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Adventsgeschichte 3. Dezember

Durchgebrannt

von Anna Buchwinkel

Es war Heiligabend, als Quentin Finkenwinkel seinen Verstand verlor. Verlieren ist im Grunde nicht der richtige Ausdruck, denn einen Verstand verliert man ja nicht, wie man einen Schlüssel aus einer löchrigen Jackentasche verliert. Nein, Quentins Verstand brannte durch – und zwar an einen Traumstrand. Aber ich greife vor.
Die Geschichte beginnt am Nachmittag, und zwar knapp eineinhalb Stunden vor Ladenschluss in einem Einkaufszentrum. Quentins Verstand war zu diesem Zeitpunkt bereits ziemlich angespannt, denn er hätte die Geschenke am liebsten schon vor einem halben Jahr gekauft – aber leider hatte Quentins Schwester Trudi diesem die Liste mit den Sachen, die er für die Familie besorgen sollte, erst um kurz vor zwölf gegeben. Als Verstand war es natürlich seine Aufgabe dafür zu sorgen, dass Quentin seinen üblichen Beitrag zu einem harmonischen Weihnachtsfest leistete, und so hatte er gute Miene zum bösen Spiel gemacht und ihn ins Einkaufszentrum gescheucht.
So irrte Quentin nun hektisch durch die Gänge – verloren inmitten umherströmender Menschenmassen und blinkender Weihnachtsbeleuchtung – und war den Bazillen diverser verschnupfter Mitmenschen und dem blechernen Getöse der Lautsprecher ausgesetzt, die Weihnachtslieder und Ansagen für die aktuellsten Angebote herausplärrten. Bei den Haushaltswaren walzte ihm eine dicke Dame mit Pelzkragen über den Fuß und beschwerte sich lauthals darüber, dass er im Weg stand. Sein Verstand riet ihm, höflich den Mund zu halten und keinen Aufruhr zu provozieren. In der Spielwarenabteilung lieferte Quentin sich dann einen Stellungskampf mit einem kleinen Mädchen, dass sich in den Kopf gesetzt hatte, ihm das letzte rosa Plüschkrokodil mit grünen Punkten zu entwinden, das für seine kleine Nichte gedacht war. Das Mädchen zerrte an dessen Schwanz, sodass Quentin mit all seinen Tüten und Taschen ins Wanken geriet und als er nicht nachgab, fing die Kleine lauthals an zu kreischen. Quentins Verstand gab ihm in einem Anflug von Panik die Order, sich davonzumachen, bevor die besorgte Mutter auftauchte. Und so riss Quentin sich samt Krokodil los und tat genau das. Das Geschrei verfolgte ihn noch drei Gänge weiter und Quentin brach der Schweiß aus.
Zu guter Letzt schob er sich vollgepackt mit einer Flut anderer verzweifelt dreinblickender Panik-Weihnachtseinkäufer in die Multimedia-Abteilung, wo ihn Wände aus flimmernden Bildschirmen und eine Kakofonie aus Piepsen und Sirren empfing. Nach einigem Suchen fand er die neue PlayStation, die er für seinen Neffen kaufen sollte, musste allerdings feststellen, dass die gewünschte Sonderedition mit inbegriffenen Spiel schon ausverkauft war. Sein Verstand stöhnte, doch die einzig verantwortungsvolle Alternative war jetzt, einen Verkäufer zu einer altersgerechten Auswahl der einzelnen Spiele zu befragen. Also klemmte Quentin sich den Karton des Basismodells unter den Arm und reihte sich in die Schlange vor dem Servicepoint ein. Und dort wartete er, dem Lärm, der Hektik und den unablässig leiernden Weihnachtsliedern hilflos ausgeliefert.
Dreiundzwanzig lange Minuten des Wartens später lagen bei seinem Verstand die Synapsen blank. Der wollte nur noch eins: hier raus. Aber selbst, wenn er Quentin gesagt hätte, dass sie einfach gehen sollten, stand als Höhepunkt des Grauens ja noch die obligatorische Weihnachtsfeier mit der Familie an. Alleine bei dem Gedanken daran drehte sich dem Verstand alles um. Wie sollte er das bloß überstehen? Aufgesetztes Lächeln, Geschenke, Völlerei, Fotos von vorgegaukelter Familienidylle, Konsum von was auch immer für ein glückliches Leben als notwendig erachtet wurde. Das ganze Fest, ach was, das ganze Leben hatte sich tagein, tagaus nach den anderen und ihren Vorstellungen zu richten – es war nicht zum Aushalten! Der arme Verstand sehnte sich nach Stille, einfach nur einem Augenblick, in dem keine Erwartungen an ihn gestellt wurden, in dem er keinen Konventionen zu folgen und keine Konsequenzen zu bedenken hatte; in dem er die Verantwortung für Quentin und dessen Verpflichtungen einfach los wäre …
Quentin, der von all dem nichts bewusst mitbekam, fühlte indessen, wie sich ein grässlicher Kopfschmerz hinter seinen Schläfen zusammenbraute und ihm schier das Hirn zerreißen wollte. Ein leichter Schwindel befiel ihn, alles verschwamm und er musste immer wieder die Augen zukneifen, damit die Welt um ihn herum nicht aus dem Gleichgewicht geriet. Sein Blick klammerte sich an das Bild eines Traumstrandes, der riesengroß und in Ultra High Definition auf einem Curved TV zu sehen war. Eine Oase des Friedens inmitten des blinkenden Irrsinns. Er saugte sich daran fest – fast so, als würde er die Sehnsucht seines Verstandes spüren.
Auf einmal rückte alles andere in weite Ferne: die Menschenschlange, der Servicepoint, die Geschenkeliste, das Einkaufszentrum, Weihnachten, die ganze Welt. Der Verstand frohlockte. Seichte Brandung spülte an den menschenleeren Strand. Das Meer strahlte türkisblau und das sacht schwingende Grün der Palmen hatte etwas angenehm Beruhigendes. Der Verstand spürte förmlich die Wärme des Sandes, das Strahlen der Sonne und eine sanfte Brise, die vom Meer herüberzog. Er lauschte dem Rauschen der brechenden Wellen, und ihr unaufgeregter Rhythmus löste nach und nach seine Anspannung. Jeder Impuls, irgendetwas zu bedenken, verlor sich bereits im Ansatz, und der Verstand wurde von einer ungeahnten Leichtigkeit erfasst. Die vorüberziehende Brise lockte ihn, sich ihr anzuschließen, wisperte von Freiheit und dem Paradies, trug das Versprechen mit sich, ganz darin aufzugehen. Für einen Moment noch zögerte der Verstand, doch dann lief der Slogan „Machen Sie Urlaub vom Selbst!“ unten durchs Bild – und da ließ er endgültig los …
Quentin spürte einen Ruck, und auf einmal befand er sich nicht mehr am Strand, sondern wieder in der Schlange am Servicepoint der Multimedia-Abteilung – jetzt ohne seinen Verstand, aber das war ihm natürlich nicht klar. Leute drängelten durch die Gänge, die Luft war stickig und statt Wellenrauschen hörte er eine Durchsage: „Fünfunddreißig bitte zweiundvierzig, fünfunddreißig bitte.“ Quentin starrte auf den Karton mit der PlayStation unter seinem Arm, bis ein Schnipsen ihn dazu veranlasste aufzuschauen.
„Haaallo, Sie da! Sie sind dran.“ Der Verkäufer am Servicepoint winkte ihn an den Tresen.
Quentin sah ihn verständnislos an. Hinter ihm erklang ein Murren und jemand schimpfte: „Unglaublich. Andere Leute haben Besseres zu tun, als hier am Heiligen Abend Ihretwegen zu warten.“
„Was ist denn jetzt?“, meldete sich der Verkäufer erneut.
Als Quentin wieder nicht reagierte, schob der nächste Kunde ihn kurzerhand zur Seite und drängte sich auf seinen Platz.
Quentin stand im Gang wie ein gestrandetes Stück Treibholz und hatte Mühe, aus dem Meer in seinem Kopf einen Gedanken zu fischen, während um ihn herum der zielstrebige Strom der Einkäufer nicht abriss und ihn immer wieder jemand anrempelte. Er schaute an sich herunter, von den Schachteln auf das rosa Stoffkrokodil unter seinem Arm; dann wieder hoch auf den Traumstrand, den er gerade noch so deutlich gespürt hatte. Doch das süße Gefühl der Leichtigkeit war zusammen mit der wohltuenden Brise verflogen. Auf einmal schien wieder alles schwer – vor allem all die Sachen, die an seinen Armen zerrten. Er betrachtete die Unmengen an Tüten, Päckchen und den Karton mit der Playstation unter seinem Arm. Das alles kam ihm völlig absurd vor. Eine Vase für Tante Elvira? Die verschönte sich ihr Dasein als alte Jungfer doch überwiegend auf Mallorca, und bei ihrem Mundgeruch verwelkten sowieso alle Blumen. Und was um Himmels Willen sollte Mutti mit noch mehr Porzellanengeln? Vor seinem inneren Auge tauchte ihre dunkle Eichenholzschrankwand auf, in der sich Putten und Engel in allen Formen und Größen ein Stelldichein gaben – und Muttis düsterer Gesichtsausdruck, wenn sie die Porzellanarmee abstauben musste.
Kurzerhand ließ Quentin alles fallen und fühlte sich gleich viel besser. Dann sah er das rosa Plüschkrokodil, das ihn aus dem Haufen von Tüten und Kartons heraus mit großen Kulleraugen anschaute und zu flehen schien: „Bitte lass mich nicht hier!“ Das konnte Quentin nur zu gut nachvollziehen, und so hob er es auf, drückte es an sich und ging nach Hause.
Dort angekommen verlockte ihn all der schöne Schnee in seinem Vorgarten ein Schneeschloss zu bauen, dem er Fenster aus Schokolade und Zinnen aus Haselnüssen verpasste. Anschließend kochte er sich eine schöne Tasse Tee, machte es sich in seinem Sessel bequem und las das Buch, das schon seit Wochen auf dem kleinen Beistelltischchen lag.
Irgendwann am Abend bekam Quentin Hunger. Er ging in die Küche und sah dort auf dem Küchentisch sein Handy lautlos blinken. Als er es zur Hand nahm, stellte er fest, dass er in der Zwischenzeit sechs Anrufe verpasst und zwei SMS bekommen hatte.
„Wo steckst du? Das Essen wird kalt!!!“, lautete die erste. Die zweite bestand nur noch aus Ausrufezeichen. Beide waren von Trudi. Da dämmerte ihm, dass ja Heiligabend war und seine Schwester folglich im Haus der Mutter ihr traditionelles Weihnachtsmenü – zähe Gans mit zerkochtem Rotkraut – zubereitet haben musste. Das war zwar keine kulinarische Köstlichkeit, aber immer noch besser als hungern.
Als er gerade zur Tür hinauswollte, sah er das rosa Krokodil auf dem Flurschränkchen liegen, und da fiel ihm ein, dass er ja ansonsten gar keine Geschenke hatte. Also suchte er in Schränken, Schubladen und dem Bad, bis er für jeden etwas Passendes fand. Und so stand er etwa eine halbe Stunde später mit einer großen Kiste vor dem Haus seiner Mutter und klingelte. Seine Schwester Trudi öffnete.
„Wer ist es denn?“, tönte die Stimme von Quentins Mutter aus dem Hintergrund.
Trudi drehte sich um und rief laut: „Ich würde ja sagen Quentin, aber der wäre vor zwei Stunden gekommen. Und er hätte keine Schokoladenflecken auf dem Hemd.“ Sie stemmte die Hände in die Hüften und starrte ihm mit grimmiger Miene entgegen. „Was fällt dir eigentlich ein? Wenn die Kinder nicht auf ihre Geschenke warten würden, könntest du gleich wieder gehen.“ Damit stapfte sie zurück ins Haus und verschwand im Wohnzimmer.
Quentin trat sich im Flur kurzerhand die Schuhe von den Füßen und folgte ihr. Im Wohnzimmer dudelte dieselbe Weihnachts-CD wie jedes Jahr, und der Baum in der Ecke sah seinen Vorgängern zum Verwechseln ähnlich. Leider war der Esstisch schon abgeräumt und bis auf Schwager Klaus hatte sich die Familie bereits zur Sofagarnitur begeben. Im Kamin flackerte ein Gasfeuer, das gemeinsam mit den elektrischen Kerzen am Baum und einem Leuchter auf dem Tisch versuchte, die erdrückende Schwere der Eichenschrankwand aufzulockern. Ebenfalls zur Auflockerung schob sich Tante Elvira gerade eine Edle-Tropfen-Praline in den Mund. Als sie Quentin entdeckte, schloss sie ebenso eilig wie verschämt die Schachtel. Quentin bekam von ihr Jahr für Jahr genau so eine geschenkt – seit er das erste Mal aus Höflichkeit gesagt hatte, sie würden ihm schmecken –, und das, obwohl er gar keinen Alkohol mochte.
„Quentin“, rief seine Mutter, „wo bleibst du denn so lange? Wir haben uns schon Sorgen gemacht. Geht es dir gut?“
„Ich habe Hunger.“
Trudi sah ihn mit verschränkten Armen an. „Essen gab es um sieben.“
Klaus schielte in Richtung seiner Frau, um sicherzugehen, dass sie ihn nicht hören konnte, und murmelte: „Ich habe immer noch was zwischen den Zähnen.“
In diesem Moment kam Quentins vierzehnjähriger Neffe Magnus herein und schaute sofort in Quentins Kiste. „Welches ist denn mein Geschenk?“
Quentin holte eine Tüte aus seinem Karton. Magnus nahm sie entgegen und zog ihren Inhalt heraus. Er riss die Augen auf und sein Gesicht färbte sich so puterrot, dass seine Pickel sich kaum noch von der sonstigen Gesichtsfarbe abhoben. „Der neue Playboy-Kalender? Echt jetzt?“
Trudi riss ihrem Sprössling den Kalender aus der Hand. „Das kann ja wohl nicht wahr sein. Playstation, du Idiot! Nicht Playboy! Mein Gott, Quentin.“
Quentin zuckte unwillkürlich zusammen. „Aber so was gefällt einem doch als Junge in dem Alter.“ Hilfesuchend schaute er zu Klaus. Der grinste und erntete dafür einen strafenden Blick von seiner Frau.
„Dieses … Ding … bekommt unser Junge jedenfalls nicht!“ Trudi ließ den Kalender mit angeekeltem Gesichtsausdruck wieder in Quentins Kiste fallen. „Und jetzt gib ihm schon sein Spiel.“
„Aber damit kann er doch auch spielen.“
„Quentin!“ Trudis Stimme überschlug sich. Magnus schnappte sich den Kalender aus dem Karton, doch Trudi erwischte das andere Ende und zog. „Kommt überhaupt nicht infrage.“
„Mama! Wenn ich schon nicht die Playstation bekomme…“
Trudi gewann das Kräftemessen, rupfte triumphierend die Kalenderblätter heraus und zerriss sie. Dann wandte sie sich an Quentin. „Und du schaffst nächste Woche die Playstation ran.“
„Ach Kinder, jetzt streitet euch doch nicht“, mischte sich Mutti ein. „Es ist schließlich Weihnachten und Quentin hat das sicher nicht mit Absicht gemacht.“
Trudi schnaubte.
„Jetzt trinken wir auf den Schreck erst mal ein Likörchen“, fuhr Mutti fort, „und dann feiern wir schön. Quentin, wo hast du denn den Likör?“
„Oh, ich habe gar keinen“, erwiderte Quentin, der eigentlich jedes Jahr dafür zuständig war, den obligatorischen Marillenlikör mitzubringen. Auf einmal hatte er jedoch eine viel bessere Idee. „Aber wir könnten doch Vatis Weinkeller plündern.“
Seine Mutter riss die Augen auf und sog hörbar die Luft ein. „Vatis Weinkeller?“
Der Weinkeller war eigentlich gar kein Weinkeller, sondern ein großer Kellerschrank, und Vati war seit dreizehn Jahren tot.
„Gute Idee“, meinte Klaus und handelte sich damit wieder einen strengen Blick von Trudi ein.
Mutti zögerte, doch dann schien sie sich durchzuringen. „Ja, wenn ihr wirklich meint.“ Sie bekam ebenfalls einen von Trudis empörten Blicken ab, nahm ihn jedoch gar nicht wahr. „Ich schätze, das könnten wir wirklich.“
Quentin sprang auf und Magnus flitzte bereits in den Flur. Auch Mutti, Klaus und Trudi erhoben sich, und so zog kurz darauf eine kleine Prozession in den Keller und versammelte sich vor dem massiven Mahagonischrank. Der sah aus wie ein großes Geschenk, das geöffnet werden wollte, fand Quentin.
„Hat jemand den Schlüssel?“, fragte Klaus.
Mutti schüttelte den Kopf. „Nein, dieser Schrank war immer Vatis Heiligtum. Einen Schlüssel dazu habe ich nie gesehen.“
Quentin schaute sich um. „Dann brauchen wir ein Brecheisen.“
Mutti sah ihn erneut schockiert an. In diesem Moment drängelte sich Klaus von hinten durch, in der Hand bereits besagtes Brecheisen.
„Das haben wir gleich“, kündigte er an, schob die Metallstange in den Spalt zwischen den Schranktüren und hebelte einmal kräftig. Erst erklang ein Ächzen, dann noch eines, und schließlich barst das Holz.
„Na also, geht doch.“ Klaus wischte sich über die Stirn. Langsam schwang die linke Schranktür auf und es wurden Weinflaschen sichtbar, die in kleinen Weinregalen lagen und vor sich hin staubten. Doch als die Tür ganz auf war, zeigte sich noch etwas ganz anderes: Auf der Innenseite prangte ein riesiges Pin-Up Poster. Es zeigte eine rassige Schönheit, die – nur mit High Heels bekleidet – lasziv an einem schwarzen Oldtimer lehnte. Mutti schlug die Hände vor den Mund.
„Halleluja“, sagten Quentin und Klaus gleichzeitig.
Trudi hielt Magnus die Augen zu. „Schon wieder so ein Schweinskram!“
„Mensch, Mama. Ich bin alt genug“, beschwerte sich Magnus und schüttelte ihre Hand ab.
Quentin hingegen war begeistert. „Warum hat Vati das schöne Bild denn nicht oben aufgehängt? Hier sieht es doch gar keiner.“ Klaus fing an zu lachen und gab ihm ein High Five, während Trudi empört nach Luft schnappte.
In diesem Moment schwang mit einem Quietschen auch die rechte Tür auf. Die untere Hälfte der rechten Schrankseite war ebenfalls mit Wein gefüllt und in der oberen, ja, in der thronte der Rum. Außerdem waren da noch zwei große Bücher, eine Holzschatulle und eine kleine, aber edel aussehende Holzkiste. Diese hatte vorne und oben Fenster, durch die viele dicke, massive, braune Rollen zu sehen waren. Vorne war mittig eine Art Uhr angebracht.
„Eine Bombe!“, kreischte Trudi und schob Klaus vor sich.
Alle erstarrten, nur Klaus ging näher heran. „Das ist ein Humidor“, erklärte er. „Da bewahrt man Zigarren drin auf.“ Er öffnete ihn und zog sich eines der Prachtstücke unter der Nase entlang, wobei er genussvoll einatmete. „Ah, Romeo y Julieta Belicosos.“
Trudi schlug ihm auf den Arm. „Woher weißt du denn so was? Bei uns wird nicht geraucht.“
Während Klaus ihr einen finsteren Blick zuwarf, sah Quentin sie erstaunt an. „Aber wieso denn nicht, wenn Vati uns schon all die guten Zigarren beschert?“
Mutti zog derweil das Buch aus dem Schrank. Es war ein großer Bildband. „Kuba“, las sie vor. „Was hatte Manfred denn mit Kuba zu schaffen?“ Sie klappte das Buch auf. Quentin sah ihr über die Schulter und entdeckte gleich auf der ersten Seite eine handgeschriebene Widmung auf Spanisch, die mit einem großen, geschwungenen Herz verziert war.
In diesem Moment fielen einige Fotos, die irgendwo zwischen den Seiten gesteckt hatten, heraus und segelten auf den Boden. Das oberste zeigte eine – offenbar kubanische – Schönheit vor einem – offenbar kubanischen – Strandrestaurant. Neben ihr stand ein dicklicher weißer Mann mit Sonnenbrille und grinste. Quentin stutzte. „Ist das nicht Vati? Der lacht ja!“
Mutti starrte ihn an und Quentin, dem sein Verstand ja nichts mehr erklärte, fragte sich, was sie heute wohl hatte. Unterdessen bückte Klaus sich schnell nach den Fotos und raffte sie zusammen. Mutti stürzte auf ihn zu, bekam das oberste zu fassen und entriss es ihm. Sie starrte es an und wurde bleich.
„Manfred? Aber das kann doch nicht sein. Der ist doch immer nur mit dem Kegelklub nach Bad…“ Sie verstummte. Dann sah sie auf und bedeutete Klaus, ihr auch die anderen Bilder zu geben.
Er schüttelte den Kopf. „Ich weiß wirklich nicht, ob das –“
„Klaus. Die Bilder!“ Entschlossen streckte Mutti ihre Hand aus. Er händigte sie ihr aus. Schweigend blätterte sie durch die Fotos. Quentin schaute ihr wieder über die Schulter. Die ersten zeigten Vati Manfred, der mit der kubanischen Schönheit unmissverständlich verliebte Blicke austauschte. Auf dem dritten oder vierten war ein Rohbau zu sehen und auf dem Nächsten das glückliche Paar mit einem kleinen Jungen – etwas dunkler als Vati, etwas heller als die Frau.
Vorsichtig nahm Quentin Mutti das Bild aus der Hand und betrachtete es genauer. Der Knirps war eindeutig mit Vatis Knubbelnase gesegnet. Freudestrahlend sah er sich um. „Wir haben einen Bruder! Das ist ja eine tolle Weihnachtsüberraschung.“
Mutti wurde kreidebleich und gab einen erstickten Laut von sich. Trudi legte ihr den Arm um die Schultern und wetterte: „Männer. Denken nur an sich.“ Dabei schaute sie Klaus und Quentin so vorwurfsvoll an, als hätten die beiden die Sachen hier unten deponiert. Dann wies sie mit dem Finger in die Ecke und kommandierte: „Klaus, der Klappstuhl.“
Klaus ballte die Fäuste und seinem Gesichtsausdruck nach verkniff er sich nur mit Mühe eine deftige Erwiderung. Aber er brachte den georderten Klappstuhl und Mutti ließ sich widerstandslos darauf nieder, in den Händen immer noch die Fotos. Sie schluchzte auf. Trudi tätschelte ihren Arm und verteilte weiter böse Blicke. Quentin konnte nicht ganz verstehen, was sie hatten, denn faktisch war ja alles genauso wie die letzten dreizehn Jahre auch.
Derweil durchstöberte Magnus den Schrank. Er nahm das kleinere Kästchen heraus und ließ den Verschluss aufschnappen. „Oh“, sagte er und hielt es den anderen hin.
Quentin griff hinein und zog ein Bündel Geldscheine heraus, dick und lila. 500-Euro-Scheine, und davon nicht zu wenige. „Das ist bestimmt für das neue Haus und Vati wollte es beim nächsten Besuch mitnehmen“, meinte er und blickte sich um. „Wir sollten nach einer Adresse suchen und den beiden das Geld schicken, sonst können sie vielleicht gar nicht fertig bauen.“
Trudi riss Quentin das Geld aus der Hand. „Hast du den Verstand verloren? Vati hat immer nur an uns gedacht, an seine rechtmäßige Familie! An die Enkel, an deren Ausbildung. Das Geld bleibt hier!“
Mit grimmigem Gesichtsausdruck trat Klaus zwischen Quentin und Trudi und baute sich vor seiner Frau auf. „Jetzt reicht’s! Tu bloß nicht so, als würdest du dabei an uns denken! Bei dir geht es doch immer nur um dich.“ Trudi riss die Augen auf und schnappte nach Luft. Einen Augenblick lang starrten die beiden sich an. Klaus gab nicht nach und schließlich biss Trudi sich auf die Lippe und senkte den Blick. Sie legte das Bündel zurück in das Kästchen, widerstrebend, aber auch ein bisschen kleinlaut.
„Manfred hat jedenfalls nicht an uns gedacht, an keinen von uns“, schluchzte Mutti. Plötzlich sprang sie auf, riss Magnus das Kästchen aus der Hand und feuerte es in Richtung Schrank. Dort traf es eine der Rumflaschen, die ins Wanken geriet, stürzte und mit einem Klirren auf dem Boden zerschellte. Überall flogen 500-Euro-Scheine herum. Langsam ließen sie sich in der Rumlache auf dem Boden nieder.
Trudi stürzte hinzu und begann, die Scheine aus der Pfütze zu fischen. Magnus half ihr. Derweil sank Mutti weinend zurück auf den Stuhl.
In diesem Moment knurrte Quentins Magen – laut und vernehmlich. „Ich habe wirklich Hunger“, sagte er.
Klaus sah von Quentin zu den anderen, schließlich zum Rum im Schrank und sagte bestimmt: „Und ich habe Durst. Wir nehmen jetzt Rum mit und gehen wieder nach oben.“ Seiner Frau, die gerade für eine Erwiderung Luft holte, warf er einen warnenden Blick zu.
Trudi stopfte das Geld, das sie inzwischen mit Magnus zusammengesammelt hatte, zurück in das Kästchen. „Das muss getrocknet werden“, grummelte sie und wies dann ihren Sohn an: „Du hilfst Oma.“ Damit rauschte sie davon.
Klaus drückte Quentin zwei Flaschen Rum in die Hand und nahm den Humidor aus dem Schrank. Mutti ließ sich, immer noch schluchzend, von Magnus aufhelfen und so traten sie den Weg zurück ins Wohnzimmer an, wo Trudi schweigend die feuchten 500-Euro-Scheine mit den Klammern der elektrischen Kerzen zum Trocknen an den Weihnachtsbaum hängte. Nina und Tante Elvira hatten ihr UNO-Spiel unterbrochen und schauten fragend in die Runde.
Als erstes schenkte Quentin Mutti einen dreifachen Rum ein, den diese mit zusammengekniffenen Augen herunterkippte.
„Hol mal Eiswürfel und was zum Mischen“, bat Klaus seinem Sohn, der kurz darauf mit einer Magnumflasche Cola und einem mit XXL-Eiswürfeln gefüllten Eimerchen zurückkam. Zur Belohnung verschwand ein Schuss Rum in seiner Cola.
Da Quentins Magen weiterhin nach seinem Recht verlangte, verzog Quentin sich in die Küche und belud einen Teller mit drei Stücken Gans und einer ordentlichen Portion Rotkraut. Außerdem schnappte er sich die Schüssel mit den Klößen und ging dann ins Wohnzimmer zurück. Dort gab niemand einen Mucks von sich – jedenfalls bis auf Quentins knurrenden Magen und ein gelegentliches Schniefen von Mutti. Quentin setzte sich an den Esstisch. Weil kein Besteck mehr auflag, angelte er sich der Einfachheit halber mit der Hand einen Kloß aus der Schüssel. Als Mutti das sah, sprang sie auf, lief in die Küche und kam kurz darauf mit Messer, Gabel und einem großen Löffel zurück, die sie vor Quentin auf den Tisch warf. Dann stützte sie sich mit den Händen auf die Tischplatte, ließ den Kopf sinken und schluchzte wieder laut.
„Was ist denn nur los?“, fragte Tante Elvira.
Mutti fuhr herum. „Manfred hat mich betrogen, das ist los!“
Tante Elvira blieb der Mund offenstehen. Nach einem Moment des Schweigens sagte sie: „Und ich war immer so neidisch auf dich und eure Ehe.“
„Das hättest du dir sparen können.“ Mutti schaute grimmig zu dem Hochzeitsfoto, das auf der Anrichte stand und auf dem Vati selbstgefällig lächelnd den Arm um sie legte. Dann griff sie in die Schüssel mit den Klößen, packte einen und schleuderte ihn nach dem Bild. Doch stattdessen traf sie einen zartblauen Puttenengel mit schiefgelegtem Kopf und Harfe im dicken Ärmchen, der danebenstand. Einen Moment schien das Engelchen nicht recht zu wissen, wohin mit sich, dann kippte es auf die Seite und über den Rand der Anrichte. Es klirrte.
Im Raum herrschte wieder Stille, diesmal schockierte.
Mutti griff nach dem nächsten Kloß. „Du blöder Kerl!“, schrie sie, holte aus und diesmal traf sie das Bild am Rahmen. Es wackelte, blieb jedoch stehen.
Als Mutti nach dem dritten Kloß greifen wollte, sah Quentin, dass die Klöße sich dem Ende zuneigten – Muttis Wut aber nicht. Schnell sicherte er die Schüssel und stellte ihr stattdessen das Eiswürfeleimerchen hin. Dann drückte er ihr den großen Löffel in die Hand, legte einen XXL-Eiswürfel darauf und zog den Löffel wie ein gespanntes Katapult nach hinten. „Damit geht das bestimmt besser.“
Derweil kam Trudi mit einem Lappen angerannt, um sich um die Klöße zu kümmern, die an der Wand klebten.
„Aus dem Weg!“, rief Mutti und zog den Löffel noch ein Stück weiter nach unten. Trudi hüpfte mit einem Kieksen zur Seite.
Mutti zielte und ließ los. Das Geschoß verfehlte das Bild und Vati lächelte ungerührt weiter. „Betrüger! Und diese Scheißengel, die konnte ich noch nie leiden! Warum hast du bloß angefangen, mir die zu schenken? Als hätte ich nichts anderes im Leben als Scheißputtenengel!“
„Mutti!“, rief Trudi und griff nach Nina, um ihr die Ohren zuzuhalten. „Nicht vor den Kindern.“
„Doch“, krähte Nina. „Scheißputtenengel! Weiter, Oma!“
Mutti holte die beiden letzten Eiswürfel aus dem Eimer und legte an. Mit dem ersten traf sie endlich das Bild, das nach hinten umkippte. Der zweite erwischte einen rosa Engel, der auf einer Kugel saß und auf den Rücken fiel.
Nina entwand sich Trudis Griff und klatschte Beifall. „Ja, Oma, Volltreffer!“
Mutti stemmte die Hände in die Hüften. „Nachschub“, forderte sie und Klaus kam mit einen neuen Eiswürfelbehälter angerannt. Mutti lud nach und als nächstes musste ein Trompetenengel dran glauben. Das übernächste Geschoss prallte von der Wand ab und traf Tante Elvira ins ledrige Dekolleté. Die quiekte auf, klaubte sich den Eiswürfel aus dem Ausschnitt und warf zurück. Dabei traf sie einen kleinen Puttenengel, der auf dem Fensterbrett das Gesicht in die Hände stützte, und fegte ihn herunter.
„Entschuldige…“, sagte Tante Elvira und hob die Schultern. „Aber der hat sich sowieso nur gelangweilt.“
„Ein Punkt für Team Elvira“, johlte Magnus, der bereits leicht lallte. Er bewaffnete sich aus dem Eiswürfelbehälter und holte in rascher Folge zwei barocke Engelsköpfe von der Wand über der Anrichte. „Zwei für mich!“
„Na warte“, sagte Klaus und griff zeitgleich mit Quentin in den Eimer mit den Wurfgeschossen. Sie sahen sich an, grinsten und bombardierten gemeinsam ein Grüppchen Engel mit Mandoline, Ziehharmonika und Horn, die allesamt hingestreckt wurden. „Drei auf einen Streich, das macht uns so schnell keiner nach“, sagte Klaus und gab Quentin High Five.
„Das werden wir sehen“, schnaubte Mutti, schnappte sich einen neuen Eiswürfel und erwischte die Suppenterrine, ein Erbstück von Vatis Großmutter, die daraufhin einen hässlichen Riss bekam.
„Mama, die gute Terrine“, jammerte Trudi und war drauf und dran, in die Schusslinie zu laufen. Mutti ließ sich davon nicht aufhalten und Trudi sprang zurück.
„Der kann mir doch mitsamt seiner…“ Sie legte einen neuen Eiswürfel ein und zielte. „… Großmutter…“ Es folgte der nächste. „… den Buckel runterrutschen.“ Damit zerbarst die Terrine in mehrere Teile. Mutti richtete sich auf und betrachtete zufrieden ihr Werk.
Nina kicherte. „Oma, jetzt hast du keine Putten mehr, sondern nur noch Ka-putten.“
„Jawohl.“ Mutti nickte nachdrücklich und ließ sich aufgeräumt aufs Sofa sinken. Vergnügt schaute sie in die Runde. „Ab jetzt kümmere ich mich um mein eigenes Glück. Hätte ich viel früher tun sollen.“ Sie zupfte sich ihre Bluse zurecht, die etwas derangiert aussah. „Ist noch Rum da?“
Es war noch Rum da, und so machten es sich alle auf der Sofagarnitur bequem. Nur Trudi wirkte beleidigt, aber daran störte sich niemand. Während Quentin die nächste Runde eingoss und auch wieder ein Schlückchen in Magnus’ Cola schüttete, entdeckte Nina in Quentins Geschenkekiste das rosa Plüschkrokodil mit den grünen Punkten. Nachdem sie es ausgiebig geknuddelt hatte, kam sie angerannt, warf Quentin ihre Ärmchen um den Hals und nuschelte ihm „Frohe Weihnachten, Onkel Quentin“ ins Haar. Eine Welle der Zuneigung überrollte ihn. Dann fiel ihm etwas ein und er sprang auf. „Die Geschenke! Ich habe euch ja noch gar nicht eure Geschenke gegeben.“
Er schnappte sich seine Kiste und zog das erstbeste Päckchen heraus. Kurz runzelte er die Stirn, dann erinnerte er sich, was es enthielt und auch ohne Verstand war sonnenklar, für wen es sein musste. Er überreichte es Tante Elvira. Die lächelte ihn hocherfreut an und begann, fein säuberlich den Tesafilm zu lösen und das Geschenk auszuwickeln. Zum Vorschein kam eine Plastikflasche.
„HALITOSIS Mundspülung gegen Mundgeruch“, las Tante Elvira vor und flötete gleich weiter: „Wie aufmerksam von dir. Aber das wäre doch nicht nötig gewesen.“
Magnus bemühte sich erfolglos, ein Grinsen zu unterdrücken und Nina lachte laut auf. „Doch. Du hast echt einen Stinkemund, Tante Elvira.“
„Nina!“, empörte sich Trudi, doch sie erntete nur ein Kichern.
Tante Elvira schaute irritiert erneut auf das Etikett, errötete und gab ein leises „Oh“ von sich. Mutti tätschelte ihr den Arm. „Die Kinder haben leider Recht, Elvira.“
Tante Elvira schluckte und Quentin meinte zu sehen, dass ihre Augen feucht wurden. Mutti goss ihr einen ordentlichen Schuss Rum ein. Elvira kippte ihn in einem Zug runter, blieb dann mit dem Glas im Schoß sitzen und flüsterte: „Ich weiß es ja, aber ich habe solche Angst vor dem Zahnarzt.“
Nina sprang auf und legte ihr das Plüschkrokodil in den Schoß. „Das musst du nicht, Tante Elvira. Ich leihe dir mein Krokodil und das passt auf dich auf, wenn du zum Zahnarzt gehst.“
„Das ist aber lieb von dir, Schätzchen.“ Elvira drückte sich das Krokodil an die Wange und bekam schon wieder feuchte Augen. Dagegen nahm sie noch einen kräftigen Schluck Rum. Anschließend überreichte sie Quentin wie jedes Jahr seine Schachtel Edle Tropfen – und die kamen heute Abend genau richtig, denn Quentin hatte immer noch Hunger. Während er sich diverse Pralinen einverleibte und feststellte, dass sie ihm tatsächlich schmeckten, übergab er Mutti einen Umschlag.
Mutti öffnete ihn und zog einen handbeschriebenen Zettel heraus. Ihre Augen weiteten sich und ihr Blick suchte Quentin. „Ein Bernhard-Bardensiehl-Konzert? Aber … aber ich war auf keinem Konzert mehr seit …“
„Seit Manfred“, stellte Tante Elvira fest. „Zeit wird es. Komm schon. Wenn ich zum Zahnarzt kann, kannst du auch endlich mal wieder Spaß haben.“
„Also, wenn ihr meint …“, sagte Mutti.
„Definitiv. Und ich komme mit. Wir lassen es krachen – wie früher.“
Muttis Gesicht begann zu strahlen und sie legte eine Hand auf Elviras, die andere auf Quentins Bein. „Oh ihr Lieben, das ist … das ist das schönste Geschenk, das mir jemals jemand gemacht hat.“
Trudi rückte demonstrativ den Mixer, den sie Mutti zu Weihnachten geschenkt hatte, in deren Blickfeld. Doch Mutti hatte nur Augen für Quentins Gutschein. Dann schob sie ihm etwas verlegen ihr Geschenk entgegen: drei Oberhemden, wie jedes Jahr.
Als nächstes wandte Quentin sich an Trudi. „Erst mal hatte ich keine Idee für dich“, fing er an, „weil du ja außer Herumkommandieren keine Interessen hast und sowieso mit allem unzufrieden bist. Aber dann ist mir doch was eingefallen.“
Trudi atmete tief durch, kniff kurz die Lippen zusammen, setzte dann ein besinnliches Gesicht auf und riss das Papier herunter. Zum Vorschein kam: eine Pinzette. Trudis Gesichtsausdruck verriet Ratlosigkeit.
„Für deinen Damenbart“, erklärte Quentin.
Magnus kicherte hinter vorgehaltener Hand und flüsterte, allerdings für alle gut hörbar: „Und für die Haare auf den Zähnen.“
Trudi hatte auf einmal Tränen in den Augen. Sie pfefferte die Pinzette auf den Tisch und das Päckchen, das sie für Quentin auf dem Schoß hatte, auf den Boden. „Ihr seid so gemein! Und die Socken kannst du dieses Jahr vergessen, Quentin.“ Mit bebenden Schultern rannte sie in die Küche. Die Tür fiel mit einem Knall zu. Die anderen zuckten kurz zusammen und Nina wollte ihr nachlaufen, aber Klaus hielt sie am Ärmel fest und sagte ruhig: „Lass sie. Weißt du, wenn man austeilt, ist es vielleicht gar nicht schlecht, wenn man auch mal mitbekommt, wie sich das sich anfühlt.“
Magnus grinste und steckte sich eine der dicken Zigarren in den Mund. Nach kurzem Zögern schmunzelte Klaus und tat es ihm nach. Einen Moment saß er da und blickte in die Ferne, dann stand er auf und holte einen der weniger feuchten 500-Euro-Scheine vom Weihnachtsbaum. Nachdem er sich wieder gesetzt hatte, zündete er ihn feierlich an, während alle anderen andächtig zusahen. Dann gab er erst sich und anschließend seinem Sprössling, Quentin, Mutti und Elvira Feuer. Gebannt beobachteten alle, wie der Schein sich in Asche verwandelte, die dann in zarten Flocken auf den Boden rieselte.
„Genau das“, sagte Klaus und lehnte sich breit grinsend zurück, „wollte ich schon immer mal machen.“ Mit geschlossenen Augen paffte er und blies einen riesengroßen, perfekten Ring in die Luft. Dann strahlte er Quentin an und nickte ihm zu. „Danke, Mann.“
Es breitete sich behagliche Ruhe aus, in der sich alle die Gläser füllen ließen und ihre Zigarren qualmten. Irgendwann kam Trudi zurück. Ihre Augen wirkten rot und verheult. Als sie an dem Regal mit der zerschlagenen Suppenterrine vorbeikam, blieb sie wie angewurzelt stehen. Schließlich trat sie heran und räumte mit spitzen Fingern einige der großen Scherben zur Seite. Dann schlug sie die Hände vor den Mund und gab ein undefinierbares Geräusch von sich. Alle schauten zu ihr herüber.
„Der kleine Muck“, sagte sie leise und es klang als wolle sie gleichzeitig lachen und weinen. Behutsam zog sie eine Schlenkerpuppe mit riesengroßem Turban aus dem Scherbenhaufen, klopfte sie ab und drückte sie an ihre Brust.
„Ach, in die Terrine hatte ich den gepackt“, nuschelte Mutti. „War ja nicht zum Aushalten, wie ihr euch um den gezankt habt.“
Quentin konnte sich gut erinnern. Er hatte sich den kleinen Muck von seinem Taschengeld zusammengespart, weil Vati sich geweigert hatte, seinem Sohn eine Puppe zu kaufen. Auch Trudi hatte ihn abgöttisch geliebt, und so wie es aussah, tat sie es immer noch. Weinend stand sie mit der Puppe im Arm da und wiegte sich hin und her. Quentin stand auf, ging hinüber und schloss sie in die Arme. Trudi presste den kleinen Muck noch fester an sich und heulte Quentin ins schokoladenverschmierte Hemd.
„Wenn er dir als Geschenk lieber ist“, sagte Quentin und strich ihr über den Rücken, „kannst du ihn ruhig behalten.“
Trudis Augen weiteten sich. „Wirklich?“
Quentin nickte. Auf einmal wich alle Spannung aus Trudi.
Sie lächelte ihn unter Tränen an. „Danke.“
„Gerne“, sagte er und fühlte genau das. Arm in Arm gingen sie zurück zum Sofa. Klaus streckte die Hand nach ihr aus und Trudi kuschelte sich, den kleinen Muck an die Brust gedrückt, an ihren Mann. Der legte ihr den Arm um die Schultern und küsste sie aufs Haar, zwischen den Fingern immer noch die dicke Zigarre. Die Ohrstöpsel, die Quentin ihm eigentlich hatte schenken wollen, blieben in der Kiste liegen.
Mutti lehnte sich zurück und schaute in die Runde. „Wie wäre es mit ein paar Weihnachtsliedern?“
Quentin blickte auf die überall verstreut herumliegenden Ka-puttenscherben, die Kloßreste an der Wand und die 500-Euro-Scheine am Weihnachtsbaum. Plötzlich musste er lachen. Für einen Moment hing sein Lachen ganz alleine in der Luft, dann prusteten alle los.
Irgendwann japste Elvira mit Lachtränen in den Augen: „Wenn uns jetzt jemand sehen könnte, würde er meinen, wir hätten den Verstand verloren!“, und wieder mussten alle lachen.
Als sie sich schließlich gefangen hatten, hob Mutti feierlich ihr Glas. „Das war mit Abstand das verrückteste Weihnachten, das wir je hatten. Ein echtes Geschenk!“ Alle anderen taten es ihr nach. „Darauf, dass das Leben die überraschendsten und besten Geschenke macht.“
So endet die Geschichte eines unvergesslichen Abends – wobei, vielleicht noch nicht ganz. Denn auf dem Heimweg, den Quentin nach all den Edlen Tropfen zu Fuß antrat, kam er an einem Schaufenster vorbei. Darin stand ein großer Fernseher und auf dem lief die gleiche Werbung wie nachmittags im Einkaufszentrum. Der Traumstrand lockte. Quentin blieb stehen und wurde von einer ungeahnten Leichtigkeit erfasst. Etwas schien ihn von der anderen Seite des Bildschirms zu rufen, raunte von Freiheit, vom Geschenk des Lebens mit all seinen Überraschungen. Die vorüberziehende Brise verführte ihn, sich ihr anzuschließen, trug das Versprechen auf etwas verheißungsvolles Unbekanntes mit sich, und auf einmal spürte er eine unbändige Lust, sich darauf einzulassen. Über den Sand zu laufen, beispielsweise, sich kopfüber in die Fluten zu stürzen, auf dem Rücken zu treiben und sich die Sonne auf den Bauch scheinen zu lassen. Für einen Moment noch zögerte Quentin, dann tauchte der Slogan „Machen Sie Urlaub vom Selbst“ unten im Bild auf – und da lächelte er und lief los …

Über die Autorin

Anna Buchwinkel (geboren 1974) lebte nach abgeschlossenem Jurastudium und einer Heilpraktiker-Ausbildung mehrere Jahre in Asien. Die scheinbaren Gegensätze der östlichen und westlichen Sichtweise von Leben, Tod und Schicksal sind ihr Inspiration für ihr Schreiben. Heute lebt sie in Mainz und arbeitet im Bereich der Erstellung psychiatrischer Gerichtsgutachten sowie an ihrem nächsten Roman.

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