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Porcelain

Porcelain - eBook-Ausgabe

Moby
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„Am Ende verknüpft Moby die einzelnen Stücke von ›Play‹ noch einmal schön mit Erinnerungen an seine ganz frühe Juegnd.“ - Der Tagesspiegel

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Porcelain — Inhalt

Aus einfachen Verhältnissen kommend zieht Moby in den 80ern vom Land nach New York und versucht in den ersten Jahren, zwischen Cracksüchtigen und Aids-Infizierten seine ersten selbst gemixten Kassetten an den Mann zu bringen. Nach seinem ersten großen Erfolg 1991 mit dem Track „Go“ wird er von Musikern und Fans gleichermaßen verehrt und gefeiert. Er fängt an, in den angesagtesten Clubs aufzulegen und tourt von einem Rave zum nächsten. Zuvor jahrelang ein christlicher, enthaltsamer und anti-alkoholischer Veganer, stürzt er sich in ein Leben voller Alkoholexesse und Sex. Absolut offen und schonungslos beschreibt er diese Zeit – mit all ihren Höhenflügen und Selbstzweifeln – bis er 2001 kurz vor seinem größten Erfolg mit dem Album „Play“ steht. Er lässt uns eintauchen in die vibrierende Welt der Raves und Clubs und das extreme Leben im New York der 90er.

€ 12,99 [D], € 12,99 [A]
Erschienen am 01.06.2016
Übersetzt von: Jürgen Neubauer
464 Seiten
EAN 978-3-492-97445-5
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Leseprobe zu „Porcelain“

Prolog

Parkplatz, 1976


Die Zukunft

Die Geschäfte am Hafen von Stratford, Connecticut, hatten längst geschlossen, nur der Waschsalon war noch geöffnet. Drin stand meine Mutter in Jeans und ihrer braunen Winterjacke, die sie für fünf Dollar im Laden der Heilsarmee gekauft hatte. Unter flimmernden Neonröhren lehnte sie an einem schäbigen Plastiktisch, rauchte eine Winston und faltete Wäsche. Die Kleider gehörten nur zum Teil uns, das meiste war von unseren Nachbarn, die sich manchmal von ihr die Wäsche machen ließen und ihr ein wenig Geld dafür gaben. An [...]

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Prolog

Parkplatz, 1976


Die Zukunft

Die Geschäfte am Hafen von Stratford, Connecticut, hatten längst geschlossen, nur der Waschsalon war noch geöffnet. Drin stand meine Mutter in Jeans und ihrer braunen Winterjacke, die sie für fünf Dollar im Laden der Heilsarmee gekauft hatte. Unter flimmernden Neonröhren lehnte sie an einem schäbigen Plastiktisch, rauchte eine Winston und faltete Wäsche. Die Kleider gehörten nur zum Teil uns, das meiste war von unseren Nachbarn, die sich manchmal von ihr die Wäsche machen ließen und ihr ein wenig Geld dafür gaben. An diesem Märzabend lagen die Geschäfte im Dunkeln, und außer unserem Chevrolet Vega stand nur noch ein anderes Auto auf dem Parkplatz. Die Luft war kalt und klamm, die Schneehaufen in den Ecken des Parkplatzes waren grau und schmolzen im Regen.

Alle zwei Wochen fuhr ich mit meiner Mutter zum Waschen zu der Ladenzeile am Hafen. Manchmal half ich ihr, manchmal saß ich auch nur auf den Plastikstühlen im Waschsalon und sah zu, wie die riesigen Trommeln der Trockner herumwirbelten. Meine Mutter war seit über einem Jahr arbeitslos, und ihre letzte Beziehung war in die Brüche gegangen, nachdem ihr Freund mit einem Messer auf sie losgegangen war. Oft weinte sie, während sie die Wäsche der Nachbarn zusammenlegte. Sie faltete wütend, eine Zigarette zwischen den Lippen, und ihre Tränen tropften auf die Hemden der Nachbarn. Ich war zehn.

Nachdem ich ihr beim Sortieren der Wäsche geholfen hatte, ging ich meistens nach draußen und streunte über den leeren Parkplatz. Oder ich ging an den Lieferbuchten und verrosteten Müllcontainern der Läden vorbei zum verlassenen Hafen. Die Mauern waren schwarz und verrußt. Irgendwann hatten hier Schiffe angelegt, aber nun ragten die Mauern schwermütig und schweigend aus dem schwarzen Housatonic River. Wenn ich Glück hatte, erspähte ich eine der riesigen Wasserratten, die aus einem Loch im Schlamm hervorschoss und in einem anderen verschwand.

An diesem Märzabend des Jahres 1976 war es zu nass und kalt für meine Erkundungsgänge, und im Waschsalon hing der Zigarettenrauch in dichten Schwaden. Während ich auf einem der kalten Plastikstühle saß und meiner Mutter zusah, wie sie faltete, rauchte und weinte, erschien mir unsere Armut noch bedrückender. Also setzte ich mich ins Auto, kuschelte mich in meine nasse Daunenjacke aus dem Secondhandladen und spielte mit dem Radio. Im steten Rhythmus trommelte der Regen auf das Dach des Chevrolet, und ich suchte nach einem Sender, der mir gefiel.

Ich hatte keinen festen Musikgeschmack. Wenn etwas im Radio lief, dann gefiel es mir. Ich nahm an, dass die DJs ihren Job verstanden und niemals etwas spielen würden, was nicht perfekt war. Jede Woche hörte ich Casey Kasems American Top 40 und kannte alle Hits auswendig. Lieblingslieder hatte ich nicht – ich verehrte sie alle, von den Eagles und ABBA über Bob Seger und Barry White bis zu Paul McCartney mit seinen Wings. Musik, die im Radio lief, verdiente unterschiedslos meine Verehrung.

Meine feuchten Jeans klebten am Kunststoffsitz des kalten Autos, aber ich hörte selig der Musik zu. Es war die Zeit von Disco, Rock, Progressive Rock, Yacht Rock und Balladen. Led Zeppelin wurde neben Donna Summer gespielt, und Aerosmith neben Elton John. Plötzlich hörte ich etwas Neues: „Love Hangover“ von Diana Ross. Ich kannte Discomusik, aber in meinen Ohren unterschied sie sich nicht sonderlich von den anderen Sachen im Radio. Aber „Love Hangover“ war anders. Schon der Einstieg klang sinnlich – irgendwie überirdisch und verführerisch – und machte mir Angst.

Alles, was mit Sex und Sinnlichkeit zu tun hatte, machte mir Angst und weckte in mir das dringende Bedürfnis, Zeichentrickfilme zu sehen. Wenn ich mit meiner Mutter Fernsehserien sah und die Darsteller in Maude oder Love Boat Zärtlichkeiten andeuteten, dann erstarrte ich und wartete schweigend darauf, dass die Szene endlich endete.

Aber „Love Hangover“ war anders. Erstens wurde es im Radio gespielt, und schon deshalb musste es gut sein. Zweitens klang es futuristisch. Ich war begeisterter Fan von Raumschiff Enterprise und Mondbasis Alpha 1 und liebte alles, was irgendwie mit der Zukunft zu tun hatte. Die Zukunft war strahlend sauber und faszinierend, und vor allem kannte sie keine traurigen Mütter, die rauchend Wäsche falteten. Obwohl es um Sex ging, hörte ich „Love Hangover“ bis zum Ende an. Es war ein futuristisches Lied im Radio, und weder das Radio noch die Zukunft hatten mich je im Stich gelassen.

Durch die regennassen Scheiben sah ich die verschwommenen Lichter des Waschsalons und fand mich allmählich damit ab, dass mir das Lied gefiel, obwohl es mir Angst machte. Es stand für eine Welt, die ich nicht kannte, für den Gegenpol meiner Welt – und meine Welt war unerträglich. Ich hasste die Armut, den Zigarettenqualm, die Drogen, die Scham, die Einsamkeit. Und Diana Ross verhieß mir eine Welt ohne Trauer und Enttäuschungen. Irgendwo gab es eine Welt, die sinnlich, futuristisch und hypnotisierend war. Und strahlend sauber.

Während ich im Auto saß, träumte ich von einer leuchtenden Stadt, die eine Ewigkeit von diesem leeren Parkplatz entfernt war. Ich stellte mir Menschen vor, die mit erhobenen Köpfen durch die glitzernden Straßen gingen und Glaspaläste betraten, von denen sie auf Diskotheken und Weltraumflughäfen blickten. Während der fiebrigen Schlussakkorde von „Love Hangover“ stellte ich mir Tanzende vor, die ganz in Weiß gekleidet waren und aussahen wie Roboterengel.

Als das Lied zu Ende war, schaltete ich das Radio aus. Ich stieg aus, ging hinaus in den Regen und blickte über den leeren Parkplatz mit seinen Pfützen und schmelzenden Schneehaufen. Durch die Scheibe des Waschsalons sah ich, wie meine Mutter rauchte und Wäsche faltete. Es war unerträglich. Das Leben musste doch mehr sein als diese eisige, einsame Ladenzeile. Aber die Saat war gelegt und hatte sich irgendwo in mein Gehirn eingenistet. Ein Disco-Song im Radio hatte einen leisen Hoffnungsschimmer in mir geweckt: Eines Tages würde ich aus dieser toten Vorstadt herauskommen. Ich würde in eine Stadt kommen und dort in einen Schoß zurückkriechen – einen Disco-Schoß, der von futuristischer Musik erfüllt war. Ich stellte mir vor, wie ich eine Diskothek auf dem Dach des höchsten Gebäudes der Welt betrete und Tausende Menschen sehe, die mich lächelnd willkommen heißen.



Teil 1

Schmutziges Mekka (1989 – 1990)


1 Zehn Quadratmeter

Um sieben Uhr gaben die Hähne endlich Ruhe.

Die leer stehende Fabrik von Stamford, in der ich lebte, wurde von vier wiederkehrenden Geräuschen heimgesucht.

  1. Schüsse. Die Crackdealer lieferten sich regelmäßig Schießereien, die meistens nach Sonnenuntergang begannen.
  2. Lauter Gospelgesang. Jedes Wochenende wurden vor den jamaikanischen und puerto-ricanischen Ladenkirchen gegenüber große Missionszelte aufgebaut, in denen die Crackdealer zur Umkehr bewegt werden sollten.
  3. Public Enemy. Oder EPMD. Oder Rob Base und DJ E-Z Rock. Alle paar Minuten fuhr draußen ein Auto vorbei, aus dem „Fight the Power“ oder „It Takes Two“ dröhnte, dass mein Toaster klapperte.
  4. Hahnenschreie. Sämtliche Nachbarn der alten Fabrik schienen in ihren Hinterhöfen Hähne zu halten. Die fingen morgens gegen halb fünf an zu krähen – genau dann, wenn ich mich schlafen legen wollte. Ich hatte ein altes Radio neben meinem Bett, das ich zwischen zwei Sender einstellte, wenn ich schlafen wollte. Das Rauschen übertönte gerade so die morgendlichen Balzgesänge der Hähne.

Ich war zwei Jahre zuvor in die alte Fabrik gezogen und fühlte mich dort wohl. Im 19. Jahrhundert waren in den zwanzig oder dreißig gigantischen Ziegelhallen Türschlösser hergestellt worden. Jetzt, 1989, war die Fabrik nur noch eine finstere Burg in einem Viertel mit der höchsten Mordrate von ganz Neuengland. Ein Jahrzehnt zuvor hatte ein Immobilienspekulant den ganzen Komplex aufgekauft, eingezäunt und Wachleute davorgestellt, die darauf aufpassen sollten.

Einige der Wachleute besserten ihr Gehalt auf, indem sie Obdachlose und Hausbesetzer für 50 Dollar im Monat in den leer stehenden Gebäuden wohnen oder arbeiten ließen. Ich verdiente im Jahr an die 5000 Dollar, sodass ich mir diese „Pennermiete“ gerade so leisten konnte. Ich hatte nur eine kleine Nische zwischen einem Produktionsstudio von Schwulenpornos und einem Künstleratelier, aber diese Nische war mein: Zehn Quadratmeter, auf denen ich leben und arbeiten konnte, solange die Wachleute ihre 50 Dollar einsteckten und wegschauten.

Die Wände meines Studios hatte ich aus alten Spanplatten zusammengezimmert, die mein Freund Paul und ich aus einem Müllcontainer gefischt hatten. Paul und ich hatten uns in der Highschool von Darien, Connecticut kennengelernt und uns angefreundet, weil wir beide Science-Fiction-Fans und die einzigen Armen der ganzen Schule waren. Meine Wände sahen aus wie braune Wolldecken, und in der sommerlichen Hitze sonderten sie einen widerwärtigen Gestank ab, der an den Müllcontainer erinnerte, aus dem wir sie gezogen hatten. Außerdem hatte mein Studio eine hübsche und stabile Tür, die wir aus einem leer stehenden Haus in der Nähe der Route 7 in Norwalk gerettet hatten, und auf dem Boden lag ein dicker beiger Teppich, den ich aus der Garage der Eltern eines Freundes hatte mitgehen lassen. Sie hatten mir zwar nicht erlaubt, ihren Teppich mitzunehmen, aber ich hatte kein schlechtes Gewissen, weil ich mir sagte, dass ich ihn zurückgeben würde, sobald sie seine Abwesenheit bemerkten. Obwohl ich keinen Staubsauger hatte, blieb der Teppich auf unerklärliche Weise makellos.

Auf einem kleinen Schultisch hatte ich mein Casio-Keyboard, meinen Alesis-Drumcomputer, mein vierspuriges TASCAM-Mischpult und einen schauderhaften Yamaha-Sampler aufgebaut. Weil ich mir keine Boxen leisten konnte, hörte ich meine Sachen über einen Kopfhörer von Radio Shack. Mein Essen kochte ich auf einer elektrischen Kochplatte und in einem Tischbackofen. Aber ich war zufrieden. Ich liebte die zerbröselnden Backsteine, die schweren Fabrikdüfte eines ganzen Jahrhunderts und mein großes, nach Süden hinausgehendes Fenster, durch das im Winter ein fahles Licht hereinfiel und im Sommer glühend die Sonne brannte.

Die Fabrik muss ungefähr zehn Hektar groß gewesen sein. Sie war so riesig, dass ich keine Ahnung hatte, wie viele Menschen dort lebten. Ich wohnte zwar nur auf zehn Quadratmetern, doch ich hatte Zugang zum gesamten Gelände. Manchmal düste ich mit dem Motorrad meines Freundes Jamie durch die leeren Hallen oder spielte Motorrad-Bowling: An einem Ende einer Halle stellte ich Flaschen auf und versuchte, sie mit den Rädern des Motorrads umzukegeln. Wenn mir langweilig war, unternahm ich Erkundungsgänge, auf denen ich alte Gasflaschen, Fässer mit Industriechemikalien, riesige verrostete Schraubenschlüssel, Trommeln mit Stahlkabeln und hin und wieder eine tote Taube fand.

Freunde und Verwandte, die mich besuchten, waren entsetzt. Als einmal mein fünfjähriger Cousin Ben mit meiner Tante Anne vorbeischaute, blieb er in der Tür meines kleinen Raums stehen und rief: „Das ist ja schrecklich!“ Ich stank wie ein Penner, und obwohl ich ein Dach über dem Kopf hatte, war ich im Grunde auch einer. Ich hatte kein fließendes Wasser, kein Klo, keine Dusche und keine Heizung, aber der Strom war umsonst, und mehr braucht man nicht, um Musik zu machen.

Zum Pinkeln benutzte ich eine leere Wasserflasche. Ohne Bad duschte ich mich nur einmal pro Woche bei meiner Mutter oder bei meiner Freundin im Studentenwohnheim. Deswegen stank ich, aber das machte mir nichts mehr aus. An meinem Leben in der alten Fabrik fand ich einfach alles genial.

Oder fast alles. Weniger genial war die Tatsache, dass ich seit Jahren an meiner Musik arbeitete und immer noch in einer Kleinstadt in sechzig Kilometer Entfernung zu New York City lebte. Oder dass sich kein Plattenlabel für meine elektronische Musik interessierte. Oder dass außer meiner Freundin niemand meine Musik gehört hatte. Aber abgesehen davon, dass ich davon träumte, in Manhattan zu leben und Musik zu machen, war die alte Fabrik perfekt.

Meistens stand ich gegen Mittag auf, kochte Haferflocken auf meiner Kochplatte, las in der Bibel und arbeitete an meiner Musik. In meinen Pausen fuhr ich mit dem Skateboard die langen, leeren Gänge einer der Fabrikhallen auf und ab oder ging in einen dominikanischen Laden um die Ecke, wo ich Haferflocken und Rosinen kaufte.

Aber heute fuhr ich nach New York City, mein schmutziges Mekka. Ich hatte verschiedene Möglichkeiten, nach New York zu kommen. Manchmal fuhr ich mit meinem alten Moped zu meiner Mutter nach Darien und lieh mir ihren alten Chevrolet. Dann folgte ich der Route, auf der ich als Achtjähriger mit meinem Großvater in die Stadt gefahren war: Er hatte mir eine mautfreie Strecke dorthin gezeigt, die allerdings durch die schlimmsten Banden- und Drogenviertel der Stadt führte.

Hin und wieder konnte ich bei Freunden mitfahren. Aber meistens nahm ich den Pendlerzug Metro-North. Mit diesem Zug war ich als Jugendlicher oft aus Connecticut nach Manhattan geflüchtet. In unseren besten Band-T-Shirts waren meine Punk-Freunde und ich in die Stadt gefahren, in der Hoffnung, dass uns echte Punks entdecken und unsere Black-Flag- und Bad-Brains-T-Shirts gut finden würden. Morgens hatten wir auf dem Weg nach Manhattan neben müden weißen Angestellten gesessen, und abends auf dem Rückweg saßen wir zwischen denselben Angestellten, die jetzt erschöpft oder betrunken waren.

Wenn Polizisten in der Nähe waren, wenn ich die Fabrik verließ, kletterte ich aus einem der riesigen Fenster, um nicht angehalten zu werden. Aber heute rumpelte nur ein Lastwagen durch die Straße und ich verließ das Gebäude durch das große Tor. In der Kälte krampfte sich mein Körper zusammen. Es war eine feuchte Kälte, die einem in die Knochen fährt und die Socken gefrieren lässt. Drei Tage zuvor hatte es geschneit, und die Erde war von einem engelhaft weißen Tuch bedeckt gewesen, doch das hatte sich rasch unter dem gefrierenden Regen aufgelöst. Unter einem bleiernen Himmel ging ich über den Parkplatz und suchte mir einen Weg durch ein Labyrinth aus Schlaglöchern und Pfützen. Am Zaun des Geländes angekommen, kroch ich durch ein Loch in einer Ecke und machte mich auf den Weg zum Bahnhof.

Unterwegs kam ich an Ladenkirchen mit ihren handgemalten Schildern vorüber. Ein Lebensmittelgeschäft mit Panzerglasscheiben hatte Schlitz-Dosenbier im Sonderangebot. Es folgten ein Billardsalon und einige verlassene und verrammelte Gebäude. Schon nach wenigen Minuten hatte ich eisige Hände und Füße. Die paar Passanten, denen ich auf der Straße begegnete, sahen aus wie Obdachlose. Scheu blickten sie dem verwahrlosten weißen Jungen nach, der durch ihr Viertel ging.

Da der nächste Zug zur Grand Central Station von Manhattan erst in einer halben Stunde ging, machte ich unterwegs im Billardsalon halt und spielte allein eine Runde Pool. Der Raum war düster und wurde nur von ein paar Funzeln über den fünf Billardtischen erleuchtet. Aber selbst in diesem Dämmerlicht waren die Brandflecken und Narben nicht zu übersehen, die Zigarettenstummel und verschüttete Bierreste vieler Jahrzehnte hinterlassen hatten. Außer mir war an diesem Mittag nur ein Mann im Salon, der allein an einem Tisch spielte, und natürlich der Typ, bei dem ich für 1,50 Dollar den Queue und die Kugeln bekam. Obwohl ich ein mäßiger Spieler war, schaute ich auf dem Weg zum Bahnhof oft im Billardsalon vorbei. Ich tröstete mich damit, dass das Spiel zu schnell zu Ende wäre, wenn ich besser spielen würde. Wie so oft hat Mittelmaß auch seine Vorteile.

Wie immer hing dichter Zigarettenqualm im Billardsalon. Obwohl ich Nichtraucher war, machte mir das nichts mehr aus: Ich arbeitete in Kneipen, in denen alle rauchten, und aß in Lokalen, in denen alle rauchten. Außer mir befanden sich zwar nur noch zwei Menschen im Raum, doch es schien mir völlig normal, dass ich kaum durch die Rauchschwaden hindurchsehen konnte.

Ich wechselte nie ein Wort mit den anderen Gästen oder dem Typen am Tresen. Im Stillen hoffte ich, dass mir irgendwann jemand leise zunicken oder ein „Hi“ murmeln würde, aber sie ignorierten mich einfach. In dieses Viertel verirrten sich Weiße nur, um Crack oder Heroin zu kaufen. Ich nahm zwar keine Drogen, aber in den Augen der Anwohner war ich nur ein weißer Junkie mehr, der ihr Viertel zugrunde richtete. Irgendwann bemerkten sie schließlich, dass ich ihr Nachbar war; nun grüßten sie mich zwar immer noch nicht, aber immerhin starrten sie mich nicht mehr feindselig an.

Ich versenkte meine letzte Kugel und hoffte, dass einer der beiden Typen zu mir herübersehen und mich für einen besseren Spieler halten würde, als ich es war. Hin und wieder, wenn ich eine schwierige Kugel einlochte oder es laut krachen ließ, blickte ich verstohlen auf, um zu sehen, ob es irgendwer bemerkt hatte. Aber niemand beachtete mich. Als verlotterter Weißer fiel ich zwar auf, aber nicht genug, um für irgendjemanden interessant zu sein.

Ich schlüpfte in meinen Secondhandmantel, der jetzt nach Rauch und nassem Schaf stank, und stapfte die letzten paar Hundert Meter zum Bahnhof. In einer der Ladenkirchen fand ein Gottesdienst statt. Der Klang von Tamburinen, einer elektrischen Orgel und einem Chor drang auf die Straße. Während der Sonntagsmesse ging ich manchmal in eine dieser improvisierten Kirchen und stellte mich hinten in die letzte Reihe. Wenn das Wetter gut war und die Kirchen ihre Türen geöffnet hatten, füllte der Lärm der konkurrierenden Messen die Straßen und das Viertel klang wie nach dem Turmbau zu Babel. An der Hauptstraße reihten sich die Gebetsräume von Puerto-Ricanern, Abessiniern, bibeltreuen Christen, Pfingstlern und anderen Gemeinden, die sich die Ladenmiete und die Plastikstühle leisten konnten. Aber wenn ich zu lange in der Tür stand und zuhörte, wurden die Gläubigen nervös, weshalb ich mich meist draußen neben die Tür stellte, um den Casio-Orgeln und dem Gesang zu lauschen.

Im Zug schloss ich mich sofort in der Toilette ein. In der Highschool hatte ich gelernt, dass man sich die fünf Dollar für die Fahrkarte sparen konnte, wenn man sich dort versteckte. Ich wollte nach New York City, um in einem neuen Club ein DJ-Tape abzugeben. Meine Freundin Janet, mit der ich seit ein paar Monaten zusammen war, hatte mir von dem Club erzählt. Janet war in Greenwich, Connecticut, aufgewachsen und hatte als Kind Reitunterricht bekommen. Inzwischen wohnte sie in einem Studentenwohnheim der Columbia University, studierte im zweiten Jahr und machte ein Praktikum bei der Zeitschrift Interview. Sie sah aus wie Katharine Hepburn in Die Nacht vor der Hochzeit, aber ihre Helden waren die Journalisten, die für Paper und Village Voice schrieben. Außerdem war sie eine besessene Club- und Galeriebesucherin.

Einer der Journalisten von Interview hatte Janet erzählt, dass ein neuer Club namens Mars Leute suchte und dass ich ein Tape abgeben konnte, wenn ich mich beeilte. In der zerrissenen Tasche meiner nassen Jacke trug ich daher eine Sechziger mit meinen besten DJ-Mixes: Auf der einen Seite Hip-Hop, auf der anderen House. Tagelang hatte ich an dem Tape gearbeitet, auf meinem vierspurigen Rekorder Grooves gemischt und mit A-cappella-Tracks von obskuren Hip-Hop- und Disco-Maxis überlegt. Um etwas weniger obdachlos zu wirken als gewöhnlich, trug ich unter meinem zerlumpten Mantel mein coolstes Club-Outfit: schwarzer Rolli, schwarze Jeans, schwarze Lederschuhe, alles von Goodwill und der Heilsarmee.

Eine Dreiviertelstunde lang hockte ich auf der Toilette des Metro-North, atmete den Gestank von Pisse und Sagrotan ein und betrachtete das Cover, das mein Freund Jamie gestaltet hatte. War das cool genug? War das überhaupt cool? Jamie hatte mir ein Logo in Graffiti-Optik entworfen. Er war leidenschaftlicher Sprayer, aber er war eben auch ein weißer Junge aus Norwalk und studierte an der University of Connecticut. Konnte man das erkennen? Vielleicht war das Logo ja cool. Ich hatte keine Ahnung.

Ähnliche Tapes hatte ich auch an einen Raden Promoter in Kalifornien geschickt. In einem DJ-Magazin hatte ich seine Anzeige gelesen: „Gesucht: Tapes für landesweite Radiosendungen“. Ich hatte die angegebene Nummer gewählt und mit einem mürrischen Typen in Oakland gesprochen. Im Hintergrund hatte ein Baby geschrien. Der Mann hatte behauptet, er könne die Tapes in Radiosendungen unterbringen, also hatte ich ihm halbstündige Hip-Hop-Mixes geschickt. Ich hatte nie einen Cent gesehen und der Mann hatte mir auch nie verraten, ob die Tapes tatsächlich ausgestrahlt wurden, aber ich schickte eifrig weiter meine Mixes, in der Hoffnung, dass irgendwo irgendwer zuhören würde.

Der Zug fuhr in die Grand Central Station ein. Ich verließ die Zugtoilette und lief an den Pendlern vorbei durch die riesige Bahnhofshalle hinunter in die Subway. Eine Viertelstunde und zwei übersprungene Ticketsperren später rannte ich die Fourteenth Street hinunter, an den Schlachthöfen des Meatpacking District vorbei. Atemlos vor Hoffnung und Aufregung kam ich im Mars an. Der Club befand sich in einer leer stehenden Lagerhalle. Ein Clubbesitzer namens Rudolf hatte das Gebäude gemietet, um dort den größten und geilsten Club des Planeten zu eröffnen. Die Fassade ging hinaus auf den West Side Highway, einige Sex- und Sadomaso-Clubs und den bleigrauen Hudson River. Im Meatpacking District gab es keine Restaurants oder Kneipen, aber vor dem Club standen Hunderte coole New Yorker Schlange, um einen Job zu ergattern. Ich stellte mich in meinen Club-Klamotten an, in der Hoffnung, dass die anderen mich nicht als den kleinen und schlecht gekleideten weißen Jungen erkennen würden, der in einer Fabrikruine in Connecticut wohnte.

Eine gute Stunde später stand ich vorn. Im Eingangsbereich des Clubs saßen drei Leute hinter einem großen Klapptisch und verteilten Formulare. Einer fragte mich: „Als was willst du anfangen? Kellner, Barkeeper oder Wachmann?“

„Äh, haben Sie auch Formulare für DJs?“, fragte ich.

Die drei sahen mich wortlos an, dann lachten sie. „Nein, Formulare für DJs haben wir keine“, sagte eine bildhübsche Afromerikanerin in einem langen schwarzen Mantel über einem ausgewaschenen T-Shirt der New York Dolls. „Yuki hat seine DJs schon zusammen“, erklärte sie mir.

„Oh. Na ja. Kann ich vielleicht einfach ein Tape dalassen?“, fragte ich. „Auf der einen Seite ist House, auf der andern Hip-Hop. Vielleicht könnten Sie das ja dem geben, der die DJs einstellt?“

Sie sah mich mitleidig an, aber sie nahm die Kassette entgegen. Dann wandte sie sich dem Typen zu, der hinter mir in der Schlange stand. Wie gelähmt stand ich da. „Okay, danke“, stieß ich hervor, aber sie gab mir keine Antwort mehr. „Okay. Ciao.“

Ich lief nach draußen und zu einer Telefonzelle an der Ecke, um Janet anzurufen. Das Telefon war kaputt. Ich lief zur nächsten Telefonzelle an der nächsten Ecke. Es war auch kaputt. Es nieselte, es war kalt, der dunkle Himmel hing tief herunter, und ich hatte mich gerade im demnächst coolsten Club des Planeten vor einer wunderschönen Frau zum Affen gemacht. Ich hatte zu hoffen gewagt, dass ich im Mars auflegen würde. Ich war ein Idiot. Und nun stand ich mit den Füßen in Pfützen aus Matsch und Tierblut und starrte auf ein kaputtes Münztelefon.

 Moby

Über Moby

Biografie

Richard Melville Hall alias Moby ist Sänger, Songwriter, DJ und Fotograf. Seine Alben haben sich weltweit über 20 Millionen Mal verkauft. Er lebt mittlerweile in Los Angeles. Herman Melville ist sein Ur-Ur-Großonkel.

Pressestimmen
Hanf Journal

„›Moby Porcelain‹ ist eine spannende, lehrreiche Lektüre über einen außergewöhnlichen Künstler, der die elektronische Musik revolutioniert hat.“

FAZ

„›Porcelain‹ ist ein Buch über das Träumen und Scheitern, über Einsamkeit. Es erzählt vom Zauber einer der letzten großen Jugendbewegungen und wie sie düsterer, härter, anstrengender, weniger glücklich wurde - und der Autor mit ihr.“

rbb Fritz

„Das Buch sorgt dafür, dass man von Auftritt zu Auftritt mitfiebert. (...) Eine spannende und kurzweilige Lektüre.“

Der Tagesspiegel

„Am Ende verknüpft Moby die einzelnen Stücke von ›Play‹ noch einmal schön mit Erinnerungen an seine ganz frühe Juegnd.“

NDR Kultur

„460 Seiten sind es geworden. Keine davon langweilig, denn Moby überrascht mit einer sehr lebhaften, farbenreichen Sprache und einem Sinn für Dramaturgie.“

Rolling Stone

„Die vielen Widersprüche und Unwahrscheinlichkeiten der ersten Phase seiner Karriere (...) beschreibt der 50-Jährige ohne viel Selbsbespiegelung oder das Bedürfnis nach der großen philosophischen Lebensbilanz, dafür mit trockenem Humor und einer Liebe für das Anekdotenhafte.“

Rheinische Post

„›Porcelain‹ ist ein Bildungsroman, außerdem eine Kulturgeschichte New Yorks in den frühen 90er Jahren, als die Stadt eher prekär als glamourös ist.“

shitesite.de

„Nicht zuletzt wird diese Autobiografie so kurzweilig, weil sie voller schillernder Anekdoten steckt.“

fachbuchkritik.de

„Für mich war dieses Buch eine Zeitreise in die 90er Jahre. (...) Lässt es uns doch an einem Stück Musik-Zeitgeschichte teilhaben, dem viele damals keine Chance gaben.“

M&R Melodie und Rhythmus

„Wein, Weib, Gesang galore - wir wissen aus unzähligen Musikerbiografien, wie das endet. Bei Moby höchstwahrscheinlich in einer Fortsetzung seiner bemerkenswert gut verfassten Memoiren.“

SWR 3

„›Porcelain‹ liest sich einfach nur wunderbar, fast als würde uns Moby an die Hand nehmen und uns durch sein Leben führen.“

Ox-Fanzine

„›Porcelain‹ liest sich ohne Anstrengung und wird nicht mal phasenweise langweilig. Teilweise überrascht der kleine glatzköpfige Veganer mit seinen vielen Frauengeschichten. Das hätte man dem nach außen hin sehr schüchternen Musiker nicht zugetraut.“

Buch-Magazin

„Absolut offen und schonungslos. Er lässt uns eintauchen in die vibrierende Welt der Raves und Clubs und das extreme Leben im New York der 90er.“

BÜCHER Magazin

„Seine selbstironischen Erinnerungen an die Neunzigerjahre sind auch ein Portät dieser schillernden Underground-Clubszene.“

Allegra

„Bemerkenswert ehrlich“

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