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Judaswiege (Sam Burke und Klara Swell 1)

Judaswiege (Sam Burke und Klara Swell 1) - eBook-Ausgabe

Ben Berkeley
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Thriller

mit zusätzlichem Inhalt

„Ben Berkeley (...) legt in seinem Debüt-Roman einen erstklassigen Thriller vor, der alles hat, was dieses Genre braucht.“ - Reutlinger Generalanzeiger

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Judaswiege (Sam Burke und Klara Swell 1) — Inhalt

„Schau unter den Fahrersitz, Jessica.“ Mit Autobomben zwingt ein Psychopath junge Frauen in abgelegene Waldgebiete und ermordet sie mit einem mittelalterlichen Folterwerkzeug, der Judaswiege. Doch schon bald ist ihm das nicht mehr genug: Er stellt Videos von seinen grausamen Taten ins Netz, getarnt als harte Pornografie. Ein schwieriger Fall für Sam Burke, Psychologe und leitender Ermittler beim FBI. Hilfe von unerwarteter Seite erhält er durch seine Ex-Partnerin Klara „Sissi“ Swell, die sich bei ihren Untersuchungen jedoch am Rande der Legalität bewegt. Können sie den brutalen Killer stoppen?

 

€ 8,99 [D], € 8,99 [A]
Erschienen am 28.11.2011
464 Seiten
EAN 978-3-492-95626-0
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Leseprobe zu „Judaswiege (Sam Burke und Klara Swell 1)“

Juni 2004

Big Beach, Maui, Hawaii

Jessicas Schritte patschten im flachen Wasser der Brandung, sie lachte ausgelassen. Ein schwarz-weißer Hund, den sie nicht kannte, tollte um ihre Beine, forderte sie zum Spielen auf. Sie freute sich über die Zufallsbekanntschaft mit dem freundlichen dicken Wollknäuel. Lachend spritzte sie ihm ein paar Tropfen auf die Schnauze, er bellte kurz wie zum Dank und trollte sich dann über den weichen Strand, der in der Abendsonne glitzerte, zu seinem Herrchen.

Jessica ließ die Wellen den Sand von ihrem Körper waschen und lief [...]

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Juni 2004

Big Beach, Maui, Hawaii

Jessicas Schritte patschten im flachen Wasser der Brandung, sie lachte ausgelassen. Ein schwarz-weißer Hund, den sie nicht kannte, tollte um ihre Beine, forderte sie zum Spielen auf. Sie freute sich über die Zufallsbekanntschaft mit dem freundlichen dicken Wollknäuel. Lachend spritzte sie ihm ein paar Tropfen auf die Schnauze, er bellte kurz wie zum Dank und trollte sich dann über den weichen Strand, der in der Abendsonne glitzerte, zu seinem Herrchen.

Jessica ließ die Wellen den Sand von ihrem Körper waschen und lief zurück zu ihrem Handtuch, sie musste sich jetzt beeilen. Schon Viertel vor sieben, um halb acht wollte sie mit Adrian zu Abend essen. Sicher hatte er wieder etwas Wunderbares gezaubert, Kochen war nicht nur sein Beruf, sondern seine Passion. Und so stand er auch in ihren ­Flitterwochen an manchen Nachmittagen am Herd. Jessica nutzte die freie Zeit an solchen Tagen, um schwimmen zu gehen, oder für Ausflüge in die Berge, aber zum Abendessen war sie immer pünktlich zurück in ihrer Ferienwohnung.

Wie schön, dass ich mich auch nach über sechs Jahren immer noch so auf ein Wiedersehen mit ihm freue, dachte sie und lächelte. Der Wind strich über die feinen Härchen ihrer Haut und ließ sie frösteln. Sie schlang das Handtuch um die Hüften und schnappte sich ihre Flip-Flops.

Noch einmal blickte sie zurück über das Meer, auf die geheimnisvolle Insel, die vor der Küste lag wie ein über­dimensionaler dunkler Stein. Ob dort Menschen wohnten?, fragte sie sich zum hundertsten Mal, als sie sich auf den Weg zu ihrem Mietwagen machte. Der nasse Sand klebte zwischen ihren Zehen, er kitzelte angenehm.

Keine zwei Minuten später erreichte sie das Auto und zog sich ein leichtes Sommerkleid über den Bikini. Das ­Innere des Jeeps war aufgeheizt, ein dicker Schwall schwül-heißer Luft schlug ihr entgegen. Jessica öffnete alle Fenster, bevor sie den Wagen startete und langsam von dem Strandparkplatz rollte. Ihr Magen knurrte. Es wurde Zeit, dass sie etwas zu essen bekam. Vielleicht ­eines dieser phantas­ti­schen Mondfisch-Steaks?

Das Wasser lief ihr im Mund zusammen, als sie das Klingeln ihres Handys aus ihren Gedanken riss. Sicher wunderte sich Adrian, wo sie blieb. „Hallo, Adrian“, begrüßte sie lächelnd ihren frischgebackenen Ehemann. Die Leitung knackte. Wieder einmal eine schlechte Verbindung, dachte Jessica. Typisch für Maui, auf Inseln scheinen sie die ­Mo­bilfunknetze einfach nicht in den Griff zu kriegen.

„Adrian?“, fragte sie erneut.

„Nicht ganz“, antwortete eine leise Stimme.

„Wer ist da?“, wollte Jessica wissen, jetzt leicht ver­ärgert wegen des offensichtlich falsch verbundenen Anrufers.

„Jessica, ich möchte, dass du ruhig bleibst“, verlangte der Unbekannte.

Was konnte das bedeuten? War Adrian etwas zuge­stoßen? Ihr Magen krampfte sich in dunkler Vorahnung zusammen.

„Was ist passiert?“, wollte sie wissen.

„Noch ist nichts passiert, Jessica“, beruhigte sie die Stimme. „Jessica, ich möchte, dass du unter deinen Sitz schaust.“ Die Stimme klang kalt und teilnahmslos.

Ihre Hand begann zu zittern. Was wollte dieser Mann von ihr? Wieso sollte sie unter ihren Sitz schauen? Wie benommen steuerte sie den schweren Wagen auf den ­Seitenstreifen und blickte in den Rückspiegel. Außer ihr
war keine Menschenseele auf der abgelegenen Landstraße ­unterwegs. Sie stellte die Automatik auf Parken und beugte sich nach unten. Ihre Augen gewöhnten sich nur langsam an die Dunkelheit des Wagenbodens. Sie hielt den Atem an, und ihr Herz stockte. Was sollte das alles? Ein schlechter Scherz von einem von Adrians Bekannten? Sie starrte auf die rote Leuchtdiode, die in regel­mäßigen Abständen blinkte. Die kleine Lampe klebte an ­einem großen grauen Paket aus Plastik, um das Gopher-Tape gewickelt war.

Sie saß auf einer Bombe.

„Jessica, hast du unter den Sitz geschaut?“ Wieder die Stimme, jetzt klang sie überlegen, und Jessica meinte, den Mann am anderen Ende der Leitung lächeln zu sehen.

„Ja“, stammelte sie.

„Gut. Steig nicht aus dem Wagen, Jessica.“

Sie überlegte fieberhaft. Es war kein Auto in Sicht, sie war allein auf der staubigen Straße. Wie sollte er wissen, ob sie aus dem Auto stieg oder nicht?

Als hätte er ihre Gedanken erraten, wiederholte er sich: „Steig nicht aus, Jessica. Tu uns das nicht an. Ich kann dich sehen.“

Obwohl sie nicht zum Schwitzen neigte, klebte das Sommerkleid an ihrer Haut wie ein nasser Sack, das Adrenalin hatte ganze Arbeit geleistet. Angst, Stress und Schweiß. Panik erfasste sie. Was sollte sie tun, was hatte der Mann mit ihr vor? Wurde sie entführt? Wegen Adrian? Wegen Geld? Verdammt, Adrian …

»Jessica, frag dich nicht, warum. Es geht nicht um ­Adrian, es geht nur um uns beide.«

Als könne er ihre Gedanken lesen wie ein offenes Buch. Jessica schluckte. Sie stammelte: „Was meinen Sie damit, es geht um uns?“, fragte sie.

Die Stimme lachte: „Das wirst du noch früh genug begreifen, Jessica. Fahr jetzt weiter. Und halte dich an das Tempolimit, wir wollen doch nicht, dass ein Unfall geschieht, nicht wahr, Jessica?“

Wieso wiederholt er ständig meinen Namen?, wunderte sie sich. Ein verdammter Freak. Aber welche Wahl hatte sie schon? Wenn die Bombe echt war, dann musste sie auf Zeit spielen. Und wenn nicht, wenn es nur ein Spinner war, der ihr einen Schrecken einjagen wollte? Sie glaubte nicht daran. Vielleicht ein verflossener Liebhaber. Welcher wäre verrückt genug, ihr so etwas anzutun? Ihr fiel keiner ein. Aber wer konnte schon in fremde Köpfe schauen? In die dunkelsten Ecken, dorthin, wo die abseitigen Phantasien ihr verborgenes Dasein fristeten? Niemand.

Nur dieser eine One-Night-Stand schlich sich in ihr ­Bewusstsein. Damals, vor Jahren, die schummrige Bar, meh­rere Drinks, eine einzige Nacht. Er hatte sie gewürgt beim Sex. Sie hatte es als nicht schlimm empfunden, betrunken, wie sie war, hatte es sie sogar angemacht. Konnte er die Stimme sein? Sie wusste gar nichts mehr, sie wusste nur noch, dass sie auf einer Bombe saß und ihr diese Stimme drohte, sie in die Luft zu jagen, wenn sie nicht tat, was der Mann verlangte.

Sie beschloss, kein Risiko einzugehen und zunächst nachzugeben. Ihr Verstand versuchte, die Kontrolle zu übernehmen. Konnte sie nicht einfach vor einer Polizeistation halten und aus dem Wagen springen? In Filmen hechteten sie ständig aus explodierenden Autos und kamen mit heiler Haut davon. Sie kalkulierte ihre Chancen, bis sie sich eingestehen musste, dass sie zu wenige Variablen kannte. Sie fühlte sich ausgeliefert. Trotzdem startete sie den Wagen.

„Gut, Jessica. Bleib auf der Landstraße bis zur nächsten Kreuzung, und nimm dann die Abzweigung nach Hana im Norden. Ich rufe dich wieder an. Und denk dran, dass ich dich sehen kann, ja? Willst du das für mich tun, Jessica?“

Als könnte sie dadurch alles rückgängig machen, presste Jessica sich den Hörer ans Ohr, vernahm ihren eigenen Atem, der gegen die Panik ankämpfte. Als sie nicht antwortete, wurde die Stimme schärfer: „Jessica, hast du mich verstanden?“

„Ja“, erwiderte sie. Was blieb ihr für eine Alternative?

„Gut. Ich melde mich wieder“, versprach er.

Wie der Verrückte verlangt hatte, nahm Jessica zunächst den Highway und bog im Norden Richtung Hana ab. Der Asphalt wand sich in engen Kurven an der Küste entlang, es war eine beliebte Route für Touristen, angeblich die schönste Straße von ganz Hawaii. Es war jetzt Viertel nach sieben. Um diese Uhrzeit waren die Touristen längst verschwunden, und die Kurven schlängelten sich einsam durch die dichte Vegetation von Maui. Sie musste langsam fahren, immer wieder wurde die Fahrbahn einspurig. Nacheinander passierte sie Attraktionen wie die Zwillings-Wasserfälle oder einen verlassenen Stand, der tagsüber Bananenbrot verkaufte, aber abends waren die Läden verrammelt.

Manchmal glaubte sie, hinter sich ein Scheinwerferpaar zu sehen. Sie fuhr langsamer, aber der Wagen holte nicht auf. Da bist du also. Konnte sie es hier riskieren, aus dem Auto zu springen? Die Strecke war derart unübersichtlich, dass er sie zwangsläufig aus den Augen verlieren musste. Ja, so könnte es gehen. Jessica wartete auf zwei besonders enge, aufeinanderfolgende Passagen und versuchte, möglichst weit vorauszuspähen. Als ein gelbes Schild mit großen schwarzen Pfeilen eine Hundertachtzig-Grad-Kehre ankündigte, beschloss sie, ihr Glück dort herauszufordern. Noch vierzig Meter, dreißig, zwanzig. Dann klingelte ihr Handy. Mit zitternden Fingern drückte sie auf die Taste.

„Jessica, schau nach rechts oben an den Türrahmen. Und bitte: Halte mich nicht für dumm. Das senkt deine Überlebenschancen drastisch. Wir sind fast da, du hast den ersten Teil gleich geschafft. Hinter der nächsten Kurve biegst du nach rechts ab in den Bambuswald. Der Weg ist klein und matschig, aber ich bin sicher, du wirst ihn finden.“

Er kappte die Verbindung. Sie blickte zum Türrahmen, fluchte. Eine kleine schwarze Linse klebte kaum sichtbar an der Scheibe. Er hatte sie die ganze Zeit beobachten können. Shit. Ihr Plan war gescheitert. Sie hatte keine Chance, er saß am längeren Hebel. Diese niederschmetternde Erkenntnis lenkte sie ab, sodass sie die Kehre viel zu schnell genommen hatte. Plötzlich spürte sie, dass sie von der Straße abkam. Der große Wagen schlitterte, und Jessica trat hektisch auf die Bremse. Gerade noch rechtzeitig kam sie vor einer steilen Felswand zum Stehen. Puls und Atem lieferten sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen, Jessica hatte das Gefühl, ihr Herz könnte jeden Moment stehen bleiben. Aber dann hätte der Geisteskranke sogar ohne ihr Zutun sein Ziel erreicht. Sie klammerte sich ans Lenkrad und fuhr wieder an.

Nach der nächsten Rechtskurve hielt sie Ausschau nach der Abzweigung, die ihr die Stimme beschrieben hatte. Dicht an dicht ragten riesige Bambusstauden wie Tausende übergroße Schaschlikspieße gen Himmel. Was wollte der Mann hier von ihr? Grauenhafte Bilder tauchten vor ihrem inneren Auge auf: gespreizte Schenkel, Schreie, eine Hand auf ihrem Mund. Dann Schmerz. Jessicas Magen krampfte. Aber was hatte sie schon für eine Wahl?

Sie versuchte verzweifelt, mit ihren zitternden Händen das Lenkrad festzuhalten, als sie auf der rechten Seite eine schlammige Abzweigung bemerkte, die in das undurchdringliche Dickicht führte. Es war schon fast zu spät. Im letzten Moment riss sie das Steuer herum, sodass der Wagen ins Schleudern geriet.

Als sie ihn wieder unter Kontrolle hatte, holperte er auf dem unebenen Weg derart, dass Jessica fürchtete, die Bombe würde von selbst in die Luft fliegen, aber nichts dergleichen geschah. Nach fünfzig Metern endete der Weg abrupt. Sie musste falsch abgebogen sein. Sie drehte den Kopf zurück und legte den Rückwärtsgang ein, als erneut ihr Handy klingelte. Ein Wunder, dass sie hier draußen überhaupt Empfang hatte. Mit bebender Stimme antwortete sie: „Ja?“

„Das hast du gut gemacht, Jessica. Den ersten Teil hättest du geschafft.“

„Was meinen Sie mit erstem Teil?“, schrie sie panisch, ihre Stimme überschlug sich. „Was wollen Sie von mir?“

„Bleib ruhig, Jessica. Es erhöht deine Überlebenschance drastisch. Unterschätze mich nicht, und behalte die Nerven, das ist das Wichtigste.“

Jessica schluckte ihre Tränen herunter. So viel war sicher: Wenn sie diesen Albtraum unversehrt überstehen wollte, musste sie sich am Riemen reißen. Nicht weil er das sagte, sondern weil sie sonst an ihrer Furcht sterben würde. Dazu bräuchte sie keinen kranken Vergewaltiger, der ihr eine Bombe unter den Autositz legte. Also gut. Als Erstes musst du rausfinden, was er von dir will, und dann musst du Adrian eine Nachricht zukommen lassen. Er wird wissen, was zu tun ist, er weiß immer, was zu tun ist.

„Was wollen Sie von mir?“, fragte sie erneut. Ihre Stimme klang jetzt fester, sie hatte nun zumindest eine vage Idee, wie sie dem Wahnsinnigen entkommen konnte.

„Jessica, ich kann deine Neugier verstehen. Ich werde es dir sagen.“ Ein Blitzen im Rückspiegel erregte ihre Aufmerksamkeit. Von der Landstraße bog ein zweiter Wagen in den matschigen Waldweg ab. Das musste er sein. Das Scheinwerferpaar zuckte auf und ab, als der Wagen auf dem unebenen Boden durchgeschüttelt wurde. Sie fühlte wieder die Panik in sich aufsteigen, kämpfte sie aber nieder. Behalt die Nerven, Jessica.

„Jessica?“, fragte die Stimme. Ihr Verfolger hatte jetzt angehalten, die Scheinwerfer strahlten durch die Dämmerung, die Sonne war beinahe untergegangen, in wenigen Minuten würde es in dem Bambuswald komplett dunkel sein.

„Ja“, antwortete sie.

„Du machst den Motor und das Licht aus, und dann legst du den Schlüssel auf das Wagendach.“

Jessica schluckte. Ihr war bewusst, dass mit jeder seiner Anweisungen, der sie Folge leistete, ihre Chancen sanken, diesem Albtraum zu entkommen. Andererseits würde es ihr auch nichts nützen, ihn zu provozieren. Er wollte, dass sie den Schlüssel aufs Dach legte. Nun gut, in dieser ticken­den Zeitbombe hielt sie es ohnehin keine Sekunde länger aus. Wenn er wollte, dass sie aus dem Auto stieg, sollte es ihr nur recht sein. Sie löschte das Licht. Der Wald lag jetzt vor ihr wie ein dunkler Vorhang. Wie in Zeitlupe zog sie den Schlüssel ab, nahm ihn in die linke Hand und legte ihn auf das Wagendach. Sie schloss die Augen, fasste einen Plan.

„Was wollen Sie von mir, Mister?“

„Du bekommst eine realistische Chance, Jessica. Wirklich.“

Er sagte es, als sei es das Normalste von der Welt, eine Chance zu erhalten.

„Aber Sie haben sie mir doch erst genommen, Mister. Ohne Sie bräuchte ich gar keine Chance. Ich wollte keine, schon vergessen?“

Die Stimme lachte. Ein emotionsloses Lachen, seltsam entrückt. Das Lachen eines Psychopathen.

Jessica dachte an Adrian und ihre Mutter, die sie immer vor Männern gewarnt hatte. Du pauschalisierst, Mom, hatte sie ihr immer geantwortet.

„Jetzt noch das Handy, und dann läufst du los. Ich gebe dir eine halbe Stunde Vorsprung, ich hatte dir schließlich eine realistische Chance versprochen.“

Das war es also? Was sollte das bedeuten? Ein krankes Spiel? Vorsprung klang nach Fangen spielen in den Vorgärten der Nachbarn. Unschuldig und ohne Konsequenzen. Was hatte dieser Mann im Sinn, der sich die Mühe gemacht hatte, eine Bombe in ihrem Auto zu platzieren? Oder war es doch möglich, dass es sich um eine Attrappe handelte? Sie sah ihre Optionen schwinden. Er konnte sie beobachten, jeden ihrer Schritte mit der Zündung der Bombe beantworten. Bis auf einen vielleicht. Vorsichtig, damit er keinen Verdacht schöpfte, tastete sie durch den dünnen Stoff ihres Sommerkleids. Ja, ihr Zweithandy war noch da. Das war ihre Chance, die Oberhand zu gewinnen. Sie konnte ihm ruhig das Handy auf dem Wagendach überlassen. Und wenn das Ganze doch nur ein Scherz war, hatte sie auch nichts verloren.

Dennoch wollte das Zittern in ihrer Hand nicht nachlassen, als sie das Funktelefon auf das Wagendach legte. Sie hatte gerade die Hand zurückgezogen und fragte sich, was der Mann jetzt vorhatte, da er nicht mehr mit ihr kommunizieren konnte, als sie ein stetes Piepsen vernahm. Panik erfasste sie. Sie schnallte den Sitzgurt los und starrte zu der Bombe. 00:27 stand jetzt auf einem rot leuchtenden LED-Display. 00:26. Jede Sekunde zählte die Uhr nach unten. Ihr blieb nicht einmal eine halbe Minute, um weit genug von dem Auto wegzukommen. Fuck. Auf der Rückbank hatte doch eine Taschenlampe gelegen, oder nicht? Damit hatte sie gestern einen verlorenen Ohrring gesucht. Eine schwarze Maglite, schwer und mit neuen Batterien. Sie brauchte die Lampe. Fieberhaft kramte sie in der Unordnung und verfluchte ihre Nachlässigkeit. Sie starrte noch einmal auf die Uhr. Fünfzehn Sekunden. Vierzehn. Da endlich ertastete sie mit ihren Fingerspitzen das kühle ­Metall. Sie streckte sich und riss die Lampe an sich, öffnete die Wagentür, stürzte hinaus, stolperte über den matschigen Grund. Wieso hatte sie nicht ihre Turnschuhe ange­zogen, anstatt einfach barfuß ins Auto zu steigen? Weil es heute Nachmittag gar keinen Grund gab, festes Schuhwerk anzuziehen. Heute Nachmittag kam ihr vor wie vor ewig langer Zeit.

Noch zwölf Sekunden. Sie schlitterte über den Wald­boden, versuchte verzweifelt, Halt zu finden. Sie rutschte ­einen Hügel hinunter, verlor immer wieder den Halt auf dem glitschigen Untergrund. Aber die Böschung würde die Wucht der Bombe mindern, oder nicht? Noch fünf ­Sekunden. Sie duckte sich hinter eine besonders dichte Ansammlung von Stauden, als eine ohrenbetäubende Explosion ihr Trommelfell fast zum Platzen brachte. Ein riesiger Feuerball erhellte die Nacht, sie blickte ungläubig in Richtung der Stelle, an der vorher ihr Geländewagen gestanden hatte. Da dürfte nicht viel übrig geblieben sein.

Also keine Attrappe, dachte Jessica. Ihr Gefühl hatte sie nicht getäuscht. Es war tatsächlich das Werk eines Psychopathen und kein schlechter Scherz. Ihr wurde klar, dass es hier für sie um Leben und Tod ging. Eine halbe Stunde Vorsprung hatte ihr der Mann versprochen, aber sie wollte auf Nummer sicher gehen, sich wenigstens ein Stück weit von ihm entfernen, bevor sie mit ihrem Handy Hilfe rief. Wer weiß, ob sich der Verrückte an seine Ansage halten würde. So schnell sie konnte, kletterte sie weiter den Hügel hinunter. Überall lauerten tückische Steine, sie verlor den Halt und stürzte in den Schlamm. Verdammte Scheiße. Hektisch warf sie einen Blick zurück. Sie hatte es kaum zwanzig Meter weit geschafft. Noch ein Stück, Jessica.

Sie rappelte sich auf und stolperte weiter. Vor sich konnte sie einen kleinen Fluss ausmachen. Es hilft nichts, rein da. Das Wasser war eiskalt, was ihr auf Hawaii seltsam vorkam, aber zum Glück nicht sehr tief. Sie hielt das Handy in der Hand, damit es trocken blieb, und watete zum anderen Ufer. Der Bambuswald sah hier noch dichter aus, und sie konnte nur Umrisse erkennen, tiefer im Gebüsch wurde es sicher stockfinster.

Als sie das Ufer erreicht hatte, ließ sie sich auf den Boden fallen und wählte Adrians Mobilfunknummer. Nichts. Panik stieg in ihr auf. Das Display zeigte ihr an, wo das Problem lag: kein Empfang. Sie kämpfte die Panik nieder, aber die Angst blieb. Dreh jetzt bloß nicht durch, Jessica. Hektisch blickte sie sich um. Der Flusslauf wäre bei Tag sicher schön anzuschauen, kurz nach der Stelle, an der sie ihn überquert hatte, bahnte er sich über einen kleinen Wasserfall den Weg ins Tal. Weiter oben erstreckten sich die weitläufigen Berge des Koolau Forest Reservats, dem Regenwald im Osten Mauis.

Nach oben oder nach unten? Bergab lag die Kleinstadt Paia, ein verschlafenes Surfer-Nest. Wie weit war sie seitdem gefahren? Mindestens neun Meilen. Durch den Dschungel würde sie bis weit in den nächsten Morgen brauchen, um die Zivilisation zu erreichen. Andererseits war es nicht gesagt, dass der Empfang oben in den Bergen besser wäre. Denk nach, denk endlich nach. Sie schaute auf das Display ihres Handys: 19:45. Von ihrem Vorsprung blieben ihr noch knappe zwanzig Minuten.

Die erfolgversprechendste Alternative lag auf der Hand: Sie musste zurück zu der Stelle, an der der Verrückte sie das letzte Mal erreicht hatte. Dort konnte sie sicher tele­fonieren. Aber das hieß: zurück in Richtung der Stimme. Zurück in Richtung des Psychopathen, der dort in seinem Wagen auf sie lauerte. Jessica schauderte bei dem bloßen Gedanken daran. Aber war es nicht doch die beste aller Optionen? Sie überlegte fieberhaft. Oder sollte sie sich durch den Dschungel zur Stadt durchschlagen? Nein, entschied Jessica. Sie musste Adrian so schnell wie möglich erreichen, es musste ihr einfach gelingen, das Blatt zu wenden, ihr Schicksal wieder selbst in die Hand zu nehmen. Sie warf noch einmal einen Blick auf das Handy: zehn vor acht. Ihr blieben noch fünfzehn Minuten. Und Warten machte die Situation mit Sicherheit nicht besser.

Aus ihrem Versteck hinter den Bambushalmen spähte sie über den Fluss. Es war gerade noch hell genug, um ohne Verletzungen auf die andere Seite zu gelangen. Also los, Jessica, spornte sie sich an. Sie nahm ihren kostbarsten Schatz, das Handy, in die linke und die schwere Taschenlampe in die rechte Hand. Es war ihre einzige Waffe, und sie war fest entschlossen, sie auch einzusetzen, wenn sie musste.

Nachdem sie den Fluss ohne Probleme überquert hatte, hielt sie am anderen Ufer kurz inne und lauschte. Sie vernahm das Knacken von berstendem Holz. Wo kam das Geräusch her? Sie konnte es nicht lokalisieren. War er das? Verzweifelt starrte sie gegen die schwarze Wand. Jetzt war es auf einmal wieder still, nur das Plätschern des Bachs war zu hören. Und seine eiskalte, unbeteiligte Stimme in ihrem Kopf: „Ich gebe dir eine halbe Stunde, Jessica.“

Sie packte die Stablampe fester und begann, sich zwischen den dichten Sträuchern hindurchzuzwängen. Die Blätter und Zweige kratzten bei jeder Bewegung an ihrer Schulter und raschelten beim Zurückschnellen. Das Geräusch kam ihr unwirklich laut vor. Und sie hatte noch ein gutes Stück Weg vor sich, denn sie musste das Auto des Verrückten umgehen, um etwas weiter im Westen zur Straße zu gelangen. Dort würde sie dann endlich telefonieren können. Zur Sicherheit überprüfte Jessica noch einmal den Handyempfang: nichts. Der Boden war mit kräftigen Halmen bewachsen, und bei fast jedem Schritt schnitten die Fasern tief in die Haut ihrer nackten Fußsohlen. Denk nicht dran.

Sie schlich etwa fünfzig Meter Richtung Straße, immer wieder starrte sie auf die Balken ihres Telefons, aber sie bewegten sich nicht. Zum Glück war der Akku voll auf­geladen. Sie schlug einen großen Bogen und erreichte eine kleine Anhöhe. Von dort aus konnte sie den Asphalt der Straße nur wenige Meter unter sich in der Dämmerung erkennen. Endlich! Und das Display zeigte ihr, dass sich ihr Telefon ins Netz eingewählt hatte. Mit zitternden Fingern drückte sie die Wahlwiederholung. Es dauerte eine klei-
ne Ewigkeit, bis das Freizeichen ertönte. Sie presste den Lautsprecher ans Ohr und lauschte. Endlich klingelte es. Aber da war noch etwas anderes. Sie spürte einen Luftstoß an ihrem Rücken, ganz leicht. Es klingelte immer noch. Geh ran, Adrian, geh doch bitte ran.

„Ich wusste, dass du zurückkommen würdest“, sagte die kalte Stimme direkt neben ihrem freien Ohr. Sie warf den Kopf herum. Und blickte in eine hässliche schwarze Fratze. Der Teufel selbst ist hinter dir her! Der Schrecken fuhr ihr in die Knochen, ihre Beine gaben nach. Sie schlug wie wild mit der Maglite um sich, versuchte, ihren Peiniger zu treffen. Ihre Hand mit dem Telefon wurde brutal nach links weggeschlagen.

„Adrian!“, schrie Jessica auf und streckte ihre Hand nach dem Gerät aus, aber sie griff ins Leere: Ihr wichtigster Schatz war auf der Straße zerschellt. Die Fratze griff nach ihren Haaren, zog sie ruckartig nach hinten, sodass ihre Wirbelsäule krachte.

„Und jetzt lauf, Jessica“, forderte die Stimme und keuchte, bevor sie Jessica brutal vor sich her stieß.

Über Ben Berkeley

Biografie

Ben Berkeley, Jahrgang 1975, wurde als Sohn deutscher Einwanderer in Palo Alto geboren und wuchs in der Bay Area auf. Nach einem Psychologie-Studium beschäftigte er sich intensiv mit Medienpsychologie und den Auswirkungen digitaler Netze auf unsere Gesellschaft. Berkeley lebt in Santa Barbara,...

Medien zu „Judaswiege (Sam Burke und Klara Swell 1)“
Pressestimmen
Wochenanzeiger Weissenburg

„(...) nichts für schwache Nerven. (...) Selbst beim groben darüber hinweg lesen packt einen das kalte Grausen.“

KrimiKiosk über die Hörbuch-Ausgabe

So muss ein Thriller sein! (...) Ein mehr als gelungenes Erstlingswerk

Belles Leseinsel

Ein sehr spannender Thriller, der weitgehendst auf blutrünstige Szenen verzichtet, mit einer recht komplexen und schlüssigen Story aufwarten kann und ein Ermittlerteam präsentiert, das überaus sympathisch dargestellt wird

Literaturschock.de

... ein sehr spannendes und lesenswertes Debüt, das meine Neugierde auf weitere Bücher des Autors geweckt hat

Literaturblog buchwelten

Volle Punktzahl 5 von 5 für einen fesselnden, spannenden, sehr modernen Krimi/ Thriller mit sehr guten Figuren, klasse Wortwechseln und sehr interessanten Ermittlungsmethoden. (...)ganz klare Leseempfehlung!

krimi-Couch.de

TREFFER: (von 100 möglichen) (...) absolut fesselnder Plot (...) Judaswiege ist ein Buch, das man im Urlaub oder am Wochenende lesen sollte, denn man kann es nur schwer wieder aus der Hand legen (...) ein wirklich bemerkenswertes Erstlingswerk (...)

Sportillu

„Temporeiche Spannung mit interessanten Charakteren.“

Main-Echo

„Berkeleys erster Thriller ist so spannend wie verstörend.“

Reutlinger Generalanzeiger

„Ben Berkeley (...) legt in seinem Debüt-Roman einen erstklassigen Thriller vor, der alles hat, was dieses Genre braucht.“

Amazon

„(…) ein spannender und temporeicher US-Thriller für lange Winterabende.“

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