James Leary betrat eilig die Lobby des Advist-Gebäudekomplexes im Zentrum von Manhattan. Es war der 21. Dezember um 12:27 Uhr, und James kam gerade von einem Geschäftsessen zurück, das zu seiner äußersten Zufriedenheit verlaufen war. Ein neuer Investor war gefunden, seine Software-Firma somit gerettet. Die gute Laune spürte er bis in die Fingerspitzen.
Es war ein kleiner Geniestreich, dass er ausgerechnet denselben Geldgeber wie die Konkurrenz von Quintessence an Land gezogen hatte. Wenn Jo Bronak das erfuhr, würde er vor Wut in die Tischkante beißen!
Mit einem Pling ging die Tür des Lifts auf. James legte einen Schritt zu, doch mit ihm strömten wahre Massen in den Fahrstuhl. Wie er zu enge Räume hasste! Man fühlte sich wie ein Zündholz in einer Streichholzschachtel. Und dann erklang auch noch Jingle Bells als Fahrstuhlmusik; welcher Scherzbold hatte sich denn das einfallen lassen? Die Damen aus Abteilung 1 lächelten ihn an, sie hofften wohl auf die Gehaltserhöhung, auf die sie ihn neulich angesprochen hatten. Auch der Kerl mit der Hornbrille, dessen Namen er sich einfach nicht merken konnte, warf ihm immer wieder Blicke zu. Irgendetwas war da mit seiner Schwester, Schulden oder Ähnliches, James konnte sich ja nicht alles merken. Jedenfalls hatte der Informatiker um einen Vorschuss gebeten, um seinem Familienmitglied helfen zu können. James hatte das kategorisch abgelehnt!
Ganz langsam bewegte sich der Fahrstuhl nach oben, als hätte er es gar nicht eilig. Ganz im Gegensatz zu James, der aufatmete, als endlich der 8. Stock erreicht war und er aussteigen konnte. „Mr. Leary, hätten Sie einen Moment?“, fragte der Kerl mit der Hornbrille und hechtete ihm nach. „Zeit ist Geld!“, erklärte James und tippte dabei geschäftig auf seine Armbanduhr.
„Es dauert wirklich nur einen Moment! Bitte, Mr. Leary. Mr. Leary, warten Sie bitte. Es ist doch bald Weihnachten!“
James ging einfach weiter und ließ den Angestellten im Flur stehen. Er würde sich nicht erweichen lassen, nur weil irgendwer in der Familie des jungen Mannes Probleme hatte und außerdem Weihnachten war. Weihnachten! Das war ein Fest der Wirtschaft, nicht mehr, nicht weniger. Wie sie alle durch die Straßen rannten, sich in die Geschäfte drängten, um last minute Geschenke zu kaufen, und sich dabei einredeten, es ginge um Liebe! Nein, von diesem Irrsinn wollte er sich nicht die gute Laune verderben lassen. Der Tag hatte doch so ausgezeichnet begonnen. Wenn man mal von den Schneeschauern absah, die seit Tagen über New York hereinbrachen. Schnee hasste er fast genauso sehr wie Weihnachten.
James betrat sein Büro und hängte pfeifend seinen langen Wintermantel an die Garderobe; darunter trug er einen feinen Armanianzug, dazu ein seidenes Hemd und eine farblich abgestimmte Krawatte, die er sich im Spiegel zurechtzupfte. Ohne jede Eitelkeit, aber er konnte verstehen, dass die jungen Dinger aus Abteilung 1 ein Auge auf ihn warfen.
Da bemerkte er in der Spiegelung eine Bewegung. Irritiert drehte er sich um. Eine recht füllige Gestalt saß vor seinem Schreibtisch und fuhr sich wild durch die braunen Locken. Ach ja, das war wohl das Bewerbungsgespräch für 12.30 Uhr! Cassie hatte die Dame offenbar schon hereingelassen. Sei es drum. Die Sache würde schnell erledigt sein, das wusste James auf den ersten Blick.
„Guten Tag, Miss Goodwill, nehme ich an“, sagte er und ging dabei auf die junge Dame zu, die Hand ausgestreckt. Warme Augen, ein roter Schal und deutlich zu viel Hüftspeck für seinen Geschmack.
„Oh ja! Die bin ich! Emma Goodwill, sehr erfreut.“ Hektisch schüttelte sie seine Hand, wobei ein eigenartig klebriges Gefühl an ihr zurückblieb.
James zwang sich zu einem Lächeln, dabei wischte er sich seine Hand unauffällig an der Hose ab, während er sich hinsetzte. Ein Blick zum Fenster verriet, dass immer mehr Schnee aus allen Wolken fiel. Er seufzte. Der verstopfte doch nur die Straßen.
„Sie möchten sich also auf die Stelle als zweite Assistentin bewerben?“
„Ja, so ist es. Ich war lange Zeit nicht mehr im Büro, wissen Sie. Die Kinder. Haben Sie Kinder?“ Sie legte eine Mappe vor ihn hin.
„Nein…“
„Dann wissen Sie ja nicht, was das alles bedeutet. Ehe man mal wieder Zeit für sich oder gar einen Job hat… Was erzähle ich, man macht es ja auch gerne. Aber irgendwann will man halt wieder zurück, eine Aufgabe haben. Und als ich Ihre Anzeige im New Yorker Tagesanzeiger las, da sagte ich mir… Emma, sagte ich… das klingt einfach großartig. Ein Job mit viel Verantwortung. Und Entwicklungspotenzial. Das ist doch genau das, was du suchst.“
„Ja, ja…“ Er faltete die Hände, stützte sein Kinn auf diese und ärgerte sich darüber, dass er wegen des Schneefalls die Windschutzscheiben würde abfegen müssen. Hoffentlich bildete sich in der kurzen Zeit kein Eis. Wo hatte er noch mal den Eiskratzer versteckt?
„Selbstständig sein, flexibel sein, das bin ich alles! Sie sehen also, ich bringe die nötigen Voraussetzungen mit. Ich bin auch bereit, Neues zu lernen und…“
„Schon gut, Miss Goodwill, schon gut. Holen Sie erst mal Luft.“
Emma Goodwill atmete tief ein, lächelte und wippte aufgeregt auf dem Stuhl hin und her. Hoffentlich brach das gute Stück nicht unter ihr zusammen.
„Hören Sie, Miss Goodwill, das klingt ja alles ganz wunderbar. Aber wir bei Advist suchen… nun ja… eine Frau mit Erfahrung, verstehen Sie. Wir sind ein weltweit agierendes Unternehmen, gehören zu den absoluten Größen in der Software- und App-Entwicklung.“
„Ich habe Erfahrung, Mr. Leary. Vor der Geburt meiner Zwillinge war ich die Assistentin bei Jo Bronak von Quintessence. Das ist auch eine Software-Firma, wissen Sie.“
„Ja, ja. Kenn ich.“ Die direkte Konkurrenz, der er heute eins ausgewischt hatte. James grinste.
„Und der hat mir auch ein ganz tolles Zeugnis ausgestellt. Alles, was ich jetzt brauche, ist eine Chance, um wieder in den Job zu kommen.“
„Sehen Sie, Miss Goodwill. Genau da liegt das Problem: die Zeit. Wir haben nicht die Zeit, jemanden einzuarbeiten. Außerdem, seien Sie mir nicht böse, passen Sie einfach nicht in unser Team.“
„Wieso sagen Sie das? Sie haben sich meine Unterlagen doch noch nicht mal angesehen.“
„Das kann ich auch so beurteilen.“ Auf den ersten Blick eben. Er musterte ihre Figur und schaute dann ganz geschäftig auf den Aktenstapel auf seinem Schreibtisch. Dabei fielen ihm ein paar Briefe auf, die vorhin noch nicht hier gelegen hatten. Cassie, seine erste Assistentin, hatte offenbar schon die Post geholt. Ganz oben auf dem Stapel entdeckte er eine Weihnachtskarte aus Kelsey, zumindest war Kelseys verschneite Winterlandschaft das Motiv. Carol… die musste von Carol sein…
„Haben Sie Familie in Kelsey?“, fragte Emma plötzlich, die offensichtlich seinem Blick gefolgt war.
Er stopfte die Karte unter den Stapel und winkte ab. „Bekannte. Nichts Wichtiges.“
„Na, das können Sie mir jetzt aber nicht erzählen.“
„Bitte?“
„Ich habe da doch eben ein ganz kleines Lächeln gesehen.“
„Ich habe gelächelt?“
„Ja, als Sie die Karte aus Kelsey bemerkt haben.“
„Also, das ist doch…“ Was ging es diese aufdringliche Person eigentlich an?
„Ich habe ja Familie in Kelsey, mein Bruder lebt dort. Ein wunderschöner kleiner Ort, und zu Weihnachten so herrlich verschneit…“
„Machen wir es kurz und knapp, Miss Goodwill, ich wünsche Ihnen alles Gute bei Ihrer weiteren Suche.“ Er hielt ihr abermals die Hand hin. Plötzlich veränderte sich jedoch Emmas Gesichtsausdruck. Ihre Unterlippe schwoll an und bebte. „Aber, Mr. Leary, ich brauche diesen Job wirklich. Ich arbeite halbtags als Kellnerin, das ist harte Arbeit, die schlecht bezahlt wird. Irgendwie muss ich doch auch meine Familie ernähren. Mein Freund, der Vater meiner Kinder, hat mich verlassen, und es ist doch Weihnachten…“ Das Totschlagargument in diesen Tagen. Und ein wenig persönliches Drama.
„Merry Christmas, Miss Goodwill.“ Er nickte rüber zur Tür. Schließlich war das hier nicht die Heilsarmee.
Miss Goodwill entglitten die Gesichtszüge. Wortlos erhob sie sich und ging. James atmete auf, ging rüber zu dem Waschbecken und säuberte sich die Hände. Was manchen Leuten einfiel… Sah er aus wie ein Samariter? Was gingen ihn die Schicksale der anderen an? Und diese Einmischung in sein Privatleben – unerhört. Jemand Wichtiges aus Kelsey? Also wirklich. Er schielte rüber zu dem Briefstapel, schüttelte dann aber den Kopf. Gefühlsduseleien aus der Vergangenheit hatten hier nichts verloren. Es wartete noch eine Menge Arbeit auf ihn.
*
„Autsch!“
James schreckte hoch. Was war das gewesen? Er hatte doch gerade jemanden gehört. Ein Poltern erklang hinter der Tür. Er erstarrte. Was machte er überhaupt noch im Büro? Offenbar war er an seinem Schreibtisch eingeschlafen. Wie spät war es? Er bewegte die Maus und rieb sich die Augen, als ihm 01:30 Uhr auf dem Bildschirm seines Computers angezeigt wurde.
„So ein Mist, wieso ist denn hier kein Licht? Wie soll man sich denn da zurechtfinden?“, hörte er eine Frau fluchen. Daraufhin ertönte ein weiteres Geräusch, als wäre sie gegen etwas gestoßen. Wer war denn um diese Uhrzeit noch im Büro? Sicher keine Angestellte. Er war oft einer der Letzten, die Feierabend machten. Und niemand blieb hier länger als bis 22 Uhr. Folglich musste das da draußen eine Einbrecherin sein. Oder eine Verrückte. Oder beides.
Seine Hand tastete schon nach dem Telefon, in der Absicht, die Polizei zu verständigen, als plötzlich die Tür seines Büros regelrecht aufsprang und eine propere Gestalt entschlossen hereinspazierte.
„Miss Goodwill?“ Er traute seinen Augen kaum.
„Na klar, wen haben Sie denn erwartet?“ Sie setzte sich einfach auf die Kante seines Schreibtischs und schlug ein Bein über das andere. „Das da draußen ist ja ein Irrgarten. Diese modernen Großraumbüros für Programmierer, ts ts. Ich habe mir das Knie angestoßen, am Kopierer. Sehen Sie nur mal.“ Sie deutete auf eine Laufmasche. Irgendwie sah Miss Goodwill anders aus als heute Mittag. Ihre Kleidung war schriller, glitzernder. Und die Haare hochtoupiert. Und diese geschmacklose Strumpfhose hatte sie zuvor auch nicht getragen.
„Hören Sie, das ist nicht lustig. Ich habe Ihnen erklärt, dass Sie für den Job in unserer Firma leider nicht in Frage kommen und…“
„Wer redet denn von dem Job, Jimmy?“
„Wie haben Sie mich gerade genannt?“ Das war der Kosename, den Carol ihm gegeben hatte. Er war seit einer Ewigkeit nicht mehr benutzt worden. „Raus mit der Sprache, was soll das alles? Haben Sie getrunken? Und wie sind Sie überhaupt hier hereingekommen?“ Das Wachpersonal war wohl ebenfalls eingeschlafen.
„Das ist doch alles gar nicht wichtig!“
„Das sagen Sie! Wenn Sie nicht sofort von hier verschwinden, rufe ich die Polizei, darauf können Sie aber wetten.“
„Sie haben es immer noch nicht verstanden, Mr. Leary. Wie schade.“
Er griff nach dem Telefon, doch es erklang kein Tutzeichen, keine Verbindung nach draußen.
„Sehen Sie“, meinte Emma und kicherte.
„Wie haben Sie das gemacht?“
„Ich war das doch gar nicht.“
Er legte genervt auf. „Also schön, was, um Himmels willen, wollen Sie?“
„Ihnen zeigen, was wirklich wichtig ist.“
„Aha. Na, da bin ich aber mal gespannt.“ Er verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich zurück. Mit dieser Irren würde er schon fertig werden, wenn es hart auf hart kommen sollte. Miss Goodwill sprang vom Schreibtisch und tänzelte auf ihn zu. Dabei packte sie seinen Arm und zog ihn aus seinem Bürosessel. „Kommen Sie mit, Mr. Leary, dann verstehen Sie, was ich meine.“
Sie schob ihn zum Panoramafenster und öffnete es. Unter ihm die Stadt und deren blinkende Lichter, das Hupkonzert der Autos und natürlich der Schnee. Es hatte etwas Friedliches, obwohl ihm diese Vorweihnachtsstimmung sonst nicht sehr behagte.
„Und jetzt raus mit Ihnen!“, rief Emma und gab ihm einen Stoß über die Brüstung.
„Nicht doch!“, rief James Leary, doch er verlor schon das Gleichgewicht. Ein Schrei entrang sich seiner Kehle. James kniff die Augen zusammen, spürte den Sog, der ihn rasant in die Tiefe zog und erwartete, jeden Moment aufzuschlagen. Stattdessen landete er keuchend im Vorgarten eines kleinen Einfamilienhauses, und direkt neben ihm Miss Goodwill, die sich ein wenig Schnee von der Schulter klopfte.
Moment mal, dieses Haus kannte er doch! Es gehörte Grandma Elly. Aber wie… wie war das möglich, wie kamen sie hierher? Außerdem war es plötzlich helllichter Tag, obwohl eben noch Nacht gewesen war. Er lachte auf. Jetzt verlor er endgültig den Verstand!
„Wo sind wir?“
„Das wissen Sie doch, Mr. Leary. In Kelsey natürlich. Außerdem lautet die viel wichtigere Frage nicht wo, sondern wann.“ Sie zwinkerte ihm zu, während er eine Regung an einem der Fenster bemerkte. Gebannt blickte er dorthin, wo sich die Gardine bewegte. Es war ihm alles so vertraut. Hier war er oft gewesen. Jeden Nachmittag nach der Schule, und später auch. Carol…
„Keine Sorge, schauen Sie sich nur um, es kann Sie niemand sehen“, versicherte Emma.
„Wieso kann mich denn niemand sehen?“
„Weil Sie so etwas ähnliches… wie ein Geist sind?“
„Sind wir etwa… in den Tod… gesprungen?“
„… Das alles zu erklären, wäre viel zu kompliziert. Dafür haben wir gar nicht die Zeit…“, murmelte Emma, ohne ihm zu antworten.
„Bin ich tot?“, schrie er sie erschüttert an.
„Was?“ Sie hielt inne. „Sprung in den Tod? Ach nein, wo denken Sie hin. Sie sind gesprungen, ja, das schon. Und zwar direkt in die Vergangenheit. In das Jahr 1998, um genau zu sein. Solche Zeitsprünge sind auch weit weniger gefährlich, wissen Sie.“ Miss Goodwill lehnte sich an die Hauswand und betrachtete überaus intensiv ihre Fingernägel. „Nur zu, werden Sie Zeuge dessen, was Sie angerichtet haben“, forderte sie ihn auf.
„Angerichtet?“
Er entdeckte Carol, die hinter der Gardine hervorlugte. Mein Gott, sie war noch ganz jung, und wunderschön. Ihre nussbraunen Haare waren zu Stocklocken gewickelt, und sie trug einen weißen Pulli mit Norwegermuster, an dessen Kragen sie nervös fingerte. James atmete tief durch und seufzte. Ihr Anblick versetzte auch ihn in die damalige Zeit zurück. Damals war alles anders gewesen…
*
„Kind, jetzt setz dich zu uns. Wir wollen essen“, rief Grandma Elly.
„Ich bin gleich bei euch“, erwiderte Carol und warf einen letzten Blick aus dem Fenster. Er war bestimmt gleich hier! Er musste einfach kommen! So wie er jedes Jahr zu Weihnachten zu Besuch kam. Das war doch Tradition bei ihnen.
Ihre Finger strichen zum gefühlt hundertsten Mal den Kragen ihres Pullis glatt. Unter dem Stoff spürte sie die Muschelkette, die er ihr letztes Jahr geschenkt hatte. Es war nicht nur ein Weihnachts-, sondern auch ein Abschiedsgeschenk gewesen. Denn vor genau einem Jahr war Jimmy nach New York gezogen.
Der Schnee wirbelte gegen die Scheibe, bedeckte nicht nur die kahlen Äste und Dächer der Nachbarhäuser, sondern auch jedes einzelne Auto in der Straße. Es sah aus, als hätte sich ein weißes Vlies über die Ortschaft gelegt. Aber nirgends war eine Menschenseele zu sehen. Carol gab die Hoffnung dennoch nicht auf, dass Jimmy sein Versprechen halten würde. Sie hatten Pläne, an denen sie eisern festhielt. Sobald er sich in New York etwas aufgebaut hatte, wollte er sie nachholen. So die Idee, die sie letztes Jahr in Carols kleiner Wohnung über Grandma Ellys Garage ausgetüftelt hatten, als die Welt gerade unter fantastischem Feuerwerk ins neue Jahr gerutscht war.
„Ich will für immer mit dir zusammen sein“, hatte Jimmy gesagt. Und Carol war in seine Arme gesunken, hatte sich an seinen warmen Pulli gekuschelt und ihn festgehalten, so lange, bis sie eingeschlafen war.
Inzwischen hatte sich auch Carol nach einer Anstellung im Big Apple umgesehen und vielversprechende Anzeigen entdeckt, auf die sie sich beworben hatte. Es war also nur eine Frage der Zeit, bis sie ihr geliebtes Kelsey verlassen würde, um endlich wieder bei ihm sein zu können. Denn glühende Briefe und gelegentliche Wochenendtreffen mochten noch so romantisch sein, nichts ging jedoch über einen Morgen, an dem sie in seinen Armen erwachte, oder ein gemeinsames Frühstück bei Sonnenaufgang.
Eine Hand legte sich auf Carols Schulter. Als sie hinter sich blickte, schaute sie in das gütige Gesicht von Grandma. „Setz dich zu uns“, sagte sie sanft. Carol nickte und ließ die Gardine los.
Als sie sich zu der Familie an den gedeckten Tisch setzte, entgingen ihr die mitfühlenden und bedrückten Blicke nicht.
„Er wird kommen“, erklärte Carol und versuchte nicht nur ihre Eltern und Grandma Elly zu überzeugen, sondern vor allen Dingen sich selbst. „Er hat es versprochen.“ Vor zwei Wochen erst war der Brief aus Manhattan eingetroffen, in dem er ihr versichert hatte, dass er zu Weihnachten vorbeisehen würde. Wie jedes Jahr eben. Deshalb hatte Carol jede Nacht in ihrem Bett gesessen und an dem Schal gestrickt, den sie ihm schenken wollte.
„Hat er denn gesagt, wann er hier sein will?“, hakte Mum nach.
Carol warf einen Blick auf die Wohnzimmeruhr. Es war kurz nach drei. Jimmy hatte geschrieben, er wolle so früh wie möglich hier sein, was immer das bedeutete. Sie schüttelte also mit dem Kopf.
„Fangen wir an, sonst wird die Gans kalt“, sagte Dad und schnitt den Braten an. Der verfressene Dackel Willibald kratzte sacht mit der Pfote an ihrem Knie, vermutlich hoffte er, dass das eine oder andere Häppchen zu Boden fiel oder jemand ihm etwas zusteckte. Carol hatte normalerweise immer ein Leckerli für ihn dabei, aber heute stand sie neben sich. Der Stuhl ihr gegenüber war leer, erinnerte sie daran, wie sehr Jimmy ihr fehlte. Sie vermisste die gemeinsamen Stunden vor dem Kamin, eingehüllt in eine kuschelige Wolldecke, oder die zarten Küsse hinter dem Haus; all das steckte noch immer in ihrem Herzen. Sie wollte es nicht loslassen. Und sie war überzeugt, dass es Jimmy genauso ging. Sicherlich steckte er nur im Stau. Die Straßen waren zugeschneit. Oder er schaute vorher noch bei seinen Eltern vorbei. Ja, so musste es sein!
Doch auch gegen 20 Uhr war Jimmy immer noch nicht da, und Carol stand erneut am Fenster, den mit Schleifen verzierten Schal in den Händen. Sanft presste sie ihn an ihre Lippen. ›Bitte komm, Jimmy‹, dachte sie…
*
„Warum ist sie nur so traurig?“, fragte James Leary, der auf der anderen Seite des Fensters stand und zu Carol hineinblickte.
„Das können Sie sich nicht denken?“, wunderte sich Miss Goodwill. „Sie sind schuld, mein Lieber. Weil Sie Ihr Versprechen gebrochen haben! Schlimmer: Dies ist auch der Tag, an dem Ihre Liebe zerbrochen ist. Erzählen Sie mir nicht, Sie hätten es vergessen“, empörte sich die untersetzte Frau mit den toupierten Haaren und plusterte sich vor ihm auf.
„Doch, natürlich weiß ich das. Es waren die Umstände, die mich dazu zwangen. Aber nie wollte ich Carol wehtun. Es tut mir jetzt weh, sie so zu sehen. Aber damals war es richtig, sich zu trennen.“
„Die Umstände? Die Umstände hießen Jessica und Lorelai. Zwei hübsche junge Damen, die Sie in einer Bar wenige Tage, bevor Sie nach Kelsey fahren wollten, kennengelernt haben. Und Schluss haben Sie gemacht, indem Sie Carol an Neujahr auf den AB sprachen. Das, Mr. Leary, hatte wirklich null Stil.“ Sie piekste ihm mit dem Finger gegen die Brust.
„Au. Ist ja schon gut. Ich sehe es ein, ich war ein Egoist. Aber glauben Sie mir doch, Miss Goodwill, ich habe wirklich nicht geahnt, wie sehr es Carol das Herz brechen würde. Das wollte ich nie. Niemals.“
Miss Goodwills Gesicht nahm weichere Züge an. Sie nickte langsam. „Na schön. Warum haben Sie sich dann nie mehr von sich aus bei Carol gemeldet, obwohl sie doch Freunde bleiben wollten?“
„Ich hatte doch Kontakt zu ihr.“
„Ja, aber nur, wenn sie Sie anrief oder besuchte. Und dann haben Sie Carol wie eine Aussätzige behandelt, weil Ihre New Yorker Hipster-Freunde sie als Landei bezeichnet hatten.“
James seufzte. „Es lag auch an der Zeit.“
„Zeit, Zeit, Zeit… das ist immer Ihr Argument.“
„Es ist doch auch wahr, wer hat heutzutage noch Zeit?“
„Für Menschen, die wir lieben, nehmen wir uns die Zeit. So einfach ist das.“
Da war was dran, das sah James ein. Er hatte offenbar vieles falsch gemacht. Und das meiste davon war ihm nicht einmal bewusst gewesen. Er führte die Hand an die Fensterscheibe, weil er so sehr wünschte, Carol einfach in den Arm zu nehmen. Doch bevor seine Finger das Glas berührten, hielt er inne, ließ die Hand einfach davor schweben. Wenn er die Vergangenheit doch nur ändern könnte.
Da streckte Carol ihrerseits die Hand aus und legte sie von innen an die Scheibe, genau an die Stelle, an der seine war.
„Sehen Sie mal, Miss Goodwill. Merkt sie etwa doch, dass ich hier bin?“, hoffte er. „Carol! Es tut mir wirklich alles so leid. Verzeih mir bitte. Ich will es wieder gut machen, hörst du?“
„Sie kann Sie nicht hören“, erinnerte ihn Emma Goodwill. „Das habe ich Ihnen doch bereits erklärt. Wir sind gerade in der Vergangenheit, was Sie hier sehen, ist bereits geschehen.“
„Aber… Carols Hand.“ In dem Moment, in dem er seine eigene Hand auf die Scheibe drücken wollte, nahm Carol ihre wieder weg. Es war wohl nur ein Zufall gewesen. Aber James Hand glitt durch das Glas hindurch. Erschrocken zog er sie zurück. Und doch hatte er für einen kurzen Moment das Gefühl gehabt, sie hätten sich berührt.
„Sie haben wohl recht.“ Er wandte sich um, als plötzlich Willibald losbellte, wie von Sinnen. Der kleine Kläffer, wie hatte James ihn je vergessen können?
„Was ist denn los, Willi?“, fragte Carol, und als sich James noch einmal zum Fenster wandte, stand dort der kleine Dackel breitbeinig auf dem inneren Fensterbrett, und starrte James mit grimmigem Blick an.
„Der kann mich sehen! Ich schwöre es Ihnen, Miss Goodwill. Der Wadenbeißer da kann mich sehen.“ Natürlich meinte James das liebevoll. Willibald war schon immer eine coole Socke gewesen.
„Was, wirklich?“, staunte Miss Goodwill.
Carol hob den Dackel hoch und schaute erneut hinaus. „Jimmy? Bist du das?“, hörte er sie durch die Scheibe. Ihr Blick schien etwas zu suchen, doch im Gegensatz zu Willibald nahm Carol ihn nicht wahr.
„Ich war mir gerade ganz sicher, dass er hier ist“, sagte Carol, jedoch so leise, dass James es nur von ihren Lippen ablas. Dann ging sie hinein und machte das Licht aus. James stand im Dunkeln vor dem alten Haus und ließ die Schultern hängen.
„Sie werden es mir wohl nicht glauben, Miss Goodwill, aber jetzt wünsche ich mir nichts mehr, als dass ich damals nach Kelsey gefahren wäre.“
„Sie mögen Carol immer noch, nicht wahr?“
„Ich bin mit Tiffany liiert. Sie ist die Frau, der jetzt mein Herz gehört“, erklärte er, doch es schien fast, als versuchte er nicht Miss Goodwill, sondern sich selbst zu überzeugen.
„Tiffany, das Model, richtig. Die würde Sie bestimmt vermissen, wenn Sie jetzt für immer hier festsäßen. Oder auch nicht?“ Miss Goodwill grinste von einem Ohr bis zum anderen.
„Wie ist das denn schon wieder zu verstehen?“
Sie packte seine Hand. „Genau so, wie ich es gesagt habe.“ Dann machte sie einen kleinen unförmigen Hüpfer, der jedoch nicht nur sie, sondern auch James in die Höhe riss, und zwar so rasant, dass ihm förmlich schwindelte. Im nächsten Augenblick hatte er Kelsey verlassen und stand in seinem Apartment in New York City. James atmete auf. Er war wieder zu Hause. Zum Glück. Und Miss Goodwill war auch nirgends zu sehen. Also endlich wieder Normalität!
*
„Tiff? Bist du zu Hause?“, rief er, doch er bekam keine Antwort. Stattdessen hörte er ein Kichern, das aus dem Schlafzimmer kam. Sie wartete offenbar schon auf ihn. Er lockerte die Krawatte und lief eilig den Flur herunter. Endlich alles beim Alten! Wie sehnte er sich nach Carols Küssen. Äh! Tiffs Küssen. Das hatte er denken wollen! Nein, sollen! Ach, egal. Er ging durch die offene Tür und erstarrte, als er Lukas, seinen guten Freund und Partner von Advist, in seinem Bett entdeckte. Dessen Klamotten lagen am Boden verteilt. Die Bettdecke war halb heruntergeglitten. Lukas selbst lag auf Tiff und überhäufte sie mit Küssen.
„Ich kann einfach nicht genug von dir kriegen“, hauchte er.
„Du musst jetzt gehen, James kommt bald nach Hause, eigentlich müsste er schon längst hier sein.“
Schon längst hier sein? Er WAR hier! „Was geht hier vor?“, rief James. Aber keiner reagierte. Da blieb ihm glatt die Spucke weg.
„Wie lange soll das denn noch so weitergehen?“, fragte Lukas.
„Ich rede mit ihm, versprochen. Damit wir endlich zusammensein können. Gleich morgen gehe ich in sein Büro.“
„Wirklich? Keine Rückzieher? Du hast es schon oft versprochen.“ Lukas rollte sich von ihr runter und sie kuschelte sich an seine nackte Brust. „Es ist kurz vor Weihnachten. Ich weiß nicht, ob ich wirklich den Mut aufbringe, zu Weihnachten mit ihm Schluss zu machen.“
„Aber irgendwann musst du es tun. Oder willst du für immer Versteck spielen?“
„Nein, natürlich nicht.“ Sie seufzte.
Endlich fand James seine Sprache wieder. Ungeheuerlich, was hier vor sich ging! Nicht nur, dass Tiffany offenbar eine Affäre mit seinem besten Freund hatte, die beiden taten, als würden sie ihn nicht sehen! Obwohl er mitten im Raum stand.
„Raus hier!“, brüllte er.
Doch sie ignorierten ihn weiter. Das machte James unglaublich wütend! Er spürte, wie ihm das Herz vor Zorn bis zum Hals schlug, ganz von selbst ballten sich die Hände zu Fäusten und er verspürte den unwiderstehlichen Drang, Lukas aus seiner Wohnung zu prügeln.
„Ich sollte jetzt wirklich gehen“, sagte Lukas und setzte sich auf, hob die Jeans vom Boden und streifte sie über.
„Das solltest du allerdings! Aufnimmerwiedersehen! Raus hier!“, wiederholte James.
„Hast du was gesagt?“, fragte Lukas.
„Ich? Nein“, meinte Tiff.
„Mir war so, als hätte ich was gehört. Eigenartig.“
Eigenartig war es in der Tat. Hier stimmte doch etwas nicht! Und als James ihn packen wollte, glitt seine Hand durch Lukas hindurch.
„Ach, da sind Sie ja“, sprach ihn plötzlich Miss Goodwill an, die wie aus dem Nichts neben ihm stand. „Schönes Schlafzimmer! Na ja, was hätte ich auch anderes von Ihnen erwarten sollen. Sie haben eben Geschmack, meistens! Ich habe Sie unterwegs übrigens verloren. Ich kann mir nicht erklären, wie, aber…“
„Was geht hier vor sich? Ich bin doch in der Gegenwart, oder nicht? Wieso sehen die mich nicht? Bin ich immer noch ein Geist?“
Lukas streifte sein Hemd über, warf Tiff eine Kusshand zu und verließ seelenruhig das Zimmer, während sich die Frau, der eigentlich sein Herz gehörte, mit einem seligen Gesichtsausdruck auf ihr Kissen sinken ließ. James musste etwas unternehmen! Der Kerl spannte ihm die Freundin aus. Und er stand hier und hatte keinerlei Einfluss!
„Da ist wohl etwas schief gegangen. Tut mir sehr leid, Mr. Leary.“
„Ach, Ihnen tut es leid? Wer sind Sie eigentlich, Miss Goodwill? Die gute Fee?“
„Ich…“
„Das wird das schlimmste Weihnachten aller Zeiten!“
„Sie haben noch nicht die Zukunft gesehen“, deutete Miss Goodwill an.
„Wie war das?“
„Ach… Sie sagen doch selbst immer, dass Weihnachten nicht Ihr Ding ist, und…“
„Nein, nein. Sie sprachen von der Zukunft.“
Da kam ihm was in Erinnerung! Sein Blick glitt durch den Raum und blieb an seinem Nachtschränkchen hängen, auf dem ein Buch lag. Charles Dickens „A Christmas Carol“. Auch als «Eine Weihnachtsgeschichte« bekannt. Tiff hatte es ihm geschenkt, weil sie ihn damit in Weihnachtsstimmung hatte bringen wollen, was natürlich nicht geklappt hatte.
„Jetzt wird mir alles klar!“, rief James. „Natürlich! Nur so kann es sein. Ich träume! Das alles hier, das ist genauso wie in der Geschichte von Charles Dickens. Der Geist der Weihnacht, der mich in die Vergangenheit und Gegenwart bringt. Und jetzt in die Zukunft, ist es nicht so, Miss Goodwill?“
„Ja, das hatte ich durchaus vor, gut kombiniert, Mr. Leary.“
„Sie haben aber die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Erstens: Ich bin nicht Ebenezer Scrooge! Es besteht nicht die geringste Ähnlichkeit zwischen ihm und mir!“
„Ähm… na ja… also, ehrlich gesagt…“
„Zweitens bin ich nicht gewillt, dieses Spiel weiterzuspielen. Ich verlange, dass ich auf der Stelle aufwache.“
„Für Ihren Schlafrhythmus sind wirklich nur Sie selbst verantwortlich, Mr. Leary.“
„Also schön.“ Er kniff die Augen zusammen und strengte sich mächtig an, aufzuwachen. Doch nichts geschah. Als er blinzelte, stand er immer noch in seinem Schlafzimmer, Miss Goodwill neben ihm und Tiff im Bett, die gerade eingeschlafen war.
„Na ja, es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen“, neckte ihn Miss Goodwill. „Aber sehen Sie es positiv, wenn das alles nur ein Traum ist, dann haben Sie ja auch nichts zu befürchten, wenn wir jetzt gemeinsam Ihre Zukunft anschauen.“
Er schnippste mit dem Finger. »Sie haben´s erfasst, Miss Goodwill. Also los, wie komme ich in meine grauenvolle Zukunft?«
„Einfach mir nach, würde ich sagen.“ Miss Goodwill öffnete das Fenster und hielt ihm die Hand hin.
„Wieso können Sie eigentlich Gegenstände oder mich anfassen, und ich kann das nicht?“
„Wie Sie schon sagten, vielleicht bin ich ja eine gute Fee? Und jetzt kommen Sie.“
„Ach bitte, nicht schon wieder ein solcher Sturz.“
„Daran gewöhnt man sich“, versprach sie. Und kaum, dass er ihre Hand genommen hatte, rauschten sie in die Tiefe, direkt in die nächste Szene.
*
James schaute sich irritiert um. Er hatte damit gerechnet, sich auf einem Friedhof wiederzufinden, wie es eben in manchen Versionen der Weihnachtsgeschichte war. Stattdessen stand er in einem sterilen Raum vor einem Krankenbett, in dem ein ihm völlig fremder Mann lag, angeschlossen an Maschinen, die ihn am Leben hielten.
„Was soll das hier?“, wunderte sich James.
„Ich zeige Ihnen Ihre Zukunft“, erklärte Miss Goodwill ganz sachlich.
„Aber das da bin nicht ich.“
„Doch, das sind Sie, Mr. Leary.“
„Was?“ Er beugte sich über die Person, die abgemagert und bleich aussah. Die Augen waren offen, doch sie blickten in die absolute Leere.
„Das ist Ihr Ich im Jahre 2019.“
„Wollen Sie mich… veralbern? So soll ich schon nächstes Jahr enden? Ich erkenne mich selbst nicht wieder.“
„Das liegt wohl daran, dass Sie einen schweren Motorradunfall hatten und ins Koma fielen.“
James taumelte einige Schritte zurück. Das musste ein Irrtum sein! Er hatte nie so enden wollen! Angewiesen auf Maschinen, nicht mehr Herr seiner Sinne. Eingeschlossen in einen verfallenden Körper. Womit hatte er das nur verdient?
„Was ist passiert, Miss Goodwill? Jetzt sprechen Sie schon.“
„Ganz wie Sie wünschen, Mr. Leary. Es fing damit an, dass Lukas sich mit Jo Bronak zusammentat und Ihnen, nun ja, Advist quasi aus den Händen stahl. Sie verloren Ihre Anteile, Tiffany und auch Ihr Heim, woraufhin Sie mit enormer Wut im Bauch mit dem Motorrad zu Lukas fuhren, um ihn zur Rede zu stellen. Dort kamen Sie aber nicht an.“ Miss Goodwill lächelte unglücklich. „Tut mir sehr leid, Mr. Leary, dass es so für Sie ausging.“
„Aber… das kann doch nicht das Ende sein? Mehr soll ich nicht aus meinem Leben gemacht haben?“ Er fuhr sich über das Gesicht. „Ich bin nur noch eine Last für alle, sehen Sie mich doch an.“
„Nun, das würde ich so nicht sagen, Mr. Leary.“
„Ach nein?“
„Es gibt ehrlich gesagt niemanden, dem Sie zur Last fallen, weil niemand Sie vermisst.“
Nun schossen ihm die Tränen in die Augen. Er hatte doch Freunde! Bekannte! Sogar Familie. Er konnte doch unmöglich allen egal geworden sein, nur weil er sich ihnen gegenüber hin und wieder etwas hatte gehen lassen oder sich für einige Zeit nicht gemeldet hatte. Zeit, Zeit… hätte er sich doch nur Zeit für die Menschen um sich herum genommen!
„Ich sehe da doch eine Karte!“, sagte er mit klopfendem Herzen und deutete zu dem Tischchen neben seinen Bett.
„Ach ja, das hätte ich fast vergessen“, sagte Miss Goodwill. In dem Moment ging die Tür auf und eine zierliche Gestalt, eingehüllt in einen Wintermantel und mit Bommelmütze, betrat das Krankenzimmer. Es war Carol, die sich einen Stuhl an sein Bett zog, sich zu ihm setzte und ein Buch aus ihrer Manteltasche zog.
„Was… was tut sie da?“
„Sie liest Ihnen vor, weil sie glaubt, dass Sie sie hören können.“
„Und? Kann ich das?“
„Ich weiß es nicht, Mr. Leary. Können Sie es? Hören Sie mal hin…“ Miss Goodwill zwinkerte ihm zu.
Und da vernahm James Carols Stimme, die so weich und lieblich klang. Die schönste Melodie, die er je gehört hatte…
*
Die Nachricht von Jimmys Unfall hatte Carol schwer getroffen, doch sie hatte keine Minute gezögert und war sofort zu ihm gefahren. Seitdem war sie jeden Tag ins Krankenhaus gekommen, um ihren Ex-Freund zu besuchen. Mal las sie ihm vor, mal erzählte sie ihm von ihrem Tag. Etwas in ihr war überzeugt, dass er sie hörte. Vielleicht war das albern. Aber Carol glaubte fest daran, dass das Band zwischen ihnen nie gänzlich zerrissen war. Ja, es war nicht mehr so stark wie früher, zugegeben. Aber es war unverkennbar da. Sie hatte nie aufgehört, ihn zu lieben. Und sie liebte ihn auch jetzt noch.
Sanft griff sie nach seiner Hand, hielt sie fest. „In drei Tagen ist Weihnachten, Jimmy“, flüsterte sie. „Ich werde mit meiner Familie in Kelsey feiern, wie jedes Jahr. Ich wünschte, du könntest bei uns sein. Aber du wirst in meinem Herzen sein.“ Sie schloss das Buch, steckte es in ihre Manteltasche zurück und beugte sich über ihn, küsste ganz vorsichtig seine Wange, die sich angenehm warm anfühlte.
„Dein Geschenk habe ich auch dabei. Ich habe es all die Jahre aufgehoben“, erklärte sie und zog den selbst gemachten Schal aus einem Geschenktütchen, das an ihrem Arm baumelte. Sacht legte sie den Schal auf seine Brust. „Wie schade, dass du ihn nicht tragen kannst.“ Tränen stiegen ihr in die Augen, wie eigentlich jeden Tag, wenn sie bei ihm war. Es tat ihr so leid, was ihm widerfahren war.
„Frohe Weihnachten, Jimmy“, flüsterte sie und wandte sich um.
„Merry Christmas, Carol“, hauchte er, gerade in dem Moment, in dem sie die Hand nach der Türklinke ausgestreckt hatte.
Erschrocken fuhr Carol herum. Hatte sie gerade wirklich seine Stimme gehört? Sie eilte zu seinem Bett, seine Augen bewegten sich, seine Lippen auch! Er sah sie an! Nicht durch sie hindurch, sondern direkt in ihre Augen! Es war ein Wunder!
„Jimmy! Kannst du mich hören?“ Sie drückte den Notfallknopf, der die Schwester verständigte.
„Carol… bist du es wirklich?“
„Aber ja, Jimmy. Mein Gott!“ Sie schlug vor Glück die Hände vor dem Mund zusammen.
„Wo ist… Miss Goodwill?“
„Wer?“
„Die Frau mit den… Haaren. Sie war… gerade noch hier. Sie hat… mir gezeigt, was wirklich… wichtig ist.“ Er versuchte ein Lächeln, griff nach ihrer Hand und drückte sie.
Die Tür ging auf und eine Schwester kam herein. Als sie Jimmys Zustand sah, hielt sie überrascht inne. „Das ist unmöglich. Der Patient ist wach?“
„Ja, und er spricht sogar mit mir“, freute sich Carol. Tränen rannen vor lauter Glück über ihre Wangen.
„Ich hole sofort einen Arzt“, sagte die Krankenschwester. Wenige Augenblicke später kehrte sie mit gleich zwei Medizinern zurück. Sie baten Carol, draußen zu warten, was diese gerne machte. Als die beiden Ärzte nach einer gründlichen Untersuchung zu ihr zurückkehrten, erklärten sie Jimmys Zustand für stabil, was Carol mit solchem Glück erfüllte, dass sie im Überschwang den Chefarzt kurz umarmte. Warum er ausgerechnet jetzt, drei Tage vor Weihnachten, wieder zu sich gekommen war, konnten die Männer im Kittel sich allerdings nicht erklären. Über die Feiertage wollten sie ihn sicherheitshalber hierbehalten.
„Darf ich denn wieder zu ihm?“
„Natürlich. Sie tun ihm offenbar gut“, sagte der Chefarzt.
Und als Carol das Krankenzimmer betrat, saß Jimmy aufrecht im Bett und lächelte sie liebevoll an. „Kannst du mir jemals verzeihen?“, fragte er.
„Ja, was denn?“
„Dass ich damals ein Dummkopf war.“
Carol trat an sein Bett und küsste ihn zärtlich. Oh, wie hatte sie den würzigen Geschmack seiner Lippen vermisst. Sanft streichelte sie seine Wange. „Beantwortet das deine Frage?“
Über die Autorin
Kerstin Garde, 1977 geboren, schreibt über liebenswerte Heldinnen mit kleinen Schwächen und gefühlvolle Helden, die ihr Herz nicht verstecken. Wichtig ist ihr ein Augenzwinkern zwischen den Zeilen. Die Autorin lebt mit Freund und Katzen in Berlin. Sie hat studiert und eine kaufmännische Ausbildung absolviert.