Freitag, 16:45 Uhr
Durch die Dezemberkälte nach Hause gehen, über nassen Asphalt, den vertrauten Weg. Je nachdem, aus welcher Richtung ich mich der Straße am Stadtgarten nähere, ist es das erste oder letzte Gebäude. Eines sieht aus wie das andere, eine überschaubare Ansammlung von zweistöckigen Häusern mit weihnachtlich illuminierten Vorgärten. In jedem Haus fünf Wohnungen, zwei im Parterre, zwei in der mittleren Etage, oben ein Penthouse mit unverbaubarem Ausblick ins Grüne.
Auf diese Penthousewohnung nehme ich Kurs, schleppe mich die Treppe hoch und schließe die Eingangstür mit dem Namensschild Eva & Julian Lohmann auf. Ich wundere mich, dass mein Schlüssel noch passt, mir Einlass gewährt in ein schon nicht mehr existentes Leben. Bis vor Kurzem glaubte ich noch, dies sei auch mein Zuhause. Jetzt spüre ich, es war immer nur seins. Es passt zu Julian, ist kühl wie er. Sachlich-modern eingerichtet, komplett aufgerüstet mit Smart-Home-Technologie. Am Adventskranz, den er aufgestellt hat, gibt es kein Tannengrün. 238 Euro war es ihm wert, dass ein Designername draufsteht und mit Sicherheit nichts nadelt. Er besteht aus silberglänzendem Draht, von Hand gewickelt, und ist mit vier Echtwachs-LED-Kerzen bestückt. Ihr Warmton soll angeblich echt wirken, aber ich finde, es sind doch nur Imitate.
In der bis ins Detail automatisierten und optimierten Welt meines Mannes bin ich ein Fremdkörper. Das ist wohl schon lange so, aber jetzt erst habe ich Gewissheit, weil ich es deutlich fühle. Ich gehöre nicht hierher mit meinem aufgewühlten Herzen, dem Rauschen unseres Blutes im Ohr, den Abdrücken auf meiner Haut. Die plötzlich so fremden Korridore wirken labyrinthisch und machen mir Angst. Angst, mich darin in mein früheres Ich zu verlieren und nie wieder zurückzufinden zu ihm. Zu Matteo.
Der Spiegel in der Diele zeigt mir, dass ich normal aussehe, nichts, das mich verrät. Oder doch? Die geröteten Wangen vielleicht. Die Haare, elektrisch aufgeladen von Matteos Berührungen. Die Augen trunken vom Anblick seines Körpers. Die schwachen Beine, die empfindlichen Brüste, das randvoll gefüllte Herz – ich erkenne, alles ist Erinnerung an ihn und kündet von ihm. Mein Spiegelbild enthüllt mir ein fremdes Wesen, das sich ordnungswidrig Zutritt in diese perfekte Wohnung verschafft hat.
Nervös schaue ich auf die Uhr. Mir bleibt kaum Zeit, Julian sitzt wahrscheinlich schon in seinem Wagen, rast auf der äußerst linken Spur über die Autobahn, Fuß und Gaspedal beinahe miteinander verschmolzen. Ich kenne seinen latent aggressiven Fahrstil, jeden bedrängend, der weniger forsch als er unterwegs ist. Geduld ist auch in der Weihnachtszeit nicht seine Stärke. Er wird bald hier sein, und ich überlege krampfhaft, wie ich ihm ausweichen kann, wenigstens noch eine Weile. Vielleicht sollte ich mich einfach ins Bett legen, Migräne vortäuschen, um nicht sofort reden zu müssen und weiter an Matteo denken zu können. Nichts anderes hat mehr in mir Raum. Es kommt mir so vor, als hätte ich, ohne es zu wissen, all die Jahre immer nur auf ihn gewartet. Seit vorgestern ist die Zeit des Wartens vorbei, seit Mittwoch.
***
Mittwoch, 18:00 Uhr
Er ließ sich in der S-Bahn neben mich fallen, als ich nach der Arbeit in Richtung Innenstadt fuhr, um auf der Suche nach einem Geschenk für Julian durch die Geschäfte zu ziehen. Ich habe ihn und seine Nähe sofort wahrgenommen. Da war etwas an ihm, eine Aura – nicht greifbar, nicht sichtbar, aber deutlich zu spüren. Ich musterte ihn flüchtig, und was ich im Profil von ihm erspähte, als er sich mit seinem Smartphone beschäftigte, war Durchschnitt. Dunkles Haar, etwas feucht vom leichten Schneeregen, lang genug, um sich ein wenig zu wellen. Kurzer dunkler Bart. Dunkelgraue Jacke, graue Jeans, graue Sneaker. Alles an Matteo schien erst einmal dunkel, grau und unauffällig zu sein.
Vielleicht fühlte er sich angestarrt, jedenfalls hat er sich unvermittelt zu mir gedreht und gelächelt. Es war merkwürdig, weil er dabei die Mundwinkel kaum hochzog, das Lächeln lag einzig und allein in seinen Augen. Was dann geschah, lässt sich weder rational begreifen noch irgendwie erklären. Der Ausdruck in dem klaren, intensiven Grün seiner Augen, die mich lächelnd ansahen, öffnete mein Herz, einfach so. Schicksal. Wie vom Blitz getroffen. Aus heiterem Himmel. Geflasht. Jede der überstrapazierten Phrasen füllte sich in dem Moment mit Wahrheit und Sinn. Normalerweise wäre ich einem so direkten Blickkontakt sofort ausgewichen, doch den Reflex hat er ausgehebelt. So dauerte der Augenblick viel zu lange, gefühlte Ewigkeiten. Mein flüchtiger erster Eindruck verkehrte sich ins Gegenteil, Matteo war nicht unscheinbar, dunkel und grau, sondern er leuchtete. Später erzählte er mir, dass auch er diese Sekunden wie in Zeitlupe erlebte. Schräg von der Seite hatte er in mir nur eine etwas abweisend wirkende Frau im Business-Look gesehen. Binnen Sekunden dann, als sich seine und meine Augen trafen und ineinanderflossen, nahm er intuitiv mein Inneres hinter der Fassade wahr. Es war der Moment, in dem ich sagte: „So ist das also.“
„So ist also was?“, fragte er, und ich erschrak, weil mir nicht bewusst gewesen war, dass ich laut ausgesprochen hatte, was mir gerade durch den Kopf ging: So ist das also … Liebe auf den ersten Blick. Genau das hatte ich gedacht, aber dieses absurde Ende des Satzes würde ich ihm auf keinen Fall offenbaren.
„Ach nichts, sorry, hab’ mich vertan. Dachte, dass wir uns kennen.“
„Leider nicht“, kam von ihm, und er sah mich immer noch direkt an. Dann folgte eine kurze, etwas peinliche Pause. Während ich noch überlegte, ob ich darauf eingehen sollte und falls ja, dann wie, hörte ich ihn fragen: „Lust auf einen Kaffee?“
So begann es. Anstatt wie geplant durch das City-Center zu hetzen, in der Hoffnung, ein Geschenk für Julian zu finden, das nicht nach verzweifeltem Last-Minute-Kauf aussah, trank ich Espresso mit Matteo. Aber ich sorgte sofort für klare Verhältnisse. Wir hatten uns kaum hingesetzt, noch nicht mal etwas bestellt, da eröffnete ich ihm schon, dass ich verheiratet sei. Matteos Augen suchten den Ehering, dann lachte er leise und zwinkerte mir zu, so nach dem Motto, du kannst mir viel erzählen, da ist kein Ring. Als ich ernst blieb, kam von ihm ein fragendes: „Nein?“
Ich nickte. „Doch. Ja. Ich bin verheiratet, seit vier Jahren. “
In den folgenden Sekunden wog die Stille zwischen uns schwer, obwohl der Barista mit lautem Klappern mehrere Siebträger ausklopfte und „Last Christmas“ als Hintergrundberieselung lief. Schließlich sagte Matteo: „Das ist die schlechteste Nachricht des Tages. Ich bin nämlich Single.“ Er versuchte, es scherzhaft klingen zu lassen, und fügte schulterzuckend hinzu: „So, wie es nun aussieht, werde ich das dann wohl auch erst mal bleiben.“
„Mach dir nichts draus, das hat auch Vorteile“, erwiderte ich, auf seinen lockeren Tonfall eingehend. „Du musst immerhin niemandem irgendwas erklären.“
„Du denn?“, meinte er. „Findest du es erklärungsbedürftig, dass wir hier sitzen?“
„Bisher noch nicht. Aber ich habe so eine Ahnung, dass Julian das anders sehen könnte.“
„Ach ja? Ist er ein eifersüchtiger Typ, dein Julian? Einer, der schon ausrastet, wenn du mit einem anderen ins Café gehst?“
„Eifersüchtig eigentlich weniger, er ist eher so ein Controller. Er mag es, wenn alles an seinem Platz ist, auch seine Frau.“
Sein Gesichtsausdruck verriet, dass er nicht einordnen konnte, ob ich das ernst meinte oder nicht. „Interessant finde ich, dass du ihn trotzdem geheiratet hast“, meinte er dann. Als ich schwieg, fuhr er fort: „Oder sogar gerade deshalb? Lass mich raten, du hast diese Bücher gelesen, du weißt schon, die Schatten des Grauens, und dann wurde dir klar, dass du dich nach so einem dominanten Kontrollfreak sehnst, mit dem du deine devote Seite ausleben kannst. Wahrscheinlich ist er auch noch mindestens zehn Jahre älter als du.“
„Falsch, absolut falsch“, konterte ich. „Wir sind beide zweiunddreißig. Und eigentlich habe ich ihn nur des Geldes wegen geheiratet.“
Er gab sich Mühe, entsetzt zu gucken, um dann zu erwidern: „Ich weiß deine Ehrlichkeit zu schätzen. Gut, dass du finanziell versorgt bist, wäre das also geklärt. Da kann ich eh nicht mithalten. Ich bin auch bald dreißig, studiere aber noch. Wenn ich nächstes Jahr fertig bin, finde ich als Germanist mit viel Glück einen schlecht bezahlten Kellnerjob und bleibe auf einem Haufen BAföG-Schulden sitzen.“
„Mit dem Versorger liegst du falsch, so was brauche ich nicht. Wir sind Doppelgutverdiener ohne Kinder. Die werden vom Staat ganz schön geschröpft. Also kein Witz, wir wollten Steuern sparen“, schob ich hinterher. Es sollte wohl lustig klingen, aber als ich die Worte aussprach, erkannte ich die ganze leidenschaftslose Wahrheit darin. Mein Leben war ein erbärmliches Kartenhaus, das seit Langem wackelte, aber gerade jetzt wie aus dem Nichts in mir zusammenbrach. Ich schaute schnell zur Seite, damit er nicht mitbekam, dass ich auf einmal mit den Tränen kämpfte.
„Ganz schön unromantisch“, sagte er. Dann nahm er meine Hände und legte sie in seine. Wir kannten uns ungefähr eine Stunde und er wusste, dass ich verheiratet war. Dennoch tat er es und ich ließ es zu, als sei das Händchenhalten mit einem Fremden die selbstverständlichste Sache der Welt. Kurz darauf stürzten wir uns ins Getümmel des Weihnachtsmarktes und steuerten einen Glühweinstand an. Wir konnten nicht aufhören zu reden, tasteten uns im Laufe dieser Zufallsbegegnung bis in tiefe Gefilde vor, fragten einander aus und erzählten uns so viel wie hineinpasste in die Stunden, die wir miteinander verbrachten. Als wir uns mit einer Umarmung und einem keuschen Kuss verabschiedeten, gab ich ihm meine Handynummer und E-Mail-Adresse.
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Freitag, 17:15 Uhr
Noch bevor ich ihn höre und sehe, weiß ich, dass Julian gleich da ist. Er betätigt kurz vor unserer Wohnung vom Auto aus Licht und Musik, in der Diele wird es hell, jazzige Klänge dringen in gedämpfter Lautstärke aus den Boxen im Wohnzimmer. Er weiß, wie sehr ich es hasse, wenn er das tut, und darum tut er es. Es muss ein tiefes Gefühl der Befriedigung sein, das seine Fernsteuerung ihm verschafft. Umso bedauerlicher, dass ich noch nicht auf sie reagiere – manchmal denke ich, wenn er könnte, würde er auch mich aktivieren und dorthin lenken, wo ich mich seiner Meinung nach am sinnvollsten aufhalten sollte.
Er steuert das Auto in die Garage, ein letztes Brummen des Dieselmotors. Das Tor schließt automatisch, kurz darauf öffnet sich unsere Wohnungstür. Im Hereinkommen ruft er ein fragendes: „Hallo!?“ Dann steht er unvermittelt im Schlafzimmer, wo er mich schemenhaft in der Dunkelheit im Bett liegen sieht.
„Hallo, Eva. Du bist gestern nicht nach Hause gekommen. Was ist los? Bist du krank?“
Nichts in seiner Stimme und in seinem Gesicht deutet auf irgendeine wie auch immer geartete Emotion hin. Weder Verärgerung noch Besorgnis oder Mitgefühl, mein Mann erkundigt sich lediglich. So ist er, es geht ihm einzig um die Information.
„Extreme Kopfschmerzen, ich habe die Nacht durchgearbeitet.“
„Hast du schon eine Tablette genommen?“
„Ja, ich denke, es geht mir gleich besser.“
„Alles klar, ruh dich mal aus, damit du nicht noch an den Feiertagen schlappmachst. Sag Bescheid, wenn du was brauchst.“ Dann verschwindet er im Bad, um zu duschen, ohne darauf zu warten, ob ich irgendetwas brauchen könnte. Aber damit gibt er mir genau das, was ich am nötigsten brauche – das Alleinsein mit meinen Gedanken.
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Mittwoch, 21:00 Uhr
Die vier Stunden mit Matteo erschienen mir in den ersten Minuten der Heimfahrt wie eine Sinnestäuschung. Gab es diese Begegnung überhaupt oder wurde ich vielleicht einfach nur verrückt, war abgedriftet in eine tagträumerische Fantasiewelt? Bis mein Handy vibrierte und ich sah, dass er anzurufen versuchte. Es gab ihn. Oh Himmel, es gab ihn! Zugleich bemerkte ich auch die zwei verpassten Nachrichten von Julian. Der Akku war fast leer, das passierte mir häufig und würde eine plausible Erklärung liefern. Bis ich aussteigen musste, telefonierte ich leise mit Matteo, schon süchtig nach seiner Stimme und bereit für das, was sich da rasant anbahnte. Fremdzugehen, eine Affäre zu haben, das hatte mich trotz meiner lieblosen Ehe nie gereizt und reizte mich auch jetzt nicht. Ich wollte nicht untreu sein, aber ich konnte nichts dagegen tun, dass ich darüber nachdachte. Es war abzusehen, dass es unabänderlich geschehen würde.
Warum Julian und ich zusammen waren, erschloss sich mir kaum noch. Wir kannten uns aus der gemeinsamen Unizeit. Er hatte Jura studiert und ich Mediendesign. Ich sah ihn häufiger beim Essen in der Mensa, fand ihn überaus attraktiv. Als dieser große, etwas arrogant wirkende Typ und ich uns auf einer Semesterabschlussparty näher kamen, fühlte ich mich geschmeichelt. Das Weitere ergab sich, kurze Zeit später waren wir in einer Beziehung, beendeten unser Studium fast gleichzeitig und zogen zusammen. Er fand einen Job in einer mittelgroßen Anwaltskanzlei, fachlich wenig herausfordernd, aber ihm gefiel die Option, später als Juniorpartner einzusteigen. Dafür nahm er gern in Kauf, dass er für Hin- und Rückfahrt täglich zwei Stunden auf der Autobahn verbrachte. Ich begann in einer nahe gelegenen Werbeagentur als Elternzeitvertretung und blieb dort hängen, so wie ich an ihm und er an mir hängen blieb. Weil Julian unbedingt die schicke Eigentumswohnung kaufen wollte, heirateten wir und lebten uns dann in dieser viel zu großen Wohnung komfortabel auseinander. Wir waren uns einig, später mal Kinder zu wollen, aber ich hatte den Eindruck, als sei dieses „Später“ für ihn in weite Ferne gerückt. Er mutierte immer mehr zum Workaholic und Hightech-Anbeter, ich versuchte, die innere Leere mit Shopping-Exzessen zu füllen.
Als ich vorgestern nach Hause kam, entschuldigte ich mich für die Verspätung und dafür, dass ich mich weder gemeldet hatte noch erreichbar gewesen war. Julian saß an seinem Schreibtisch, schaute kaum auf, weil er in seine Akten vertieft war, meinte nur, ich solle endlich einsehen, dass ich das Handy regelmäßig aufladen müsse, meine kindische Technikverweigerung sei inakzeptabel. Seine Belehrung war für mich nur ein lästiges Hintergrundrauschen. Ich hörte kaum hin, sondern wartete auf das Ende des Rauschens. Dann kündigte ich an, in den nächsten Tagen einen eiligen Auftrag erledigen zu müssen.
„Kann sein, dass es bis in die Nacht geht, warte also nicht auf mich. Ich muss das unbedingt vor den Feiertagen schaffen, der Kunde macht total Druck.“
„Alles klar, ich hab auch viel um die Ohren, siehst du ja“, antwortete er, während seine Aufmerksamkeit weiterhin ausschließlich den übereinandergestapelten Ordnern galt.
Ich verzog mich in mein Arbeitszimmer, legte mein Handy auf das Ladegerät, startete den Mac und schrieb Matteo, dass ich ihn wiedersehen wolle. Er antwortete sofort. Die Nachrichten flogen hin und her, er konnte gut mit Worten umgehen. Das gefiel mir. Wir verbrachten die Stunden bis Mitternacht damit, unser Date am nächsten Abend zu planen. Wir würden uns noch einmal zur selben Zeit in der S-Bahn treffen, unsere erste Begegnung gewissermaßen wiederholen, und dann zu ihm fahren. Es war aufregend, er war aufregend, seine direkte Art zu schreiben: „Ich habe keine Erfahrung mit solchen Dingen, und erwarte nicht, dass ich mit einem One-Night-Stand zufrieden bin. Auf so was stehe ich nicht, ich möchte was Festes. Verdammt, warum musst du schon was Festes haben? Und warum kann ich nichts dagegen machen, dass ich trotzdem etwas von dir will? Das weißt du, oder? Ich will dich.“
Ja, ich wusste es, und ich wollte ihn auch, wünschte mir nichts mehr als das. Verflogen die lähmende Zögerlichkeit, die sonst meine Entscheidungen erschwerte. Noch nie zuvor war ich mir einer Sache so schnell so sicher gewesen.
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Donnerstag
Der gestrige Arbeitstag war locker, denn in Wahrheit gab es kein drängendes Projekt, keine eiligen To-do-Listen und daher auch keinen Stress. Meine Kollegen befanden sich schon im Wochenendmodus, sodass ich früh Feierabend machen und mir für heute sogar freinehmen konnte. Ich fuhr noch mal nach Hause, badete und kramte aus den Schubladen meines begehbaren Kleiderschranks neue Wäsche hervor, die ich niemals für Julian getragen hatte. Ich besaß einen luxuriösen Vorrat an BHs und Slips, aber auch teure Schuhe, Röcke, Kleider – Frustkäufe, die das Tageslicht selten wieder erblickten, teils noch mit Preisschild. Doch ich entschied mich für bequeme Klamotten, in denen ich mich wohlfühlte, stretchige Jeans und ein schlichtes Oversized-Sweatshirt.
Diesmal war in der Bahn kein Sitzplatz mehr frei, man merkte, dass es im Eiltempo auf den letzten Adventssamstag zuging. Matteo stieg ein, sah mich in der Nähe der Tür stehen, schob sich sanft, aber entschieden an etlichen Leuten vorbei und sagte: „Da bist du ja!“, bevor er mich zum ersten Mal wirklich küsste. Er schmeckte frisch, ein bisschen nach Kaugummi, und dann süß, als der Kuss andauerte. Es war eng im Wagen. Bei jedem Ruckeln und wenn Leute zu- oder ausstiegen, wurden wir aneinandergedrückt und konnten uns spüren. Eine halbe Stunde später zeigte er mir seine Wohnung, zwei Zimmer im Altbau, mit Küche, Bad und Balkon, gemütlich. Tannenzweige, ziemlich wirr auf einem ovalen Teller drapiert, dazwischen vier Kerzen in verschiedenen Farben, drei schon ziemlich abgebrannt. Ich bat ihn, sie anzuzünden und erzählte von dem silbernen Adventskranz. Matteo nahm einen der Zweige und hielt ihn ganz kurz in die Flamme – nur so lange, bis er leicht glimmte und anfing zu duften. Weihnachten. So duftete Weihnachten! Es erinnerte mich an meine Kindheit, an die kleine Eva, die so gern mit Feuer gespielt hatte, auch wenn das streng verboten war.
Nachdem er eine Flasche Primitivo entkorkt hatte, füllte er zwei Gläser zur Hälfte und reichte mir eines davon. Ich wollte es ihm gerade aus der Hand nehmen, als er das Glas plötzlich wieder zur Seite stellte. „Lass uns noch warten, Eva. Lass uns vielleicht lieber mit allem noch warten. Ich weiß nicht, was danach ist, und das macht mir Angst. Ich hasse die Vorstellung, dass du es hinterher bereust.“
Meine Antwort kam spontan, ich brauchte nicht nachzudenken. „Keine Sorge, ich werde nichts bereuen. Ich hab’ auch keine Ahnung, was danach ist, aber ich werde mit Sicherheit nichts bereuen, das steht fest. Bekomme ich jetzt meinen Wein?“
Matteo schob beide Gläser noch weiter weg „Nein. Erst mal bekommst du mich.“
Mit beiden Händen umfasste er federleicht meinen Kopf und schaute mich an. Das Lagunengrün seiner Augen vermischte sich mit meinem Graublau und es wurde mir klar, dass ich Kurs nahm in eine neue Welt. Matteos Welt. Wenn ich sie mit ihm erkundet hatte, würde es kein Zurück mehr geben.
Wir fielen nicht in wildem Rausch übereinander her. Obwohl wir genau das am liebsten getan hätten, ließen wir uns viel Zeit und löschten unseren Durst zwischendurch doch noch mit dem Primitivo. Warum kann ein und dieselbe Sache mit ihm so anders sein, dachte ich, bevor ich aufhörte, an etwas anderes zu denken als an das, was er mich fühlen ließ. Wir taten im Grunde doch vertraute Dinge miteinander. Der Unterschied lag einzig an Matteo und wie ich auf ihn reagierte. Er berührte mich anders, küsste mich anders, sprach anders, dachte anders, lachte anders, liebte mich anders, war durch und durch anders als Julian und die Männer, mit denen ich vor Julian zusammen gewesen war. Danach fühlte ich mich flüssig, geschmolzen unter unserer Hitze. Als er die zweite Rotweinflasche öffnete und sich abzeichnete, dass ich bei ihm übernachten würde, wusste ich nicht, ob Matteo und ich eine gemeinsame Zukunft haben würden. Aber es stand fest, dass, unabhängig davon, Julian und ich keine mehr hatten.
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Freitag, 23:30 Uhr
Julian legt sich neben mich auf seine Seite des Wasserbetts, ohne Licht zu machen oder etwas zu sagen. Wahrscheinlich denkt er, dass ich schlafe,
„Ich habe keine Migräne. Letzte Nacht musste ich auch nicht arbeiten“, beginne ich meine Beichte. Dann wappne ich mich innerlich, warte auf seine Reaktion. Er dreht sich noch nicht mal zu mir, als er fragt: „Und wo warst du?“ Erst als keine Antwort kommt, wendet er sich doch in meine Richtung: „Rücksichtnahme war noch nie deine Stärke, Eva. Ich muss um sechs Uhr aufstehen, falls du mir irgendetwas mitteilen willst, mach es bitte kurz, ich habe einen harten Tag mit wichtigen Terminen vor mir. Oder sag es mir morgen.“
Ich setze mich auf. „Du willst die Kurzfassung? Also gut: Am Mittwoch habe ich jemanden kennengelernt und wir haben gestern die Nacht zusammen verbracht. Und den ganzen Morgen, Mittag und Nachmittag heute, ich bin erst kurz vor dir hier gewesen.“
Julian bleibt liegen, sein Smartphone blinkt, er deutet auf das Display, flucht. „Halb zwölf, super Timing für so ein Geständnis. Eva, sag mal, bist du völlig schmerzfrei, mir so was um diese Uhrzeit mal eben an den Kopf zu knallen? Erwarte jetzt bloß nicht von mir, dass ich Gesprächsbedarf habe. Ich bin so was von bedient.“ Damit dreht er sich wieder um.
Was hatte ich erwartet? Das war es also. Ja, schlechtes Timing, das stimmt, und es stimmt auch, dass ich rücksichtslos bin. Aber erst heute. In den Jahren zuvor habe ich mich Julians Lebensstil angepasst bis zur Selbstaufgabe. Als schmerzfrei bezeichnet er mich, und recht hat er. Es schmerzt nicht, dass es aus ist. In nur drei Tagen habe ich mich innerlich befreit, von seiner Kälte, meiner Frustration und unserer Vernunftehe. Er hat keinen Gesprächsbedarf, ich jetzt auch nicht mehr. Dass es so leicht sein würde, so eindeutig! Unfassbar. Leicht wird es nicht bleiben, das ist mir klar. Vielleicht wird er mich noch umstimmen wollen, und wenn er merkt, dass die Trennung feststeht, wird es ums Geld gehen. Er kann die Wohnung behalten, ich will um nichts mit ihm streiten. Es tut mir leid für ihn. Plötzlich muss ich an seine Einkaufslisten fürs Weihnachtsessen denken, die ganze akribische Feiertagsplanung, die nun ruiniert ist. Die Gedanken brodeln, mir wird bewusst, dass ich hellwach bin und keine weitere Nacht in diesem Bett an seiner von mir abgewandten Seite ertrage. Ich werde mir ein Zimmer im Ibis nehmen, da kann man auch nach Mitternacht noch einchecken. Für kurze Zeit sitze ich reglos in der Dunkelheit, höre, wie Julians Atem ruhiger wird. Ob er begriffen hat, was ich gesagt habe? Jedenfalls hindert es ihn nicht am Einschlafen. Leise stehe ich auf, hole mein inzwischen voll geladenes Handy aus dem Arbeitszimmer, und während ich mich anziehe, tippe ich hastig eine Nachricht. „Bin auf dem Weg ins Hotel. Hast du am Wochenende schon was vor?“ Matteo antwortet innerhalb von Sekunden, liegt auch noch wach. „Warum ins Hotel, komm direkt zu mir.“ Sekunden später eine neue Nachricht: „Und dann bleib bei mir.“
Ich packe meine Reisetasche mit dem Nötigsten und freue mich auf die vierte Kerze, die ich Sonntag mit Matteo anzünden werde. Viel weiter kann ich noch nicht denken, aber ich sehe es so: Nicht nur ich weiß es nicht – niemand weiß, was die Zukunft bringt. Jetzt kommt erst mal Weihnachten, dann das neue Jahr. Alles andere wird sich finden.
Über die Autorin
Die Autorin, geboren 1962 in Paderborn, wuchs in einer Kleinstadt in Ostwestfalen auf. Im Anschluss an das Fachabitur und eine Ausbildung zur Buchhändlerin zog sie ins Bergische Land, wo sie seither lebt und arbeitet. 2011 machte sie sich als Werbetexterin selbstständig. Zugleich begann sie, Geschichten für Kinder zu schreiben, die in einem Regionalverlag veröffentlicht wurden. Ihre ersten beiden Romane, 2017 im Selfpublishing erschienen, sind ihr Verlagsdebüt 2018.