Unsere Geschichte beginnt, als Anja neununddreißigdreiviertel Jahre alt war. Zu diesem Zeitpunkt lebte sie allein, und das wollte sie unbedingt ändern: Anja wollte einen Mann.
Nicht irgendeinen Mann, nein, DEN Mann.
Keinen Mann fürs Grobe - Nägel in die Wand schlagen und Rasen mähen konnte sie inzwischen ganz gut selbst. Übung macht den Meister, wie man so schön sagt.
Anja wollte einen Mann, der ihr Herz höherschlagen und Schmetterlinge in ihrem Bauch flattern lassen würde. Einen Mann zum Reden, zum Kuscheln und zum … na klar, dafür natürlich auch, das war doch schließlich das Sahnehäubchen auf einer Beziehung. Und Anja liebte Sahnehäubchen – nicht nur auf der Torte.
Sie hatte keine Ahnung, wie viele Hunderttausend oder gar Millionen Singles es zu diesem Zeitpunkt in Deutschland gab, Fakt war aber, dass sie dazugehörte – ungern und nach ihrem Geschmack schon viel zu lang.
Fakt war auch, dass das Angebot an in Frage kommenden verfügbaren Männern – also Männern, die gerade nicht verheiratet oder irgendwie anderweitig gebunden waren – nicht gerade groß war.
Ein weiterer Umstand, der nicht unbedingt förderlich für ihre Suche nach ihrem Sahnehäubchen war, war wahrscheinlich auch der Standort ihres Zuhauses: Anja lebte in der Pfalz.
Klingt schön, sagen Sie? Ist es ja auch, nicht umsonst nennt man diesen Landstrich Die Toskana Deutschlands. Hier gibt es fantastische Weine und dank des milden Klimas sogar Feigenbäume. Wie im Paradies also, und Sie haben natürlich recht: Es gibt wahrhaft schlechtere Orte zum Leben.
Aber wer will schon allein im Paradies leben?!
Zudem wohnte Anja nicht in Mainz, nicht in Trier, nicht in Neustadt an der Weinstraße, sprich: in einer größeren Stadt, in der sich mit Sicherheit haufenweise wunderbare Singlemänner tummelten. Sie wohnte nicht einmal in der Nähe. Anjas Haus stand im untersten Zipfelchen der Pfalz, in der Südpfalz, quasi auf einem Außenposten Deutschlands. Hier war es ländlich. Nichts gegen das Landleben, aber die Männerauswahl war in ländlich dünn besiedelten Gegenden dementsprechend kläglich, wenn Sie wissen, was ich meine.
Erschwerend kam für Anja auch noch hinzu, dass die Männer in der von ihr bevorzugten Altersklasse, also zwischen 38 und 48, in den meisten Fällen einfach nicht mehr so ganz taufrisch waren. Und knackig anzusehen sollte ihr Zukünftiger auf alle Fälle sein. Bauch – nein, danke! Glatze – nicht unbedingt! Zahnersatz – um Himmels willen, nur das nicht!
Und dann gab es diesbezüglich noch anderes Grundlegendes zu bedenken:
Erstens: Ein Mann, der in diesem Alter noch frei herumlief, also weder fest gebunden noch verheiratet war, hatte
a) mit Sicherheit jede Menge Macken – darauf konnte Anja natürlich verzichten, davon hatte sie selbst genug –,
oder er hatte
b) eine klammernde, ja, vielleicht noch viel, viel schlimmer, eine dominante Mama,
oder er war:
c) schwul
Von a, b und c wollte Anja also tunlichst die Finger lassen. Zweitens war ebenfalls zu bedenken, dass ein inzwischen geschiedener Mann logischerweise auch jede Menge Macken hatte – wäre er denn sonst ausgemustert worden?!
Tja, was blieb dann bitteschön noch übrig? Nur die Kategorie Verheirateter Mann – aber wer will schon teilen? Anja nicht, da war sie eigen. Es war also wie mit der berühmten Nadel im Heuhaufen. Doch Anja wäre keine Frau, wenn sie kampflos aufgegeben hätte!
Und so kam sie acht Wochen vor Weihnachten auf die glorreiche Idee, ihre Chance, einen Mann kennenzulernen, mittels einer Kontaktanzeige zu vergrößern. Vielleicht – so war zumindest ihr Hoffnung – würde sie Heiligabend schon nicht mehr als unbemannte Single-Frau bei ihren Eltern, sondern in trauter Zweisamkeit mit einem tollen Mann feiern.
Sie beschloss daher, in der nächsten Sonntagsausgabe der RHEINPFALZ eine Anzeige zu schalten – denn da gab es eine Seite für Liebe suchende Männer und Frauen.
Sie musste nur am kommenden Sonntag das angefügte Formular ausfüllen, an die Zeitung schicken und schon würden ihr waschkörbeweise Briefe von einsamen Single-Männern ins Haus flattern. Und dann musste sie sich nur noch ihren Prinzen heraussuchen.
Doch sie konnte und wollte nicht bis zum nächsten Sonntag warten, sie musste schließlich schnell handeln, wenn sie tatsächlich bis Weihnachten ans Ziel ihrer Wünsche kommen wollte.
Unter A wie Altpapier fand sie zwar die Sonntagsausgabe der Tageszeitung, aber ausgerechnet die Seite, die sie brauchte, fehlte.
Blieb also nur noch Ablage B wie Biomüll. Und genau dort wurde sie fündig: Genau mit dieser Seite hatte sie tags zuvor den Biomülleimer ausgelegt.
Beherzt griff Anja in den Eimer, in der Hoffnung, dass die Anzeigen eventuell trotz der Flecken von Kaffeesatz und Co. noch einigermaßen lesbar waren. Manch einer soll ja daraus, also aus dem Kaffeesatz, tatsächlich die Zukunft lesen können, was Anja ihrerseits als ein Zeichen deutete. Als sie jedoch sah, auf welcher Rubrik die nasse Filtertüte ihre schwarz-bröseligen Spuren hinterlassen hatte, verwarf sie die Theorie mit dem Zeichen jedoch recht schnell: ER SUCHT IHN.
Die Rubrik SIE SUCHT IHN ein Stückchen weiter unten war perfekt erhalten und gut lesbar. Bevor Anja ihre eigene Anzeige aufsetzte, wollte sie erst einmal sehen, was ihre Konkurrentinnen in Sachen Männerakquise so in ihren Annoncen schrieben. Sie las die erste:
Vorzeigbare Zwillingsfrau, 42/160, sucht großen Mann, gerne auch tätowiert, mit Herz und Hirn.
Vorzeigbar. Anja überlegte, was das heißen sollte. Wollte die Zwillingsfrau damit sagen, dass sie zwar nicht besonders gut aussah, aber doch nicht so schlecht, dass man sie getrost mit nach draußen nehmen konnte? Und gab es das überhaupt, einen tätowierten Mann mit Hirn? Anja war nämlich der festen Überzeugung, dass sich Männer mit Hirn eher nicht tätowieren ließen.
Sie nahm sich die nächste Anzeige vor:
Suche kein Abenteuer! Ich, 63 J., mollig, suche Partner zw. 55–65. Raucher angenehm. Gerne für immer!
Lieber ein Abenteuer als gar keinen Sex, fand Anja. Und mit 63 musste man doch eh dankbar für alles sein, oder? Und dann das: Raucher angenehm – Raucher waren doch nicht angenehm! Kopfschüttelnd las Anja weiter.
Dominikanerin, 42/155, sucht netten Mann zum Heiraten.
Das fand Anja total gemein gemein! Dominikanerin – das hieß dunkle Haut, glutvolle Augen – dagegen hatten blasse deutsche Mädchen wie sie ja gar keine Chance mehr! Und dann die Größe, 155 cm, jeder Mann würde auf der Stelle seinen Beschützerinstinkt entdecken, wenn er das las. Diese Frau würde sich vor Antworten nicht retten können, da war sich
Anja sicher.
Keiner da, mit dem man lachen, kuscheln, sich streiten und wieder versöhnen kann! Bin 35/168 und geschieden …
Anjas erster Gedanke war, dass die Gute – wenn sie sich denn so gerne stritt – sich einfach nicht hätte scheiden lassen sollen.
Enttäuscht ließ sie die Zeitung sinken. Da war aber auch gar kein einziger Text dabei, den sie auch nur ansatzweise hätte übernehmen können. Aber vielleicht sollte sie ja erst einmal die Anzeigen der Männer lesen, um zu sehen, was die sich so wünschten. Und vielleicht war ja ganz zufällig einer dabei, der nach einer Frau suchte, wie sie es war?
Pfälzer, 54/183, schwergewichtig, XXXL-Typ, sucht Sie …
Nein, der war aber so was von absolut nichts für Anja!
Der nächste klang sehr interessant:
Er, 42/166, solo, Gärtner, schlank, blauäugig, mag Kino und Museum …
Klar, der Typ war viel zu klein für Anja, ziemlich genau zwölf Zentimeter zu klein. Aber: Er war Gärtner – GÄRTNER! Wir wissen inzwischen, dass Anja sehr gut ihren Rasen selber mähen konnte, aber eines kann ich Ihnen verraten: Sie hat das nie sehr gern getan. Sie hatte zudem einen sehr großen Garten.
Na, sehen Sie! Was sind schon zwölf lächerliche Zentimeter Größenunterschied, wenn einem das Rasenmähen abgenommen wird?
Pfälzer, 47/180/85, zurückhaltend, sucht nette Sie mit normaler Figur für gemeinsame Zukunft.
Dass er Pfälzer war, war ja nicht weiter schlimm. Aber zurückhaltend? Himmel, welche Frau will schon einen zurückhaltenden Mann?, fragte sich Anja. Ob der sich schon mal überlegt hatte, warum er mit 47 noch alleine durch die Weltgeschichte stolperte? Und was, bitteschön, meinte er mit normale Figur? Ist Claudia Schiffers Figur für ihn normal oder eher die von Beth Ditto?
Anja fand alle diese Annoncen eher erschütternd als animierend.
Er, 45/182, schlank, treu, romantisch, sucht Sie bis 47 J., gerne mit Kindern, für eine liebevolle Beziehung …
Dem würde sie antworten!, beschloss Anja spontan. Besonders aufregend war der Text zwar nicht, aber doch irgendwie beruhigend normal. Etwas Schlichtes für den Anfang, zum Üben quasi. Und eine liebevolle Beziehung suchte sie ja schließlich auch.
Anja brauchte mehrere Stunden und einen halben Schreibblock, bis sie endlich einen für sie akzeptablen Brief aufgesetzt und am Ende in Schönschrift und fehlerfrei in einen Umschlag stecken konnte.
Am nächsten Tag gab sie den Brief bei der Post ab.
Ab sofort hieß es: warten. Warten, ob der schlanke, treue und romantische ER, der eine liebevolle Beziehung suchte, sich bei ihr melden würde.
Und während Anja Tag für Tag auf eine Antwort wartete, beschlichen sie Zweifel. Vielleicht suchte dieser ER ja eine großbusige Blondine mit kurzen Haaren, also genau das Gegenteil von ihr? Oder, ach, vielleicht hatte ihm ja diese rassige kleine Dominikanerin geantwortet? Dann würde er sich ganz sicher für schokobraune Haut und gegen sie entscheiden.
Und dann fragte sie sich die Frage der Fragen: Warum, zum Henker, machte sie so was überhaupt? War ihr Leben nicht auch ohne Mann recht schön? Schöner als all die Jahre, die sie schon mit Männern verbracht hatte?
Eine Hoffnung hatte Anja von da an aber noch: dass sich dieser ER niemals bei ihr melden würde…
Doch ER meldete sich.
Eines Tages, als Anja schon gar nicht mehr an ihren Brief dachte, klingelte ihr Handy.
„Hier ist Andreas, du hast mir einen Brief geschrieben“, sagte eine männliche Stimme am anderen Ende der Leitung.
Oh Gott, was sollte sie jetzt nur sagen? Anjas Hirn war wie gelöscht. Irgendwie brachten sie und Andreas dann aber doch ein halbwegs vernünftiges Gespräch zustande, auch wenn sie große Probleme mit seinem tief-tiefbadischen Dialekt hatte.
Nach einer Stunde wusste Anja mehr über Andreas: Er war mittelblond, Tendenz zu Grau, und trug die Haare kurz. Er war seit fünf Jahren allein, arbeitete als Klimatechniker bei einer namhaften Firma, für die er schon in China an der Grenze zur Mongolei im Einsatz war. Er erzählte ihr, dass er seit Jahren in einer Laienspielgruppe mitspielte, spezialisiert auf lustige Rollen natürlich, weil er so unglaublich witzig sei. Und jedes Wochenende machte er Holz im eigenen Wald.
Auf der Stelle entstand vor Anjas innerem Auge das Bild von einem echten Naturburschen: durchtrainiert, strotzend vor Kraft und Gesundheit, und alles verpackt in ausgewaschenen Jeans und grobkariertem Hemd – ein niedlicher kleiner Chippendale für den Hausgebrauch! Er versprach ihr, bald ein Foto zu schicken.
Am nächsten Morgen, gleich nach dem Aufwachen, bekam Anja eine SMS von Andreas – ein wenig altmodisch, aber er hatte tatsächlich kein WhatsApp auf seinem Handy installiert. Was er schrieb, war nichts Weltbewegendes, aber allein die Tatsache, dass dort draußen ein Mann war, der schon am frühen Morgen an sie dachte und ihr einen schönen Tag wünschte, ließ ihr Herz hüpfen.
Bei einem weiteren Telefonat erfuhr Anja einiges über Andreas’ letzte Beziehung: Er hatte seine schwerkranke Freundin tatsächlich bei sich Zuhause aufopferungsvoll gepflegt, bis zu ihrem Tod vor fünf Jahren.
Anja war zutiefst beeindruckt. Sie war zwar nicht krank, aber die Vorstellung, von einem Mann liebevoll gepflegt und aufgepäppelt zu werden, ließ es ihr warm ums Herz werden. Dieser Mann war sozusagen ein Held des Alltags. Bisher war sie immer diejenige gewesen, die gepäppelt hatte. Sollte sie tatsächlich ihren mitfühlenden, fürsorglichen Traummann gefunden haben, der noch dazu verdammt gut aussah?
Und dann, nach etwa vier Wochen SMS und Telefonaten, war es endlich soweit: Der Tag des Treffens, ein Samstag, stand bevor. Anja starb schier vor Aufregung. Sie hatte noch immer keine Ahnung, wie Andreas aussah. Das Foto, das er ihr schon so oft versprochen hatte, war bis dato nicht angekommen.
Freitagnacht, also ca. elf Stunden vor dem herbeigesehnten Treffen, landete dieses Bild endlich auf Anjas Rechner.
Um es kurz zu machen: Wäre dieses Foto schon ein paar Tage, besser noch ein paar Wochen eher gekommen, hätte sich Anja jede Menge Zeit und Herzflimmern sparen können.
Sie war schlichtweg entsetzt: Andreas sah haargenau so aus wie die Männer, nach denen sie sich niemals umdrehen würde. Bieder sah er aus, kein bisschen nach Chippendale. Und einen Schnurrbart hatte er, den er ihr am Telefon verschwiegen hatte.
Anja mochte keine Schnurrbärte, und schon gar keine, die mongolenmäßig am Kinn entlangwuchsen – wahrscheinlich war der ein Überbleibsel von seinem Auftrag an der mongolischen Grenze. Das Hemd, das er anhatte, schillerte in allen Lilatönen, die das Farbspektrum hergab. Definitiv Nylon oder etwas anderes Synthetisches. Und unter diesem lilaschillernden Synthetik-Hemd wölbte sich ein strammer Bauch. Aus der Traum vom durchtrainierten Chippendale-Körper!
Grenzenlose Verzweiflung packte Anja kurz vor Mitternacht. Sollte sie sich überhaupt mit ihm treffen? Konnte sie ihm nicht einfach eine SMS schicken, und ihm schreiben, dass… ja, was? Was, um Himmels willen, machte man denn in so einem Fall üblicherweise? Eine gemeine innere Stimme riet ihr, einfach nicht zu dem Treffen zu gehen. Eine andere, eine etwas nettere innere Stimme beschwor sie, ihn nicht so gefühllos abzuservieren. Anja machte in dieser Nacht kaum ein Auge zu.
Am nächsten Morgen wusch sie sich vorsorglich nicht die Haare, legte keinerlei Make-up auf und schlüpfte in ausgewaschene, löchrige Jeans. Sie entschied sich für einen weiten, schlabbrigen Pulli – Andreas sollte nichts zu sehen bekommen, was seine Fantasie in irgendeiner Weise anregen könnte. Sie wollte ihm auf gar keinen Fall gefallen. Zum allerersten Mal in ihrem Leben hätte sie sich über ein paar dicke rote Pickel oder einen fetten, unappetitlichen Lippenherpes gefreut! Insgeheim hoffte sie, er würde ihr nach fünf Minuten sagen, dass sie so gar nicht nach seinem Geschmack wäre. Mit dieser Hoffnung im Herzen fuhr Anja nach Karlsruhe.
Schon von Weitem sah sie ihn neben der Pyramide auf dem Marktplatz stehen, wo der Aufbau des Weihnachtsmarktes in vollem Gange war. Das Bild von dem bebauchten Mann im Synthetik-Hemd hatte jedoch keinerlei Ähnlichkeit mit dem, was da erwartungsvoll nach Anja Ausschau hielt – jedoch nicht im positiven Sinne! Da stand ein dünnes, graues Männchen, verpackt in ein fadenscheiniges Popelin-Jäckchen. Bevor Anja einem aufkeimenden Fluchtreflex nachgeben konnte, entdeckte er sie. Ein schwaches Lächeln huschte über sein eingefallenes Gesicht.
Krank sah er aus, diagnostizierte Anja. Sehr krank.
Und das passiert ausgerechnet mir?, fragte sie sich verzweifelt. Einer kraftstrotzenden, kerngesunden Frau, die einen kraftstrotzenden, kerngesunden Mann sucht, der den ganzen Tag nichts anderes tut, als Bäume auszureißen … und nachts natürlich auch ein bisschen? Sie würde ihn ganz bestimmt nicht aufpäppeln, das stand für sie fest.
Die Begrüßung fiel alles andere als überschwänglich aus, seine Hand schüttelte kraftlos die ihre.
„Schön, dass es endlich geklappt hat“, sagte er, und Anja empfand das völlig anders.
Er hatte gelbe Zähne, Raucherzähne, stellte sie entsetzt fest. Dass er rauchte, hatte er ihr auch verschwiegen! Gelbe Zähne unter Mongolenbart – nie im Leben wollte sie so etwas küssen!
„Wollen wir einen Kaffee trinken gehen?“, fragte Anja gequält. Eigentlich stand ihr in diesem Moment der Sinn nach Stärkerem, nach VIEL Stärkerem, aber es war Mittag und somit zu früh für Alkohol.
Er zuckte unentschlossen mit den schmalen Schultern, mit denen er angeblich Wochenende für Wochenende bergeweise Bäume fällte.
Sie setzten sich in ein nahe gelegenes Café, und während Anja nervös in ihrem Milchkaffee rührte, nuckelte Andreas lustlos und schweigend an seinem Mineralwasser ohne Kohlensäure.
Und dieser dröge Mann sollte tatsächlich auf der Bühne der Kracher sein? Anja konnte das nicht glauben.
Seine Oberarme waren dünner als ihre, und sie bezweifelte, dass er damit eine schwere Motorsäge schwingen konnte.
Andreas sprach nur, wenn sie ihn etwas fragte. Aber eigentlich wollte sie gar nichts von ihm wissen, er war zum uninteressantesten Mann auf diesem Planeten für sie geworden.
Anja wollte nur eines: weg von dort! Und sie schwor sich, wenn sie dieses schreckliche Treffen überstehen sollte, würde sie nie wieder im Leben so etwas machen! Nie wieder ein Blind-Date! Lieber blieb sie den Rest ihres Lebens allein.
„Ich muss los, hab noch einen Termin“, log Anja nach einer gefühlten Ewigkeit.
Andreas nickte, bezahlte für sie mit – was sie als kleine Entschädigung für die qualvolle halbe Stunde mit ihm geschehen ließ.
„Telefonieren wir heute Abend?“, fragte er hoffnungsvoll, als sie wieder auf der Straße waren.
„Hör zu“, begann sie vorsichtig und kratzte für die nächsten Worte all ihren Mut zusammen. „Wir werden uns nicht mehr treffen und auch nicht mehr telefonieren.“ Dann floh sie in die belebten Straßen Karlsruhes. Sie murmelte dabei ein leises Mantra vor sich hin: „Nie wieder – nie wieder – nie wieder …“
… von wegen nie wieder! Kaum Zuhause angekommen, schlug Anja die Zeitung vom letzten Sonntag auf und studierte die aktuellen Anzeigen. Ihrer geänderten Meinung nach durfte man wegen eines einzigen Misserfolges doch nicht gleich die Flinte ins Korn werfen!
Nun will ich Ihnen natürlich nicht von jedem einzelnen von Anjas darauffolgenden und äußerst zahlreichen Dates erzählen, dafür würde der Platz hier gar nicht ausreichen. Eines lassen Sie sich aber gesagt sein: Ein Date war schrecklicher als das andere. Und dabei war vollkommen egal, ob sie die Männer nun über die Zeitung oder über eines der hinlänglich bekannten Internet-Portale kennenlernte.
Am Ende kristallisierte sich folgende Statistik heraus:
Etwa 40 % der von ihr getroffenen Männer waren Elektriker oder arbeiteten in einem artverwandten Beruf.
Mindestens jeder dritte war Alkoholiker.
Fast alle hatten eine wahnsinnstolle Telefonstimme, doch der Rest hielt nicht, was die Stimme versprochen hatte.
Eine Macke hatten eigentlich alle.
Drei waren noch verheiratet, lebten aber angeblich in Scheidung und suchten schon mal rein prophylaktisch einen angenehmen Unterschlupf.
Zwei waren verheiratet, wollten das auch unbedingt bleiben und suchten nur ein bisschen Spaß für Zwischendurch.
Es waren drei Arbeitslose dabei, die ein Obdach und eine Ernährerin suchten.
Einer war buddhistischer Guru, der barfuß und Hand-in-Hand mit Anja durchs Leben gehen und unendlich viel und hemmungslos Liebe mit ihr machen wollte.
Ein Bodybuilder war dabei, mit Stiernacken und Oberarmen
wie Anjas Oberschenkel, der einem Neandertaler nicht unähnlich sah.
Anja hatte es mit einem Stalker zu tun, der erst nach einem halben Jahr akzeptierte, dass sie tatsächlich nichts von ihm wollte.
Es waren einfache Arbeiter dabei, Angeber, Akademiker und auch ein paar Ausländer. Alkoholiker hatten wir ja schon.
Einer der Kandidaten war tätowiert und hatte Piercings – zwei Piercings, um genau zu sein. Eines hatte er in der Zunge, das andere … nein, das wollen Sie ganz sicher nicht wissen … ich gebe Ihnen aber einen kleinen Tipp: Es war nicht oberhalb der Gürtellinie …
Es waren Männer mit und ohne Glatze, mit und ohne Zahnersatz und mit und ohne Kindern. Anja traf Männer in Mannheim, Worms, Pforzheim und Stuttgart. Sie fuhr nach Hanau, Freiburg, Kaiserslautern und einmal sogar nach Basel. Anja scheute wirklich weder Mühen noch Kilometer noch Kosten auf ihrer Suche nach der großen Liebe.
Aber was sie auch unternahm, es war alles vergeblich. Ein ganz normaler, netter Mann, in den sie sich verlieben konnte, war einfach nicht dabei.
Und so beendete Anja diese nervenaufreibende und zudem vollkommen erfolglose Suche nach einem Jahr und einem Monat, punktgenau an einem sechsten Dezember. Sie beschloss, fortan alleine glücklich sein. Sie würde den bevorstehenden Nikolausabend ganz ohne Mann feiern – genauso wie alle zukünftigen Nikolausabende, Weihnachten, Valentins- und Geburtstage.
Um diese glorreiche Entscheidung gebührend zu feiern, schlüpfte sie in ihre Winterstiefel und den dicken Mantel und fuhr los, um eine Flasche Sekt zu besorgen.
Mit einem Prosecco aus dem oberen Preissegment kam sie wenig später aus dem Supermarkt ihres Vertrauens, stieg ins Auto, schnallte sich ordnungsgemäß an und fuhr rückwärts aus ihrer Parklücke.
Ein gewaltiger Rums erschütterte den Wagen und vorbei war es mit dem Ausparken. Jemand war ihr ins Auto gefahren!
Mit zitternden Knien stieg Anja aus und ging um ihren Wagen herum. Ein knallrotes BMW-Cabrio mit schwarzem Verdeck hatte sich brutal in die rechte hintere Seite ihres kleinen Nissans gebohrt.
Durch die spiegelnde Windschutzscheibe konnte sie vage die Umrisse eines Mannes erkennen. So ein blöder Arsch!, dachte sie. Hatte der denn keine Augen im Kopf?
Jetzt öffnete er seine Tür – na, der konnte was erleben! Anja holte tief Luft, um ihm ihren Ärger lautstark kundzutun, bevor er das machte. Das war nämlich ganz genau die Masche der Männer: Erst mal losbrüllen, die Frau so einschüchtern und ihr dann auch noch die Schuld geben!… obwohl sie die leise Ahnung hatte, in diesem speziellen Fall sogar tatsächlich Schuld an der Misere zu sein.
Energisch stemmte sie die Arme in die bemantelten Hüften, er sollte gleich sehen, dass er mit ihr kein leichtes Spiel haben würde!
Und was machte ER?! – Er stieg mit einem verlegenen Lächeln aus seiner Luxuskarre und sagte doch tatsächlich mit Samtstimme: „Das tut mir schrecklich leid!“
Das nahm Anja den letzten Rest Fassung und den Wind aus den Segeln.
„Haben Sie sich verletzt?“, fragte er dann auch noch besorgt.
Dazu sah er sie aus hellblauen, wunderschönen Augen an.
Anjas Zorn verpuffte augenblicklich. Nicht nur die Augen, musste sie feststellen, der ganze Kerl sah einfach zum Anbeißen aus.
„Nein“, hauchte sie und hoffte, dass die Abwicklung der Formalitäten gaaanz lange dauern würde.
„Ihr Wagen sieht aber schlimm aus“, stellte er nach einem prüfenden Blick auf den Nissan bedauernd fest.
„Finden Sie?“ Sie starrte ihn wie hypnotisiert an. Das war natürlich hochpeinlich, sie hoffte deshalb inständig, dass er ihr dümmliches Verhalten auf eine traumatische Schockreaktion zurückführte.
„Ich fahre erst mal meinen Wagen aus dem Weg, dann regeln wir das in aller Ruhe“, sagte er mit seiner tiefen Zauberstimme.
Anja nahm sich fest vor, seine Ringfinger zu überprüfen, denn wie sie ihr Glück kannte, waren solche Sahneschnitten-Männer immer verheiratet. Oder schwul, aber an diese Option mochte sie jetzt nicht denken.
„Lassen Sie uns einen Kaffee trinken“, schlug er vor.
Im Café des Supermarktes saßen sie sich schließlich gegenüber.
„Mein Name ist Bernhard.“ Er strahlte sie aus seinen blauen Augen an.
Zu Anjas Freude war keiner seiner schlanken Finger beringt.
„Ich bin Anja.“ Sie strahlte zurück.
„Schreiben Sie mir doch bitte Ihre Adresse auf – und die Telefonnummer!“ Er holte aus einer seiner Jackentaschen einen Notizblock nebst Stift.
Er will meine Telefonnummer, hurra!, freute sich Anja und konnte ihr Glück kaum fassen.
„Ich werde das an meine Versicherung weiterleiten“, versprach er, „und die wird sich dann bei Ihnen melden.“
Oh, er wollte die Nummer gar nicht aus persönlichen Gründen. Anja versuchte ihre Enttäuschung vor ihm zu verbergen.
Nach einer Tasse Kaffee und für Anjas Geschmack viel zu kurzen zwanzig Minuten fuhr er mit seinem demolierten Cabrio davon, und sie tuckerte mit ihren zerbeulten Häufchen Nissan nach Hause.
Kurz nach neunzehn Uhr klingelt Anjas Telefon.
„Mein BMW hat mich gezwungen, bei Ihnen anzurufen“,
sagte eine angenehme Männerstimme ohne Einleitung. „Er will unbedingt wissen wie es Ihrem armen kleinen Nissan geht.“
„Der liegt mit gebrochenem Kotflügel im Bett, soll ich ihm was ausrichten?“, antwortete Anja lachend.
„Nein, lassen Sie ihn weiterschlafen. Aber mein Auto und ich
würden Sie gern zum Essen einladen, wir finden, das ist das Mindeste, was wir für Sie tun können.“
„Jetzt?“, fragte Anja überrascht. Leichtes Schmetterlingsgeflatter machte sich in ihrem Bauch breit.
„Jetzt“, kam die Antwort. „Aber auch gerne morgen, wenn Ihnen das besser passt. Am liebsten aber jetzt und morgen … natürlich nur, wenn Ihr Mann nichts dagegen hat!“
„Welcher Mann?“
Er lachte ihr samtig ins Ohr. „Ah, genau die Antwort, die ich hören wollte! – In einer halben Stunde bin ich bei Ihnen.“
Was soll ich sagen: Die beiden Autos sind längst repariert, und die beiden Menschen sind noch immer ein verliebtes Paar.
Und die Moral von der Geschichte: Man muss vielleicht gar nicht in die Ferne schweifen, um das Glück zu finden – man muss nur häufiger zum Einkaufen gehen… oder fahren!
Über die Autorin
Gina Greifenstein lebt und arbeitet als freie Autorin in der Südpfalz. Sie schreibt Romane, Krimis und Kochbücher. Ihre Backbücher bei Gräfe und Unzer sind Bestseller und in mehrere Sprachen übersetzt. Regionalkrimi-Fans unterhält sie kriminell-humorvoll mit ihrem fränkisch-pfälzischen Ermittlerduo Paula Stern und Bernd Keeser. Viele ihrer Kurzkrimis sind in Anthologien veröffentlicht. Ihr Roman „Der Traummann auf der Bettkante“ (Piper) war 2008 für den DELIA-Preis nominiert.