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Adventsgeschichte 10. Dezember

Sonnenwendefest

von Lily Schönfuß

Bereits seit einiger Zeit rochen die Zweige auf unseren Spaziergängen nicht mehr grün. Irgendwie erinnerte mich ihr Aroma an die welken Salatblätter in den Abfalltonnen der dunklen Gasse in Bukarest, in der ich und meine vier Geschwister damals erst von diesen schrecklich zappelnden Kindern aufgestöbert und dann in die Auffangstation außerhalb der Stadt gebracht worden waren.
Gerade versteifte sich mein ganzer Körper wieder bei diesen schrecklichen Erinnerungen, als Paula Kontroletti mich mit ihrer energischen, aber liebevollen Stimme und einem kleinen Ruck an unserer Leine in die Gegenwart zurückholte:
„Lily, Schönfuß!“
Meine Leinenführerin und ihr Gefährte Edgar Sternengucker, mein neues Rudel, gaben sich wirklich alle Mühe, mich mit allerlei Ablenkungen immer wieder von den traumatischen Erlebnissen meines früheren Lebens zu befreien. Manchmal gelang ihnen das, manchmal aber auch nicht. Wenn ich Kindern begegnete, löste das in mir nach wie vor eine Art Entsetzen aus, weil sie mir damals – wahrscheinlich unabsichtlich – eine riesige Panik eingejagt hatten. Sie hatten mich in diesem Hinterhof erst fast zerquetscht und anschließend, weil ich in ihren ungeschickten Armen gezappelt hatte wie verrückt, auch noch vor Schreck fallen gelassen. Das hatte gereicht. Mit diesen kleinen Menschen und ihren unvorhersehbaren Bewegungen wollte ich möglichst nichts mehr zu tun haben.
Seit fast neun Monden war ich jetzt anerkanntes Rudelmitglied bei Paula und Edgar, ich hatte meine Freunde Lennox Aufgehts und seine vorbildliche Rudelführerin Martina Kraulfinger, Bertha Dasreicht und ihre Futterspenderin Elli Lachdireins, Buster Kleinerdrecksack und seine Dosenöffnerin Helene Rotlippe und viele andere kennengelernt auf unseren Runden in dem Park, der an mein neues Zuhause angrenzte. Ich hatte Zeit gehabt, mich langsam in meiner neuen Umgebung einzuleben, alle möglichen fremden und spannenden Gerüche und Eindrücke aufzunehmen und dabei jede Menge über die seltsamen Gewohnheiten der Menschen zu lernen.
Es hatte dunkle, kurze und verregnete Tage gegeben, an denen Paula mich mit viel Geduld dazu überreden musste, sie auf ihrem täglichen Spaziergang nach draußen zu begleiten. Und es hatte herrliche, warme Tage mit langem Licht gegeben, an denen ich mit meinen beiden Leinenführern am einsamen Strand des großen Flusses umhertollte, in rasender Geschwindigkeit fliegende Stöcke jagte und einfach alles vergaß, was mir Angst machte. In dieser Zeit waren die Gerüche neben den Flächen, die mit dieser harten, undurchdringlichen Schicht abgedeckt waren, in dem unendlichen Häusermeer besonders intensiv. Ich konnte riechen, wenn die Gräser grün wurden und ihren Saft in die Stängel schoben, wenn alle Blüten und Blätter sich reckten und streckten, um möglichst viel von der warmen Sonne abzukriegen. Wenn die Bäume im Wald ihre Früchte bildeten, dufteten sie noch einmal stärker, all das war ein Fest für meine Nase. Und in diesem Sommer, so nannten die Menschen diese wundervollen warmen Monate, und dem darauffolgenden Herbst erlebte ich diese unglaubliche Vielfalt zum ersten Mal in meinem kurzen Leben. Paula und Edgar schauten mir dabei des Öfteren ein wenig neidisch zu, manchmal sagte Edgar:
„Na, Lily, das ist bestimmt wieder tausendmal interessanter als Zeitunglesen, was?“
Und ob!, konnte ich da nur denken, denn diese Zeitung, die die beiden lasen, roch immer gleich und nicht besonders würzig, eher kitzelte der Geruch unangenehm an meinem empfindlichen Riecher. Trotzdem steckten sie manchmal ewig lang ihre seltsam geformte Menschennase hinein und taten sonst nichts, außer die Seiten hin und wieder umzublättern, die aber genauso rochen wie die Seiten davor. Seltsam, diese Menschen.
Doch nun konnte ich seit einigen Monden riechen, dass das Grün in Gräsern und Bäumen sich langsam wieder zurückzog. Zuerst fast unmerklich, aber inzwischen fand ich hier und da immer wieder Früchte, die die Bäume abgeworfen hatten, Zweige, die sie nicht mehr gebrauchen konnten und Blätter, die als Erste von Tausenden langsam auf den Boden gesegelt waren. Sie veränderten ihre Farbe, und es wurden jeden Tag mehr, die müde und kraftlos dalagen und sich im Regen und der Kälte langsam auflösten. Doch bis sie gänzlich verschwunden sein würden, konnten sich noch viele kleine Insekten und Würmer unter ihnen verstecken. Und die Bäume selbst freuten sich, wenn ihre Füße unter dem abgefallenen Laub nicht ganz so froren. Denn jetzt kam bald der Winter, ich konnte das an all diesen Gerüchen und Erscheinungen sehr deutlich erkennen. Auch die Sonne schaffte es nicht mehr besonders hoch, gerade gestern war sie mittags kaum noch über die Dächer der gegenüberliegenden Häuser gestiegen.
Die Kälte in Bukarest in einem offenen Käfig war für viele von uns sehr hart gewesen, und ich hatte großes Glück gehabt, dass ich in Adas Wohnung gebracht wurde, als sich draußen dicke Eiszapfen an den Fenstern bildeten und so gut wie alle Bodengerüche von weißem Schnee und gefrorenem Wasser bedeckt waren.
Bei dieser Witterung hatte die Nase ein wenig Pause.
Paula und Edgar auch. Sie lagen nun häufiger neben mir auf dem Sofa herum, und es brauchte nur einer von ihnen den Arm ein wenig auszustrecken, und schon landeten sie mit ihren Händen irgendwo in meinem Fell. Das war fast so gut wie ein Stück Leberwurst nach einem ausgedehnten Spaziergang. Und Leberwurst ist eindeutig der Gipfel aller möglichen Genüsse.
Als ich mit Paula am frühen Abend – es war bereits dunkel und der kürzeste Tag des Jahres war gerade vorbei – aus unserem ruhigen Wohnviertel auf die Straße mit den besonders vielen Autos, Geräuschen, Gerüchen, Lichtern und Menschen einbog, graute es mir noch mehr als sonst vor dieser Kreuzung, die ich glücklicherweise nur selten zu sehen bekam, weil meine Futterspender normalerweise mit meiner völligen Überforderung ein Einsehen hatten: Sie hielten mich von dieser Straße fern, sooft es ging, weil sie verstanden hatten, dass ich mich immerzu für mein Rudel verantwortlich fühlte und sie wie mich selbst vor allen drohenden Gefahren schützen musste. Das allerdings war hier einfach zu viel für mich. Überall waren neue Lichter aufgehängt, die ganze Straße war sogar weit oben an den Häusern mit Tausenden kleiner Lämpchen übersät und noch mehr Menschen also sonst liefen dicht an mir vorbei. Alle rochen sie nach Hektik und übler Laune, die meisten von ihnen hatten grimmige und verkniffene Gesichter und bewegten sich, ohne auf die anderen zu achten, durch diese Massen von Füßen, Beinen und riesigen, gefüllten Taschen, die sie mit sich herumschleppten. In diesem schrecklichen Gewimmel tummelten sich auch meine größten Schreckensfiguren: jede Menge Kinder! Es war ein Geplärre, Gezerre und Gezappel überall, dass ich Paula so heftig von alldem wegzuziehen versuchte, dass sie inzwischen, völlig entnervt von meiner Panik, Bauchschmerzen bekam vor lauter Mitgefühl. Ich konnte das sehr deutlich spüren. So übertrug ich meine Ängste auf sie und sie wiederum auf mich zurück, es war ein Elend. Konfrontationstherapie hatte Martina Kraulfinger das genannt. Paula solle so häufig wie möglich Situationen mit mir aufsuchen, in denen ich Panik bekäme, davon müsse es nach und nach besser werden. So sehr ich Martina und ihre Kraulfinger mochte, hier lag sie definitiv daneben: Niemals würde das Gefühl, aus solchen Zuständen fliehen und nie wieder dorthin zurückkehren zu wollen, besser werden– dessen war ich mir sicher.
Während ich weiter kräftig an der Leine zog, drangen plötzlich und unerwartet wunderbare Klänge an meine Ohren, eine warme, tiefe und weiche Stimme, die sang:

Deschide usa crestine
Deschide usa crestine
Ca venim si noi la tine
La multi ani multi ani cu bine

Ich kannte diese Melodie! Ada, bei der ich in Bukarest für ein paar Tage gewohnt hatte, hatte sie oft gesungen. Kurz vor meiner langen und schrecklichen Reise zusammen mit vielen meiner Artgenossen in dem engen Käfig eines kalten, riesigen Autos, mit dem ich schließlich bei Paula und Edgar gelandet war, hatte meine geliebte Ada dieses Lied immer wieder leise vor sich hingesummt.
Außerdem bemerkte ich einen seltsam bekannten Geruch in der Luft, der mich zusammen mit dem Lied vollkommen in seinen Bann zog. Auf dem Boden vor mir saß ein Mann mit einem roten Mantel, an den Rändern des Mantels klebte weißes Fell. Kein echtes Fell, das konnte ich riechen. Die vielen langen, weißen Haare in seinem Gesicht waren ebenfalls nicht seine eigenen. Auf dem Kopf trug er eine hohe rote Mütze, wie ich sie noch nie gesehen hatte. Seine Fußbekleidung sah aus, als wäre er damit sehr lange über Stock und Stein gelaufen. Was meine Aufmerksamkeit aber am meisten erregte, war der Geruch dieses Mannes. Sein Duft erinnerte mich an die Umgebung, in der ich geboren worden war und in der ich die ersten Monate meines Lebens verbracht hatte. So hatte es gerochen, als meine Geschwister und meine Mutter noch bei mir gewesen waren.
Es war ein leicht muffiger Geruch, den ich sehr mochte; mein Fell, wenn es nass war, roch ganz ähnlich. Dazu kamen Noten von unterschiedlichsten Kräutern und Fett, ein herrliches Aroma für meine Nase! Das Gesicht des Mannes war voller Falten, aus deren Mitte ein Paar strahlend blauer Augen auf mich blickte, denn nur ich befand mich auf seiner Höhe, ansonsten sahen wir beide aus unserer Perspektive nur die Beine der vorbeihastenden Menschen. Während Paula in ihrer Tasche kramte, wagte ich mich zum Schnüffeln etwas näher an den Mann. Er streckte die Hand nach mir aus und berührte mich, unterbrach kurz seinen Gesang und sagte mit brummender Stimme die Worte: „Bună seara, frumusețe!“
Normalerweise ließ ich mich bei einer ersten Begegnung von niemandem anfassen; ich zog mich immer blitzschnell zurück, wenn jemand, den ich nicht kannte, die Hand nach mir ausstreckte, es jagte mir Angst ein. Zur Not schnappte ich auch zu, wenn mein Gegenüber einfach nicht merkte, dass die Berührung mir unangenehm war, und er oder sie all meine Signale übersah. Zu diesem Mann im roten Mantel mit der angenehmen Stimme und irgendwie vertrauten Duftmischung aber fühlte ich mich vom ersten gegenseitigen Augenkontakt an hingezogen. Paula Kontroletti fiel mein ungewöhnliches Verhalten natürlich sofort auf: „Lily, was ist denn mit dir los?“, sagte sie, während ihr Blick zwischen mir und dem Rotmantelmann hin- und herwechselte. Sie war erstaunt und freute sich ein bisschen.
Während ich in aller Ruhe weiterschnüffelte, legte sie eine Münze in den Becher, den der Mann vor seinen Füßen aufgestellt hatte. Das war auch so eine Sache der Menschenwelt, die ich nicht verstand: Die Menschen tauschten runde Blechstücke oder manchmal auch einfach ein Stück Papier gegen alles Mögliche: Brot und süße Weckchen in der Stube, aus der es immer so köstlich duftete, während ich draußen warten musste, oder gegen Flaschen, die Edgar manchmal an einer kleinen viereckigen Bude auf dem Platz mitnahm, an dem sich die unterschiedlichsten Gerüche vermischten, oder auch gegen eine leckere, zwischen zwei Brothälften eingeklemmte Wurst. Die Menschen bedankten sich meistens beieinander, und ich fragte mich oft genug, warum sie so leckere Dinge gegen so etwas Wertloses hergaben, und was sie dann mit den Blechstücken oder dem Papier anfingen, denn essen konnten selbst sie das ja wohl nicht. In meiner Welt funktionierte das anders: Ich sorgte zu Hause dafür, dass Paula und Edgar sicher waren, indem ich sie warnte, wenn jemand Fremdes durch den Hausflur lief oder jemand, dessen Schritte ich nicht kannte, an unserem Garten vorbeiging. Ich fing auch Fliegen in der Wohnung, weil sie mich nervten und sich an meinem Futter im Napf gütlich taten. Ich wusste, dass Paula und Edgar diese Anstrengung ebenfalls schätzten: Sie lobten mich über den Klee, wenn ich wieder eine erwischt hatte, und als Belohnung bekam ich meist eine kleine Leckerei. Ich hopste also so lange an der großen Scheibe zum Garten auf und ab, bis ich die hektischen Brummer schnappte, und beobachtete sehr genau, ob sie sich noch bewegten, wenn ich sie ausspuckte. Zappelten sie noch, nahm ich sie erneut auf und zerquetschte sie sanft; hinunterschlucken mochte ich sie aber nicht, sie schmeckten einfach nicht. Manchmal leckte ich auch Paulas Hand, wenn sie traurig war oder sich schlecht fühlte, das ließ das sanfte Lächeln wieder auf ihrem Gesicht erscheinen, das ich an ihr so mochte. Das jedenfalls waren meine Aufgaben, die ich regelmäßig erledigte – Metallstücke oder Papier wollte ich dafür aber nicht, ich bekam mein Futter und Wasser von Paula und Edgar, und das wusste ich sehr zu schätzen. Den Menschen waren diese Metall- und Papierstücke aber offensichtlich sehr wichtig.
Auch der Weißhaarmann mit der Mütze schien sich aus mir rätselhaften Gründen über Paulas Blechstück zu freuen, denn er nickte freundlich und sagte mit einem Lächeln: „Multjumesc foarte mult, zice Moş Nicolae!“
Paula nickte freundlich zurück und wollte jetzt weiter. Ich wäre gern noch ein wenig in dieser angenehmen Duft- und Klangwolke des Moş Nicolae geblieben, aber Paula war nun mal meine Leinenführerin. Sie allein bestimmte, wo es langging, und ich hatte mich damit abgefunden, weil die Verbindung der Leine zu Paula und Edgar auch mir Sicherheit gab.

Wir waren gerade erst ein paar Schritte vom Rotmantel entfernt, als hinter uns plötzlich ein Tumult zu hören war. Ich spürte große Hektik, hörte laute Stimmen und gleich darauf ein gehetztes Trappeln von mindestens vier Menschenfüßen. Die Füße kamen schnell näher, rempelten erst Paula an, dann ein paar andere Menschen, die hier unterwegs waren, und rannten in Windeseile weiter. Ich hatte mich längst umgedreht, um zu sehen, mit welcher Gefahr wir zu rechnen hatten; jetzt drehte sich auch Paula um und sah, dass Moş Nicolae wild gestikulierend aufgestanden war, offensichtlich war er sehr erschrocken. Der Becher, in den Paula eben die Münze gelegt hatte, war weg. Auch Paula hatte schnell verstanden, worum es ging:
„Das darf doch wohl nicht wahr sein, die haben dem Nikolaus sein Geld geklaut!“, stieß sie wütend aus. So aufgebracht hatte ich meine Futterspenderin selten wahrgenommen. Es war eine Mischung aus Ärger, Wut und sehr, sehr schlechter Laune. Und da war noch etwas anderes, das ich von meiner Rudelführerin schon gut kannte: Sie hatte ein starkes Gerechtigkeitsempfinden, und das lief hier innerhalb weniger Momente auf Hochtouren.
„Lily, wo sind die hin, diese kleinen Teufel? Such!“
Ihre Frage verstand ich nicht genau, aber ich wusste, wonach ich suchen sollte: Ich hatte den Auftrag, der Spur der beiden Jungen zu folgen, die Paula angerempelt und auch den Becher mit dem Geld (was für ein seltsames Wort für die Metall- und Papierstücke!) mitgenommen hatten. Ich liebte es, von Paula Aufträge zu bekommen. Zu Hause oder draußen ließen die beiden mich auch oft diverse Gegenstände suchen, die sie vorher irgendwo abgelegt hatten, ich kannte dieses Kommando also nur zu gut. Und jetzt sollte ich die beiden Jungs suchen, die Moş Nicolae den Becher mit den Münzen weggenommen hatten. Auf der Wiese rangelten wir unter Artgenossen oft zu mehreren um einen Stock, der von unseren Dosenöffnern geworfen worden war, das machte meistens Spaß. Aber als Bertha Dasreicht mich mal zu Hause besucht hatte und sich an meinem Futternapf hatte gütlich tun wollen, war ich wirklich sauer geworden. Das war meins, und niemand, auch nicht meine beste Freundin, hatte mir das streitig zu machen. So war es jetzt auch mit dem Becher von Moş Nicolae: Das Geld darin gehörte nur ihm, er hatte es von Paula und den anderen Menschen bekommen.
Schnell hatte ich die Spur der beiden aufgenommen, schließlich hatten sie Paula fast umgeworfen, das trieb mich besonders an. Ich zog Paula an der straffen Leine weiter, bis die Spur in eine dunkle Seitenstraße führte. Paula zögerte kurz, dann folgte sie mir weiter, immer noch voller Wut, wie ich deutlich spüren konnte. Nun hörte ich schon die Stimmen der beiden, sie kicherten albern und flüsterten. Ich zog fester, Paula kam kaum noch hinterher, ohne in einen Laufschritt zu verfallen. Jetzt hatte meine Leinenführerin ihre Stimmen ebenfalls gehört, ihr Körper spannte sich spürbar. Da! In einer Toreinfahrt standen die beiden, das Geld in den zu einer Art Schüssel geformten Händen des einen, schmalen Jungen, den Becher hatten sie achtlos zu Boden geworfen. Der andere, etwas kräftigere Junge beugte sich über die Handschüssel, nahm ein Geldstück nach dem anderen und murmelte irgendwelche Zahlen.
„Ja, seid ihr denn von allen guten Geistern verlassen?“, rief Paula aufgebracht. „Dem armen Nikolaus sein Geld zu klauen? Ihr habt wohl nicht alle Tassen im Schrank!“ Ich war wahnsinnig aufgeregt, die beiden hier aufgestöbert zu haben, und ließ mich zudem von Paulas übler Laune anstecken: Ich bellte, was das Zeug hielt. Die Handschüssel öffnete sich ruckartig, die Geldstücke fielen auf den Boden und rollten in alle möglichen Richtungen. Die beiden versuchten währenddessen, an Paula und mir vorbei durch die Toreinfahrt abzuhauen, doch da hatten sie die Rechnung ohne meine wütende Paula gemacht. „Hier geblieben, Freundchen, das könnte euch so passen!“, zischte sie, während sie den einen von ihnen am Ärmel packte. Ich bellte weiter so laut ich konnte, sodass der andere sich offensichtlich nicht traute, an mir vorbeizulaufen. Er konnte ja nicht wissen, dass ich zwar gut war im Suchen, im Jagen aber nicht, und dass ich, wenn überhaupt, nur zubiss, wenn mir ein Mensch oder Artgenosse zu schnell zu nahe kam, nicht aber, wenn jemand versuchte wegzulaufen. Ich ließ ja sogar Kaninchen und Mäuse entkommen, wenn ich sie aufstöberte; das Hinterherrennen machte mir Spaß, das Zupacken am Ende einer Jagd weniger.
„Wieso?“, meinte der Kräftige jetzt frech. „Der ist doch auch nur irgend so ein Bettler, der sich das Geld nicht selber verdient hat, außerdem ist er auch noch Ausländer!“
„Ach, und das gibt euch Dicktuern das Recht, ihn zu bestehlen? Das ist Diebstahl! Wisst ihr, dass man dafür eine Anzeige kassiert und sogar ins Gefängnis kommen kann?“
„Wir nicht“, antwortete der Schmale, „wir sind nämlich noch nicht strafmündig!“ „Halleluja!“, rief Paula. „Ihr seid ja zwei ganz ausgekochte Kandidaten! Noch keine fünfzehn, aber schon voll informiert über eure Rechte, was? Die Frage ist, wie es mit den Pflichten aussieht. Kennt ihr die auch?“ Paula kam jetzt richtig in Form. So hatte ich sie bisher nur bei irgendwelchen Wortwechseln mit Edgar erlebt. Die fanden oft statt, wenn sie am Wochenende morgens beim Frühstück kurz ihre Nase aus dem stinkenden Papier hoben, um eine oder mehrere Informationen daraus mit dem anderen zu teilen. Sie redeten dann manchmal sehr laut miteinander, manchmal auch durcheinander. In dieser Stimmung etwa befand sich Paula auch jetzt.
„›Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist unsere Pflicht!‹, schon mal gehört? Nein? Großes Kino, unsere Schulen. Das stammt aus unserem wunderbaren Grundgesetz – und das gilt für alle Menschen, die hier leben, warum auch immer sie hier sind, nicht nur für euch und eure Eltern! Findet ihr das würdig, einem Menschen, der sowieso nichts hat, der alt ist und hier keine Arbeit findet, das wenige, was die Leute ihm da in seinen Pappbecher legen, auch noch wegzunehmen? Und das auch noch einen Tag vor Weihnachten, dem Fest der Liebe?“
Die zwei starrten Paula an und sagten keinen Mucks mehr.
„Das ist niederträchtig und schamlos – extrem uncool, assig, wie immer ihr das nennt! Nur Vollpfosten machen so was“, setzte sie jetzt noch nach. Ich hatte nicht viel von dem verstanden, was sie da erzählte, aber es zeigte seine Wirkung, auch durch die Energie und Überzeugung, mit der meine Leinenführerin sprach. Ihre Stimme war jetzt etwas leiser und eindringlicher geworden: „Wenn ihr also nicht wollt, dass ich Anzeige gegen euch erstatte und ihr damit in den Polizeiakten geführt werdet, und auch nicht wollt, dass eure Eltern erfahren, was hier passiert ist, dann hebt ihr jetzt fein säuberlich alle Münzen wieder auf, packt sie in den Becher und wir bringen sie gemeinsam dem rumänischen Nikolaus zurück!“ Die beiden verharrten immer noch wie gelähmt dort, wo wir sie gestellt hatten. Erst als Paula sagte: „Na los, wird’s bald!“, wich die Starre aus ihren Körpern und sie fingen an, sich nach den Münzen und Papieren zu bücken. „Das ist kein Streich, Leute, den ihr hier gespielt habt, kapiert ihr das? Ihr habt jemandem weggenommen, was ihm gehört. So, als würde ich euch hier eure Handys einfach wegnehmen und sagen: Die gehören jetzt mir! Überhaupt, das ist eigentlich eine gute Idee – wollen wir das so machen?“ Paula grinste, als die beiden sie entsetzt anguckten. „Gut, ihr gebt dem Nikolaus ja auch seine Münzen wieder, da will ich mal nicht so sein.“ Langsam hatten die Zwei alle Münzen zusammengeklaubt. Zu einem letzten Geldstück in einer dunklen Ecke zog ich Paula an der Leine, die sich danach bückte und es in den Becher warf, den der Schmale hielt. Mir wuschelte sie kurz liebevoll über den Kopf und klopfte mir auf die Schulter. Das machte sie immer so, wenn sie zufrieden mit mir war.
„Na, dann mal los“, sagte Paula, „nehmen wir’s in Angriff, Jungs. Und eine Entschuldigung ist natürlich auch fällig, das ist ja wohl klar – klar?“
„Aber der versteht uns doch gar nicht“, sagte der Kräftigere mit einer neu aufkommenden Mischung aus Trotz und Scheuheit. Mit seinen Sohlen schleifte er bei jedem Schritt hörbar über den Boden, das musste sein Vorankommen unglaublich anstrengend machen. Der Schmale trug den Becher mit dem Geld und sagte immer noch nichts.
„Ach, da macht euch mal keine Sorgen, der versteht auf jeden Fall, was ihr ihm sagen wollt. Reue ist international.“ Paula hatte sich äußerlich abgeregt, innerlich aber hielt die Aufregung an, es dauerte bei ihr immer lange, bis sie in ihren Ruhezustand zurückkehrte.
Zurück auf der vollen Straße holte mich auch schon wieder mein Fluchtinstinkt ein – ich wollte am liebsten nur noch nach Hause. Aber eine Zwischenstation bei Moş Nicolae und seiner Duftwolke würde mich ein wenig für die ganze Aufregung entschädigen. Die beiden Jungen hielten sich tatsächlich immer in Paulas Nähe und versuchten nicht mehr wegzulaufen, bis wir bei Moş Nicolae angekommen waren. Hier hatte sich inzwischen die Lage wieder normalisiert, die Leute liefen an ihm vorbei, manche legten etwas in einen neuen Becher, der vor ihm stand, daneben hatte jemand eine Tüte mit Leckereien aus der Bäckerei abgestellt; eine Brezel hielt der Rotmantelmann in der knorrigen Hand und biss gerade genüsslich hinein, als wir vor ihm zum Stehen kamen. Er hörte kurz auf zu kauen und blickte mit seinen blauen Augen erst mich, dann Paula, und dann die Jungs an. Der Schmale setzte vorsichtig den Becher vor ihm ab und fing jetzt an zu stammeln: „Es … also, ja. Wir hätten das nicht tun sollen.“ Hilfesuchend sah er zu Paula, dann zu seinem Kumpel, den er in die Rippen stieß: „Mann, jetzt sag du halt auch mal was!“
Der Schuhschleifer wand sich vor Unbehagen, brachte dann aber mit großer Überwindung seinen Satz heraus. „Ja, tut uns leid, war’n Fehler. Gehörte uns ja nicht. Ham’ Sie ja gesammelt, Nikolaus. Hier isses jetzt wieder“, sagte er und lachte etwas unecht. Dann kramte er in seiner vorderen Hosentasche herum und zog ein Geldstück heraus, das er auch noch in den Becher fallen ließ. Das brachte den anderen auf die Idee, es ihm nachzutun, auch er nahm ein Geldstück aus seiner Hosentasche und warf es in den Becher. Moş Nicolaes Augen blitzten kurz auf, ein winziges Lächeln schlich sich auf sein Gesicht, und er streckte die Hand nach mir aus. „Mulțumire“, sagte er, während er meinen Hals streichelte und gleichzeitig Paula zunickte. Die beiden Jungs sahen Paula fragend an, die nickte auch, und sie verschwanden eilig im Getümmel. Das war ein klarer Vorteil der menschlichen Kommunikation: Sie konnten komplizierte Dinge nicht nur mit Gesten, sondern zusätzlich mit Worten ausdrücken. Aber genauso oft machte ihre Sprache die Dinge umständlicher und verzwickter als sie eigentlich waren. Da war es doch ein Wunder, dass wir uns überhaupt irgendwie verständigen konnten. Je besser wir uns kannten, desto leichter wurde es für beide Seiten, das war im Prinzip das gleiche wie bei den Menschen untereinander.
Als wir endlich wieder zu Hause ankamen und damit meine Konfrontationstherapie hoffentlich für lange Zeit aussetzen würde, berichtete Paula Edgar Sternengucker natürlich in allen Einzelheiten von unserem Abenteuer. Der hörte aufmerksam zu, bis ich an meinem Napf rüttelte. Ich fand, ich hatte mir jetzt wirklich einen Leckerbissen verdient. Es wirkte. Sofort stand er auf und sagte: „Na, Lily Schönfuß, da hast du ja zusammen mit unserer tollen Paula hier ein kleines Verbrechen in unserem Viertel zu einem guten Ende gebracht, was? Ich bin stolz auf euch.“ Er drückte seinen Mund auf Paulas Mund. Dann legte er mir auf mein langweiliges Trockenfutter im Napf einen dicken Streifen getrocknete Hähnchenbrust, den ich mir kurzerhand schnappte und mich damit auf meine Decke verzog, um ihn genüsslich und in aller Ruhe zu verspeisen. Mit dem Kauen wich auch nach und nach die Anspannung des Abends aus meinen Muskeln, das tat gut.

Am nächsten Morgen packten Paula und Edgar ihre Taschen, es würde zu Karl Leberwurst und Hanna Weißkopf, den Eltern von Paula gehen. Das waren wunderbare Aussichten! Ich liebte die Umgebung dort, nur Wiesen und Wald überall, ich konnte Katzen nachstellen und nach Herzenslust buddeln und schnüffeln, herrlich! Es schien, wie oft, wenn wir die beiden besuchten, ein Fest anzustehen. Vielleicht feierten sie ja, dass die Tage ab jetzt wieder allmählich länger wurden. Heiligabend und Weihnachten hörte ich, da konnte ich also auch mit der ein oder anderen heimlich zugesteckten Leckerei rechnen, wie bei allen bisherigen Festen mit Paula und Edgar auf dem Land! Ich hüpfte und sprang aus Übermut um die beiden herum wie ein Ball. Sie lachten und versuchten, mich mit gespielter Empörung davon abzuhalten, sie beim Zubinden ihrer Schuhe zu stören, indem ich abwechselnd zwischen Paulas und Edgars Beinen durchwuselte, sodass sie beide fast den Halt verloren. Auf nur zwei Beinen war es bestimmt gar nicht so leicht, das Gleichgewicht zu halten. Aber sie freuten sich gehörig über meine Begeisterung, das konnte ich genau spüren.
Während der Autofahrt machte ich es mir im Fußraum auf meiner Decke gemütlich, ich mochte das Autofahren eigentlich ganz gerne. Es brummte und summte so gleichmäßig, dass ich manchmal sogar eindöste. Ein wenig seltsam fand ich es schon, immer an einer ganz anderen Stelle auszusteigen, als ich eingestiegen war, der Weg zu Karl und Hanna aber war mir inzwischen vertraut, ich kannte jede Kurve und jeden Hubbel auf der Strecke. So wusste ich immer genau, wenn wir gleich ankommen würden, und sprang ungeduldig auf dem Rücksitz herum, was mir regelmäßig ein strenges „Lily, unten bleiben!“ einbrachte, aber das war die Aussicht auf die an meiner Nase vorbeiziehenden Felder und Wiesen wert. Das Fest bei Hanna und Karl war sehr schön, wie immer, wenn das ganze Rudel beisammen war.

Allerdings gab es dann doch noch ein paar Dinge, die an Weihnachten in den Augen meiner Dosenöffner nicht ganz so glatt liefen, wie sich das alle gewünscht hätten. Und weil ich bis heute das Gefühl nicht loswerde, dass das auch viel mit mir zu tun hatte, halte ich mich kurz: Karl hatte Sülze gemacht. Diesen wunderbaren Brauch, so hörte ich es von Edgar, hatte er von einer Reise nach Dänemark mitgebracht. Das schien eine andere Gegend zu sein, jedenfalls gab es dort Sülze an Heiligabend. Ich hatte Sülze bis dahin nicht gekannt. Jetzt aber wusste auch ich, was das für ein köstlicher Leckerbissen war. Karl hatte sie zum Abkühlen auf die Terrasse gestellt und die Tür offen gelassen, als er in den Garten ging, um die Weihnachtsbeleuchtung draußen anzuschalten und einen seiner Glimmstängel zu verqualmen. Da standen sie nun, vier Teller, gefüllt mit appetitlich riechendem Fleisch und halbfestem Fleischsaft. Was für eine Verlockung! Ich fackelte nicht lange und schlang den ersten Teller leer. Wunderbar! Als ich den zweiten bereits halb geleert hatte, kam Karl zurück.
Am Abend gab es dann Würstchen und Kartoffelsalat. Karl war ziemlich sauer auf mich, das konnte ich deutlich merken. Edgar, Paula und Hanna nicht so sehr, ich glaube, sie gönnten mir die Sülze und mochten sie gar nicht so sehr wie ich, wollten das Karl aber nicht sagen. Am zweiten Tag duftete bereits ab dem Morgen ein riesiger Vogel im Backofen vor sich hin, außerdem noch leckere Kastanienfrüchte. Ich hielt mich viel in der Küche bei Hanna und dem Backofen auf. Am Mittag dann kam der ganze Vogel mit den übrigen Leckereien auf den Tisch, und meine Hoffnung, dass Hanna mir heimlich etwas unter dem Tisch zustecken würde, war begründet gewesen. Immer wieder ließ sie einen Happen von dem Fleisch, aber auch von den Kastanien, zu mir runtergleiten, ich verputzte alles mit großem Genuss. Stunden später, ich döste gerade neben Edgar auf dem Sofa vor mich hin, sprang der plötzlich voller Empörung auf und rief: „Lily, das gibt’s doch gar nicht! Meine Güte, wie das stinkt!“ Und schon wieder drückte sich mit voller Wucht jede Menge Luft aus meinem Hinterteil, was ein lautes Geräusch erzeugte. Edgar riss alle Fenster auf und mit der Gemütlichkeit war es erst einmal vorbei. „Wer hat dem Hund denn Maronen gegeben?“, hallte Edgars Stimme durch das ganze Haus. Und wieder bahnte sich eine ordentliche Blase der stinkenden Luft ihren Weg zwischen meinen Hinterbacken heraus. Hanna kam herbeigeeilt, Edgar wedelte fast verzweifelt mit seinen Händen in der Luft herum, schimpfte mit Hanna, die jedoch nur die Nase rümpfte und schnell wieder verschwand. Diese Störungen der allgemeinen Faulenzerei waren bis hierher schon unangenehm genug gewesen und hätten nach meinem Geschmack für dieses Fest auch vollkommen gereicht. Wenn da nicht noch dieses kleine Häuschen auf dem Boden gestanden hätte, in dem ein paar kleine, außerordentlich wohlgeformte Holzstücke lagen und standen. Sie erinnerten in ihrem Aussehen an winzige Menschen, andere an Kühe. Ein besonders kleines Exemplar lag in einem Kästchen mit Stroh. Ich griff mir das größte der Holzstücke, nahm es mit in die Zimmerecke und kaute genüsslich darauf herum. Es roch leicht modrig, das gefiel mir. Gerade hatte ich das obere Stück abgenagt und ausgespuckt, als ich hörte, dass Paula nach mir suchte.
Seitdem frage ich mich, warum das Herumkauen auf einem Stück Holz, gegen das sonst ja niemand etwas hat, in diesem Fall bei allen an diesem Tag zu einem solchen Aufstand geführt hat. Und noch mehr wundere ich mich darüber, dass die Menschen selbst einem Stück Holz einen Namen geben. Josef. Seltsame Menschenwelt.

Über die Autorin

Lily Schönfuß verbrachte die ersten Monate ihres Lebens in Bukarest als Straßenhund, bevor sie als schüchterne und zurückhaltende Vertreterin ihrer Spezies in einer Auffangstation landete. Bereits hier sammelte sie viele Eindrücke, die sich durch ein eher geringes Sozialprestige auszeichnen. Im Alter von sechs Monaten erreichte sie nach einem langen Transport mit anderen Leidensgenossen Deutsch­land. Lily Schönfuß entschied sich kurz darauf, ihre Geschichte und ihre Abenteuer einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Sie lebt zusammen mit Paula und Edgar in einer deutschen Großstadt. Die vorliegende Kurzgeschichte ist ihre erste Veröffentlichung, Ihr Roman „Menschenweltgeheimnisse“ erscheint 2019 im Piper Verlag.

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