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Adventsgeschichte 21. Dezember

Schrecklich Nette Weihnachten

von Anna Rosina Fischer

„In meinem Zimmer stinkt es nach Oma.“ Linus poltert laut ins Esszimmer und rennt einmal um die festlich eingedeckte Tafel, die im gleißenden Licht der tief stehenden Wintersonne erstrahlt. Weihnachten. Das Fest der Familie. Das Fest der Liebe. Dass ich nicht lache. Behutsam stelle ich einen großen Teller, auf dem sich ein mit Unmengen an Puderzucker bestäubter Berg Waffeln stapelt, neben dem rustikalen Buffet ab, packe meinen jüngeren Bruder am Kragen, ziehe ihn an mich und verpasse ihm einen Klaps auf den Hinterkopf. Wenig beeindruckt von meiner pädagogisch unkorrekten Erziehungsmaßnahme greift er sich ein paar Anissterne, die zur Dekoration auf dem Tisch verstreut liegen, und wirft damit nach mir, als sei er ein mit Shuriken bewaffneter Ninja. Einer davon trifft mich mitten zwischen die Augen. Er ist so ein megaätzendes Stinktier … allerdings auch ein ziemlich gut zielendes Stinktier. Ich will gerade Vergeltung üben, als meine Mutter völlig genervt aus der Küche kommt und sich die Schweißperlen von der Stirn wischt. Schon seit Wochen befindet sie sich im Ausnahmezustand, nur weil wir dieses Mal an der Reihe sind, das alljährliche Familienweihnachtsdrama auszurichten. Sie ist durch die Stadt gehetzt auf der Suche nach der perfekten Nordmanntanne (die mittlerweile ziemlich vertrocknet unser Wohnzimmer vollnadelt), den perfekten Geschenken, der perfekten Dekoration, dem perfekten Essen. Doch eines konnte sie trotz ihres Hangs zum Perfektionismus nicht. Gemütliche Weihnachtsstimmung versprühen. „Bist du geisteskrank?“, fragt sie mich und sammelt – selbst wie eine Irre – die Namenskärtchen ein. „Du kannst doch nicht Tante Dana neben Papa setzen, und Omi und Opi brüllen sich schon an, wenn sie direkt nebeneinander sitzen, was soll das erst werden, wenn sie an gegenüberliegenden Kopfenden platziert sind … und ich neben den Zwillingen??? Niemals!“ Gestresst umrundet sie den kompletten Tisch und verteilt sämtliche Kärtchen neu. Ich gebe zu, ich hatte absichtlich die Tischordnung nach Konfliktpotenzial gestaltet, um ein wenig Stimmung in den Laden zu bringen, denn seit Tagen, genau gesagt seit sich meine Oma bei uns eingenistet hatte, brodelt es ganz schön unter der Oberfläche, und ein Ausbruch könnte meiner Meinung nach glatt unterhaltsam sein. Jedenfalls unterhaltsamer als dieses furchtbar falsche Getue. So als ob wir uns alle leiden könnten. Denn Fakt ist: keiner der hier Anwesenden ist dem anderen besonders zugetan. In den letzten Tagen habe ich mich immer öfter dabei erwischt, wie ich nach und nach das ein oder andere Familienmitglied dem Tierreich zugeordnet habe. Mein kleiner Bruder ist eindeutig eine Ratte. Meine Mutter lacht nur noch gekünstelt wie eine Hyäne, Tante Dana war schon immer eine falsche Schlange, und ihr neuer Lebensabschnittsgefährte Steve ist ein Lackaffe mit Pferdevisage. Was Oma betrifft, muss ich meinem Aas von Bruder glatt zustimmen. Wo auch immer sie sich gerade aufhält, riecht es merkwürdig nach einer Mischung aus Mottenkugeln, Wick VapoRub, 4711 Kölnisch Wasser und parfümierten Damenbinden. Oder nach Tod und langsamer Verwesung … ich bin mir nicht ganz sicher. Zwei Tage lang war ich richtig froh, dass nicht ich mit ihr das Zimmer teilen musste, sondern Linus. Zwei sehr befriedigende Tage, in denen ich mich in seinem Leid suhlte. Bis Tristan kam. Keiner von uns wusste, dass Steve seinen Sohn mitbringen würde – bis dieser mit einer tierischen Fresse aus dem Lexus seines Vaters stieg, wusste ich noch nicht einmal von seiner Existenz –, und so wurde Tristan in Ermangelung an Schlafplätzen einfach bei mir einquartiert. Ich hatte mich natürlich geweigert, was das Zeug hielt, darauf hingewiesen, dass das Zusammenpferchen zweier Teenager unterschiedlichen Geschlechts durchaus zu Schwangerschaften führen kann, aber da ich darauf nichts erntete außer mitleidigen Blicken, gefolgt von erniedrigendem Gelächter, blieb mir nichts anderes übrig, als kurz darauf durch mein Zimmer zu wirbeln und in Windeseile alle peinlichen Gegenstände, angefangen bei meiner getragenen Unterwäsche über die Antipickelcreme bis zu meinem Notizbuch mit all meinen dusseligen Gedanken und Ideen, aufzuklauben und in der hintersten Ecke meines Kleiderschranks zu verstecken. Seitdem hatte ich mir die Nächte damit um die Ohren geschlagen, von meinem Hochbett aus diesen Typen anzustarren. Denn während ich im Bett fror und mir noch Wollsocken überzog, lag er auf einer viel zu schmalen Klappmatratze – mit freiem Oberkörper – und brachte mich um den Schlaf. Aber ganz ehrlich … dieser Typ war mir schlafend tausendmal sympathischer als im wachen Zustand. „Was hat der Junge gesagt?“, schreit Opi und schlurft vom Sessel im Wohnzimmer zum nächstbesten Stuhl im Esszimmer. „Mit seiner Fistelstimme versteht man ihn gar nicht. Ist er immer noch nicht im Stimmbruch?“ Opi ist schon ein ziemlich übler Zeitgenosse. Rassistisch, homophob, frauenfeindlich, notorisch schlecht gelaunt und absolut schwerhörig, da die Haare, die auf seinem Kopf fehlen, ihm aus den Ohren (und der Nase) kriechen. Obwohl er all das verkörpert, was ich zutiefst verachte, mag ich ihn sehr und verspüre Genugtuung, als ich Linus zerknirschten Gesichtsausdruck sehe, denn die einzige Möglichkeit, meinen Bruder irgendwie zum Schweigen zu bekommen, ist, auf seinen körperlichen Entwicklungsrückstand hinzuweisen. Ich präsentiere Linus meinen ausgestreckten Mittelfinger, als meine Mutter theatralisch mit einem Glöckchen läutet und so nach und nach auch die anderen üblichen Verdächtigen eintrudeln und auf den ihnen zugewiesenen Stühlen Platz nehmen. „Hirschrücken auf Petersilienwurzelpüree mit Romanesco und Portweinsauce“, verkündet sie feierlich und wird dabei mit den unumgänglichen Höflichkeits-Ahs und Ohs begleitet, als wäre uns das Jesuskind höchstpersönlich erschienen. Nur die Zwillinge Phil und Paul rümpfen – wie es sich für Vierjährige gehört – die Nasen, als das tote Tier, gebettet auf einem Silbertablett, vor ihnen abgestellt wird. Ich lasse den Blick durch die Runde schweifen und nehme mir fest vor, niemals eine Familie zu gründen und mit achtzehn auf Nimmerwiedersehen auszuwandern. Diese ganze Veranstaltung ist eine einzige Farce. Meine Eltern sitzen, so weit wie möglich voneinander entfernt, am jeweiligen Kopfende der Tafel. Beide schützend flankiert vom eigenen Clan. Omi und Opi an der Seite meiner Mutter. Oma und Onkel Robert neben meinem Vater. Das einzige, was alle vereint, sind diese hässlichen, kratzenden Weihnachtspullover, die Oma schon vor Jahren gestrickt hat, und die jeder brav zu Weihnachten trägt, nur um sich nicht anhören zu müssen, wie wenig man doch ihre Arbeit schätze, und bald würde sie ihrem geliebten Ehemann – Gott hab ihn selig – ins Grab folgen und wäre nicht mehr da, und dann würden es alle bitter bereuen, ihr nicht diesen kleinen Gefallen getan zu haben. Nur ich boykottiere heute dieses ungeschriebene Weihnachtsfamiliengesetz und sitze in einem alten Beastie-Boys-TShirt, welches einst meinem Vater gehört hat(Gerüchten zufolge war er früher wohl richtig cool drauf, aber das muss lange vor meiner Zeit gewesen sein), und schlabberiger Wohlfühlhose mit Gummibund am Tisch. Und Tristan. Der so einen Pullinicht besitzt, weil er nicht Teil dieser Familie ist, aber trotzdem Weihnachten mit uns verbringen muss. Und dem es offensichtlich egal ist, dass es jetzt Essen gibt, denn sein Platz ist leer. Mit halbem Ohr höre ich, wie Tante Dana und Steve schon wieder über ihn reden. Sie regt sich auf, dass er seinen Sohn nicht im Griff hat, und Steve entgleist tatsächlich für einen kurzen Moment sein stets poliertes und aufgesetztes Zahnarztlächeln. Zufrieden beobachte ich, wie Tristan, ohne überhaupt anwesend zu sein, die sonst so perfekte Welt der beiden aus den Angeln hebt. Er kassiert prompt ein paar Sympathiepunkte dafür. Bislang ist sein Kontostand, was das betrifft, ziemlich niedrig; fast schon im Dispo. In dem Moment läutet die Türglocke. Meine Mutter kippt ihren Ich-weiß-nicht-wievielten-Prosecco hinunter und will schon aufspringen, doch ich komme ihr zuvor. Jede Chance diesen Tisch zu verlassen, muss ich nutzen. „Ach du“, entfährt es mir, als ich die schwere Haustür aufreiße und Tristan davor steht. Er mustert mich kurz. „Ist es nicht ein bisschen zu früh für Koks?“ Ich sehe ihn nur verständnislos an. „Ich habe wirklich nicht die geringste Ahnung, was du mir damit sagen willst, aber eines ist sicher … in dieser Familie ist es nie zu früh für Koks.“ Kaum ist unser kurzer Wortwechsel vorüber, stülpt er sich seine Kopfhörer wieder auf, folgt mir missmutig ins Esszimmer und bleibt unschlüssig hinter dem einzig freien Stuhl neben seinem Vater stehen. „Nimm die Dinger von den Ohren!“, zischt Steve ihn ungehalten an und reißt ihm die Kopfhörer herunter. „ Und sag gefälligst Hallo, Tristan!“ „Gefälligst Hallo, Tristan“, murmelte dieser und wendet sich an Linus. „Du sitzt auf meinem Platz.“ Tristans Blick sorgt dafür, dass Linus augenblicklich auf den Stuhl neben Steve rutscht. Sobald das Essen auf den Tellern landet, verschwinden die Zwillinge unter dem Tisch, und ihre Schwester Charlie verschränkt die Arme. „Das esse ich nicht“, verkündet sie. „Charlotte, du weißt gar nicht, wie gut es dir geht und wie privilegiert du bist. Millionen Kinder auf dieser Welt müssen Hunger leiden“, erklärt ihr Tante Dana – selbst kinderlos und dürr wie ein alter Klepper. „Die können meins gerne haben.“ Lustlos stochert sie mit der Gabel darin herum. „Was ist das noch mal für ein Zeug?“, frage ich in die Runde und spieße das totgekochte Gemüse auf, als könne ich ihm damit weitere Schmerzen zufügen. „Romanesco. Eine Mischung aus Brokkoli und Blumenkohl und sehr gesund“, antwortet Steve Mister Allwissend. Am liebsten hätte ich auch ihn mit meiner Gabel aufgespießt. „Kann sich jemand eine schlimmere Fusion vorstellen als die zwischen Blumenkohl und Brokkoli?“ Ich schiebe das Grünzeug an den Tellerrand. „Definitiv.“ Tristan sieht auffällig zwischen Tante Dana und Steve hin und her. Wo er recht hat, hat er recht. Jeder einzeln für sich ist schon widerlich, aber als die beiden vor etwas mehr als einem Jahr zusammengekommen sind, haben sie sich nicht gegenseitig neutralisiert, sondern in ihrer Unerträglichkeit potenziert. Ich grinse breit, kicke aber trotzdem unterm Tisch gegen Tristans Schienbein. Meine Mutter wirkt, als hätte sie zur Beruhigung mal wieder Linus Ritalin geschluckt, und überhört anscheinend das allgemeine Genöle über ihr Festtagsessen. Sie macht den Eindruck, als sei sie mit ihren Gedanken ganz woanders, schnappt sich die sauteure High-End-Spiegelreflexkamera und fotografiert ihren sorgfältig angerichteten Teller. „Muss das sein, Laura?“, fragt mein Vater vorwurfsvoll. „Herrgott, Michael! Kritisiere ich, dass du immer nur an deine Arbeit denkst?“ „Das ist nicht das Gleiche. Deinen Bloggerschwachsinn kannst du wohl kaum als Arbeit bezeichnen und ich finde, du könntest wenigstens Weihnachten mal damit aufhören.“ Der Prosecco ist mittlerweile leer, also trinkt meine Mutter ihren Rotwein auf ex, füllt sich neuen nach und bedenkt ihren Ehemann mit dem feindseligsten Blick, den ich je an ihr beobachtet habe. Tante Dana bekommt Schnappatmung. „Laura verdient mit ihrem “Bloggerschwachsinn« weit mehr als du, selbst nachdem du die «Geschäftsessen« mit deiner kleinen, schlampigen Sekretärin von der Steuer abgesetzt hast«, kontert sie gegen ihren Schwager. Egal, wie selbstgefällig sie sonst ist, in diesem Moment mag ich sie glatt. Ein bisschen. Meine Eltern sind ein Paradebeispiel dafür, dass Erfolg nicht glücklich macht. Seit meine Mutter die ungekrönte Backqueen unter den Bloggern ist, dreht sich bei ihr alles nur noch um backen, kochen, fotografieren und networking. Sie wird dabei immer dünner – meine Hosen dafür immer enger. „Du solltest dich nicht in Dinge einmischen, die dich wahrlich nichts angehen“, ergreift Oma Partei für ihren Sohn. „Sag doch auch mal was, Robert!“ Onkel Robert, überrascht davon, in diese Sache mit hineingezogen zu werden, verschluckt sich an einem Stück Hirsch. „Das war ja klar“, gibt Oma keine Ruhe. „Ständig hältst du dich aus allem heraus. Du sagst ja nicht mal etwas dazu, dass deine Kinder wie die Wilden unterm Tisch lümmeln und keine Manieren haben.“ „Jetzt ist aber gut!“, mischt sich Janet ein. „Hör auf, ständig an meinem Mann und unseren Kindern herumzumeckern!“ „Mekka? Was ist schon wieder mit Mekka?“, brüllt Opi – schwerhörig wie immer. „Überall diese Flüchtlinge. Ich sag euch was, ihr werdet euch noch wundern.“ Drohend fuchtelt er mit erhobenem Zeigefinger. „In 10 Jahren wird jeder erschossen, der mittags im Einkaufszentrum nicht pünktlich gen Mekka betet.“ Omi verdreht die Augen. „Geht das schon wieder los“, stöhnt sie. „Kannst du nicht mal an den Feiertagen aufhören zu zetern? Du warst doch auch mal Flüchtling. Hast du das vergessen?“ „Das ist etwas völlig anderes. Ich war Vertriebener. Das kannst du gar nicht vergleichen.“ Das Baby fängt an zu schreien. Kurz nach seiner Geburt hatte ich zwar erfahren, wie es heißt, aber den Namen schnell wieder vergessen, da es seitdem von allen nur noch Baby genannt wird. Wenigstens weiß ich, dass es ein Mädchen ist. Janet macht sich erst gar nicht die Mühe, es zu beruhigen, und packt ihre Brüste aus. Am Tisch. Direkt neben mir. Tristan, Linus und Steve klappen im gleichen Moment die Münder auf und starren alle drei ungeniert auf ihren prallen Busen. Völlig beseelt stillt diese ihr Kind und seufzt. „Ach, ist das schön, solange sie noch keine Zähne haben.“ Ich kann mir absolut nicht vorstellen, was daran schön sein soll. Kinder stehen jedenfalls nicht auf meinem Lebensplan. Linus gluckst. „Dann kannst du ja Oma stillen. Deren Zähne stehen immer in einem Glas auf dem Nachttisch.“ Ich versuche ihn unter dem Tisch zu treten, aber meine Beine sind zu kurz. Tristan übernimmt für mich und verpasst Linus einen Hieb gegen den Hinterkopf. Ich lächle. „Danke.“ Er lächelt zurück. „Immer gerne.“ Er hat ein schönes Lächeln, und ich höre auf, die ausufernden Tischgespräche ringsum zu verfolgen. Wenn auch nur kurz. Denn es fällt mir ziemlich schwer auszublenden, dass Omi und Opi sich anschreien. Die beiden reden in vielerlei Hinsicht auf unterschiedlichen Frequenzen … er nimmt keine hohen Töne mehr wahr und sie keine tiefen. Ich glaube ja, das ist reiner Eigenschutz und ein Grund, warum diese Ehe immer noch hält. Abgesehen von ihrer Schwerhörigkeit haben sie nämlich nicht viel gemeinsam, und in den seltenen Momenten, in denen sie überlegen, zusammen etwas Schönes zu unternehmen, denkt er dabei daran, sich eine Monstertruckshow im Fernsehen reinzuziehen, und sie an einen Tanzkurs. Aber im Vergleich zu meinen Eltern, die sich gerade eisig anschweigen, sind die beiden ein Herz und eine Seele. Ich drücke mein Püree auf dem Teller platt und betrachte meine Familie, als würde ich „Das letzte Abendmahl“ analysieren. Mein Vater tippt irgendetwas in sein Handy. Meine Mutter trinkt sich den Abend mit dem nächsten Glas Wein schön. Phil und Paul hocken noch immer unterm Tisch und versuchen allen die Schuhe auszuziehen. Charlie weigert sich weiterhin, ihr Essen auch nur anzurühren. Dana und Steve füttern sich gegenseitig mit Romanesco – einfach widerlich. Linus Augen kleben nach wie vor an Janets Busen. Opi tropft Bratensoße vom Kinn. Unser Kater kotzt Tannennadeln aufs blank polierte Parkett. Und Tristan … Tristan mustert mich. Ich spüre, dass ich rot werde, starre auf meinen Teller und versuche krampfhaft herauszufinden, was davon zu genießen ist. Oma hüstelt verlegen in die aufkommende Stille. „Und, Charlotte, wie gefällt dir denn eigentlich die Schule?“, fragt sie meine achtjährige Cousine. „Schule ist scheiße. Was gibt es zum Nachtisch?“ Meine Mutter fühlt sich scheinbar angesprochen, springt hektisch auf und reißt dabei fast ihr Kristallweinglas um. „Waffeln mit gebratenen Bananen auf La-Reunion -Vanilleeis und Karamellsauce“, lallt sie leicht und fängt hektisch an den Tisch abzuräumen. Die Zwillinge krabbeln unter dem Tisch hervor und krakeelen. „Wir wollen Negerküsse, wir wollen Negerküsse.“ Steve schüttelt den Kopf. „Hättet ihr vielleicht die Güte, euren Kindern zu erklären, dass Negerkuss rassistisch und politisch inkorrekt ist!“, echauffiert er sich und bläht seine Nasenlöcher wie Nüstern. Onkel Robert sieht ihn desinteressiert an und spült sich den zähen Hirsch mit Rotwein aus den Zähnen. „Also wirklich, Robert“, mischt sich nun Dana ein. „Bringt ihnen doch gleich das Wort Mohrenkopf bei. Unglaublich, einfach unglaublich. Und das im 21. Jahrhundert.“ „Mohrenkopf, Mohrenkopf“, rufen die Zwillinge und springen auf und ab. „Tja, Dana, das ist jetzt wohl nicht mehr nötig … das hast du soeben übernommen.“ Janet klopft dem Baby so lange auf den Rücken, bis es rülpst. Das ist mein Signal. Keine Sekunde länger halte ich es mit dieser Familie an einem Tisch aus, und zeitgleich mit meiner Oma – die sich geräuschvoll von ihrem Stuhl erhebt – stehe ich auf, und wir folgen meiner Mutter in die Küche. Ich will gerade die dreckigen Teller im Geschirrspüler versenken, doch Oma reißt sie mir aus der Hand und fängt an, mit einem nassen Lappen darüber zu wischen. Meine Mutter sieht sie ratlos an. „Was, um Himmels Willen, machst du da?“ „Ich mache das Geschirr sauber, bevor es in den Geschirrspüler kommt.“ „Und warum?“ „Damit es richtig sauber wird.“ Meine Mutter – kurz vor einem Nervenzusammenbruch – atmet tief ein und aus und versucht sich mit einem weiteren Glas Wein zu beruhigen. „Ich weiß wirklich nicht, wie ich das sonst jeden Tag ohne dich schaffe.“ „Ja, das weiß ich auch nicht“, sagt Oma und schrubbt die Teller, als hinge ihr Leben davon ab. Jedes Mal, wenn die beiden in den letzten Tagen aufeinander getroffen sind, hat es gewaltig geknallt. Meine Oma macht ihrer Schwiegertochter das Leben schwer, so oft es ihr möglich ist, und kritisiert permanent an ihr herum. Und da meine Mutter im Moment eine ziemlich kurze Zündschnur hat, verzichte ich lieber darauf, dem Verlauf des Gesprächs zu folgen, und verziehe mich ins Wohnzimmer, fläze mich in den Sessel und zappe mich durch das grottenschlechte Heiligabendfernsehprogramm. Vor lauter Verzweiflung bleibe ich beim nächstbesten Homeshoppingsender hängen. Tristan gesellt sich zu mir und lässt sich aufs Sofa fallen. „Na, auch keinen Bock mehr bei den Körperweltenanwärtern rumzuhängen?“ Ich ignoriere ihn und tue so, als würde ich die Nicer-Dicer-Werbesendung wahnsinnig spannend finden. „Warum nennen eigentlich alle deine eine Großmutter Oma und die andere Omi?“ „Irgendwie müssen wir sie ja auseinanderhalten“, antworte ich, ohne den Blick vom Bildschirm zu lösen. „Achso, und ich dachte, ihr mögt die eine mehr als die andere.“ „Ja… das auch.“
Da er sich die Kopfhörer wieder aufsetzt, schließe ich daraus, dass unsere Unterhaltung beendet ist. Nach einer Weile zieht er umständlich ein Notizheft aus seiner Gesäßtasche und kritzelt darin herum. Manchmal sieht er mich dabei an. Aber immer wenn er den Kopf senkt, nutze ich die Gelegenheit und beobachte ihn. Vor zwei Tagen fand ich ihn noch wahnsinnig unattraktiv. Blonde Jungs waren noch nie mein Fall, und schon gar nicht dieser James-Dean-Verschnitt für Arme. Aber wenn ich ihn jetzt so heimlich und verstohlen betrachte, muss ich gestehen… er hat etwas. Irgendwas besonderes. Völlig vertieft blickt er auf sein Heft und eine winzige Falte bildet sich zwischen den Augen. Trotzdem umspielt seine Lippen dieses kleine Lächeln. Das hat mir an ihm schon vom ersten Tag an gefallen… diese leicht nach oben geschwungenen Mundwinkel. Er sieht zu mir und ich schaue schnell weg und konzentriere mich wieder auf die Dauerwerbesendung. Ich stehe ganz kurz davor, zum Telefon zu greifen und dieses Wunderding zum Wenn-Sie-Jetzt-Gleich-Sofort-Bestellen-Super-Duper-Vorteilsangebot zu ordern, als es an der Haustür klingelt. Im Esszimmer herrscht immer noch Highlife, alle brüllen durcheinander und werfen sich Liebenswürdigkeiten an den Kopf, einer der Zwillinge – keine Ahnung welcher – heult, und so schlurfe ich zur Tür. Als ich sehe, wer davor steht, macht mein Herz einen kleinen Hüpfer. Niklas von gegenüber mit seinen Eltern. „Hallo und fröhliche Weihnachten“, wünschen sie in harmonischer Eintracht und strahlen mit ihrem beleuchteten Haus im Hintergrund um die Wette. „Oh. Hi“, bringe ich nur krächzend zustande und rufe nach meiner Mutter. Sie torkelt aus der Küche, richtet sich kurz das Haar, setzt ihr künstliches Lächeln auf und begrüßt unsere Nachbarn übertrieben freundlich. Ich ziehe mich zurück, setze mich auf die unterste Treppenstufe und schmachte Niklas – wie immer – aus der Ferne an. Er ist eine Klasse über mir und… ich hole tief Luft… einfach nur süß. Der perfekte Junge von nebenan. Dunkle Haare, gewinnendes Lächeln, sportlich… Nur leider bin ich für ihn anscheinend nicht the girl next door, denn er würdigt mich schon seit Jahren keines Blickes mehr. Wahrscheinlich steht er einfach nicht auf Rothaarige in Schlabberhosen. Manchmal frage ich mich wirklich, warum ich die einzige in unserer Familie mit roten Haaren und Sommersprossen bin. Vielleicht bin ich ja doch adoptiert… ich gebe jedenfalls die Hoffnung, was das angeht, noch nicht ganz auf. Tristan schiebt sich in mein Blickfeld und unterbricht den Sichtkontakt auf meinen heimlichen Schwarm. „Er hat dir nur Hallo gesagt und keinen Heiratsantrag gemacht“, spottet er und setzt sich neben mich. „Wieso bist du nur so ein Blödmann, du Idiot?“ „Du solltest dich entscheiden. Bin ich nun ein Idiot oder ein Blödmann?“ Ich versuche Tristan, so gut es geht, zu ignorieren und scanne Niklas von oben bis unten mit den Augen ab. „Was magst du an ihm?“ „Seine Haare“, rutscht es mir heraus, und ich bereue augenblicklich, dass ich mal wieder nicht nachgedacht habe, bevor ich den Mund aufmache. „Seine Haare? Wusstest du eigentlich, dass Haarausfall vererbt wird?“ Ich zucke gleichgültig mit den Schultern. „Und jetzt sieh dir mal ganz genau seinen Vater an!“Ich sehe erst Niklas an und dann seinen Vater und dann Tristan. Er nickt nur und grinst dämlich. „Ich habe mich entschieden. Du bist beides. Ein Blödmann und ein Idiot. Als ob das eine das andere ausschließen würde…“ Angepisst stapfe ich die Treppe hoch, verschwinde in meinem Zimmer und beschließe, erst morgen früh, wenn es endlich Geschenke gibt, wieder unten aufzutauchen. Vorher würde es sich eh nicht lohnen und wirklich vermissen würde mich auch niemand. Frustriert von meiner Familie und diesem Abend klettere ich in mein Hochbett, ziehe mir die Decke über den Kopf und ertappe mich bei dem Gedanken, dass Steve – im Gegensatz zu Niklas Vater – immer noch sehr volles Haar hat. Und dass Tristan sich bisher zwar wie ein Idiot verhalten hat, aber möglicherweise gar keiner ist.
Rauch kriecht mir in die Nase und ich schrecke hoch. Es ist tiefste Nacht, eiskalt, und in meinem Zimmer brennt irgendetwas. Panisch knipse ich meine kleine Lampe an und entdecke Tristan. Er sitzt am geöffneten Fenster auf dem Fensterbrett und raucht eine Zigarette. Unser Kater hat sich in seinem Schoß zusammengerollt und schnurrt zufrieden. Merkwürdig… er kann Fremde sonst eigentlich nicht leiden und hat schon für so manche blutige Hand gesorgt. „Was machst du da?“, frage ich in die Stille. „Ich kann nicht schlafen und hatte die Wahl zwischen masturbieren oder rauchen.“ „Ich weiß gerade wirklich nicht, was ich schlimmer finde… dieser Gestank in meinem Zimmer oder Wichsflecken auf meiner Decke.“ Ich rapple mich auf und ziehe mir meine Jogginghose an. Fröstelnd setze ich mich zu Tristan und dem Kater aufs Fensterbrett. Eine Zeit lang schweigen wir uns an, bis er endlich seine Kippe wegschnipst. „Was hörst du eigentlich für Musik?“, frage ich und deute auf seine Kopfhörer. „Gar keine.“ „Wie, gar keine? Was dann? Hörbücher? Meditationsklänge? Selbsthilfeprogramme zur Rauchentwöhnung?“ „Ich höre gar nichts.“ „Warum hast du dann immer diese Teile auf.“ „Damit ich meine Ruhe habe und mich niemand vollquatscht.“ „Das hat dann diesmal wohl nicht funktioniert.“ „Anscheinend nicht.“ Aber sein Lächeln suggeriert mir, dass es ihn gerade nicht zu sehr nervt, von mir vollgequatscht zu werden. »Es tut mir leid, dass du Weihnachten bei uns verbringen musst. Ganz ehrlich. Meine Familie ist ziemlich… gestört. „Ist nicht weiter tragisch. Weihnachten ist sowieso scheiße.“ „Warum?“ „Weil man nie das bekommt, was man sich wünscht.“ Er starrt hinaus in die kalte Nacht. „Wärst du jetzt lieber bei deiner Mutter?“ „Nicht wirklich. Sie hat sich eine neue Familie zugelegt, ist schwanger und offenbar habe ich sie so sehr zur Weißglut getrieben, dass sie es für das Beste hielt, ich würde Weihnachten dieses Jahr bei meinem Vater verbringen. Na ja… und er… er hat sich Dana zugelegt.“ Er schüttelt sich kurz, als ob er ein Bild aus seinem Kopf vertreiben wolle. „So richtig gehöre ich im Moment wohl nirgendwo dazu.“ Ich springe auf und krame aus meinem Kleiderschrank eine große Einkaufstüte. Gestern war ich noch mit Opi im Shoppingcenter. Er hat für Omi auf den letzten Drücker eine Engelbert-Humperdinck-Schallplatte besorgt und ich etwas für Tristan. „Hier.“ Ich drücke ihm die Tüte in die Hand. „Ich weiß, es ist mit Sicherheit nichts, was du dir wünschst, aber…“ Er sieht mich überrascht an. „Du… du hast ein Geschenk für mich?“ „Ja, und jetzt mach nicht so ein großes Ding daraus… es ist wirklich nichts Besonderes.“ Ganz langsam zieht er die zwei hässlichsten Weihnachtspullover heraus, die ich auftreiben konnte. „Such dir einen aus. Der andere ist für mich.“ „Soll das heißen…“ „Genau. Herzlich willkommen in meiner kranken Familie.“ Er lacht, und irgendwie erwärmt es mein Herz. „Danke… dann bist du jetzt also so was wie meine Cousine.“ Ich verziehe das Gesicht. „Uuuh… ich finde, das klingt irgendwie eklig.“ Er kommt mir ganz nah und sieht mir direkt in die Augen. „Und ich finde, das klingt irgendwie heiß.“ Er hat wirklich sehr schöne Augen, und für diese Augenbrauen würde ich glatt töten. Ich muss mir meine jeden Morgen mühsam schminken und sie sehen danach nicht annähernd so gut aus wie seine. Ich schlucke nervös. „Ich habe auch etwas für dich“, flüstert er, ohne den Blick von mir zu wenden. Ich schlucke erneut und konzentriere mich auf seine schön geschwungenen Lippen. Vorsichtig zieht er ein Blatt Papier aus seinem Notizbuch und reicht es mir. Mein Blick wandert von seinem Mund zu dem Bild in meiner Hand. „Das… das… bin ja… ich“, stottere ich zusammen und betrachte ungläubig die Bleistiftzeichnung. Er nickt nur leicht. „Nie im Leben bin ich so hübsch“, platzt es aus mir heraus. Doch er verdreht nur die Augen und lacht. „Und trotzdem hast du dich gleich erkannt.“ „Ja, aber nur wegen des Beastie-Boys-T-Shirts.“ Er wird wieder ernst und greift nach meiner Hand. „Frohe Weihnachten, Alice.“ Ich zittere und weiß genau, dass es nicht an der kalten Luft liegt, die von draußen in mein Zimmer strömt. „Frohe Weihnachten, Tristan.“ Irritiert von meinen aufkeimenden Gefühlen und unsicher was ich machen soll, räuspere ich mich verlegen. „Ähm, ich muss mal… ins Bad“, nuschle ich und verlasse fluchtartig das Zimmer. Nervös quetsche ich mir Zahnpasta auf meine Zahnbürste, werfe währenddessen einen Blick in den Spiegel – und erstarre. Meine Nase ist voller Puderzucker. Von den verdammten Waffeln. Und kein Mensch hat mich den gesamten Abend über darauf hingewiesen, dass ich wie ein beschmattertes Kleinkind herumlaufe. In diesem Moment erst checke ich Tristans Anspielung auf meine angebliche Kokainsucht und klatsche mir die Hand vor die Stirn. Ich Depp ich.

Über die Autorin

1980 in Ostberlin geboren, erhielt Anna Rosina Fischer im Lesen und Schreiben stets die Note Eins. Irritiert durch die ein oder andere Rechtschreibreform, ist ihr davon allerdings nichts mehr anzumerken. Nach einer missglückten Leistungssportkarriere im Eiskunstlauf gönnte sie sich eine ausgiebige Erholungsphase, bekam zu Entspannungszwecken zwei Kinder, heiratete (in genau dieser Reihenfolge) und schrieb anderthalb Bücher. Den Großteil ihres ersten Romans verfasste sie handschriftlich im Wartezimmer (nicht auf der Couch) einer Psychologin, da in ihrer sonnigen Wohnung im hippen Berlin-Friedrichshain die Notebooktastatur permanent von einer übergewichtigen Katze belegt ist.

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