, das heute noch so aktuell ist wie 1909.“

Kleine Zeitung

„Ein kurzweiliger Lesespaß!“

Thüringer Allgemeine

„›Ist Shakespeare tot?‹ zu lesen ist gefährlich, man muss dabei zum Baconisten werden. Es ist aber vor allem ein großer Spaß.“

Kulturtipp (CH)

„Der Band ist ein erfrischender Farbtupfer in der Flut der Publikationen, die zum Jubiläum erscheinen.“

Nürnberger Nachrichten

„Eine schöne Version der vielen Theorien über Shakespeares wahre Identität.“

saetzeundschaetze.com

„Mark Twain ist Mark Twain, gerade auch wenn er über einen Shakespeare schreibt, der nicht Shakespeare war. Und so ist der schmale Band eine vergnügliche Lesestunden-Fußnote für alle Shakespeare-Fans und oder eben Liebhaber jenes Dramatikers, der wer auch immer war...“

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