Er spürte ein fiebriges Prickeln auf der glatten Haut, jedes Mal, wenn eine weiße Flocke seinen kleinen Körper berührte. Seine Dornen waren noch ganz weich und zart, die kühle Erde, an die er sich klammerte, tagfrisch. Zwar konnte er nicht besonders viel sehen im blendenden Schein der Straßenlaternen, doch er fühlte immerhin ihr grelles Licht auf seinen Platykladien. Und es war kalt in diesem alten quadratischen Karton, in welchem er des Nachts durch die verschneiten Gassen getragen wurde. Unglaublich kalt.
Neben seinem Töpfchen lag ein kleiner grüner Plüschtiger, ständig blieben dessen Flusen an den Spitzen seiner Dornen hängen. Das metallische Geklimper eines Sammelkartenkästchens, welches unaufhörlich gegen die Keramik seines Gehäuses stieß, ließ seine feinen Zweige wiederholt schauerlich erzittern. Und als wären der unerbittliche Frost und das periodische Klirren nicht schlimm genug, so beanspruchte zudem die auffällige Beleuchtung der bunt geschmückten Schaufenster seine Rezeptoren dermaßen, dass er nicht mehr einschätzen konnte, was überhaupt mit ihm geschah.
Noch wenige Stunden zuvor war er, mit einem roten Schleifchen um den Körper gebunden, einem eigenartigen Wesen mit den Worten „Frohe Weihnachten, Emma“ überreicht worden. Die Stimme des Adressanten hatte freundlich geklungen, sanft und maskulin. Die Empfänger-Kreatur hatte daraufhin den Topf entgegengenommen und ihn vor ihren optischen Sinnesorganen hin und her gewendet, ehe sie merkwürdige Laute ausgestoßen und ihn grob auf den Boden gestellt hatte.
„Ist das dein Ernst?“, hatte sie anschließend entrüstet formuliert. „Ein Scheiß-Kaktus? Wie kindisch bist du eigentlich, Benni?“
Dann hatte sie sich zu einer beeindruckenden Größe aufgerichtet und war ohne ein weiteres Wort auf ihren zwei langen flexiblen Gliedmaßen davongestapft, die schweren Tritte hatten seine Dornen nachhaltig zum Beben gebracht.
„A-Aber warte mal, Emma!“, hatte die sanfte Stimme erwidert, welche offenbar zu einem ebenso gewaltigen Geschöpf gehört hatte, und war letztlich dem anderen riesigen Organismus aus dem Raum gefolgt. Er war indes zurückgeblieben, hatte sich allmählich dieser neuen fremden Umgebung angepasst und einfach gewartet. Leider war kein weiterer seiner Art dort gewesen, welchen er um eine Erklärung hätte bitten können. Dem abgeschlagenen Tannenbaum zu seiner Rechten war jeglicher Glanz aus den Nadeln gewichen, und der vertrocknete Mistelzweig über der Tür musste bereits vor Tagen jämmerlich verendet sein. An welch schaurigen Ort war er nur gebracht worden?
„Scher’ dich doch zum Teufel mit deinen infantilen Ideen!“, war plötzlich die keifende, schrille Stimme durch die Flure gehallt. „Weihnachten ist das Fest der Liebe, Benni, nicht der erste April! Du Kindskopf!“
Die Tür hatte gescheppert und sämtliche Geräusche waren verklungen. Irgendwann, nachdem er schon fast in seine allnächtliche Ruhe verfallen war, hatte man ihn abermals an diesem Abend aufgehoben und letztlich unter schwerem Seufzen in diesen Pappkarton gestellt, zusammen mit zahllosen leblosen Dingen und Unmengen an Staub. Und eben dieser Karton war schließlich geöffnet nach draußen getragen worden, hinaus in den bitterkalten Winter.
Nun war er also abermals in kürzester Zeit seiner temporären Heimat beraubt worden. Obwohl er den Schmerz noch nicht gänzlich überwunden hatte, ohne Weiteres aus dem kleinen Blumenladen an der Eckgasse entführt worden zu sein, schleppte man ihn bereits an einen neuen ungewissen Ort.
Die alte Margerite hatte noch lautstark protestiert, als ihn die Kreatur mit der sanften Stimme aus dem Regal gegriffen hatte, er selbst war recht lange benommen gewesen von ihrer empörten Duftstoffausschüttung. Selbst der Gummibaum hatte schockiert gewirkt, nachdem er lieblos in eine Plastiktüte verfrachtet und aus dem Geschäft getragen worden war. Das letzte Geräusch, das er wahrgenommen hatte, war das zarte Schluchzen der Schneerose gewesen. Seiner Schneerose.
Sie hatten sich erst wenige Tage zuvor kennengelernt, nachdem sie aus einem Massenzuchtgewächshaus befreit worden war. Ganz scheu und farbschwach hatte sie in ihrem Kübel verweilt, bis er all seinen Mut zusammengenommen und ihr unscheinbare Botenstoffe gesendet hatte. Wenn er sich ihres glücklichen, leuchtend weißen Strahlens erinnerte, stiegen ihm noch immer die Säfte in die Platykladien. Doch nun, da er fürchten musste, sie womöglich nie wiedersehen zu dürfen, stach die umringende Kälte erbarmungslos von allen Seiten auf ihn ein. Schmerzlicher als seine eigenen Dornen.
„Kindisch, pah …“, murmelte das gegliederte Wesen, welches ihn trug, abfällig. „Was soll ich denn machen, ihr ’nen Verlobungsring ins Sektglas werfen? Nach zwei Jahren? Ernsthaft, ich hab mir ewig den Kopf zerbrochen. Einerseits sagt sie, sie möge ausgefallene Dinge, aber am Ende verlangt sie trotzdem das, was alle wollen. Ich versteh die Frauen nicht, Skeletor …“
Skeletor? Hatte das hohe Wesen soeben mit ihm gesprochen? Der Fokus seiner glänzenden Sinnesorgane ruhte jedenfalls beinahe obszön lange auf seiner Sprossachse. Nun, wenn es bereits jetzt damit begann, wahllos Eigennamen zu verteilen, traf das Attribut „kindisch“ doch recht präzise zu.
„Weihnachten ist das Fest der Liebe, Benni … bla, bla, bla“, maulte das Geschöpf weiter, während der Klang seiner eigentlich festen Stimme immer zerbrechlicher zu werden schien. Benni? War das seine Bezeichnung? Und Weihnachten, worum handelte es sich dabei wohl?
„Eigentlich ist dieser gottverdammte Brauch nur ein gewaltiger Beitrag zu den alljährlichen Kommerzfestspielen, und am Ende stehen sowieso immer bloß Vorwürfe und Strafpredigten“, zeterte Benni nun förmlich, er schien wirklich aufgebracht. „Alle wollen sie nur abgreifen. Wünschen sich nichts und hauen einem dann trotzdem den Liebesbrief um die Ohren, weil sie sich mehr erwartet haben. Weißt du, dieser verdammte Advent und dieser elende Heilige Abend, das geht mir alles so dermaßen auf den Geist …“
Plötzlich blieb er stehen, und Skeletors Topf wippte bedrohlich auf der Stelle. Ein seltsames, abgestandenes Aroma umspielte seine Rezeptoren. Er wollte nicht darüber nachdenken, aber war es etwa möglich, dass es der Verwesungsgeruch Verstorbener seiner Art war?
„So schnell ist es vorbei, Skelly“, sagte Benni nun und klappte mit seinem freien Greifer einen schwarzen Deckel auf, woraufhin sich das Aroma bedrohlich intensivierte und Skeletor der Saft in den Leitbündeln stockte. „Tut mir leid, Kumpel. Sie wollte dich eben nicht haben und mein Daumen ist so grün wie Neuschnee. Dann lieber kurz und schmerzlos.“
Wie bitte? Skeletor konnte seine Worte nicht zuordnen, spürte nur, wie die Schwerkraft sich plötzlich gnadenlos gegen seinen Karton auflehnte und er mitsamt der alten Spielzeuge und Sammelkarten in die moderige Finsternis purzelte. Er stieß gegen die schwarze Wand seines tiefen Sarges und brach sich sämtliche Dornen, einer seiner schmalen Zweige wurde von einem spitzen Gegenstand aufgeschürft und der grauenhafte Schmerz durchzuckte erbarmungslos sein Meristem. Was geschah mit ihm, was hatte Benni getan?! Er erkannte bloß noch schwach sein Gesicht und die optischen Sinnesorgane, aus welchen tropfenweise Wasser auszutreten schien. Die bunten Leuchten der Geschäfte spiegelten sich darin.
„Mach’s gut, Cringer, du warst echt mein bester Freund …“, wisperte Benni leise und streichelte noch einmal mit seinem Greiforgan über das Plüschtier neben Skeletor. „Und He-Man, Panthera und Duncan. Ich vergesse euch nie, versprochen.“
Dann strich er sich mit dem Greifer über die optischen Sinnesorgane, ehe sich die Klappe des muffigen Sarges langsam heruntersenkte. Dennoch vernahm Skeletor noch schwach geflüsterte Worte, bevor das Licht verblasste und ihn nur noch die beißende Finsternis umgab.
„Die Verkäuferin hat gesagt, du würdest bald aufblühen. Das hätte ich wirklich gerne noch gesehen. Aber unter diesen Umständen … ach, was rede ich überhaupt mit einem Kaktus. Frohe Weihnachten auch. So ein Dreck.“
Ein samtiges Aroma umspielte seine Dornen. Wir sehen uns wieder, bedeutete es ihm. Wir verlieren uns nicht …
Ganz sicher nicht …, schickte er ruhig und schläfrig zurück. Vergiss mich nicht …
Er fühlte sich, als würde er schweben, schwerelos abheben aus seinem Topf und sich hinausträumen aus dieser Welt, die ihn tief verwurzelt in der Erde zurückhielt. Seine Empfindungen waren nicht gefangen in diesem reglosen Körper. Sie waren bei ihr, die sie seit vier Jahren in diesem kleinen, unscheinbaren Blumenladen auf ihn wartete. Er spürte sie bereits an seiner Seite, nahm den zarten Duft ihrer schneeweißen Blütenblätter wahr und wollte …
„… diesen verdammten Dreckscomputer einfach gegen die Wand werfen!“
Skeletor erwachte schlagartig aus seinem fernen Traum und sensibilisierte sogleich seine Rezeptoren. Die Schreibtischplatte unter seinem Keramiktopf bebte bedrohlich, vermutlich hatte sein Gießer aus Wut wieder einmal darauf eingeschlagen.
„Was ist los, Benni?“, fragte ein weiterer Gießer, der soeben leichtfüßig den Arbeitsplatz passierte.
„Ich werde einfach wahnsinnig mit diesem Projekt. Andauernd hängt sich der Server auf, sobald ich den Entwurf speichern will. Zwei Stunden Arbeit umsonst, und die Deadline rückt immer näher …“
„Ach, etwa die Weihnachtskletterpyramide für’s Kaufhaus? Die muss doch zum Zwanzigsten stehen, oder? Bist du immer noch nicht fertig?“
„Nein, du Blitzmerker …“
Der andere Gießer kratzte sich unschlüssig mit seinem Greifer über die schütteren Nadeln, die spärlich aus seinem Kopf sprossen. „Hab gehört, die Chefin hat zur Zeit ’ne Werksstudentin da, Eventarchitektur. Vielleicht kann die dir mit der Planung ein wenig zur Hand gehen.“
„Danke auch, ich brauch keine Hilfe“, meckerte Benni und griff kurzerhand nach einem Glas Wasser, um seinen Flüssigkeitshaushalt zu optimieren. Der andere Gießer zuckte ratlos mit seinen Gliedmaßen.
„Wie du meinst. Frag halt He-Man und Battle-Cat um Rat“, meinte er und deutete auf zwei abgegriffene Actionfiguren, die neben dem Monitor standen, „oder Skeletor. Du bist echt ein unverbesserliches Spielkind, Benni …“
Diese Worte verließen die lauterzeugende Öffnung in seinem Gesicht regelrecht abwertend, sodass Benni argwöhnisch aufblickte. Und auch Skeletor bemerkte, wie sich plötzlich aromatische Botenstoffe von der anderen Seite des Büros um seinen Tisch herum entfalteten.
Uuuuh, Axel legt sich mal wieder mit Benni an, wie aufregend, duftete es von der sensationsbegeisterten Amaryllis zu ihm herüber.
Ich hoffe doch, das Wortgefecht wird wieder so schmutzig wie zuletzt, meinte die Azalee anzüglich und wurde lediglich von den trübsinnigen Botenstoffen der Orchidee überströmt.
Bestimmt vergessen sie nun, uns zu gießen, und wir werden noch vor Weihnachten alle sterben …
Behaltet eure Ausdünstungen für euch, maulte Skeletor überdrüssig. Ich will meine Ruhe haben.
Du hörst dich schon ziemlich welk an, erwiderte die Azalee amüsiert, dabei bist du doch erst vier, oder, Skelly?
Uuuuh, genau, und er hat noch nicht ein Mal geblüht, pflichtete ihr die Amaryllis bei. Wenn es zu meinen Lebzeiten noch einmal dazu kommt, lass ich mir Cola in den Kübel kippen!
Dann wirst du sterben, seufzte die Orchidee. Wir alle werden sterben …
„Ich schick sie einfach kurz her“, unterbrach Axel plötzlich den Duftstoffaustausch und klopfte Benni mit seinem Greifer auf die Schulter. „Soll ähnlich speziell sein wie du, bestimmt versteht ihr euch prima.“
„Tu, was du nicht lassen kannst“, gab Benni entnervt zurück und widmete sich wieder seinem flimmernden Bildschirm.
Skeletor spreizte seine Areolen und widmete seine Aufmerksamkeit noch etwas träge dem Geschehen im Raum. Ständig huschten gestresste Gießer von einem Fenster zum nächsten und versuchten, quietschend bunte Girlanden über den Rahmen zu befestigen. Dabei bemühten sie sich, mithilfe rostiger Baumarktleitern ihre eigenen Sprossachsen zu verlängern. Andere stellten Tannenkränze mit jeweils vier Kerzen auf nahezu jeden Tisch, allein der Anblick jagte Skeletor einen kalten Schauer durch die Axillen. Bereits in wenigen Stunden würden ihre Verwesungsgerüche das gesamte Büro erfüllen. Und er würde schmerzhaft erinnert an die Zeit, in welcher er dem Tode nahe tagelang in dieser Reststofftonne dahinvegetiert war, ehe ihn Benni kurz vor seinem Ableben doch noch unter gammeligen Bananenschalen und vor Fett triefenden Küchenrollen hervorgewühlt hatte. Es waren mehrere Wochen vergangen, bis er sich von diesem Schock erholt hatte, doch die ruhige Büroatmosphäre hatte ihn schließlich genesen lassen. Jedenfalls äußerlich.
In diesen Momenten dachte er an sie. Die kleine Schneerose, von welcher er noch immer Nacht für Nacht träumte, deren süße Aromen er all die Jahre nicht aus seinen Spaltöffnungen hatte verbannen können. Die bloße Erinnerung an ihren lieblichen Anblick ließ seine Faszikel förmlich erzittern, und dennoch hatten diese überschwänglichen Gefühle noch nie dazu gereicht, ihn zur Blüte zu bringen. Also existierte er nur, ziel- und freudlos, und wartete darauf, dass die Weihnachtszeit verstrich und seine Sehnsucht wieder verebbte. Wie jedes Jahr.
Plötzlich spürte er eine eifrige Meldung der Amaryllis: Uuuuh, da kommt jemand!
Die Azalee schüttete emsig betörende Duftstoffe aus. Wer? Wer?! Frisches Gemüse?
Bestimmt ein Vorbote des Todes, meinte die Orchidee fad.
Auch Skeletor widmete sich eher desinteressiert der Ankündigung und richtete seine Rezeptoren zur Bürotür aus. Doch als diese schließlich regelrecht impulsiv aufgestoßen wurde, verengten sich schlagartig seine Gefäße.
Eine junge Gießerin trat herein, lange schwarze und weich anmutende Nadeln sprossen aus ihrem Kopf, doch sie standen ab in alle Richtungen, als wäre sie soeben durch einen Wintersturm gelaufen. Ihre Tracht war ebenso schwarz, lediglich in den Händen trug sie etwas, das ihrem Auftritt ein wenig Leuchtkraft verlieh. Ein reines weiß.
Die Gießerin schritt forsch durch den Gang und stoppte so abrupt vor Bennis und Skeletors Tisch ab, dass der gestresste Gießer vor Überraschung kurz zusammenzuckte.
„Hi“, meinte die Schwarznadelige unerwartet fröhlich. „Bist du Benjamin?“
„Ja …?“
„Mit der verkorksten Weihnachtskletterpyramide?“
„Ähm … hat Axel dich geschickt?“
„Jupp“, meinte sie bloß und ließ sich ungefragt neben ihm auf einem Drehstuhl nieder. „Hab gehört, dein Konzept ist Käse. Ich schau’s mir mal an, okay? Mensch, habt ihr hier gutes Licht, prima für die Blumen.“
Dann stellte sie prompt das Gefäß, welches ihr einen Hauch Liebreiz verliehen hatte, auf den Schreibtisch und begann unverzüglich damit, auf Bennis Tastatur einzuhämmern.
Das ist doch die Studentin, drang von irgendwoher an Skeletors Rezeptoren. Doch er konnte die Düfte nicht zuordnen, war mit einem Mal wie von Sinnen.
Da hat sie aber eine hübsche Blume mitgebracht, hieß es weiter.
Bestimmt werden wir von dieser Schneerose ersetzt, achtlos weggeworfen und sterben, nahm er noch wahr. Und dann war alles wie retardiert. Das konnte nicht stimmen. Die zarte Blässe der Blütenblätter, das feine dunkle Laub. Jener Duft, der ihn all die Jahre am Leben gehalten hatte. War sie es? War sie es?
Hallo, duftete es schüchtern zu ihm herüber. Er brachte keine Erwiderung hervor.
Verzeih mein Eindringen in deine Individualdistanz … meine Gießerin handelt immer sehr unüberlegt. Mein Name lautet Teela. Darf ich fragen, wie du heißt …?
Uuuuh, die lässt ja gar nichts anbrennen …
Heißes Röschen, gleich den Samen einpflanzen, Skelly!
In ihren Aromen spüre ich die Sehnsucht nach dem Tod …
Alle Aromen vermengten sich, Skeletor konnte sie nicht mehr zuordnen. Nur einer Sache war er sich sicher, auch, wenn er es selbst nicht fassen konnte: Vor ihm, das war seine Schneerose, sein wunderbares, geliebtes Pflänzchen.
Wir … sehen uns wieder, gab er schließlich zurück. Es waren die letzten Worte, die er damals an sie gerichtet hatte. Wir verlieren uns nicht …
Doch aus Teelas Poren trat nur ein Duft des Unverständnisses. Als würde sie sich nicht mehr an ihn erinnern.
„Hm …“, unterbrach die junge Gießerin plötzlich Skeletors hoffnungsvolle Botenstoffausschüttung und fokussierte schulterzuckend Benni. „Scheint mir ’ne ziemlich komplexe Kiste zu sein, dein Projektchen. Stört es dich, wenn ich mich die nächsten Tage bei dir einniste?“
Benni antwortete zunächst nicht, musterte sie nur etwas überrascht. Dann senkte er leicht verlegen den Blick. „Passt schon …“, murmelte er.
„Prima“, erwiderte sie fröhlich. „Ach übrigens, ist das die limitierte Milleniumsedition?“
Benni blickte verblüfft zu seinen Spielzeugen, dann schmunzelte er erfreut. „Oh, ähm … ja. Ich sammle Masters of the Universe – Actionfiguren.“
„Cool. Ich auch.“
Daraufhin schwiegen beide. Umso stärker erfüllten die feinen Aromen der Schneerose die Luft.
Ich glaube, wir werden zukünftig etwas mehr Zeit miteinander verbringen, meinte die Blume schließlich zart, und der Saft stieg Skeletor augenblicklich in jede Pore, während sich in seinem Körper ein seltsames Gefühl regte, welches er längst vergessen geglaubt hatte.
Die Flocken verwehen, die Tage verstreichen,
das Leben wird bald aus unseren Blüten weichen.
Der Winter webt weiter sein Leichentuch
und belegt uns alle mit dem Weihnachtsfluch.
Er färbt die Kugeln und Schleifchen rot,
und morgen, schon morgen, sind wir alle …
Jetzt hör endlich auf zu dichten, maulte die Azalee, ich verstehe überhaupt nicht, was dort drüben gesprochen wird!
Oh, Verzeihung …, säuselte die Orchidee beklommen und widmete sich ebenfalls dem heiteren Dialog der beiden Gießer im Nebenraum.
„Die Rutsche führt also aus der Pyramidenspitze heraus und endet in einem Bällebecken, von welchem aus die Kinder dann die Hüpfburg erreichen können“, sagte Benni vorsichtig und deutete mit dem Griffel seines Greifers auf den PC-Bildschirm. Die schwarznadelige Gießerin, welche mittlerweile unter der Bezeichnung Paula kategorisiert wurde, beugte sich begeistert über den Tisch.
„Genau, die Idee ist super!“, stimmte sie enthusiastisch zu. „Aber wir brauchen noch das weihnachtliche I-Tüpfelchen …“
„Ja, also …“, murmelte Benni etwas zögerlich. „Ich dachte, wir könnten Weihnachtspäckchen unter die Bälle mischen … Plüschtiere und so, das wäre doch, ähm …“
„Total süß!“, meinte Paula entzückt und berührte unabsichtlich mit ihrem kleinen Griffel seinen Greiferrücken. „Du bist echt kreativ, Benni, denkt man gar nicht.“
„Oh, also … danke“, murmelte Benni inzwischen recht nervös, unbehagliche Ausdünstungen strömten aus den Poren seiner Epidermis. „Meine Ex meinte immer, ich sei zu kindisch …“
„Vielleicht war die Gute auch einfach zu erwachsen“, erwiderte Paula amüsiert. Und fixierte ihn mit einem lieblichen Blick, welchen er nicht zu erwidern im Stande war.
„Ich denke, wir liegen gut in der Zeit mit dem Design …“, meinte er herumdrucksend. „Dank deiner Hilfe, Paula …“
„Ach, kein Ding.“
„Und … na ja, wenn die Pyramide am Zwanzigsten steht … also, wenn du an dem Tag nichts vorhast, könnten wir vielleicht …“
Er brachte seinen Satz nicht zu Ende und fokussierte nur ausweichend mit seinen optischen Sinnesorganen die Tastatur.
„Könnten wir was?“, fragte Paula unbedarft nach.
„Ach, ähm … nichts Besonderes.“
Erneut erfüllte Stille die Luft. Lediglich ein zarter Hauch duftender Aromen umspielte fortan die Riechorgane der Gießer.
Mir scheint, dein Benni würde sich gern mit meiner Gießerin verabreden, Skeletor, meinte die kleine Schneerose beseelt.
Mhm, gab er aromenkarg zurück.
Ich denke, sie würden gut zueinanderpassen, fuhr sie heiter fort. Und erhielt wiederum nur eine unscheinbare Brise zur Antwort, woraufhin sie unschlüssig zögerte. Stimmt etwas nicht mit dir? Du bist so ruhig in letzter Zeit. Hat man dich zu sehr gegossen?
Nicht doch, es ging ihm blendend. Er durchlebte ein regelrechtes Hochgefühl, jedes Mal, wenn er ihren süßen Duft wahrnahm oder ihr Topf näher an den seinen gerückt wurde. Wie gern hätte er ihr mitgeteilt, was in ihm vorging, sobald sie am Morgen ihre Blätter streckte und sich abends wieder leise zur Ruhe begab. Doch er konnte es nicht in Aromen fassen, wollte ihr nicht zu nahe treten oder sie verunsichern. Immerhin wusste sie nicht, was er noch immer für sie fühlte. Und er wollte sie nicht erinnern an diese schmerzvolle Zeit, die sie mittlerweile überwunden zu haben schien.
Es ist nichts, gab er so glaubwürdig wie möglich zurück, und erzitterte förmlich angesichts ihres blütenreinen Glanzes.
Dann ist ja gut, erwiderte sie beruhigt. Du kannst mir immerzu alles erzählen, Skeletor. Wir sind doch Freunde.
Ja, antwortete er beflissen. Wir sind Freunde …
Der Tag ist nah, das Glück bleibt fern,
der Kaktus mag die Schneeros’ gern.
doch bleibt ihm keine Zeit zu werben,
denn morgen, schon morgen, werden wir alle …
Der warme Geruch verglühenden Wachses umspielte seine Rezeptoren, betäubte seine Wahrnehmung und loderte dennoch unbändig in seinen Zellkernen. Denn er überdeckte Teelas betörenden Duft, von welchem er in dieser Nacht ein letztes Mal würde kosten dürfen. Bereits seit dem Nachmittag flossen die Körpersäfte unkontrollierbar durch Skeletors Sprossachse, das Zytoplasma pulsierte in seinen Zellen und die Chloroplasten hatten jeden Fetzen Licht aufgesogen, sodass ihm ganz schwummrig geworden war vor Aufregung. Oder Enttäuschung. Darüber, dass seine Schneerose ihm nach all den Jahren der grausamen Trennung erneut entrissen werden würde.
Sie regte sich leicht im Schlaf, ihre Blütenblätter senkten sich kaum merklich über den Rand ihres Töpfchens, während sie leise ruhte. Er hatte ihr einfach nicht offenbaren können, was er empfand und schon immer empfunden hatte. Damals, in der Kälte, in jener modrigen Tonne, hatte ihn nur die Erinnerung an sie am Leben gehalten. Jetzt, da sie einander wiederbegegnet waren, glaubte er, abermals von diesem lebendigen Gefühl erfasst worden zu sein, spielten doch seine Sinne unbeherrschbar verrückt. Doch auch diese Empfindung würde nur allzu schnell wieder verstreichen und der Leere weichen. So, wie die Besinnlichkeit ihren Glanz verlor, sobald die Geschenke verteilt waren.
Das plötzliche Klacken der Tastatur erlöste Skeletor aus seiner Lethargie und er wandte die Aufmerksamkeit seinem Gießer zu. Auch ihm erging es ähnlich wie in jener Nacht vor vier Jahren. In seinen optischen Sinnesorganen glitzerte abermals ein transparenter Wasserfilm, welcher wohl bald aus dem Lid zu treten drohte. Ungeachtet dessen fokussierte er starr seinen Bildschirm, auf welchem ein Livestream geschaltet war, der ein buntes Treiben zeigte.
Junge Gießersprösslinge rutschten jauchzend von einer pyramidalen Konstruktion in ein Becken voller Spielsachen.
„Ich bin ein Feigling“, zischte Benni niedergeschlagen und tätschelte seine He-Man-Figur, während er mit dem anderen Greifer Kartoffelchips in seinen Nahrungsschlund beförderte. Skeletor empfand die bloße Vorstellung, dass die Nachkommen seiner Artgenossen den Gießern als Nahrungsmittel dienten, als außerordentlich ekelerregend. Benni schien sich jedoch nicht an den angewiderten Ausdünstungen seiner Kaktee zu stören. „Ich hätte sie einfach einladen sollen. Ganz nebenher, was ist schon dabei? Das ist schließlich unser gemeinsames Meisterstück …“
Er biss sich auf die Lippen und schüttelte abwehrend den Kopf. „Quatsch nicht, Benni, du Idiot“, meinte er zu sich selbst. „Du bist halt nicht beziehungsfähig mit deinem Kindskopf. Axel hatte schon recht. Und Emma auch …“
Weil du ihr einen Kaktus zu Weihnachten andrehen wolltest, dachte Skeletor reserviert und wollte sich lieber wieder auf Teelas Odeur konzentrieren, solange es ihm noch möglich war. Doch etwas stimmte nicht. Er spürte einen kaum merklichen Luftzug um die Dornen. Beinahe so, als hätte jemand eine Tür geöffnet. Auch Benni blickte plötzlich überrascht auf und ergriff unwillkürlich das Zauberschwert aus Prinz Adams Hand, als könnte er sich selbst dadurch in He-Man verwandeln. Zu seiner Überraschung stand er jedoch nicht seinem Erzrivalen gegenüber – auch, wenn Paulas Pullover unzweifelhaft ein morbider Totenschädel zierte. Mit Weihnachtsmütze.
„W-Was machst du denn hier?“, stammelte Benni entgeistert und versteckte das Spielzeugschwert eilig hinter seinem Rücken. Paula grinste nur verschlagen und trat an seine Seite. In den Händen hielt sie einen Karton. Skeletors Stoffaustausch stockte. Es war der Karton. Jenes Gefängnis, welches ihm jeglichen Lebensmut geraubt hatte. Was hatte die Gießerin damit vor?
„War auf dem Weg zum Einkaufszentrum und hab gesehen, dass im Büro noch Licht brennt“, erwiderte sie heiter und stellte den Karton neben Skeletor. Leblose Dinge klimperten darin. Genau wie damals.
„Oh, du … wolltest es dir ansehen…?“
„Klar. Immerhin haben wir ’ne Menge Zeit darin investiert. Und du faule Socke gibst dir die Show virtuell, ja?“
Er verlagerte den Fokus etwas beschämt auf seine Tischplatte, während Paula nur amüsiert kicherte. Und die Kartonklappen öffnete.
In diesem Moment veränderte sich plötzlich Teelas Duft. War sie aufgewacht? Nein, dachte Skeletor, nicht jetzt. Sie sollte nicht mitbekommen, wie die Gießerin sie in die finstere Kiste sperrte. Er wollte nicht, dass ihre letzte Erinnerung an ihn, bevor sie sich für immer aus den Rezeptoren verloren, düster war und geprägt von Angst.
„Du packst zusammen?“, meinte Benni fad. Paula lächelte nur.
Teelas Blütenblätter spreizten sich ein wenig. Bitte nicht, exhalierte Skeletor nervös, schlaf weiter. Noch nahm sie ihn nicht wahr, noch bestand Hoffnung.
„Wir waren ein gutes Team, oder, Benni?“, erwiderte Paula mild. „Eigentlich schade, dass ich gehen muss, was?“
Benni nickte nur teilnahmslos. Während die Zellorganellen seines Kaktus vollkommen aus der Ruhe gebracht rebellierten. Er war selbst überrascht von diesem drängenden Gefühl, das in ihm tobte, er konnte es überhaupt nicht zuordnen. War es der Schmerz des Verlusts, die Angst des Vergessenwerdens? Aber warum fühlte es sich dann so …
„Na, willst du mich nicht endlich einladen?“
… gut an?
Benni hob überrascht den Blick. Woraufhin Paula nur grinsend in den Karton griff – und eine Actionfigur hervorkramte, welche sie kurzerhand neben He-Man platzierte.
„Ist das … She-Ra?“, wisperte er überwältigt. „Was … heißt das etwa …?“
„Ich dachte, He-Man ist ein recht einsamer Krieger und könnte ein wenig Gesellschaft gebrauchen. Meinst du nicht?“
Er musterte sie perplex. Und schluckte. „Er ist … schon seit längerer Zeit ziemlich einsam … Er freut sich unheimlich, wenn er nach all den Jahren endlich jemanden findet, an dessen Seite er … kämpfen kann.“
„Eine treue Gefährtin?“, antwortete Paula zwinkernd. „Dann sollten sie sich wohl besser verbünden. Und wenn He-Man es wünscht, beantragt She-Ra eine Versetzung nach Schloss Grayskull bei ihrer Königin, um auch in Zukunft mit ihm gemeinsam zu siegen. Denkst du, das wäre in seinem Sinne?“
„Das, also … würde ihn wohl … außerordentlich glücklich machen …“
Ein scheues Schmunzeln umspielte seine Lippen. Und auch Paula schenkte ihm ihr strahlendstes Lächeln, ehe sie eine weihnachtlich geschmückte Gießkanne auf dem Schreibtisch abstellte. Und ihm schließlich die Hand reichte, um ihn sanft in den Stand zu ziehen.
„She-Ra hat gehört, dass im nächstgelegenen Konsumkönigreich das Pyramidenschloss von kleinen Quälgeistern belagert wird“, sagte sie süffisant, „und sie bittet He-Man, an ihrer Seite die Festung zu stürmen … und gemeinsam ins Bällebecken einzutauchen.“
Es war kaum zu ertragen. Von einer Sekunde auf die nächste erreichte Skeletor eine Welle von Glücksstoffaromen, welche er noch niemals wahrgenommen hatte. Womöglich drehte Benni innerlich gerade vollkommen durch.
„H-He-Man nimmt sich dieser Herausforderung s-sehr gerne an“, stammelte er. Und hob das Spielzeugzauberschwert, welches er bisher hinter seinem Rücken versteckt gehalten hatte, heroisch in die Höhe: „Bei der Macht von Grayskull …“, begann er bedeutungsvoll. Woraufhin She-Ra ebenfalls ambitioniert den winzigen Schwertgriff berührte und sie gemeinsam den heiligen Schwur vollendeten: „… Wir haben die Kraft!“
Die Nacht feierte jenseits der Fensterscheiben ihr kunterbuntes Fest. Lichter, Glanz und Gloria. Während in den abgedunkelten Räumen des Architekturbüros kein Laut mehr zu vernehmen war. Nur ein geheimnisvoller Duft lag in der Luft. Und niemand konnte sich erklären, wo sein Ursprung lag.
Uuuuh, das riecht mir aber nach einer frischen Knospe, die sich danach verzehrt, zu erblühen, wisperte die Amaryllis beseelt.
So frisch, als wäre es die erste Blüte …?, mutmaßte die Azalee.
Es duftet zum Sterben schön …, schwärmte sogar die Orchidee. Doch was im Nebenraum tatsächlich vor sich ging, konnte keiner von ihnen ahnen. Denn es war ein gemeinsames Geheimnis zweier Pflanzen, welche einander verloren geglaubt hatten. Und auf magische Weise wieder zueinandergeführt worden waren.
Skeletor …, gab Teela lautlos von sich. Du … hast eine Knospe bekommen …? Und dieser Duft, ich kenne ihn … ich kenne dich …!
Er konnte nichts erwidern. Das Gefühl der Glückseligkeit vereinnahmte ihn, erfüllte jede einzelne seiner Zellen. Die Sehnsucht nach seiner Schneerose hatte etwas in ihm bewirkt, das er nicht mehr für möglich gehalten hatte: den Spross einer Knospe.
Nun verblassten all die finsteren Erinnerungen angesichts der Euphorie, dass Teela bei ihm bleiben würde, dass sie alle Zeit der Welt hatten, sich einander anzunähern.
Wir sehen uns wieder, strömte es beinahe unbewusst aus seinen Poren. Wir verlieren uns nicht mehr …
Und es dauerte nur wenige Sekunden, bis jene so lange ersehnte Antwort seine Poren erreichte: Ganz sicher nicht.
Über die Autorin
Wäre Cicer Arieti ein Buch, würde ihr Einband gewiss skeptisch beäugt werden: erstmals verlegt im Jahre 1994, verstritten sich ihre Herausgeber und beschlossen, sie in einer kleinen brandenburgischen Bibliothek unterzubringen. In Gesellschaft fantastischer Geschichten und bewegender Erzählungen füllten sich ihre Seiten allmählich mit tiefgründigen Charakteren, dystopischen Welten und einem magischen Tintenklecks voll Sarkasmus, ehe sie kürzlich an der TU Bergakademie Freiberg ihre 24. Auflage erhielt. Sie hofft, auch zukünftig vielen Lesern mit ihren skurrilen Zeilen ein Lächeln auf die Lippen zaubern zu können.