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Adventsgeschichte 16. Dezember

Eine Tür öffnet sich

von Elena MacKenzie

1. Kapitel

Die Tür fällt mit einem leisen Klacken hinter mir ins Schloss. Es hieß freiwillig gehen oder rausgeworfen werden. Also habe ich mich dafür entschieden, freiwillig zu gehen. Viel lasse ich ohnehin nicht zurück. Mein ganzer Besitz ist der klapprige alte Dodge unten vor der Haustür und der Inhalt in der Reisetasche, den ich in meinen Händen halte.
Trotzdem fällt es mir schwer, zu gehen, denn die Wohnung hinter mir ist das einzige Zuhause, das ich kenne. Hier habe ich mit meiner Mutter gelebt und hier ist sie vor gerade einmal zwei Wochen am dem hinterlistigen Teufel Krebs gestorben. Sie ist in dieser Wohnung gestorben, weil kein Geld mehr da war, um sie vernünftig in einer Klinik oder einem Hospiz unterzubringen. Es war schon seit Monaten kein Geld für irgendetwas da. Weder für die Miete, noch für Wasser oder Strom. Egal, wie viele Überstunden im Diner ich gemacht habe, es hat kaum für die Medikamente gereicht, die meine Mutter gebraucht hat. Und da ich in den letzten Tagen jede Minute bei ihr sein wollte, habe ich jetzt nicht einmal mehr einen Job.
Ich nehme die Reisetasche hoch und verlasse das heruntergekommene Haus, in dem Mom, und ich über sechzehn Jahre lang gewohnt haben, und steige unten in mein Auto. Der Tank ist voll und der Dodge wartet eigentlich nur darauf, dass ich losfahre, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich es tun soll. Moms letzter Wunsch war es, einen Brief in ein kleines Nest nach Main zu bringen. Ich persönlich sollte ihn abgeben, nicht irgendein Postbote, das war Mom besonders wichtig. In den letzten Tagen habe ich oft überlegt, ob ich ihn nicht doch in einen Briefkasten werfen soll, aber das hat Mom nicht verdient. Sie wollte es so und nicht anders. Und da sie sich, solange sie konnte, immer allein um mich gekümmert hat, werde ich ihr diesen Gefallen tun, auch wenn ich nicht weiß, wieso sie wollte, dass ich ihn persönlich überbringe.
Ich lasse den Motor an, starte das alte Navigationsgerät und gebe „Waterville“ in das Display ein. Das kleine Rädchen dreht sich unendliche Sekunden lang, bis ich endlich erfahre, dass ich fast 7 Stunden unterwegs sein werde. Und das bei diesem Schneesturm. Wegen eines Briefs, den ich unbedingt persönlich abgeben soll. Ich seufze, starte den Motor und sehe in den Seitenspiegel, bevor ich mich in eine Lücke in den fließenden Verkehr schiebe.
New York hat für mich nie etwas Gutes übrig gehabt. Ich habe für New York auch nichts übrig. Deswegen steht für mich schon jetzt fest, dass ich nicht mehr zurückkommen werde. Wohin ich gehen werde, nachdem ich diesen Brief übergeben habe, weiß ich noch nicht. Ich werde es einfach dem Zufall überlassen.
Als ich aus der Stadt herauskomme, muss ich die Scheibenwischer auf die höchste Stufe stellen. Aber was noch viel schlimmer ist:, Ddie Heizung verströmt nur ein warmes Lüftchen. Schon nach einem Viertel der Strecke, bin ich so durchgefroren, dass ich an der nächsten Tankstelle rausfahre, um mir einen heißen Kaffee zu holen. Das tue ich noch zwei weitere Male, kurz denke ich sogar darüber nach, mir irgendwo einfach ein Zimmer zu nehmen, über Nacht zu bleiben und es am nächsten Tag noch einmal zu versuchen. Aber das würde mich Geld kosten und ich muss jeden Cent sparen, denn ich weiß nicht, wann und wo ich dazukomme, wieder etwas zu verdienen.
Etwa drei Meilen vor Waterville stottert der Motor, als hätte er Luft geschluckt, dann erstirbt er mit einem heiseren Röcheln und das Auto bleibt stehen. Ich schaffe es gerade so noch, den Wagen an den Rand der schmalen Landstraße rollen zu lassen, wo er in einer hohen Schneewand stecken bleibt. Fluchend schlage ich mit den Fäusten auf das Lenkrad ein. Das lässt diese Schrottkarre mir natürlich nicht durchgehen. Mit einem dumpfen Knall schleudert sie mir den Airback entgegen, der mich heftig und unerwartet im Gesicht trifft. Mir ist danach, zu weinen. Aber ich habe schon sehr lange nicht mehr geweint. Nicht einmal, nachdem meine Mutter gestorben ist. Das letzte Mal habe ich geweint, als mein Vater mitten in New York von einem Junkie erstochen wurde, da war ich zehn Jahre alt und habe mir geschworen, nichts könnte mich je wieder dazu bringen, mich so hilflos zu fühlen.
Ich steige aus dem Auto und sehe mich um. Weder rechts noch links von mir gibt es Häuser. So weit ich blicken kann, nur Schnee. Wenigstens hat der Sturm sich gelegt und der Himmel ist strahlend blau. Aber nicht mehr lange, denn die Sonne geht bereits unter. Und natürlich hat mein Handy keinen Empfang. Also stehe ich zitternd hier, reibe über die für einen solchen Winter viel nicht ausreichende Jacke aus Schurwolle und trete von einem Fuß auf den anderen.
Nach zwanzig Minuten kommt das erste Auto, mittlerweile bin ich so durchgefroren, dass ich weiß, entweder dieses Auto oder keins, denn viel länger möchte ich nicht dieser klirrenden Kälte ausgesetzt sein. Ich stelle mich mitten auf die Straße - ein dunkelgrauer Schandfleck mitten im strahlenden Weiß meiner Umgebung, wer sollte mich so schon übersehen? - und wedle mit den Armen. Und tatsächlich hält das Auto an., Wwas hätte es auch sonst tun sollen? Heraus steigt ein Mann mit einer dicken schwarzen Jacke, einem Beanie auf seinem Kopf und grimmigemn Gesicht.
„Sind Sie verrückt geworden?“, fährt er mich an und kommt ein paar Schritte näher.
„Mein Auto ist stehengeblieben“, verteidige ich mich trotzig.
„Und deswegen stehen Ssie mitten auf der Straße? Einer mit Schnee bedeckten Straße?. Was, wenn ich nicht rechtzeitig hätte anhalten können?. Oder mein Auto beim Bremsen geradewegs in Sie reingerutscht wäre?“
Ich trete wieder von einem Fuß auf den anderen und reibe meine Arme mit zitternder Unterlippe. Meine Jacke ist leider nicht so dick wie seine. Und eine Mütze, die meine Ohren schützen kann, habe ich auch nicht. Mittlerweile fühlen sie sich an, als würde die Kälte an ihnen reißen. „Es tut mir sehr leid, aber ich erfriere hier langsam.“
„Ich schicke ihnen einen Abschleppdienst“, sagt er ungehalten und wendet sich zu seinem Auto um.
„Warten Sie“, halte ich ihn auf. „Können Sie mich nicht mitnehmen?“ Ich muss unbedingt aus dieser Kälte raus und bis ein Abschleppdienst kommt, bin ich hier erfroren. Ich kann also auf keinen Fall zulassen, dass er mich hier zurücklässt.
„Ich nehme keine fremden Frauen mit“, sagt er trocken.
Ich lache schockiert auf. Das kann er nicht ernst meinen. „Wie bitte? Sehe ich aus, als würde ich Sie umbringen wollen?“
„Wer weiß das schon“, entgegnet er mir und öffnet die Fahrertür seines großen SUV. Bestimmt ist es da drin wohlig warm.
„Das größere Risiko würde ja wohl ich tragen“, entrüste ich mich.
„Behaupten Sie gerade, ich wäre ein Vergewaltiger?“
Ich schnappe nach Luft. „Was?“
„Wie bitte“, korrigiert er mich. „Ich wollte wissen, ob Sie eben behauptet haben …“
„Ich weiß, was Sie wissen wollten. Nein. Ich muss nur unbedingt aus dieser Kälte. Wenn Sie nicht schuld daran sein wollen, dass man nur noch meine Leiche findet, dann nehmen Sie mich mit.“
Er verzieht das Gesicht, lässt seinen Blick über mich gleiten und verzieht noch einmal das Gesicht. Ich weiß, dass ich nicht besonders hübsch in meinen abgetragenen Sachen aussehe, mein Schrottauto wirkt bestimmt auch nicht vertrauenserweckend, aber ich bin eine zierliche, eins fünfundsechzig große Frau mit blonden, langen Haaren, die bis zu meiner Taille reichen. Er ist mindestens eins achtzig mit breiten Schultern, einem schwarzen zwei-Wochen-Bart und einem kantigen Gesicht. Welche Gefahr sollte für ihn schon von mir ausgehen?
„Steigen Sie schon ein“, sagt er murrend. Was ist diesem Mann nur über die Leber gelaufen?
Schnell reiße ich den Kofferraum meines Autos auf, schnappe mir die kleine Reisetasche, in der mein gesamtes Leben steckt, und meine heruntergekommene Handtasche, in der mein letztes Geld steckt ist, und laufe auf den Mann zu, der meine Taschen mit hochgezogener Augenbraue mustert. Er öffnet widerwillig seinen SUV und wirft meine Sachen auf die Rücksitzbank.
Als ich im Auto sitze und er bemerkt, dass ich mich mit dem Gurt abmühe, stöhnt er genervt, greift um mich herum, zieht den Gurt auf seine Seite und hilft mir, mich anzuschnallen, als wäre ich ein Kind. Dann fährt er mich schweigend und mit versteinertem Blick bis vor ein kleines Hotel im Zentrum von Waterville, direkt neben einer Werkstatt und gegenüber des Weihnachtsmarktes, der aus wenigen beleuchteten Buden besteht, die rund um einen kleinen Weihnachtsbaum herum stehen. Weihnachten war mir nie besonders wichtig. Aber heute wünsche ich mir umso mehr, ich hätte die Chance, nur noch ein Fest mit meiner Mutter erleben zu können. Jetzt, wo ich allein bin, wird Weihnachten für mich wie jeder andere Tag sein.
„Vielen Dank“, sage ich knapp, bevor ich aussteige.
„Brauchen Ssie denn noch einen Abschleppdienst?“, ruft er.
Ich wollte will eben schlecht gelaunt die Tür zuwerfen, halte jetzt aber noch mal inne und beuge mich in das Auto hinein.
„Natürlich.“
„Ich kümmere mich darum.“
„Das müssen Sie nicht“, antworte ich verdutzt. Eben war er noch so unfreundlich, wollte mich sogar zurücklassen, und jetzt will er sich um mein Auto kümmern?
„Wenn jemand das Auto holen soll, dann muss ich das machen. Mir gehört die einzige Werkstatt mit Abschleppwagen im Umkreis von zehn Meilen.“ Er nickt zur Werkstatt neben dem Hotel und steigt jetzt aus dem Auto aus. „Eigentlich könnte ich jetzt gemütlich ein Bier im Pub trinken, aber ich hole das schrottreife Auto einer Blondine, die es nicht lassen konnte, bei diesem Wetter mit der Karre draußen herumzufahren“, murrt er und fährt das Tor zur Werkstatt hoch.
Am liebsten würde ich dem Mann etwas Passendes entgegnen, aber wie er schon sagte, er ist der Einzige mit einem Abschleppwagen, also halte ich mich mühsam zurück. „Danke. Bis morgen früh.“ Damit werfe ich ihm meinen Autoschlüssel zu und gehe in das kleine, aber gemütlich wirkende Hotel.

2. Kapitel

Das kleine Hotel ist schon alt, wurde wahrscheinlich in den 90ern das letzte Mal renoviert, aber es ist sauber und gemütlich. Und zu meiner großen Überraschung ist es auch recht günstig. Nur die Kosten für das Frühstück spare ich mir und hole mir lieber ein belegtes Sandwich in dem Supermarkt auf der anderen Straßenseite, den die Hotelangestellte an der Rezeptionm Empfang mir empfohlen hat.
Heute ist es nicht ganz so kalt wie gestern, der Himmel ist wolkenlos und die Sonne lässt den frischen Schnee wie Diamanten glitzern. Der Weihnachtsmarkt ist noch geschlossen, genauso verschlafen wirkt die ganze kleine Stadt. Nur ein paar vereinzelte Geschäfte haben schon geöffnet. In dieser Stadt geht man das Leben wohl deutlich ruhiger als in New York an.
Das Sandwich erst zur Hälfte gegessen, laufe ich quer über die Straße zur Werkstatt, deren Tor schon weit geöffnet steht. Auf der Rampe steht mein Auto, die Motorhaube offen. Als ich es sehe, zieht sich mein Magen nervös zusammen., Aauch wenn ich es mir nicht leisten kann, ich muss es reparieren lassen, wenn ich diese Stadt jemals wieder verlassen will.
Bevor ich die Werkstatt betrete, schlinge ich schnell noch den Rest meines Sandwiches hinunter und kaue hastig, um den Mund leer zu bekommen, bevor der unfreundliche Kerl von gestern Abend mich entdecken kann.
„Sie haben da Mayonnaise im Gesicht“, sagt plötzlich jemand zu mir.
Ich zucke zusammen und springe sogar einen Schritt rückwärts, so heftig habe ich mich erschrocken. „Was lungern Sie hier auch hinter der Tür herum“, fahre ich ihn unwillig an.
Er steht direkt neben dem Tor, den Körper fast an eine schmale Tür gedrückt, die ich erst jetzt bemerke, und schreibt etwas auf ein Blatt Papier. „Wenn hier jemand herumlungert, dann sind Sie das. Zufällig gehört der Laden mir. Ich darf hier also sein. Sie nicht.“ Er weist mit dem Stift auf ein Schild, das an der Scheibe zu einem Raum hängt, der wie ein Büro aussieht, auf dem „Betreten der Werkstatt nur nach Aufforderung“ steht.
Ich schnaube. „Dort kann man es erst sehen, wenn man die Werkstatt schon betreten hat“, verteidige ich mich.
„Sie haben recht“, sagt er grinsend, nimmt das Blatt Papier von der Tür und kommt auf mich zu. Obwohl sein Haar tiefschwarz ist, sind seine Augen faszinierend hellblau. Er steht jetzt so nahe vor mir, dass ich mich diesen Augen nur mit Mühe entziehen kann. Und er ist so viel größer als ich, dass ich nach oben sehen muss. Aber das passiert mir ständig, weswegen ich es gewohnt bin.
„Ich wollte nur nach meinem Auto sehen.“
Er presst die Lippen fest aufeinander, dann hält er mir das Blatt Papier hin. „Es ist der Zylinderkopf. Sie müssen schon eine Weile mit dem undichten Zylinderkopf gefahren sein, jetzt ist er gerissen und wir werden einen neuen brauche. Aber, um ehrlich zu sein, die Reparatur wird mehr kosten als das Auto wert ist. Und eigentlich ist das Auto dann damit noch immer ein Verkehrsrisiko. Die Bremsen sind runter, es braucht einen Ölwechsel und die Stoßdämpfer sind auch nicht mehr die jüngsten.“
Ich seufze mit hämmerndem Puls. „Was kostet denn der Zylinderkopf?“
„700$, aber ich rate Ihnen, zumindest noch die Bremsen machen zu lassen. Das wären dann 850. Mit diesen Bremsen sind Sie eine Gefahr für sich und jeden anderen.“
Im Kopf rechne ich durch, ob ich mir das leisten kann, und wie lange der Rest meines Geldes mich dann noch über Wasser halten könnte. Und es sieht wirklich nicht gut aus. Bei diesen Kosten für das Auto, habe ich höchstens noch Geld für zwei Wochen. Wenn ich sehr sparsam bin.
„Ich würde Ihnen raten, ein Neues zu kaufen.“
„Haben Sie denn ein Auto, das billiger als die Reparatur ist?“
Er schüttelt den Kopf. „Wenn es eins in der Stadt oder irgendwo anders gäbe, dann wäre sein Zustand nicht besser als der Ihres Autos.“
„Dann müssen Sie mein Auto reparieren.“
„Nicht in den nächsten Tagen. Bis ich die Teile hier habe, dauert es ein paar Tage. Ich werde im Internet nach Gebrauchten suchen müssen. Ihr Auto ist schon ziemlich alt.“
Ich ziehe die Schultern hoch. Als ob ich das nicht schon wüsste. „Bis wann?“
„Nach Weihnachten.“
„Vier Tage?“
„Eher eine Woche. Mindestens.“

Mir verschlägt es fast den Atem, als ich vor dem großen Herrschaftshaus stehe, dessen Adresse auf dem Brief meiner Mutter steht. Es ist eins dieser Häuser, die man ansieht und weiß, die Menschen, die hier leben, sind sehr reich. Sie sind erfolgreich, in dem, was sie tun. Und jeder man kann nicht anders, als sie ehrfurchtsvoll zu beneiden. Und das schon seit Generationen.
Ich gehe mit großen Augen auf das zweistöckige Haus mit den unzähligen Fenstern zu, das im Stil eines britischen Herrenhauses gebaut ist. Ich musste unten neben dem Tor klingeln und in eine Kamera lächeln, bevor mir aufgemacht wurde. Wahrscheinlich kommt es nicht oft vor, dass jemand den gewundenen Weg zum Haus nach oben läuft, die meisten fahren bestimmt mit dem Auto. Links und rechts von mir liegen schneebedeckte Freiflächen, auf denen vereinzelt Bäume und Büsche stehen, die im Moment mit Schnee bedeckt sind, aber man erkeannt ihre perfekten, runden Formen noch. Auf einem Balkon in der Mitte der oberen Etage steht ein mit dunkelgelben Lichtern beleuchteter Tannenbaum.
Als ich endlich am Haus ankomme, wartet an der Tür schon eine ungeduldig dreinblickende Dame mittleren Alters, die die Lippen fest aufeinandergepresst hat. An ihrem abfälligen Blick erkenne ich sofort, dass sie jemanden wie mich hier tatsächlich nicht oft zu sehen bekommen. Sie mustert mich für einen flüchtigen Augenblick, jede Sekunde mehr, wäre wahrscheinlich eine Zeitverschwendung.
„Was wünschen Sie?“
„Guten Tag“, begrüße ich sie mit einem Lächeln. Meiner Mutter war es immer wichtig, dass ich mich nett anderen Menschen gegenüber verhalte. Egal, woher sie kommen und egal, wer sie sind. Sie hat Vorverurteilungen gehasst. „Ich habe einen Brief für Mrs. und Mr. Goldmann.“
Sie streckt die Hand aus, dabei verfinstert sich ihr Blick noch einmal. „Ich übergebe ihn für Sie.“
„Ich darf ihn nur persönlich übergeben.“
Die Frau streicht sich aufgebracht über ihr Business-Kostüm in einem dunkleeln Anthrazit, das ihr sehr gut steht und ihren schlanken Kurven schmeichelt. „Ich bin die Hauswirtschafterin, ich übergebe es.“
Ich ziehe das Kuvert aus der Tasche meiner Jacke und falte es auseinander, dann zeige ich der Frau die Aufschrift „Nur Persönlich!“. Meine Mutter hat ein Ausrufezeichen dahinter gemacht.
„Wie heißen Sie?“, will sie wissen.
„Dana Harper.“
Die Frau schnaubt abfällig, tritt dann aber zur Seite und lässt mich in das Haus. In der großen Aula sagt sie mir, dass ich warten soll, noch bevor ich den überwältigenden Anblick der Freitreppe und des Kronleuchters, der von der Decke hängt, verarbeitet habe. Aber ich bleibe stehen und während ich warte, schaue ich mich staunend um. Etwas seitlich der Treppe steht sogar die weiße Statue eines Engels mit halb ausgebreiteten Flügeln. Ich denke, nicht viele Leute können von sich behaupten, eine Statue in ihrem Haus stehen zu haben.
„Kommen Sie“, sagt die Frau ungeduldig und reißt mich aus meiner Bewunderung.
Ich folge ihr auf eine Doppeltür zu, die mindestens drei Meter hoch ist und aus dunklem massiven Nussbaumholz zu sein scheint. Sie bittet mich in eine Bibliothek, die so groß ist, wie unsere gesamte Wohnung in New York und so viele Bücher in deckenhohen Regalen beinhaltet, dass sie gut mit einer Schulbibliothek mithalten kann. Vor einem Kamin sitzt eine ältere Dame in einem Ledersessel, neben ihr auf dem Tisch steht eine Tasse und eine antike Silberkanne. Alles hier ist alt, aber wirkt sehr hochwertig und elegant. Genau wie die Dame im Sessel.
„Ms. Dana Harper, Madam“, werde ich vorgestellt. Mit einem letzten scharfen Blick in meine Richtung, werde ich mit der älteren Frau alleingelassen, die erst jetzt ihren Blick vom Spiel der Flammen im Kamin hebt.
Ich schätze die Frau auf Ende 60, wobei ich mir wirklich nicht sicher bin, denn sie wirkt eigentlich viel jünger in ihrem eleganten Kostüm, mit den honigblonden Haaren, die bis auf die Schultern reichen, und der jugendlichen Figur. Nur die tiefen Falten in ihrem Gesicht verraten, dass sie schon älter ist.
„Sie haben etwas für mich?“, möchte sie mit harschem Unterton in der Stimme wissen.
Ich nicke, trete näher an sie heran und halte ihr mit leicht zittrigen Händen den Brief meiner Mutter hin. Sie wirft einen kurzen Blick darauf, dann mustert sie mich mit gerunzelter Stirn, bevor sie nach dem Umschlag greift.
„Sie hätten ihn mit der Post schicken können.“
Ich kneife die Lippen zusammen, weil diese Bemerkung mich wütend macht, obwohl ich selbst den Brief auch lieber mit der Post geschickt hätte und es genauso unverständlich finde, dass ich ihn übergeben sollte. Warum wollte meine Mutter, dass ich mich in diese Situation bringe? Woher kannte sie diese Menschen? „Es war der Wunsch meiner Mutter, bevor sie starb“, rechtfertige ich mich.
Sie hält den Umschlag mit zwei spitzen Fingern, als hätte sie ihn aus dem Müll gefischt, dann verzieht sie das Gesicht, öffnet ihn aber.
„Ich gehe dann wieder“, sage ich leise, als sie beginnt, die Zeilen zu lesen, die meine Mutter in schwacher, krakeliger Schrift zu Papier gebracht hat, weil sie schon zu krank war, als sie ihn geschrieben hat. Das weiß ich in der Sekunde, in der ich einen Blick auf die Zeilen erhasche, denn eigentlich hatte sie die ebenmäßigste Schrift, die ich gelesen habe.
„Warten Sie“, hält sie mich auf. „Wie war Iihr Name?“
„Dana Harper.“
Sie nickt, dann entlässt sie mich. „Sie haben ihre Aufgabe erfüllt.“
„Ja, habe ich“, denke ich, erzürnt, über die Kälte in ihren Augen, und  aber auch erleichtert, weil ich wieder gehen kann. Ich möchte gar nicht mehr wissen, was in diesem Brief steht. Ich will einfach nur noch weg hier.

3. Kapitel

Als ich an der Werkstatt vorbeilaufe, ist es Mittag. Mein Auto steht jetzt nicht mehr auf der Rampe, es steht vor der Werkstatt. Auf der Rampe hat sich ein glänzender BMW breitgemacht. Ich habe die Hände in die Taschen meiner Jacke geschoben und starre einen Moment verträumt auf das Auto, ohne es wirklich zu bemerken. Meine Gedanken sind noch immer bei dem herrschaftlichen Anwesen, der Hauswirtschafterin und der älteren Dame. Ich frage mich, ob die Menschen, die dort leben, immer so kühl sind.
„Hey, Sie“, ruft mir jemand zu.
Ich zucke zusammen und sehe mich um. Etwas links von mir steht der Besitzer der Werkstatt und mustert mich verwundert. „Dana“, sage ich zu ihm.
„Dana“, antwortet er grinsend, dann fährt er sich mit einer Hand über den Bart. „Ich heiße Henry. Ihr Auto ist noch nicht fertig.“
„Ich weiß“, sage ich. „Ich hab nur schon erledigt, was ich hier zu erledigen hatte, und jetzt überlege ich, was ich in der Zwischenzeit machen soll.“
„Ich wollte mir eben etwas zu essen holen. Wie wäre es, wenn ich sSie auf einen Hotdog einlade? Einen Glühwein?“ Er nickt mit dem Kinn auf die Weihnachtsbuden auf der anderen Seite.
Ich lächle. „Das wäre nett von Ihnen.“
„Was hat Sie hierher getrieben? Niemand stolpert zufällig über Waterville“, fragt er mich, als wir mit Hotdog und Glühwein an einem Tisch stehen. Die Luft um uns herum riecht nach Zimt und Vanille, es hat wieder begonnen, ganz leicht zu schneien.
„Meine Mutter ist vor Kurzem gestorben und ich sollte etwas für sie etwas überbringen“, erkläre ich ihm und seufze, als der heiße Glühwein sich meine Speiseröhre hinunterarbeitet und mich fast sofort von Iinnen heraus wärmt.
„Das tut mir leid“, sagt er.
Ich nicke. „Und was hält einen Mann wie dich in einer Stadt wie dieser?“
„Die Stadt, die Menschen … Ich bin hier aufgewachsen. Hier lebt man ruhig, ohne Stress. Man kennt sich.“
„Ja, Waterville ist ganz anders als New York.“
„Ich habe in New York studiert. Viel zu hektisch und laut.“
Ich sehe ihn erstaunt an. „Sie haben studiert?“
„Das schockiert sSie jetzt, oder? Ich habe Architektur studiert, weil meine Eltern wollten, dass ich etwas studiere. Dabei wollte ich immer nur an Autos schrauben. Das ist es, was ich gern tue. Schon als Kind. William war mein Freund, so lange ich denken kann. Er hat mich schon als Kind Autos reparieren lassen. Das hat angefangen, als ich mal einem seiner Kunden die Scheinwerfer zertrümmert habe. Sie selbst zu reparieren war seine Strafe für mich. Danach hat er mich nicht mehr losbekommen. Und als er gestorben ist vor ein paar Jahren, hat er mir die Werkstatt hinterlassen. Meine Eltern haben es gehasst“, sagt er lachend.
Ich esse meinen Hotdog auf. „Ich habe nicht studiert. Um ehrlich zu sein, ich habe nicht einmal eine Ausbildung. Als meine Mutter krank geworden ist, habe ich mich nur noch um sie gekümmert und nebenbei gekellnert. Bis ich irgendwann auch keine Zeit mehr zum Kellnern hatte.“
Wir laufen über den kleinen Weihnachtsmarkt, Henry kauft mir Zuckerwatte und wir trinken noch einen Glühwein. Wir reden über alles und eigentlich gar nichts und bemerken gar nicht, wie schnell die Zeit vergeht. Der Schnee rieselt noch immer und überall stehen beleuchtete kleine Weihnachtsbäume mit roten und goldenen Kugeln. Der Mann, der bei unserem Kennenlernen so abweisend und hart war, entpuppt sich als zuvorkommend und sehr charmant. Und anziehend. Er ist sehr attraktiv, und ich muss gestehen, wenn er mich ansieht, dann tut er das mit einer Aufmerksamkeit, die meinen Magen flattern lässt.
„Gestern waren sSie so grimmig“, erwähne ich, durch den Glühwein viel mutiger, als ich es eigentlich bin.
„Ich war wütend, weil ich sSie fast überfahren hätte“, sagt er ruhig und grinst mich breit an.
„Jetzt gefallen Sie mir besser.“
„Sie haben mir schon gestern gefallen.“
Als wir wieder vor seiner Werkstatt ankommen, stellen wir erstaunt fest, dass zwei volle Stunden vergangen sind. Und obwohl meine Jacke nicht besonders dick ist und ich mit ihm die ganze Zeit draußen war, ist mir warm. Was nicht nur am Glühwein liegt, sondern wohl auch an dem, was mit meinem Körper passiert, wenn Henry mich ansieht.
„Sehen wir uns heute Abend?“, möchte er wissen, sein Blick ruht bei der Frage auf meinem Gesicht, das prompt mit Hitze reagiert. Eigentlich hatte ich nicht vorgehabt, in diese Stadt zu kommen, und mich auf diese Weise zu einem Mann hingezogen zu fühlen. Vielleicht liegt es auch an den vielen Jahren, in denen es nur meine Mutter und mich gab: keine Dates, keine Flirts, keinen Sex und schon gar keine romantischen Gefühle. Henry scheint all das, mit einer gewaltigen Vulkanexplosion jetzt in mir zu wecken.
„Wir sehen uns.“

Ich weiß nicht, wie es passiert ist, aber als ich am Weihnachtsmorgen aufwache, liege ich nicht allein in meinem Hotelbett. Neben mir liegt Henry. Obwohl sein Oberkörper nicht zugedeckt ist, fühlt seine Haut sich heiß an, als ich meine Hand auf seinen Rücken lege. Gestern Abend haben wir uns im Pub gut unterhalten. Und ich bin mir sicher, dass wir beide das eine oder andere Glas Bier zu viel hatten, sonst würden wir jetzt wohl nicht nackt nebeneinander in diesem Bett liegen.
Aber obwohl ich jetzt, Stunden später, keinen Alkohol mehr im Körper habe, kann ich es nicht bereuen, dass wir beide hier sind. Ich lasse meine Hand sanft über seinen Rücken gleiten und erkunde jeden Muskel, während ich sein schlafendes Gesicht studiere: gerade, adlige Nase, ein markantes, perfekt geschnittenes Kinn. Er hat seinen Bart ein wenig gestutzt, aber er ist immer noch da. Jetzt sieht man durch die Lücken aber, dass in seinem Kinn eine kleine Spalte ist, die es in der Mitte teilt.
„Guten Morgen“, murmelt er, als er wach wird.
„Es ist schon fast Nachmittag“, sage ich grinsend. „Und frohe Weihnachten.“
„Nachmittag!“, ruft er erschrocken aus und richtet sich abrupt auf. „Verdammt, meine Mutter wird nicht begeistert sein, wenn ich zum Essen zu spät komme.“ Er mustert mich einen Augenblick, dann legt er eine Hand in meinen Nacken und zieht mich zu sich heran, bis unsere Lippen sich berühren. Mein Puls reagiert sofort auf ihn und beginnt, heftig zu rasen. „Du kommst mit“, sagt er entschlossen.
„Zu deinen Eltern?“
„Zu meiner Familie. Sie werden alle da sein: meine Mutter, meine Schwester - zumindest die eine, die nicht in New York lebt - mein Onkel, mein Schwager und meine beiden Nichten. Mein Vater ist vor fünf Jahren gestorben.“
„Tut mir leid.“
„Zieh dich an, wir müssen los.“
„Aber ich habe nichts zum Anziehen für ein Familienessen.“
Er grinst. „Meine Jeans wird ihnen auch nicht gefallen, aber egal.“

4. Kapitel

„Nein!“, stoße ich aus, als Henry seinen SUV auf die Auffahrt zum Anwesen der Goldmanns lenkt und eine Fernbedienung betätigt, die das hohe schwarze Tor öffnet.
Er wirft mir einen verwunderten Blick zu. „Nein?“
„Tut mir leid“, entschuldige ich mich. „Aber ich war schon vorher hier und das letzte Mal, war alles andere als angenehm.“
„Du warst hier?“, hakt er erstaunt nach.
„Ja, gestern Vormittag. Das ist deine Familie?“
Er parkt das Auto vor dem Haus und nickt. „Sie können schwierig sein. Aber mit deiner Hilfe überstehe ich dieses Essen.“ Er steigt aus dem Auto. Noch bevor er es umrunden konnte, um mir die Tür zu öffnen, hat das schon ein älterer Herr in einem Smoking getan die Tür geöffnet und hilft mir mit einer hochgezogenen Augenbraue beim Aussteigen.
„Ich habe kein gutes Gefühl dabei“, sage ich, als Henry meine Hand nimmt und mit mir auf die offen stehende Eingangstür zugeht.
„Warum warst du hier?“
„Meine Mutter wollte, dass ich einen Brief überbringe. Ich weiß nicht, warum.“
Er sieht mich verwirrt an, dann betreten wir die große Eingangshalle, in der heute ein riesiger Weihnachtsbaum unter dem Lüster steht.
„Der war gestern noch nicht hier“, stoße ich erstaunt aus.
„Henry?“, werden wir fragend begrüßt. Mrs. Goldmann verzieht das Gesicht, als ihr Blick über mich gleitet. Ich habe die einzige Bluse und den einzigen Rock an, die ich besitze. Sie sind noch ein Überbleibsel aus meiner Zeit als Kellnerin. Aber natürlich hält beides dem Blick der älteren Dame nicht stand. „Du hast jemanden mitgebracht?“
„Ja, Mom, habe ich. Das ist …“
„Ich weiß, wer sie ist“, fällt sie ihm dazwischen.
„Dann kennt ihr euch ja schon“, sagt Henry abfällig, gibt seiner Mutter kurz die Hand und zieht mich dann hinter sich her in ein geräumiges Esszimmer, in dessen Mitte eine lange weihnachtlich gedeckte Tafel wartet. Und noch mehr Gesichter, die mich neugierig mustern.
„Vielleicht sollte ich wieder gehen?“, flüstere ich Henry zu. Er hält meine Hand nur noch fester, beugt sich zu mir nach unten und küsst mich.
„Solltest du nicht“., dDann stellt er mir seine Schwester, ihren Mann, die Kinder und seinen Onkel vor und rückt mir einen Stuhl zurecht. Als ich aufsehe, starre ich in verwunderte und erstaunte Gesichter. Ich fühle mich unbehaglich.
Mrs. Goldmann setzt sich an die Stirnseite und nickt mir mit verbissenem Blick zu. „Meine Lieben, das ist Julias Tochter.“
Als sie den Namen meiner Mutter erwähnt, lässt Henry meine Hand los, als hätte er sich verbrannt, und starrt mich entsetzt an. So entsetzt wie alle anderen hier. Ich scheine die Einzige zu sein, die nicht weiß, um was es hier geht. Ich versteife mich und würde am liebsten sofort aufspringen und wegrennen. Aber ich bin wie gelähmt.
„Was bedeutet das?“, bringe ich mühsam hervor. Mrs. Goldmann muss mir wohl ansehen, dass ich nicht weiß, um was es hier geht. Sie steht vom Tisch auf, den Blick fest auf mich gerichtet.
„Reden wir“, sagt sie knapp.
Ich suche hilfesuchend Henrys Blick. „Am besten, du gehst mit ihr.“
Enttäuscht stehe ich von meinem Stuhl auf. Warum unterstützt Henry mich nicht? Er hat mich hierher gebracht und jetzt überlässt er mich der Wölfin?
Mrs. Goldmann schließt die Tür zur Bibliothek hinter uns, dann bittet sie mich, mich zu setzen. Auf dem Tisch liegt noch immer der Brief meiner Mutter. Mittlerweile sieht das Papier ganz knittrig aus, als wäre er viele Male gelesen worden und durch viele Hände gegangen.
Mit einem unbehaglichen Gefühl im Magen setze ich mich in einen der beiden Sessel. Mrs. Goldmann nimmt in dem anderen Platz, dann nimmt sie den Brief und hält ihn mir auffordernd hin.
„Lies ihn!“, verlangt sie.
Meine Hände zittern, als ich danach greife. Es sind nur ein paar Zeilen, wahrscheinlich weil meiner Mutter für mehr die Kraft gefehlt hat, denn eigentlich hatte sie immer viel zu sagen. Nur nicht über ihre Vergangenheit. Aber ich habe das unbestimmte Gefühl, dass dieser Brief die Tür zu ihrer Vergangenheit aufstoßen wird.

Liebe Cathryn, lieber Daniel, liebe Familie,

es sind jetzt 26 Jahre, 134 Tage und, ich weiß nicht mehr, wie viele Stunden, seit ich beschlossen habe, euch zu verlassen und nie wieder zurückzublicken. Viele Jahre lang habe ich nur Wut empfunden, ich habe nicht an euch denken wollen und schon gar nicht mit meinem Mann oder meiner Tochter über euch reden wollen. Aber in den letzten Monaten ist mir klargeworden, dass ich kein Recht hatte, wütend auf euch zu sein. Oder euch all die Jahre im Unwissen zu lassen. Zu gehen, ohne ein Wort des Abschieds. Oder euch dafür zu beschuldigen, dass ich mich nie gefühlt habe, als würde ich zu euch gehören.
Ich war ein Teenager, und Teenager sehen die Welt wohl mit anderen Augen. Sie fühlen sich ungeliebter, obwohl sie es wahrscheinlich gar nicht sind. Sie fühlen sich missverstanden, obwohl sie nur beschützt werden sollen. Sie verlangen nach Aufmerksamkeit, die sie längst haben. Aber als ich einmal gegangen war, da hat das schlechte Gewissen und die noch immer vorhandene Wut nicht zugelassen, dass ich zurückkehre.
Ihr habt meinen ersten Mann nie in eurer Familie gewollt, und auch wenn ich es ungern zugebe, ihr hattet nicht unrecht. Euer Gefühl hat euch nicht getrogen. Sobald Dana auf der Welt war, hat er uns verlassen. Aber genauso wie ihr ihn nicht wolltet, hatte auch ich manchmal das Gefühl, nicht willkommen zu sein,. Nnicht mehr zu sein, als die Tochter der besten Freundin von Cathryn, die ihr euch durch den Tod meiner Eltern aufgebürdet worden war. Heute weiß ich, dass ich mich genauso versperrt habe und Nähe und Liebe nicht zulassen wollte, einzig aus Angst, noch einmal jemanden, zu verlieren.
Jetzt verliert jemand, den ich sehr liebe, mich. Wenn dieser Brief euch erreicht, bin ich nicht mehr am Leben. Aber ich komme mit diesen Worten zu euch, mit der Bitte, dass ihr meiner Tochter eine Familie seid. Obwohl ich euch so sehr verletzt habe. Ich hoffe, ihr könnt mir verzeihen. Und wenn nicht, seid wütend auf mich, aber nicht auf Dana. Sie ist nicht schuld an meinen Fehlern. Und es gibt niemanden mehr für sie. Außer euch.

In hoffnungsvoller Liebe 
Julia

Ich schluchze auf und lasse den Brief vor mir zu Boden segeln, wische mir über die nassen Wangen und wage kaum zu atmen, weil mein Magen so sehr krampft, dass jeder Atemzug nur Schmerzen bedeuteten würde. Dieser Brief also lässt nach so vielen Jahren meine Tränen wieder fließen. Und ich kann sie nicht aufhalten. Ich will sie nicht einmal aufhalten. Ich will, dass sie laufen und mit ihnen all die Belastungen und das Leid der letzten Monate hinweggespült werden.
„Ich wusste nichts davon“, bringe ich mühsam hervor.
„Ihre Eltern sind bei einem Autounfall ums Leben gekommen und ich war ihre Patentante. Wir hatten keine Ahnung, dass sie sich nicht wohlgefühlt hat bei uns. Eines Tages war sie einfach verschwunden. Ihre Sachen waren weg und der Mann, in den sie sich verliebt hatte, auch. Er war viel älter als sie, ein Nichtsnutz, der nie wirklich gearbeitet, ständig Mist gebaut und den Sheriff und die halbe Stadt in Atem gehalten hat.“
„Das heißt, mein Vater war gar nicht mein Vater“, stelle ich erschüttert fest.
„Wahrscheinlich nicht“, sagt sie mit traurigem Blick.
„Danke, dass Sie mir alles erzählt haben. Meine Mutter hat nie über ihre Familie gesprochen. Ich wusste eigentlich nichts über ihre Vergangenheit.“ Ich umfasse die Lehnen des Sessels mit meinen Fingern, hole tief Luft und straffe meine Schultern. „Dann weiß ich jetzt alles und werde Ihnen nicht länger zur Last fallen.“
Sie runzelt die Stirn. „Du hast den Brief gelesen. Du wirst bleiben.“
Ich schüttle den Kopf. „Sie müssen das nicht tun. Ich komme gut zurecht.“
„Du bist Teil dieser Familie, ich werde nicht zulassen, dass du dich davonmachst, wie deine Mutter damals. Ganz bestimmt haben wir alle damals Fehler gemacht, aber die werden wir jetzt nicht wiederholen“, sagt sie entschlossen. „Gib uns ein wenig Zeit, damit wir uns kennenlernen können. Ich möchte es wirklich versuchen.“
In diesem Moment öffnet sich die Tür und Henry kommt herein. Hastig wische ich mir über mein verheultes Gesicht, aber wahrscheinlich mache ich es nur noch schlimmer und verschmiere das bisschen Wimperntusche, das ich aufgetragen habe. Vielleicht ist es ja ganz gut, dass ich nicht mehr Make-up besitze, sonst würde ich jetzt noch viel schlimmer aussehen.
Er stellt sich hinter mich und legt seine Hände auf meine Schultern. „Scheint so, als würdest du dein Auto nicht mehr brauchen. Ich habe gehört, du bleibst in der Stadt.“
Ich schüttle den Kopf. „Das habe ich noch nicht entschieden. Ich muss darüber nachdenken.“
Mrs. Goldmann steht auf und reicht mir ihre Hand. „Dann entscheidest du das, während wir essen. Willkommen in der Familie, Dana. Wir haben deine Mutter alle sehr geliebt.“ Sie zieht mich an sich, legt ihre Arme um mich und hält mich eine Weile fest. Sie schluchzt ein paar Mal, und als sie sich von mir löst, ist auch ihre Gesicht von Tränen verschmiert. „Wir würden uns freuen, wenn du bleibst.“
Sie verlässt den Raum und ich starre ihr verwirrt und emotional aufgelöst hinterher. Das ist sie, die Vergangenheit, die meine Mutter so lange hinter einer verschlossenen Tür versteckt hat. Und ich muss sie jetzt bewältigen. Offensichtlich habe ich eine Familie, von der ich nichts wusste. Und ein Teil von mir, fühlt Erleichterung darüber, dass ich vielleicht doch nicht mehr allein sein muss. Aber der andere Teil hat noch einen weiten Weg vor sich.
Henry kniet sich vor mich, die Hände auf meine Oberschenkel gelegt und sieht mich ernst an. „Ich kann mich kaum noch an deine Mutter erinnern. Ich war erst acht Jahre alt damals. Wie fühlst du dich?“
„Ich weiß nicht. Schockiert, traurig, verwundert …“
„So ungefähr habe ich mich auch gefühlt, als meine Schwester mir eben erzählt hat, wer du bist.“ Er nimmt meine Hand und führt sie an seine Lippen. „Sie sind alle schon sehr neugierig auf dich. Wollen wir Weihnachten mit der Familie feiern?“

 

Über die Autorin

Elena MacKenzie schreibt romantische, lustige, erotische und traurige Liebesromane. Für ihre Bücher sucht sie sich interessante Orte wie die kleine Insel Fair, Edinburgh, Glasgow oder Tolosa aus. Ganz nach dem Motto: Sich in Büchern zu verlieren, heißt grenzenlos zu träumen. Die Autorin lebt mit ihrem Mann, drei Kindern, zwei Hunden und zwei Katzen im Vogtland.

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