„Mabel, du bist wirklich zu alt, um noch an Santa Claus zu glauben“, sagte Jess.
Mabel hörte sie kaum. Sie stand, mit einem Spritzbeutel bewaffnet, über einem Blech ofenwarmer Kekse.
Die kleine Küche war erfüllt vom Duft von Zimt und Vanille und ein bisschen roch es auch nach verbranntem Teig, denn Mabel hatte lange Zeit nichts anderes mehr gebacken als Tiefkühlpizza.
Der erste Versuch, die Weihnachtskekse ihrer Großmutter zu machen, war ein wenig schiefgegangen, und um sich nicht die Blöße vor ihrer besten Freundin zu geben, hatte sie die ermordeten Überreste tief in den Müll gestopft. Der Hauch von Verbranntem in der Luft verriet sie allerdings.
„Sagt welches Gesetz?“, antwortete Mabel, während sie versuchte, ein bisschen Mehl von ihrer Wange zu wischen. Da ihre Hand voller grünem Zuckerguss war, klebte der jetzt stattdessen daran. Jess wischte ihn mit dem Daumen weg und leckte den Guss ab. „Das Gesetzt, nach dem man mit achtzehn erwachsen ist“, nuschelte sie mit dem Finger im Mund.
„Papperlapapp“, sagte Mabel leichthin. Sie war zweiundzwanzig, fühlte sich höchstens wie fünfzehn und war sowieso der Meinung, dass das Alter nur eine Zahl war. Sie glaubte schon ihr Leben lang an Santa Claus, warum sollte sie jetzt damit aufhören, nur weil ihr inzwischen keiner mehr glaubte, dass sie noch Schülerin war, und sie deswegen den vollen Preis fürs Kino bezahlen musste?
Grandma Dottie hatte Mabel, seit sie ein kleines Mädchen war, eine riesige Liebe für das Weihnachtsfest mit auf den Weg gegeben. Schon wenn der November losging, kam Dottie immer mit der Dekoration um die Ecke. Dann hingen im ganzen Haus Lichterketten und Lametta und es duftete überall nach Tannenbaum, denn davon stand in jedem Raum einer. An den Wochenenden durfte Mabel bei ihrer Grandma übernachten, dann erzählte die ihr Geschichten, die sie sich scheinbar das ganze restliche Jahr über zusammenspann. Es musste so sein, denn Dotties Geschichten waren immer so ausgefeilt und liebevoll, dass es unmöglich schien, dass sie spontan entstanden. Oft ging es in ihren Erzählungen um den Nordpol, kleine Elfen mit spitzen Ohren und um Rentiere. Aber immer spielte Santa Claus eine Rolle.
Dottie sprach nur in den höchsten Tönen von Santa und ganz so, als hätte sie ihn persönlich gekannt. Von den anderen Familienmitgliedern wurde sie deshalb belächelt, aber ihre Enkelin fasste bald die gleiche Zuneigung zu dem Mann im roten Mantel wie ihre Grandma, obwohl sie selbst ihm mit Sicherheit nie begegnet war.
Als Mabel noch kleiner war, hätte niemand sie von ihrem Glauben abbringen können, dass Grandma Dottie Santa Claus ausgesprochen gut kannte. „Sag mal, Grandma“, sagte sie einmal mit sieben, „bist du noch gut befreundet mit ihm?“
Da lächelte Dottie fein, wie Erwachsene immer lächelten, wenn sie nicht ganz ehrlich zu einem Kind sein wollten. „Mit Santa? Ich habe leider sehr lange nichts mehr von ihm gehört.“
„Bist du nicht traurig darüber?“
„Doch, sehr traurig“, aber Dottie hörte nicht auf zu lächeln und Mabel wusste nicht, was sie davon halten sollte.
Einige Jahre später war Mabel sich dann doch nicht mehr so sicher, ob Dottie Santa Claus tatsächlich persönlich gekannt hatte. Aber daran, dass er existierte, zweifelte sie nie.
Deswegen backte sie nun auch Dotties Kekse für Santa. Oder übte zumindest, sie zu backen, denn für Heiligabend sollten sie perfekt sein. Dies war Mabels zweites Weihnachtsfest ohne Dottie und das erste, an dem sie wagte, es überhaupt wieder zu feiern. Jess sollte sie ruhig so viel veralbern, wie sie wollte, das hier war wichtig für Mabel.
Ihre Freundin lächelte sie jetzt an, auch ein bisschen so wie Erwachsene, die einem nicht die ganze Wahrheit erzählen wollten.
»Ich denke, deine Oma wird nicht enttäuscht von dir sein, nur weil deinen Keksen ein bisschen Schokolade fehlt.»
„Da unterschätzt du aber Grandmas Liebe zu Schokolade“, meinte Mabel, als sie sich zum Kühlschrank umwandte, um besagte Blockschokolade herauszuholen. Sie würde sie klein hacken müssen, und ihr wurde klar, dass sie keine Ahnung hatte, wie man Schokolade überhaupt hackte. Mit einem Hammer vielleicht? Im Keller hatte sie einen, aber würde die Schokolade dann nicht nach Metall schmecken? Also zückte sie ihr iPhone und versuchte herauszufinden, wie sie weiter vorgehen sollte.
Bei Dottie hatte das immer alles sehr einfach ausgesehen. Sie war durch ihre Küche gewirbelt, als hätte sie nie etwas anderes getan, und hatte dabei auch noch ein kleines Kind beaufsichtigt, das nicht nachvollziehen konnte, warum man Herdplatten besser nicht anfasste.
Es dauerte noch eine gute Stunde, bis auch die dritte Sorte Kekse unfallfrei zubereitet war. Laut Dottie mochte Santa am liebsten Zimtsterne, Schokoladenkekse und Vanillekipferl. Die stellte sie Heiligabend immer neben einem Glas Milch an den Weihnachtsbaum, damit Santa sich stärken konnte, bevor er mit seinem Schlitten weiterflog, um die Geschenke für alle Kinder auszuliefern. So würde Mabel das auch dieses Jahr machen.
Aber nicht mit den Keksen, die sie heute gebacken hatte. Zucker und Salz sahen sich einfach zu ähnlich.
Jess hatte sich als ausgesprochen gute Freundin erwiesen und sogar von jeder Sorte der Kekse einen runtergewürgt, um beurteilen zu können, wie sie schmeckten, wenn man von dem Salz-Fauxpas absah. Sie hatte gemeint, dass sie gar nicht so schlecht wären, aber ein bisschen husten hatte sie trotzdem müssen, also beschloss Mabel schweren Herzens, dass es besser wäre, diese Kekse in denselben Mülleimer zu stopfen, in dem schon die verbrannten von vorhin steckten.
Am Abend, als Jess heimgegangen war, nutzte Mabel die freie Zeit, um es sich in ihrem Sessel bequem zu machen und das Schreibprogramm an ihrem Laptop zu öffnen.
Seit Dotties Tod hatte Mabel angefangen, all ihre Geschichten aufzuschreiben. Und neben Dotties Geschichten über Santa Claus und den Nordpol auch Geschichten über Dottie selbst und die Abenteuer, die sie und Mabel erlebt hatten.
Sie war letztes Jahr im September verstorben und danach war für Mabel an Weihnachten gar nicht mehr zu denken. Und anstatt wie jedes Jahr die gemeinsame Weihnachts-To-do-Liste abzuarbeiten, hatte Mabel sich zu Hause verkrochen und angefangen, alles aufzuschreiben, woran sie sich von Dottie noch erinnerte. Der Gedanke, auch nur einen Aspekt ihrer wundervollen Persönlichkeit vergessen zu können, war Mabel ein Graus.
Die Anekdote, an der Mabel erst gestern geschrieben hatte, handelte von Dottie.
Sie hatte für die ganze Familie Weihnachtspullover gestrickt. Onkel Douglas, der schon immer ein alter Miesepeter gewesen war, hatte auch einen bekommen und sich die Gelegenheit zum Anlass genommen, Dottie zu fragen, ob sie denn auch einen für Santa Claus persönlich gestrickt hätte.
„Aber ja“, hatte Dottie lächelnd geantwortet, „Santa bekommt seinen Pullover Heiligabend, wenn er die Geschenke für Mabel abgibt.“ Mabel war zu dem Zeitpunkt schon siebzehn gewesen und war bei den Worten ihrer Grandma ein bisschen rot angelaufen, hatte aber nichts gesagt.
Onkel Douglas hatte darauf hässlich gelacht und den Kopf geschüttelt, als wüsste er grundsätzlich alles besser. „Du bist eine verrückte Frau, Dorothy, hat dir das schon mal jemand gesagt?“
„Oh ja, du teilst es mir jedes Jahr aufs Neue mit, Douglas. Und jetzt gib den Pullover zurück, du dicker, alter Pavian!“
Aber Douglas hatte seinen Pullover nicht mehr zurückgeben wollen. Er war ein paar Jahre jünger als Dottie und, sollte man meinen, um einiges stärker. Doch die alte Frau hatte bewiesen, dass sie mehr drauf hatte als stricken und Kekse backen, und nach einem mehrminütigen Handgemenge, bei dem die gesamte Verwandtschaft sich um die beiden versammelt hatte (entweder, um zu gaffen, oder, um sie davon abzuhalten, sich gegenseitig an die Kehle zu gehen), hatte Dottie triumphierend den Pullover in ihren Händen gehalten. Douglas hatte im Gegenzug Bratenfett in den Haaren, denn Dottie hatte ihm die Weihnachtsgans übergezogen.
Das war das letzte Weihnachtsfest, zu dem man Dottie und Douglas gemeinsam eingeladen hatte. Aber die Geschichte davon erzählte man sich immer wieder gern, denn niemand in der Familie konnte Douglas so recht leiden. Es war nur schade um die schöne Gans gewesen.
Nachdem Mabel die Anekdote zu Ende aufgeschrieben hatte, machte sie sich daran, ein paar der älteren zu lesen. Teilweise hatte sie sie gleich nach Dotties Tod aufgeschrieben. Man erkannte den Unterschied sofort, denn damals waren die Erinnerungen noch so frisch gewesen, dass Mabel gleich wieder Dotties Stimme im Ohr hatte, wenn sie die vertrauten Worte las.
Schließlich stockte Mabel bei einer der ersten Seiten im Dokument. Sie las sie nicht so gern, weil sie im Nachhinein dachte, dass dieses Ereignis der erste Vorbote der schlimmsten Sache gewesen war, die sie in ihrem ganzen Leben hatte durchstehen müssen. Aber weil der Geruch der verbrannten Kekse noch immer ein bisschen in der Luft hing und der sanfte Schein der Kerzen an ihrem Weihnachtsbaum sie an den Abend zurückversetzte, las Mabel die Zeilen nun doch:
Es war die Nacht von Heiligabend und ich glaube, ich bin höchstens zehn gewesen. Früher hatte ich mir schon oft vorgenommen, dass ich nachts nachschauen wollte, ob Santa schon da gewesen sei. Ich hoffte natürlich auch immer, dass ich ihm dann begegnen würde. Meistens schlief ich ein, bevor es spät genug zum Nachschauen war, und das eine Mal, an dem ich es geschafft hatte wach zu bleiben, hatte ich festgestellt, dass Grandma die Wohnzimmertür abgeschlossen hatte. Aber in dieser Nacht war ich wach geblieben, und als ich barfuß durch den Flur tappte, sah ich direkt die Lichter vom Weihnachtsbaum durch die geöffnete Tür. Kurz bevor ich den Raum betrat, fiel mir auf, dass er nicht leer war. Aber anstatt auf Santa Claus zu treffen, entdeckte ich Grandma, die in dem roten Sessel neben dem Tannenbaum saß. Ich war unschlüssig, ob ich zu ihr gehen sollte und ob ich Ärger bekommen würde, weil ich nicht schlief und mitten in der Nacht in das für mich verbotene Zimmer ging. Ich versteckte mich in den Schatten und warf einen vorsichtigen Blick in den Raum. Es lagen schon Geschenke unter dem Baum und die Socken, die vom Kamin hingen, schienen gut gefüllt zu sein. Mein Blick lag für einige Sekunden auf einem großen roten Päckchen mit goldener Schleife und ich malte mir aus, was wohl darin sein mochte. Als ich es schaffte, den Blick davon zu lösen, fiel mir auf, dass Milch und Kekse unberührt lagen, wo Grandma und ich sie am Abend zuvor auf dem Kaminsims platziert hatten. Und dann sah ich, dass auch Grandma zu den Keksen blickte und dass ihr Blick starr und tränenverhangen war.
Ich hatte Grandma noch nie in meinem Leben so traurig erlebt. Sowieso hatte ich sie nie so wirklich traurig gesehen, denn Dottie hatte immer aus allem das Beste gemacht. Als Zehnjährige konnte ich so viel Schmerz nicht einordnen. Ich war schockiert und wusste nicht mit der Situation umzugehen. Bis heute weiß ich nicht, was Grandma damals so traurig gemacht hat, aber ich wünschte, ich hätte sie getröstet. Stattdessen bin ich zurück in mein Zimmer gelaufen und habe am nächsten Morgen das große Päckchen mit der goldenen Schleife geöffnet. Es war ein Puppenhaus drin.
Mabel hatte relativ schnell vergessen, was sie in der Nacht gesehen hatte. Schon am Morgen darauf kam es ihr gar nicht mehr so dramatisch vor. Aber irgendwie spukte ihr die Geschichte seit ein paar Jahren ständig im Kopf herum.
Mabel hatte sich nie Sorgen um den Geisteszustand ihrer Grandma gemacht. Egal, wie oft irgendwelche Familienmitglieder die Frau als verrückt bezeichneten, oder wie oft ihre Eltern sie darum baten, nicht zu vergessen, dass sich in der wirklichen Welt nicht alles nur um Weihnachten drehe, Mabel liebte Dottie für ihren Enthusiasmus, und sie konnte sich nie etwas Schöneres vorstellen, als sich einen Abend lang bei einer Tasse Kakao ihre Geschichten anzuhören.
Wenn Dottie vom Nordpol erzählte, dann glaubte man selbst dort gewesen zu sein, und so detailreich, wie sie ihn beschrieb, war es gar nicht schwer zu glauben, dass sie selbst schon dort gelebt hatte.
Aber natürlich glaubte Mabel irgendwann nicht mehr wirklich daran, dass Dottie am Nordpol gewesen war und Santa Claus kannte. Sie tat einfach gern so, als wäre es so gewesen, denn was sprach schon dagegen, es sich vorzustellen? So tat Dottie es schließlich auch, dachte Mabel.
Für Mabel hielt das Weihnachtsfieber dann irgendwann nur noch über die Feiertage. Aber Dottie konnte immerzu darüber reden.
„Ich frage mich, Mabel“, sagte sie einmal gedankenverloren, Mitte August, „wie weit die Elfen schon mit dem Spielzeug sind.“
Der Alzheimer wurde erst im Jahr darauf festgestellt.
Von da ab fiel Mabels Welt langsam, aber stetig, in sich zusammen. Es ging relativ schnell bergab mit Grandma Dottie. Die gemeinsamen, gemütlichen Weihnachtsfeste waren vorbei, sobald sie im Heim leben musste. Mabel war nun selbst schon erwachsen und ließ sich von niemandem davon abhalten, ihre arme, verrückte Oma so oft zu besuchen wie sie konnte. Und wenn sie keine Zeit hatte, dann ging sie trotzdem hin und brachte ihr Lebkuchen und kleine Christbaumkugeln mit, die sie an alles hängte, was sich behängen ließ.
„Du bist zurück, Mabel!“, strahlte Dottie jedes Mal. Sie sah nun hagerer aus als früher und nicht mehr wirklich gesund. Aber ihr Lächeln war so fröhlich wie immer. „Hast du Santa meine Grüße ausgerichtet?“
„Ja, Grandma“, antwortete Mabel und ergriff die knochige Hand der alten Frau, „er hat sich sehr gefreut und fragt, wie es dir geht.“
Dottie machte eine wegwerfende Bewegung mit ihrer freien Hand. „Ich kann mich nicht beklagen. Es ist ein bisschen langweilig hier, aber ich halte mich schon beschäftigt.“ Sie deutete mit den dünnen Fingern auf ihr Strickzeug, das auf einem Beistelltisch lag. „Ich mache Mützen für die Elfen.“
„Die sehen schön aus“, sagte Mabel, als sie den Haufen kleiner Mützen betrachtete, die aussahen, als wären sie für Kinder. Die, die ganz obenauf lag, war leuchtend rot und hatte eine kleine Beule, als hätte Dottie sich dort ein bisschen im Strickmuster vertan.
„Wie viele Tage sind es noch bis Weihnachten, Mabel?“, fragte Dottie, als würde sie sich sorgen, dass sie es nicht mehr schaffte, bis dahin für jeden Elf auch eine Mütze gestrickt zu haben.
Mabel zählte jedes Mal, bevor sie Dottie besuchte, die Tage bis Weihnachten, weil sie wusste, dass diese Frage sie erwartete. „Hundertzweiundachtzig“, sagte sie also ohne zu zögern.
Dottie nickte für einen Augenblick und lehnte sie sich in ihrem Stuhl zurück. Ihre Augen waren wieder starr, wie damals, als sie in der Heiligen Nacht allein geweint hatte. „Es ist noch sehr lang hin“, sagte sie schließlich.
„Die Zeit geht bestimmt schnell rum“, erwiderte Mabel.
„Meinst du, er kommt mich besuchen?“, fragte Dottie.
Mabel nickte. „Da bin ich mir sicher.“
Ob sich Mabels Versprechen als Lüge entpuppt hätte, stellte sich nicht mehr heraus, denn Dottie verstarb nur ein paar Monate später. Auf ihrer Beerdigung hielt sogar Douglas seinen Mund.
Es waren jetzt nur noch ein paar Tage bis Weihnachten. Mabel hatte ihre Weihnachts-To-do-Liste beinahe abgearbeitet, doch das behagliche, vertraute Gefühl hatte sich noch nicht eingestellt und irgendwie bezweifelte Mabel, dass es das noch würde. Aufgegeben hatte sie es trotzdem nicht, denn irgendwie fand sie, dass sie es Dottie schuldig war, die gemeinsame Tradition fortzuführen.
Heute ging sie also gemeinsam mit Jess in die Stadt, um dort Geschenke zu kaufen. Bei Barnes&Noble fand sie für jedes Familienmitglied den passenden Ratgeber, beispielsweise ein Meditationshandbuch für Onkel Douglas. Da würde er sich sicher riesig drüber freuen.
In der Stadt geschah das scheinbar Unmögliche: Die weihnachtliche Musik, die in den Läden gespielt wurde, gemischt mit den gehetzten Leuten, die durch die Gegend rannten, versetzten Mabel dann doch ein bisschen in weihnachtliche Stimmung. Tatsächlich fühlte sie sich so gut, als sie die Einkaufsstraße verließen, dass sie Jess vorschlug, doch den längeren Weg nach Hause zu nehmen, um an der Eisbahn vorbeizugehen.
Schlittschuhlaufen war eine der Lieblingsbeschäftigungen von Mabel und Dottie gewesen. Und wenn sie gerade selbst nicht über das Eis flitzten, dann betrachteten sie auch gern einfach die anderen Eisläufer. Es hatte etwas sehr Beruhigendes an sich, so vielen Menschen dabei zuzuschauen, wie sie einfach glücklich und sorglos waren.
Schlittschuhlaufen kam dem Fliegen in einem Schlitten von allen irdischen Aktivitäten am Nächsten, hatte Dottie immer gesagt.
Aus Mabels ursprünglichem Plan, einfach an der Eisbahn vorbeizulaufen, während sie die Einkäufe nach Hause brachten, wurden zwanzig Minuten, in denen sie Jess dazu anhielt, mit ihr die Eisläufer zu beobachten. Es war ein wenig merkwürdig, aber sobald Mabel aufhörte sich zu konzentrieren und ihre Gedanken schweifen ließ, meinte sie Elfen zu sehen, die die kleinen Mützen trugen, die Dottie vor über einem Jahr für sie gestrickt hatte.
„Wir können uns auch Schlittschuhe ausleihen gehen, wenn du möchtest“, sagte Jess irgendwann.
„Willst du denn nicht gern nach Hause?“, fragte Mabel.
„Quatsch“, meinte Jess und legte Mabel einen Arm um die Schulter. „Ich krieg dich hier eh nicht weg, ehe die Sonne untergeht, da kann ich mir die Zeit auch damit vertreiben, ein paar Mal auf den Hintern zu fallen.“
Also liehen sie sich alte, gebrauchte Schlittschuhe und dann hatte Mabel den größten Spaß ihres Lebens. Oder zumindest den größten Spaß seit den letzten drei Jahren. Sie raste auf den schmalen Kufen über das Eis, ließ sich den Wind ins Gesicht wehen und glaubte sich daran zu erinnern wie es war, in einem Schlitten zu fliegen. Wenn sie es wagte, die Augen zu schließen, meinte sie sogar kleine Glöckchen zu hören, die am Geschirr der Rentiere befestigt waren.
Dottie hatte oft erzählt, wenn sie Schlittschuh gelaufen waren, dass die Elfen das auch immer auf einem riesigen, zugefrorenen See am Nordpol taten und dass Santa ihnen dabei zusah, nachdem er die Rentiere gefüttert hatte.
Mabel sah eine leuchtend rote Mütze aufblitzen, die aussah, als hätte sie eine kleine Beule. Sie konnte nicht anders, als der Mütze hinterherzufahren. Der Träger ging ihr bestimmt nur bis zur Hüfte, aber Mabel war zu langsam und ehe sie ihn richtig sehen konnte, war er in der Menge verschwunden.
Den vierundzwanzigsten verbrachte Mabel bei ihren Eltern. Am nächsten Tag würde es ein großes Festessen mit dem Rest der Familie geben, auf das sie sich nicht wirklich freute, weil Dottie nicht da sein würde. Doch sie war schon gespannt, wie Onkel Douglas sein Meditations-Handbuch gefallen würde. Immerhin etwas.
Die letzten Tage über hatte Mabel akribisch Blech um Blech Kekse gebacken. Sie wurden immer besser und die, die sie heute zustande gebracht hatte, waren beinahe so gut wie die von Dottie. Wenn auch nur beinahe.
Bevor Mabel zu Bett ging, richtete sie ein paar Kekse jeder Sorte auf einem Teller an und stellte ein Glas Milch daneben. Sie wünschte ihren Eltern eine gute Nacht, die nicht hinterfragten, dass Mabel mit zweiundzwanzig Jahren Kekse für Santa Claus rausstellte, und dann legte sie sich hin.
Mabel wurde geweckt vom Klang dutzender, winzig kleiner Glöckchen. Das bildete sie sich zumindest im Halbschlaf ein. Als sie wach war, hörte sie die Glöckchen nicht mehr, dafür war sie jetzt aber hellwach und ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass der Morgen noch in weiter Ferne lag. Sie musste gar nicht darüber nachdenken, was sie als Nächstes tun würde. Mabel war erfüllt vom Geist der Weihnacht. Also stand sie auf und ging barfuß durch den Flur. Sie war nicht in Dotties altem Zuhause, sondern im Haus ihrer Eltern, und trotzdem fühlte sie sich in den Augenblick von damals zurückversetzt. Versteckt im Schatten lugte Mabel in das Wohnzimmer, das durch die Christbaumbeleuchtung in einen sanften, goldenen Glanz gehüllt war.
Und diesmal sah Mabel nicht die weinende Dottie, auch wenn sie das für einen Moment irgendwie gehofft hatte. Dieses Mal war es wirklich Santa, den sie entdeckte. Er trug seinen roten Anzug mit dem schwarzen Gürtel und hatte weißes Haar und einen langen weißen Bart. Er sah genauso aus, wie jedes Kind ihn sich vorstellte. Inklusive des herzlichen Lächelns, das auf seinem Gesicht lag, während er sich einen der Zimtsterne nahm, die Mabel für ihn gebacken hatte.
Santa aß ihn zufrieden und nahm dann einen Schluck Milch.
„Der hat wirklich fantastisch geschmeckt, Mabel, genauso gut wie die deiner Oma!“, er drehte sich zu Mabel und sah sie direkt an. Seine Augen blitzten freundlich. „Sie wird sehr stolz auf dich sein.“
Mabel war zu verblüfft, um irgendeinen Ton zu sagen. Als Santa sie zu sich winkte, machte sie ein paar Schritte in den Raum.
„Lass dich mal ansehen, mein Kind“, sagte Santa mit seiner tiefen, warmen Stimme. „Du siehst ihr ja wirklich verblüffend ähnlich! Es freut mich, dich endlich kennenzulernen.“
Mabel konnte immer noch nichts sagen, aber als Santa Claus sie in eine Umarmung schloss, fühlte sie, wie all die Anspannung der letzten Monate plötzlich von ihr abfiel. Sie verstand nicht, was hier los war, aber der Gedanke, dass Dottie vielleicht doch nicht so verrückt gewesen war wie alle und zum Schluss sogar Mabel selbst gedacht hatten, hallte durch Mabels Kopf und ließ Tränen in ihre Augen treten. Oder war sie nun einfach selbst verrückt?
„Na na, mein Kind“, schalt Santa sie gutmütig und wischte eine Träne von ihrer Wange. „Ich würde sagen, du ziehst dir jetzt ordentliche Schuhe an und vielleicht eine Jacke, dann können wir weiter.“
„Weiter?“, fragte Mabel erstaunt.
„Du begleitest mich beim Geschenkeverteilen und anschließend bringe ich dich zu Dottie.“
Da wurde Mabel warm ums Herz und sie flitzte in ihr Zimmer, um sich Schuhe und Jacke zu holen.
Es war wirklich ein bisschen wie Schlittschuhlaufen. Die Rentiere zogen den Schlitten durch den Himmel. Über ihnen waren die Sterne und unter ihnen eine Landschaft aus Wolken. Die Nachtluft war kühl, aber nicht wirklich kalt, und die Elfen hatten Mabel sowieso dick in Decken eingepackt, damit sie nicht fror. Sie saß neben Santa, der den Schlitten durch die Wolkentürme lenkte, und hinter ihnen waren die Elfen, die wild durcheinander plapperten, während sie die Geschenke für die Kinder zusammenpackten, die sie als nächstes besuchen würden. Einer von ihnen trug die rote Mütze mit der Beule. Sein Name war Edie und er entschuldigte sich bei Mabel, weil er nicht zugelassen hatte, dass sie ihn auf der Eisbahn einholte.
„Schon okay“, erwiderte Mabel. Für sie wäre jetzt alles okay gewesen. Der Moment könnte nur noch vollkommener sein, wenn Dottie bei ihr wäre. Also fragte Mabel Santa nach ihr.
„Dottie wartet schon auf dich“, sagte Santa und er wirkte sehr erfreut darüber, dass er sie und ihre Grandma nun endlich wieder zusammenführen konnte. „Seit sie zurück ist, hat sie uns pausenlos von dir vorgeschwärmt. Letztes Jahr war es ein bisschen zu kurzfristig, aber wir haben die letzten paar Monate alle geplant, wie wir es anstellen würden, dich an den Nordpol zu holen.“
Mabel fühlte sich eingelullt in das weihnachtliche Gefühl. Sie glitten im Nachthimmel dahin und immer wieder durchbrachen sie die Wolkendecke unter ihnen und flogen dann durch den sanften Schnee, um die Geschenke unter den Weihnachtsbäumen zu verteilen. Es war wie in einem alten Traum, den man mal als Kind gehabt, aber schon vor langer Zeit vergessen hat.
Immer wieder blickte Mabel in das freundliche, runzlige Gesicht von Santa Claus, um sich selbst zu bestätigen, dass das hier kein Traum war, sondern echt.
Erst als es zum Morgen dämmerte und die Sonne am Horizont aufging, wechselten sie den Kurs in Richtung Norden.
Der Schlitten machte Halt auf einer Landebahn, die ausgeleuchtet und mit Pfeilen beschriftet war, und ein paar Elfen navigierten Santa von unten, damit sie sicher landen konnten.
Santa reichte Mabel die Hand, als sie aus dem Schlitten kletterte, und die Elfen nahmen ihr die schweren Decken ab. Mabel fühlte sich ein bisschen träge, weil sie in dieser Nacht kaum geschlafen hatte, aber in dem Augenblick, als sie realisierte, dass sie endlich am Nordpol war, wurde sie schlagartig wach. Das hier war es: Dottie und ihr Traum.
Mabel sah massenhaft Schnee. Überall, wo sie hinblickte, war es weiß. Alles funkelte in der Morgensonne. Und vor ihr lag eine kleine Stadt mit Dutzenden Holzhütten in Rot und Grün, die weihnachtlich geschmückt und beleuchtet waren. Dazwischen herrschte das geschäftige Treiben der Elfen. Einige kamen nun auf sie zu und Mabel glaubte erst, dass sie Santa begrüßen wollten, aber dann wurde ihr klar, dass es ihnen um sie ging.
„Ist sie das?“, fragten einige aufgeregt. „Sie sieht aus wie Dottie!“
„Ganz recht“, sagte Santa mit seiner tiefen Stimme. „Das hier ist Mabel, Dorothys Enkelin. Edie, würdest du sie zu ihr bringen?“
Edie, der Elf, den Mabel schon vom Schlittschuhlaufen kannte, nickte eifrig und führte sie durch die hübsche kleine Stadt. Santa verabschiedete sich mit einer Bärenumarmung von ihr und machte sich auf, um die Rentiere in den Stall zu bringen.
„Wo genau ist Dottie?“, fragte Mabel den Elf.
„Zuhause“, erwiderte Edie. „Um diese Zeit wird sie meistens wach und trinkt eine Tasse heiße Schokolade.“
„Die hat sie schon immer geliebt“, meinte Mabel.
Sie erreichten ein Haus, das ein bisschen größer war als die umliegenden Hütten, aber genauso behaglich aussah.
„Hier wohnt sie?“, fragte Mabel.
Edie nickte. „Das ist das Haus von Santa und Dottie.“
Da machte Mabel große Augen. Größere, als sie ohnehin schon hatte. Aber sie sagte nichts weiter, sondern folgte Edie, der jetzt einfach in das Haus spazierte ohne zu klingeln oder anzuklopfen.
Drinnen roch es nach Weihnachtsgebäck und heißer Schokolade. Jemand hatte vor nicht allzu langer Zeit Vanillekipferl gebacken. Außerdem fiel Mabel auf, dass das Haus von innen eine verblüffende Ähnlichkeit zu Dotties altem Zuhause hatte.
Dottie saß im Wohnzimmer auf einem Schaukelstuhl. Sie nippte an einer Tasse und neben ihr lag ihr Strickzeug. Sie war quicklebendig und sah um einiges jünger aus als zum Zeitpunkt ihres Todes. Ihr Haar war zwar grau, doch ihre Wangen voll und rot und ihre blauen Augen leuchteten. Vor allem in dem Augenblick, als sie Mabel in der Tür stehen sah.
Für einen Augenblick sah Dottie Mabel nur an und griff sich an die Brust. Und Mabel sah nur zurück und wusste nicht ganz, was sie sagen sollte. Im nächsten Moment lagen sie sich schon in den Armen und während Mabel spürte, wie irgendetwas in ihr sich wieder zusammensetzte, liefen ihr die Tränen über das Gesicht und in den Stoff von Dotties Kleid.
„Er hat dich wirklich hergebracht“, flüsterte Dottie. Sie löste sich von ihrer Enkelin und hielt sie eine Armeslänge von sich weg, um sie zu betrachten. „Über ein Jahr ist es her. Gut schaust du aus!“
„Du siehst auch gut aus, Grandma“, erwiderte Mabel mit erstickter Stimme. Sie sah sich kurz nach Edie um und stellte fest, dass er schon fort war.
„Der Kleine muss sich ausruhen“, erklärte Dottie. „Die Elfen, die mit zum Geschenkeausteilen dürfen, sind danach immer erst mal platt.“
Mabel nickte und sah sich perplex im Zimmer um. Es war eine beinahe perfekte Nachbildung von Dotties altem Wohnzimmer. Oder wahrscheinlicher war, dass Dotties altes Wohnzimmer eine Nachbildung von diesem Zimmer hier war.
„Und alle dachten, du seist verrückt“, meinte Mabel kopfschüttelnd.
„Alle außer dir“, erwiderte Dottie.
Mabel schüttelte den Kopf. „Am Ende war ich mir auch nicht mehr sicher. Wie kann das alles sein, Grandma?“
Dottie wies auf das kleine rote Sofa, auf das sie beide sich setzten, und goss Mabel eine Tasse Kakao ein. Und dann erzählte sie von ihrem alten Leben am Nordpol.
„Ich musste gehen, als dein Vater zur Welt kam. Dies ist kein Ort, um Kinder großzuziehen. Also habe ich das bei den Menschen getan. Und dann“, Dottie seufzte, „dann konnte ich erst mal nicht zurück.“
„Aber du wolltest gern“, sagte Mabel.
„Jeden Tag. Und jedes Weihnachten habe ich gedacht, dass er diesmal kommt und mich mitnimmt. Aber du weißt ja, wie das ist.“
Mabel wusste es nicht, aber sie glaubte auch nicht, dass das wichtig war. Wichtig war, dass Dottie wieder am Nordpol war.
Sie verbrachten den Tag miteinander und erledigten alle ihre Traditionen auf einmal.
Dotties Küche stand bereits voller Bleche mit verschiedensten Plätzchen, doch sie ließ es sich nicht nehmen, noch ein paar mehr mit Mabel gemeinsam zu backen.
„Das Geheimnis ist ein kleines bisschen Salz“, sagte Dottie verschwörerisch, während sie den Teig für die Schokoladenkekse anrührte.
Mabel war gerade dabei, in den Schränken nach Schokolade zu wühlen. „Da fällt mir ein, vor ein paar Wochen habe ich versucht, deine Plätzchen nachzubacken, aber ich habe Salz und Zucker verwechselt. Das war wohl zu viel des Guten.“
Dottie lachte so wie sie früher auch immer gelacht hatte. „Allerdings meinte Santa, dass die Plätzchen, die du für ihn rausgestellt hast, ausgesprochen gut waren.“
Mabel wurde rot vor stolz. „Wirklich?“
„Er meinte, ich wäre eine gute Lehrerin gewesen“, erwiderte Dottie strahlend.
„Ich habe sie deinetwegen gebacken“, erklärte Mabel. Sie hatte die Schokolade entdeckt und legte sie für Dottie neben die Rührschüssel. „Letztes Jahr habe ich kein Weihnachten gefeiert, das wollte ich wiedergutmachen.“
„Wiedergutmachen?“, fragte Dottie mit gerunzelter Stirn.
Mabel zuckte leicht die Schultern. „Es hat sich falsch angefühlt, nicht zu feiern. Als würde ich dich im Stich lassen.“ Sie zögerte einen Augenblick, als ihre Emotionen sie zu überwältigen drohten. „Ich habe dich sehr vermisst, Grandma.“
Da hörte Dottie auf, den Teig zu rühren, und ließ den Holzlöffel in die Schüssel fallen. „Meine liebe Mabel“, sagte sie und nahm Mabel dabei in die Arme. „Ich habe dich auch vermisst. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr.“
Mabel wusste, dass sie beide kurz davor waren zu weinen, doch sie bewiesen ihren stoischen Charakter, indem sie gleich darauf wieder fröhlich miteinander plauderten und keine Tränen mehr vergossen. Dazu war der Anlass bei Weitem zu fröhlich.
Sie backten noch ein paar Bleche Plätzchen und Santa, der sie alle probierte, fand sie sehr gut. Dann machte Dottie mit Mabel einen langen Spaziergang und führte sie zum Stall mit den Rentieren und in die ganzen kleinen Läden, die von den Elfen geführt wurden, und wo sie das Spielzeug herstellten. Die Produktionen für nächstes Weihnachten hatten nämlich schon angefangen.
Dann gingen sie Schlittschuh laufen, was Mabel nun mit dem Fliegen in einem echten Schlitten vergleichen konnte und was sie überraschenderweise trotzdem nicht langweilig fand.
Als der Abend kam, setzten sie sich gemeinsam mit ein paar Elfen in das gemütliche kleine Wohnzimmer und Dottie erzählte dieselben Geschichten wie früher. Nur wusste Mabel jetzt, dass alles, was Dottie erzählte, wahr war. Während sie ihrer Grandma lauschte, glitt Mabel langsam, aber sicher in den Schlaf und sie träumte davon, dass sie nächstes Jahr wieder Weihnachten am Nordpol verbringen würde.
Und als sie am nächsten Morgen zu Hause in ihrem eigenen Bett aufwachte, wusste sie, dass es so sein würde.
Über die Autorin
Lara Lavenza wurde 1999 in Rheinland-Pfalz geboren. In ihrer Freizeit verfolgt sie mit Begeisterung Drag Queens auf Social Media und scheitert daran Witze zu erzählen, weil sie selbst schon vor der Pointe lachen muss. Ansonsten schreibt sie, am liebsten über Magie und Freundschaft, aber vor allem immer das was sie selbst gern lesen möchte.