„Kommt doch rein, ihr zwei. Dein Vater ist im Wohnzimmer. Er freut sich schon darauf, dich zu sehen. Und Robin ist in seinem Zimmer. Du weißt ja, wie er ist.“ Augenverdrehend wendet sie sich ab und geht uns voran. In mir keimt sofort das Bedürfnis auf, meinen Bruder verteidigen zu wollen. Er hat einen eigenen Blog erstellt, in dem er sich mit anderen austauscht. Er will nicht, dass irgendjemand davon erfährt, also erfährt auch keiner etwas. Weswegen ich auch jetzt schweige und einfach nur Raphaels Hand nehme, bevor ich meiner Mutter hinterher trotte.
Schon im Flur kommt uns der verführerische Geruch des Weihnachtsmenüs entgegen. Schnitzel mit Pommes. Ja, dieses eher unkonventionelle Gericht ist unser alljährliches Weihnachtsessen. Während der Großteil Deutschlands Gans, Ente oder Huhn macht, gibt es bei uns Schnitzel und Pommes mit Ketchup und Mayonnaise. Zum einen liegt es daran, dass meine Mutter weder Ente noch Gans mag und zum anderen daran, dass mein Vater die Idee, anders als alle anderen zu sein, irgendwie witzig findet. Wahrscheinlich kann ich noch von Glück reden, dass es Schnitzel und nicht Haggis oder so was gibt. „Ihr könnt eure Jacken dort drüben hinhängen. Ich hole währenddessen deinen Vater“, meint meine Mutter vergnügt und huscht davon.
Lächelnd legt Raphael mir eine Hand an die Wange und bringt mein Gesicht in die richtige Position, bevor er seine Lippen auf meine legt. Sie sind, trotz der Kälte, unglaublich warm und schmecken nach Zuhause und Kaffee.
„Chrmchrm.“ Die tiefe Stimme meines Vaters hallt lautstark durch den Flur und reißt Raphael und mich somit eher unsanft auseinander. Und ehe ich überhaupt irgendwie reagieren kann, schiebt er sich auch schon zwischen uns. „Hallo, Schatz.“ Er schenkt mir sein professionellstes Lächeln und beugt sich zu mir hinab, um mir einen Kuss auf die Wange zu geben. Seine Begeisterung gegenüber Raphael hält sich noch in Grenzen. Ich hoffe, das ändert sich bald. „Wie geht es dir, Süße?“, fragt er beiläufig, beobachtet währenddessen aber Raphael mit Argusaugen. „Ähm…gut.“, gebe ich weniger überzeugend zurück. „Und dir? Wie läuft’s mit der Firma?“, füge ich schnell hinzu, um aus dem Kreuzverhör zu gelangen. Mein Vater liebt es, über die Arbeit zu reden. Laufende Projekte. Probleme. Neue Angestellte. Man könnte ihn stundenlang mit dem Thema ablenken. Eines der ersten Dinge, die ich gelernt habe, als ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde.
„Oh, es läuft ganz großartig. Momentan arbeiten wir…“
„Stop! Heute wird nicht über die Arbeit geredet, Bernhard! Es ist Weihnachten!“, prescht meine Mutter tadelnd dazwischen. Und vernichtet somit mein Ablenkungsmanöver.
„Es freut mich wirklich sehr, Sie kennenzulernen, Herr und Frau Fuchs“, schaltet sich zu meiner Überraschung plötzlich Raphael ein. Eigentlich klingt er sogar ziemlich souverän.
„Oh, bitte nennen Sie uns doch beim Vornamen. Wir feiern schließlich Weihnachten gemeinsam“, erwidert meine Mutter fröhlich. „Ich bin Karin und das ist mein Mann Bernhard.“
„Raphael. Freut mich.“ Raphael lächelt sein schönes und absolut ehrliches Grübchenlächeln, das mein Herz zum Schmelzen bringt.
Das meiner Mutter anscheinend auch, denn ihre Wangen nehmen einen leichten Rosaton an. Wenn mein Vater doch auch nur so unkompliziert wäre! Aber was will man von einem hart gesottenen Geschäftsmann mit hochsensibilisiertem Beschützerinstinkt auch erwarten?
„Bella! Raphael! Cool, dass ihr endlich da seid.“ Ein kleines, kollektives Seufzen der Erleichterung entweicht meiner Mutter und mir, als Robin erscheint. Schneller als eigentlich nötig gehe ich ihm entgegen und umarme ihn.
„Hilfe!“, raune ich und tue so, als hätte ich meinen Bruder so dermaßen vermisst, dass ich ihn nie wieder loslassen will.
„So schlimm? Alles klar. Dann lass mich mal machen“, lacht er leise, drückt mich noch mal kurz an sich, bevor er sich von mir löst und auf Raphael zu steuert. Die beiden begrüßen sich locker mit diesem Männerhandschlag, den ich nie verstehen werde, und lachen über irgendwas. Ich liebe Robin dafür, dass er sich zum Mittelpunkt der Unterhaltung macht, um Raphael und mir zu helfen. Obwohl er selbst es auch nicht ausstehen kann, im Zentrum zu stehen. Weswegen auch immer ich diejenige war, die unseren Vater auf Veranstaltungen begleitet hat, wenn meine Mutter nicht konnte.
Während Robin, Raphael und sogar mein Vater sich über irgendwas unterhalten, steuert meine Mutter zielstrebig auf mich zu. Sie stellt sich neben mich, legt mir den Arm um die Taille und bringt ihr Gesicht näher an mein Ohr.
„Er ist süß“, raunt sie. „Und er liebt dich, Spätzchen. Das sieht sogar ein Blinder.“ Bei ihren Worten platzt irgendein Knoten oder so in meiner Brust. Ich meine, ich weiß, dass Raphael mich liebt. Er sagt es mir auch immer wieder. Aber es aus dem Mund meiner Mutter zu hören, bedeutet mir so viel mehr, als ich jemals gedacht hätte. Vielleicht kommen die beiden jetzt endlich damit klar, dass ich ausgezogen bin.
„Ja, das tut er“, bestätige ich stolz.
„Und? Liebst du ihn genauso innig?“
„Ja! Aus tiefstem Herzen.“ Darüber musste ich nicht eine Sekunde lang nachdenken. „Ich bin glücklich, Mama. Vollkommen. Das erste Mal seit vier Jahren. Und alles nur seinetwegen“, füge ich leise hinzu. Ich weiß, dass das unnötig ist, da ich mich nicht rechtfertigen muss. Aber ich will es.
„Das sieht man. Und er sieht auch glücklich aus.“ Noch ein Knoten platzt. Einer, der mich irgendwie verankert zu haben scheint. Denn ich fühle mich auf einmal ungewöhnlich frei. Fast schwerelos. Nie hätte ich gedacht, dass es mir so viel bedeutet, was meine Familie von Raphael hält.
„Danke, Mama.“ Warum genau ich mich bedanke, weiß ich selbst nicht so wirklich. Und wofür erst recht nicht. Aber es fühlt sich irgendwie richtig an. Als hätte es schon längst einmal gesagt werden müssen.
„Du brauchst dich für nichts zu bedanken, Spätzchen. Denn du bist meine Tochter und ich liebe dich. Ob du mir es glaubst oder nicht, aber ich habe nie an dir gezweifelt.“ Plötzlich überkommt mich das dringende Bedürfnis, meine Mutter in den Arm zu nehmen. Und ich gebe dem Bedürfnis nach. Trotz der Erinnerungen. Meine Mutter scheint ziemlich überrascht von meinem Gefühlsausbruch zu sein. Aber auch glücklich. Denn sie schlingt fest ihre Arme um mich und küsst mich auf den Kopf. Wie früher. Als ich noch ein kleines Mädchen und völlig frei und unbesorgt war. Als meine größten Probleme darin bestanden, dass ich mein momentanes Lieblingsspielzeug nicht finden konnte. Als ich noch Tierärztin oder Supersportlerin werden wollte. Es fühlt sich toll an.
„Hast du Hunger?“, fragt meine Mutter. Als wäre es etwas Besonderes.
„Ja.“
„Na, dann gehen wir mal. Das Essen ist in ein paar Minuten fertig“, meint sie entschlossen, hakt sich bei mir unter und zieht mich mit zu der Männerrunde. Diese unterhält sich augenscheinlich doch wieder über die Arbeit, kaum, dass meine Mutter ihnen den Rücken gekehrt hat.
„…und dann entscheide ich mich für eine Idee“, erklärt Raphael. Ich weiß sofort, wovon er redet. Seinem Blog.
„Genial. Einfach genial!“ Mein Vater sieht ziemlich begeistert aus. Seine Augen funkeln interessiert. Und genau dieses Funkeln sorgt dafür, dass noch ein Knoten in mir platzt.
„Was habe ich über das Thema Arbeit gesagt?“, schimpft meine Mutter augenrollend, kann sich aber ein Grinsen nicht verkneifen. Wahrscheinlich, weil sie selbst heilfroh ist, dass das Ganze hier so friedlich abläuft.
„Schon gut, Liebling.“ Mein Vater hebt beschwichtigend die Hände und küsst meine Mutter auf die Stirn. Raphael fängt meinen Blick auf, scheint den Wunsch darin zu erkennen, zieht mich an seine Seite und küsst mich auf die Schläfe. Wofür ich von meiner Mutter ein Zwinkern, von Robin ein Augenrollen und von meinem Vater ein anerkennendes Nicken ernte.
„Was haltet ihr davon, wenn ihr schon mal ins Esszimmer geht? Ich mache derweil das Essen fertig.“ Meine Mutter klatscht tatkräftig in die Hände.
„Kann ich vielleicht irgendwie helfen?“, erkundigt sich Raphael und sorgt damit dafür, dass meine Mutter verzückt grinst.
„Nein, nein. Geh du nur mit den Anderen ins Esszimmer. Das lässt sich eh nur alleine kochen“, winkt sie kichernd ab. Ich befürchte, dass meine Mutter sich gerade in meinen Freund verliebt.
„Was gibt’s denn?“
„Schnitzel mit Pommes!“, verkündet mein Vater stolz. Als wäre es die Idee des Jahrtausends. Ich werfe Raphael einen entschuldigenden Blick zu. Der schüttelt aber nur den Kopf und beginnt zu lachen.
„Wirklich?“
„Ja. Familientradition. Paps meint, wir sind etwas Besonderes“, antwortet Robin augenverdrehend.
„Na, sind wir doch auch!“ Euphorisch klatscht mein Vater in die Hände und geht uns voraus. Robin folgt ihm kopfschüttelnd. Und meine Mutter rauscht grinsend Richtung Küche davon.
„Es tut mir leid“, flüstere ich beschämt.
„Machst du Witze? Ich finde die Idee großartig!“
„Tatsächlich?!“ Mir wird leichter ums Herz. Zumindest hält er meine Familie nicht für total gestört.
„Ja, tatsächlich“, gluckst Raphael. „Jede verdammte Familie in Deutschland macht sich einen Riesenaufwand mit Ente, Braten oder Steaks mit Unmengen an Beilagen, verbringt fast den ganzen Tag in der Küche und ist am Ende des Tages fix und fertig. Und für was? Dafür, dass an Heiligabend festlich gegessen wird? Als hätte man das ganze Jahr über keine Gelegenheit dazu. Also ist die Idee richtig genial. Sich dem ganzen Stress und dem Gehörtsichso widersetzen und sein eigenes Ding durchziehen. Es heißt doch, Weihnachten ist das Fest der Familie. Und genau das will dein Vater damit zeigen. Dass ihr als Familie euer Weihnachtsfest feiert“, erklärt er leise, gerade so, dass nur ich es hören kann. Hätte er es laut gesagt, wäre ich vermutlich davon ausgegangen, dass er damit bei meinem Vater punkten will. Aber das ist seine ehrliche Meinung, die nur für meine Ohren bestimmt ist. Ich bin tief beeindruckt. Und gleichzeitig schäme ich mich. Dafür, dass mir unsere Familientradition so peinlich war. Und dafür, dass erst Raphael auftauchen muss, um mich eines Besseren zu belehren.
„Hey, habe ich irgendwas Falsches gesagt?“
„Was? Nei…“ Die erste salzige Träne, die auf meine Zunge trifft, schneidet mir das Wort ab.
„Warum weinst du dann?“, flüstert Raphael und fängt die nächste Träne mit dem Daumen ab, ehe sie meinen Mundwinkel erreicht.
„Ich…ach egal!“
„Nein. Sag’s mir, bitte“, raunt er und bringt seine Lippen ganz nah an meine. „Bitte sprich mit mir, Liebling.“ Jeder Buchstabe seines Satzes wird durch seine Nähe quasi auf meinen Lippen geformt. Ich fühle die Vibration jeder Silbe. Den Laut jedes Vokals. Die Bedeutung jedes Wortes. All das Zusammen wirkt wie ein Schlüssel. Ein Schlüssel, der mich zum antworten bringt.
„Na ja, weißt du, ich…mir war es peinlich, dass es bei uns kein traditionelles Weihnachtsessen gibt. Und dass meine Familie so merkwürdig ist. Na, und jetzt schäme ich mich dafür, dass ich so gedacht habe. Verstehst du, was ich meine?“ Raphaels Lippen verziehen sich an meinen zu einem Lächeln.
„Ja, ich verstehe, was du meinst. Und es ist okay. Ich denke, das ist sogar völlig normal. Jeder sieht seine Familie anders als die anderen. Mach dir darüber keinen Kopf.“
„Wirklich?“
„Wirklich! Und jetzt lass uns zu deinem Vater und Robin gehen.“
„Okay.“ Ein letztes Mal drückt er seine Lippen fester auf meine, bevor er sich wieder aufrichtet, mich an die Hand nimmt und mich hinter sich herzieht.
Als wir das Esszimmer betreten, bin ich erst mal baff. Meine Mutter hat wirklich nichts dem Zufall überlassen. Sie hat alles bis ins kleinste Detail durchdekoriert. Es sieht wirklich wunderschön aus. Die Farben – grau und gold – sind nicht zu satt und überlastet. Die Deko ist perfekt aufeinander abgestimmt. Sogar die Serviettenringe mit jeweils einem kleinen Mistelzweig haben einen kleinen weihnachtlichen Touch bekommen. Das gefällt mir. Denn es ist schlicht, aber hübsch. Festlich und doch besonders.
„Wow. Deine Mutter hat echt ein Händchen für solche Dekorationssachen“, staunt auch Raphael.
„Ja, das hat sie.“ Vorsichtig trete ich näher an den Tisch heran, Raphaels Hand nicht loslassend.
„Schätzchen, ihr zwei sitzt dort“, weist mich mein Vater sofort zurecht und klopft aufmunternd auf den Platz neben sich. Stumm gehe ich zu meinem Platz und setze mich. Gefolgt von Raphael, der einen verwunderten Blick von meinem Vater kassiert, weil er mir nicht vorausgeeilt ist und mir den Stuhl zurückgezogen hat. Ich bin froh, dass er es nicht getan hat. Nicht, weil ich an übertriebener Emanzipation leide, sondern weil das einfach nicht Raphael wäre. Sicherlich ist er aufmerksam, aber er ist einfach nicht der Typ Gentleman. Er ist authentisch. Er selbst. Das, was ich an ihm liebe. Und ich bin heilfroh, dass er sich nicht für meinen Vater verbiegt. Dass er nicht vorgibt, jemand zu sein, um bei meiner Familie Pluspunkte zu sammeln.
„Sooo, ihr Lieben. Es kann gegessen werden“, flötet meine Mutter gut gelaunt und durchquert den Raum, einen Servierwagen vor sich her schiebend. Eines ihrer Prachtstücke, das sie vor etwa sechzehn Jahren auf einem Flohmarkt ergattern konnte. Meine Mutter liebt diesen Wagen, der nur zu besonderen Anlässen benutzt wird.
„Sieht, wie immer, großartig aus, Schatz!“, lobt mein Vater und übergeht dabei geflissentlich Robins Sind ja auch nur Schnitzel und Pommes! Genau genommen hat Robin ja recht. Aber eines der zehn unausgesprochenen Familiengebote der Fuchs’ lautet: Das Essen, egal wie banal es ist, wird nie herabgesetzt! Ich glaube sogar, dass das Regel Nummer zwei ist. Regel Nummer eins ist nämlich: Papa hat immer recht! Ganz einfach und schon als Kind sehr einprägsam.
„Danke. Aber das ist doch nichts…“, wiegelt meine Mutter ab und huscht durchs Zimmer, um das Essen zu verteilen. Trotz ihrer Eigenheiten hätte ich keine bessere Familie haben können. Sie geben alles für mich. Glauben mir. Glauben an mich. Lieben mich und meinen Bruder. Sogar Raphael haben sie schon ins Herz geschlossen. Einfach nur, weil ich ihn liebe. Und dafür liebe ich meine Eltern. Sie haben das Gute in ihm gesehen. Keinen einzigen schrägen Blick auf seine Narbe geworfen. Ich glaube sogar, dass sie wirklich sehen, wie sehr ich ihm vertraue. Lächelnd nehme ich Raphaels Hand, verschränke unsere Finger und lege sie auf seinen Oberschenkel. Ich grinse wie ein Honigkuchenpferd, Schmetterlinge im Bauch, scheues Händchenhalten unter dem Tisch meiner Eltern und ein Dauergrinsen im Gesicht. Das volle Programm eben. Ich bin glücklich. Ich liebe. Ich lebe.
„Also, Raphael.“ Meine Mutter hebt plötzlich ihr Colaglas. Ich weiß, was jetzt kommt. Mein Vater nennt es Die Danksagung.
„Bei uns ist es an Weihnachten Tradition, vor dem Essen Danke zu sagen. Egal für was. Hauptsache man bedankt sich. Du musst natürlich nichts sagen, was du nicht willst, aber wenn du etwas hast, dann sag es laut, okay?“, erklärt sie und nippt an ihrer Cola. Aus dem Augenwinkel erkenne ich, dass Raphaels Kiefermuskel zuckt. Ihm ist das hier unangenehm. Ganz offensichtlich. Ich hätte ihn vorwarnen sollen, verdammt! Schuldbewusst senke ich den Blick und warte darauf, dass er sich weigert. Er bleibt sitzen und verstärkt seinen Griff.
„Alles klar. Ich bin dabei“, antwortet er mit fester Stimme.
„Sehr schön“, seufzt meine Mutter erleichtert. Sie war sich wohl auch nicht so ganz sicher, ob das gut geht. „Fängst du an, Bernhard?“ Mein Vater nickt, steht auf, hebt sein Glas und blickt ernst in die Runde.
„Also gut. Zuerst möchte ich dafür danken, dass ich so eine wundervolle Frau und zwei tolle Kinder habe. Ich liebe euch und würde mein Leben für euch geben“, beginnt er, wobei er uns alle nacheinander anlächelt. „Dann möchte ich noch danken, dass wir alle gesund sind und ein gutes Leben führen können. Ich bin froh, dass sich die Arbeit auszahlt. Und letztendlich möchte ich noch euch beiden danken.“ Der Blick meines Vaters wird weicher, als er ihn auf Raphael und mich richtet. „Dir, meiner wunderschönen Tochter, danke ich dafür, dass du mir gezeigt hast, wie stark du bist. Dass du zu einer Frau herangewachsen bist, die mich stolz macht. Und dir, Raphael, danke ich dafür, dass du meiner Tochter zurück ins Leben hilfst. Dass du sie liebst. Dass du ihr dabei hilfst, sich selbst zu finden und das möglich machst, was wir ihr nie geben konnten. Heilung. Dafür danke ich dir. Und Gott natürlich auch!“ Räuspernd prostet er gen Decke und trinkt einen Schluck, bevor er sich wieder setzt und die Hand nach meiner Mutter ausstreckt. Dieser laufen die Tränen in Bächen über die Wangen. Aber sie lächelt glücklich, beugt sich zu meinem Vater und küsst ihn.
„Gut“, meint sie schließlich, wischt sich die Tränen von den Wangen und erhebt sich. „Dann bin wohl ich an der Reihe.“ Sie hebt ihr Glas und sucht den Blick meines Vaters. „Auch ich möchte zuerst dafür danken, dich und unsere Kinder zu haben. Ohne euch wäre mein Leben kein Leben. Ich möchte dir danken, Bernhard, dass du uns ein glückliches Leben bescherst. Dass du mich und unsere Kinder liebst. Dass du auf uns Acht gibst.“ Mit einem Glitzern in den Augen prostet sie meinem Vater kurz zu, bevor sie sich zu Robin dreht. „Dir, Robin, möchte ich dafür danken, dass du so ein loyaler junger Mann bist. Dass du zu uns und vor allem zu deiner Schwester gehalten hast, als es notwendig war. Ich könnte mir wirklich keinen perfekteren Sohn wünschen.“ Lächelnd wuschelt sie Robin durch die Haare, als wäre er immer noch ihr dreijähriger Sprössling. „Nun zu dir, Spatz“, fährt sie fort, den Blick inzwischen auf mich gerichtet. „Ich bin dir so unendlich dankbar dafür, dass du durchgehalten hast. Dass du nicht aufgegeben und stattdessen – wenn auch fälschlicherweise! – alles für die Familie getan hast. Ich danke dir dafür, dass du deinem Vater und mir den Kopf gewaschen hast, als es an der Zeit war. Und ich danke dir dafür, dass ich mit Stolz sagen kann, deine Mutter zu sein.“ Der letzte Satz kommt nur noch als Schluchzer aus ihr heraus. Wieder fließen ihr die Tränen unaufhaltsam über die Wangen. Aber sie ist noch nicht fertig. Es gibt noch etwas, das sie sagen will. Ich sehe es in ihren Augen. „Letztendlich will ich, wie mein Mann, auch dir danken, Raphael. Dafür, dass du es uns überhaupt erst möglich gemacht hast, zusammen sein zu können. Dass du für meine Tochter da bist. Dass du sie bedingungslos lieben kannst. Vielleicht macht mich das zu einem schlechten Menschen, aber ich danke Gott dafür, dass er dich damals zu genau dem Zeitpunkt dort hat sein lassen.“ Auch sie prostet Richtung Himmel, trinkt und setzt sich wieder. Ich höre, wie Raphael schwer und tief ein- und ausatmet. Ich weiß, dass er sich unwohl fühlt. Mit so viel Dankbarkeit seitens meiner Eltern hätte er nicht gerechnet. Nicht, nach all den qualvollen Jahren. Ich hoffe, er erkennt dadurch endlich, wie wertvoll er ist.
„Puh! Also an eure Rede werde ich zwar nicht ganz rankommen, aber ich werde mich bemühen“, seufzt Robin und folgt dem Ritual. Er will es schnell hinter sich bringen. Ich kann ihn verstehen. „Klar möchte ich euch dafür danken, dass ihr alles für uns tut. Ich schätze mal, Isabell und ich haben mit euch als Eltern ein ganz gutes Los gezogen. Also, danke dafür.“ Meine Eltern und auch Raphael und ich heben unsere Gläser, in der Annahme, Robin hätte alles gesagt. Doch zu unser aller Erstaunen redet er einfach weiter. „Isabell, ich bin so dankbar dafür, dich zu haben. Dich wieder zu haben. Die letzten Jahre war es, als gäbe es dich nicht mehr. Und das war verdammt scheiße. Du bist meine große Schwester und ich habe schon immer zu dir aufgeschaut. Und ich tue es noch. Weil du die mit Abstand stärkste und schönste Frau der Welt bist. Das klingt jetzt vielleicht merkwürdig, aber ich danke dir dafür, dass du ausgezogen bist. Denn nur so konnte ich dich wieder bekommen. Und mit dir gleich einen neuen Freund. Raphael, ich weiß nicht, wie sehr ich dir danken soll. Dank dir habe ich meine Schwester zurück.“
Robin prostet kurz, sagt noch irgendwas und setzt sich schnell. Leider höre ich nicht, was er sagt. Denn das Blut rauscht in meinen Ohren. Dicke Tränen sprudeln aus meinen Augen und tropfen haltlos auf mein Oberteil. Meine Mutter wirft sich ihm um den Hals und schluchzt was das Zeug hält. Ich würde es ihr gerne gleich tun. Aber ich weiß, dass es Robin unangenehm wäre. Also lasse ich es und danke ihm später, wenn wir alleine sind. Wenn ich ihm all die Dinge sagen kann, die ich momentan zu sagen nicht in der Lage bin. Außerdem brauche ich nun all meine Kraft, um für Raphael da zu sein. Denn er ist als nächstes an der Reihe. Und es wird bestimmt nicht leicht für ihn. Angestrengt blinzle ich den nächsten Tränenschwall weg, hole mehrmals tief Luft und wage es, Raphael anzugucken. Er sieht atemberaubend aus. Wie ein Krieger. Sein Gesicht ist ein Spiegel verschiedener Emotionen. Erleichterung. Angst. Rührung. Nervosität. Anstrengung. Er sammelt gerade all seinen Mut zusammen, um vor meiner Familie sprechen zu können.
„Also…ähm…gut. Ich weiß zwar nicht genau, was ich sagen soll, aber ich probiere es einfach mal.“ Mutig richtet er sich auf und lässt meine Hand los, um sie neben seinem Bein zu einer Faust ballen zu können.
„Also ich schätze mal, es gibt extrem Vieles, für das ich dankbar sein sollte. Aber ich werde das jetzt nicht alles aufzählen. Und bevor ich überhaupt etwas aufzähle, will ich noch eine Kleinigkeit zu euren Danksagungen sagen. Ich weiß zwar nicht, ob das in Ordnung ist, aber ich mache das jetzt einfach. Also gut…ähm, dann fange ich mal an. Karin, du sagtest, dass es dich vielleicht zu einem schlechten Menschen macht, dass du dankbar für meine Anwesenheit damals bist. Aber das stimmt nicht. Du bist Isabells Mutter und hast jedes Recht dazu, dankbar dafür zu sein. Und ich bin mittlerweile auch froh, dass ich da war. Vielleicht hätte ich vor ein paar Monaten noch anders geantwortet. Und du, Bernhard, du tust wirklich alles dafür, um deine Familie zu beschützen. Egal was. Und das ist etwas, das ein guter Vater tut. Das weiß ich jetzt. Genauso wie ich weiß, dass du diese Tugend deinen Kindern vererbt hast. Denn du, Robin, bist der beste Bruder, den sich deine Schwester nur wünschen kann. Es mag ja vielleicht sein, dass ihr sehr lange sehr wenig Kontakt zueinander hattet, aber in gewisser Weise warst du für sie da. Du hast deine Schwester also nicht nur meinetwegen. Denn du warst es, der für sie einstand, als sie es am dringendsten gebraucht hat.“ Langsam lasse ich meinen Blick durch die Runde schweifen. Alle starren Raphael fassungslos, aber zutiefst beeindruckt an. Meiner Mutter laufen immer noch Tränen über die Wangen. Robin hat die Stirn kraus gezogen. Aber meinem Vater steht die Rührung über Raphaels Worte ins Gesicht geschrieben. Er hat sich immer im Griff. Beherrscht seine Gesichtszüge perfekt. Denn er ist ein Mann der Öffentlichkeit und kann es sich somit nicht erlauben, dass seine Gefühle für jedermann ersichtlich sind. Aber jetzt gerade hat er keine Kontrolle. Er ist, wie wir alle, übermannt von Raphaels Rede. „Ähm, okay. Das war es auch schon. Dann sag ich mal besser, wofür ich dankbar bin. Sonst werden wir hier nie fertig“, lacht Raphael nervös und hebt sein Glas, dessen Inhalt bedrohlich schwankt, weil seine Hand zittert wie ein Blatt im Wind. „Erst mal will ich mich für eure lieben Worte und dafür, dass ihr mich hier so herzlich empfangt, bedanken. Ich sehe das, nach allem, nicht gerade als selbstverständlich an. Aber ihr seid eine großartige Familie. Im Allgemeinen weiß ich nicht so ganz, für was ich mich alles bedanken sollte. Aber ich schätze mal, dass ich dankbar dafür sein kann, am Leben zu sein, meine Leidenschaft zum Beruf machen zu können und natürlich dich gefunden zu haben, Isabell. Du bist die Person, der ich am meisten zu danken habe.“ Mit diesen Worten dreht er sich endlich zu mir und sieht mir direkt in die Augen. Sein Blick glüht. Wie blaues Feuer. Ich vergehe darunter, schaffe es aber nicht, wegzugucken. Wie hypnotisiert starre ich ihn einfach nur an. „Wie du weißt, bin ich nicht besonders gläubig, also habe ich eigentlich keinen Gott, dem ich irgendwas zu verdanken habe. Aber ich habe dich. Und dir verdanke ich alles. Du lässt mich in dein Leben. Du öffnest dich mir. Du liebst mich bedingungslos. Du erträgst es, mich anzusehen. Du bringst mich zum Lachen. Du machst meine Tage heller. Du sorgst dafür, dass ich weniger Schmerzen habe. Du hilfst mir ins Leben zurück. Du kämpfst mit mir gegen die Angst. Du holst mich aus meiner Panik. Du begleitest mich aus jedem Albtraum. Du singst für mich Wonderwall. Und ich liebe dich. Ich weiß, dass in keinem meiner Sätze ein Danke vorkam, aber ich danke dir für all die Dinge, die ich gerade aufgezählt habe. Und ich danke dir nicht nur heute dafür. Ich danke dir jeden einzelnen Tag. Wenn ich nach dem Aufstehen zuerst deine Löwenmähne betrachten kann, die dein schönes Gesicht umrandet. Wenn ich dir irgendwelche Geschichten erzähle und du mir zuhörst, als gäbe es nichts Schöneres auf der Welt. Wenn du mir total euphorisch von einem Lied erzählst, das dir gefällt. Wenn du mich auf die linke Wange küsst, einfach nur, weil dir danach ist. Wenn ich dich nachts an meine Brust ziehe, du meinen Namen im Halbschlaf seufzt, dein Gesicht in meinem T-Shirt vergräbst und einfach wieder einschläfst. Wenn du lachst oder auch nur lächelst. Wenn du singst. Wenn du dieses Schnauben von dir gibst, weil ich dich wegen irgendwas aufziehe. Vor allem aber danke ich dir bei jedem Mal, wenn du Ich liebe dich! sag…“ Ohne darauf zu achten, ob Raphael noch etwas zu sagen hat und was für Folgen es haben könnte, springe ich auf und werfe mich ihm an die Brust. Er schwankt einen Schritt zurück, umfasst aber sofort meine Taille. Es ist mir egal, ob uns alle zusehen, als unsere Lippen miteinander verschmelzen. Der Kuss schmeckt salzig von meinen Tränen und süß nach Raphael. Er schmeckt warm und weich. Nach Glück. Nach Leben. Am meisten aber schmeckt er nach Zukunft.
Über die Autorin
Franziska Kühnel, Baujahr 1993, ist gelernte Kauffrau im Einzelhandel und in ihrer Freizeit passionierte Träumerin. Wenn die Wirtschaftlerin in ihr, die jeden Vorgang gewohnheitsgemäß aus verschiedenen Perspektiven betrachtet, auf die private Franzi trifft, werden Lesen und Schreiben zum perfekten Ventil, um dem Alltag zu entkommen. Sie recherchiert mit Leidenschaft Songtexte, Legenden der griechischen Mythologie und Zitate jeglicher Art und lässt sich von ihnen auch gerne zu Geschichten inspirieren. Derzeit lebt die gebürtige Bruckerin mit ihren Eltern und Geschwistern in einem kleinen Örtchen im Kreis Landsberg am Lech. Ihr Roman „Munich Lovers“ erscheint im Piper Verlag.