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Großer Preis des Deutschen Literaturfonds geht an Annette Pehnt

Den mit 50.000 Euro dotierten „Großen Preis des Deutschen Literaturfonds“ erhält in diesem Jahr Annette Pehnt. Sie wurde von der Jury, bestehend aus Birte Lipinski, Manuela Reichart und Hans Thill, aus dem Kreis der bisher durch den Deutschen Literaturfonds geförderten Stipendiatinnen und Stipendiaten gewählt. Der „Große Preis des Deutschen Literaturfonds“ ist hervorgegangen aus dem „Kranichsteiner Literaturpreis“ und gehört mit einem Preisgeld von 50.000 Euro zu den höchstdotierten Literaturpreisen in Deutschland.

Weitere Infos: Großer Preis des Deutschen Literaturfonds 2023 (deutscher-literaturfonds.de)

Die Begründung der Jury lautet:

„Ihr umfangreiches Werk zeugt von einer beeindruckenden Fähigkeit, in ganz verschiedenen literarischen Formen und oft mit wenigen Worten Perspektiven zu vermitteln, Geschichten aufzubauen und Stimmungen zu erzeugen. In ihrem aktuellen Roman Die schmutzige Frau hat sie auf originelle Weise die schriftstellerische Arbeit selbst zum Thema gemacht. Sie verknüpft hier eine versifizierte Rahmenhandlung um eine von ihrem Ehemann finanziell abhängige Schriftstellerin mit eingelegten Prosaminiaturen und entwickelt so ein ganz eigenes Spiel von Strenge und Erzählfluss, vom Umgang mit dem Schreiben und der Fiktion. Dass nur aus der Perspektive der Protagonistin die Handlung zu erschließen ist, unzuverlässig und oft nur andeutungsweise, macht den Reiz der Erzählung aus und kommt einer ‚Wahrheit‘ über das Leben wohl näher als jede eindeutige Behauptung.


In der Kurzprosa wie im Lexikon der Angst und im Lexikon der Liebe, in ihren Kinderbüchern und vor allem in ihren herausragenden Romanen sind solche überraschenden Blickwinkel und wechselnden Figurenperspektiven immer wieder staunenswert.


Die zahlreichen Ich-Erzähler in Alles was Sie sehen ist neu, die Stück für Stück ein Bild der Hauptfigur aufbauen, entwickeln einen ganz anderen Erzählfluss als die Ehefrau in Mobbing, die eigentlich wenig weiß und doch über alle Lücken hinweg erzählt.


Dabei sind Annette Pehnts Figuren vielschichtig und jenseits aller Klischees angelegt. Überrascht merken wir beim Lesen, welche Tiefe die Autorin mit ihren manchmal fast kargen Beschreibungen erreicht, mit welcher Präzision sie ihre Charaktere zeichnet. Von obsessiver Liebe und Verlust in Briefe an Charly bis zu Alter und Tod im Haus der Schildkröten entwirft sie dabei immer auch Beziehungspsychogramme.


Ihre Geschichten fordern uns auf beste Weise heraus: durch Form und Inhalt. Für ihr Gesamtwerk und mit besonderer Hochachtung vor dem jüngsten Roman Die schmutzige Frau verleiht die Jury Annette Pehnt den ,Großen Preis des Deutschen Literaturfonds'.“

Blick ins Buch
Die schmutzige FrauDie schmutzige Frau

Ein trügerisch sanfter, inspirierender Roman über eine Ehe und ihre existenziellen Konsequenzen.

Ein Mann kauft seiner Frau ein großzügiges Apartment über der Stadt. Dort soll sie sich Zeit für sich nehmen und ihren Neigungen nachgehen. Aber die Sache hat einen Haken: Die Frau kann die Wohnung nicht mehr verlassen. „Hier oben brauche ich niemanden, keinen Liebhaber, keinen Ausblick und Meinenmann schon gar nicht“, sagt sie trotzig. Nun ist sie hoch über der Stadt sich selbst, ihren Wünschen und Fantasien ausgeliefert, während ihr Mann seine ganz eigenen Interessen verfolgt.

„Eine sprachgewandte, reflektierte Autorin, die sich auf Zwischentöne versteht.“ DLF

1.

Meinmann: kaum verändert

An manchen Tagen kaum noch derselbe Mensch

Während ich ihn früher groß gewachsen fand, scheint er mir heutzutage eher klein

In seinem damals so kantigen und deutlich geschnittenen Gesicht: nun eine Härte

Seine Finger, früher eher schlank und spitz zulaufend: inzwischen knollig und an den Gelenken mit Haaren bewachsen

Nicht in jedem Licht und zu jeder Tageszeit fallen mir diese Veränderungen ins Auge

Manchmal, wenn wir in der Abendsonne, die großzügig durch die Fenster fällt, unsere Vorspeise löffeln und ich ihn von der Seite mustere, scheint er mir ganz der Alte, und ich wundere mich, wie die Jahre so spurlos an ihm vorüberziehen konnten

Er spürt meinen Blick, sieht mich an

Gleich senke ich die Augen, lasse mir die Haare ins Gesicht fallen, weil ich weiß, dass auch er mich vergleicht mit der Frau, in die er sich damals verliebt hat,

dass er meine Beine und Handgelenke mustert

Und ich schaue weg, fürchte diese Spur von Ekel in seinem Blick

Aber genau in solchen Momenten greift er nach meiner Hand oder fasst mich am Kinn

Schau mich an, sagt er dann leise, in seinem Blick sehe ich nur Lob und Bewunderung

Das wird sich erst ändern, wenn ich einen Fehler begehe: unendlich viele Möglichkeiten, Fehler zu
machen

Sehr viele sind mir bereits unterlaufen, andere kann ich nur ahnen

Als ich noch nicht wusste, wie leicht es ist, sich falsch
zu verhalten, beging ich zahlreiche, wurde aber nicht korrigiert, weil Meinmann sich zurückhielt

Das muss ihn viel Kraft gekostet haben

Ich erinnere mich, dass er ganz zu Anfang, als wir
uns noch nicht lange kannten, nachts im Schlaf mit den Zähnen knirschte

Er lag ganz still auf der Seite,

lang ausgestreckt wie ein ruhender Römer,

das Gesicht glatt und ruhig, bis die Kiefer anfingen zu mahlen

Ich wachte von dem Geräusch auf,

konnte erst im Dunkeln nicht erkennen, dass es von ihm kam, dann begriff ich, was sich da neben mir abspielte

Ich wagte es nicht, Meinenmann zu berühren, weil er sich oft über schlechten Schlaf beklagte und nicht geweckt werden wollte

Wenn ich ihm morgens erzählte, er habe wieder mit
den Zähnen geknirscht in der Nacht, nickte er nur, er wusste es ja

Er spürte sicher noch den Druck in den Zahnwurzeln

So ist es bei mir, wenn ich morgens mit geballten Fäusten und verdrehtem Nachthemd in meinem Schweiß aufwache

Zu den Fehlern, die ich immer wieder begangen habe und bis heute begehe, gehört:

Meinenmann stören, wenn er in die Arbeit vertieft ist (sehe ich denn nicht, dass er arbeitet)

Meinenmann nicht stören, wenn er in die Arbeit
vertieft ist, sodass er vergisst, eine Pause zu machen (langes Sitzen führt zu Verspannungen im Nacken- und Schulterbereich)

Meinemmann unwillkürlich durch das Haar fahren, weil es in der Sonne glänzt (wieso jetzt gerade, wo ihm nicht danach ist)

Meinemmann nicht durch das Haar fahren, das in der Sonne glänzt (sehe ich denn nicht, wie schön die Sonne in seinem noch fülligen Haar spielt)

Meinenmann fragen, ob er die Kellertür abgeschlossen hat (als würde er das jemals vergessen)

Meinenmann nicht fragen, ob er die Kellertür abgeschlossen hat (wie konnte ich das vergessen)

Ihn unterbrechen, während er zu längeren Ausführungen ansetzt

Ihn fragen, wann ich diese Wohnung verlassen und
in das Haus zurückkehren könnte, das zu groß ist für
ihn und sicher für die Jahreszeit zu kühl, weil er immer vergisst, die Heizung rechtzeitig einzuschalten

Anfangs habe ich oft gefragt, er gab immer die gleiche Antwort: Niemand hält dich hier

Es ist wahr, niemand hält mich hier fest, Meinmann ist kein Wärter und ich keine Gefangene, die Tür ist nicht abgeschlossen, und ich besitze genug Kleidungsstücke, Schuhe, Jacken und Schals, die es mir erlauben würden, angemessen gekleidet dort unten auf die Straße zu
treten,

vielleicht D zu treffen oder H, oder all die anderen,
die ich schon so lange nicht mehr gesehen habe, dass ich
sie schon beinahe vergessen habe

Ich kann jederzeit meine schmalen braunen Lederschuhe schnüren, den hellen Mantel von der Garderobe nehmen und die Hand auf die Türklinke legen, ein schlichtes L aus Edelstahl, neu und praktisch

wie alles in dieser Wohnung

Alles andere wäre lächerlich

Ich selbst habe mit Meinemmann die Pläne für die Wohnung angeschaut, wir haben über die Armaturen
im Bad beraten und die schlichte, aber hochwertige Türklinke ausgewählt, denn was man täglich berührt, sollte einfach und haltbar sein

 

Als ich zum ersten Mal eintrat, musterte mich Meinmann genau,

um in meinem Gesicht zu lesen, ob ich mich einleben würde

oder nicht

Es entscheidet sich innerhalb der ersten Sekunden, ob man an einem Ort bleiben wird, ob man es dort aushält oder nicht

Das wusste auch Meinmann

Ich war vorher nie in der Wohnung gewesen, obwohl Meinmann mich dazu aufgefordert hatte

Ich müsse doch wissen, worauf ich mich einließe

Ich könne mich ja einbringen in die Planungen

Aber ich vertraue seinen Entscheidungen, er wusste immer, was gut für uns ist, und so wird es auch dieses Mal gewesen sein

Als die Wohnung fertig renoviert war und wir
zum ersten Mal hinfuhren, gab ich gut acht auf mein Gesicht,

hielt es im Aufzug ruhig und unbewegt, nur um dann, als er mir oben die Tür aufhielt und mir den Vortritt ließ, kurz zu zögern,

mich zu ihm umzudrehen,

ihm einen ernsten Blick zuzuwerfen und rasch und voller Vertrauen durch den Flur voranzugehen ins Wohnzimmer, das an diesem späten Sommernachmittag hell und still in der Sonne auf mich wartete, ein Geruch nach frisch gewachstem Parkett und Zitrone in der Luft

Die Reinigungskräfte hatten alles vorbereitet

Ich sollte nicht das Gefühl haben, in eine alte, abgestandene Bude geschickt zu werden

Er hatte mir Bilder gezeigt, auch die Rechnungen verbarg er nicht vor mir, ich wusste, was mich erwartete, und ich war bereit

 

Meinmann stellte den Koffer ab, einige Kisten hatten wir schon vorher hierher transportieren lassen

Dann gingen wir eine Weile in der leeren Wohnung
hin und her,

fuhren mit den Fingerkuppen über den grauen Sofaüberzug und die dunkelblau schimmernde Ceranplatte in der Küche,

klopften gegen die weiß verputzte Küchentheke und strichen an den makellos lackierten Türrahmen entlang, bevor wir uns umarmten und eine Weile festhielten, die Gesichter an den Hals des anderen gepresst,

so wie früher, ein fiebrig vergangener Augenblick, der auf einmal in diese neue, frisch geordnete Gegenwart hineineiterte, bis wir es nicht mehr aushielten und uns voneinander lösten

Meinmann stellte mir noch eine Flasche Rosé neben den Herd, die ich vorher nicht bemerkt hatte, sodass es mir vorkam, als zaubere er sie aus seinem Jackettärmel, nickte mir zu und schloss leise die Tür hinter sich

Nun war ich allein, so wie ich es mir gewünscht hatte

 

Wir hatten vorher ausgemacht, dass er mich gleich verlassen und die Tür ohne große Worte hinter sich zuziehen sollte

Bald würde ich ihn ja ganz gewiss wiedersehen

Ich musste mich einleben, so rasch wie möglich

Ich setzte mich auf das anthrazitfarbene Sofa und atmete langsam durch die Nase ein und aus

Meine Bauchdecke und auch die Oberschenkel: merkwürdig gespannt, als stünden ein Niesanfall oder
ein plötzlicher Sprint unmittelbar bevor

Ich stellte die Beine nebeneinander auf den Boden,
legte beide Hände in den Schoß und achtete darauf, dass sich meine Finger nicht verkrampften

Plötzlich ging mir die Luft aus,

ich riss den Mund auf, um mehr Luft in mich hineinzulassen

So saß ich eine Weile, kerzengerade, mit aufgerissenem Mund, bis mein Blick sich wieder schärfte und ich mich selbst in den großen Fenstern erkannte,

eine kleine, lautlos schreiende Frau, und gleich schloss ich den Mund, lächelte über das kleine Schnappgeräusch und bekam nun auch wieder Luft

 

Meinmann hat mir Papier gebracht, einen ganzen Stapel weiße Bögen,

und auch ein kleines gebundenes Buch, falls mir das mehr liegt

Du wolltest doch immer schreiben, sagt er und lächelt mir zu, während er das Buch und den Papierstapel vorsichtig auf meinem Schreibtisch ablegt, Gedichte wolltest du schreiben

Es gefällt ihm, dass ich eine künstlerische Neigung habe

Nun habe ich einen Ort ganz für mich, an dem ich mich entfalten kann

Setz dich nicht unter Druck, sagt er, mach es einfach so, wie es sich ergibt, du musst lernen, auf dich selbst zu hören

Das klingt überzeugend, alle wollen das, warum sollte ich es nicht wollen

 

Ich sitze an diesem Schreibtisch aus dunklem Kirschholz (den Meinmann für mich endlich erworben hat) und probiere es aus,

hier zu sitzen, mit all dem Papier und den Stiften, fürsorglich gespitzt

Gedichte schreiben:

Oft stellte ich mir im alten Haus vor, wie ich an einem sorgfältig polierten Schreibtisch säße, einem wie diesem, und die ersten Worte mit der Hand in ein leeres Heft schriebe, wie die Tinte in das Papier hineinsickerte und niemand sie mehr auslöschen könnte,

vielleicht nicht gerade Gedichte,

aber warum nicht,

das sind ja auch nur Geschichten in Zeilen,

und wie meine Hand in langsamen Bahnen von links nach rechts zöge, um immer wieder frisch anzusetzen

Dabei schreibe ich nie mit der Hand

Aber es ergab sich nicht, ich hatte keine Zeit oder war erkältet, am Küchentisch fiel mir nichts ein, und das Büro war für Meinenmann reserviert

Es ergab sich eben nicht

Als der Schreibtisch (Kirschholz) kam, ließ Meinmann ihn ans Fenster stellen

Er wünschte mir einen freien, weiten Ausblick beim Arbeiten (weil er selbst in einem Büro sitzt, dessen Fenster auf den Hinterhof eines Bankgebäudes hinausgehen, und ganz gleich, wohin er seinen Schreibtisch schiebt, er sieht immer nur Beton)

Das wollte Meinmann mir ersparen

Er liebt den freien Blick, will immerzu hinauf in die Höhe

Früher bestieg er jeden Kirchturm, und am Wochenende nahm er mich in die Berge mit, die nicht so weit von unserer Stadt entfernt sind, wie man meinen könnte

Wir gingen stundenlang bergauf und verirrten uns nie, denn Meinmann kannte jeden Weg und brauchte keine Karten

Manchmal kamen mir die Richtungen vertauscht vor

Ich war mir fast sicher, wir wären vor einigen Stunden schon an jenem Felsblock und dieser schütteren Kiefer vorübergelaufen

Aber Meinmann bestand darauf, dass er genau wusste, wo wir waren

Felsen und Kiefern sehen nun mal immer gleich aus, sagte er

Da ich nicht gut darin war, die Landkarten zu lesen, konnte ich ihm wohl kaum widersprechen

Es war ja auch egal, denn wir gingen zusammen durch die kühlen Wälder, Meinmann trug den Rucksack, ich brauchte einfach nur weiterzugehen, dann würden wir schon ankommen

So war es auch

 

Der Schreibtisch am Fenster, makellos und aufgeräumt, wie er war, machte mir Angst

Ich traute mich nicht, etwas dort abzustellen

Selbst ein Stift wirkte fehl am Platze

Natürlich sagte ich Meinemmann nichts von dieser Angst, es hätte ihn enttäuscht, wenn ich sein großzügiges Geschenk auf diese Weise zurückgewiesen hätte,

er glaubte ja an mich

Auf diesen Tisch passte kein Computer, mein altes Notebook war im Haus zurückgeblieben, wir hatten es so vereinbart, damit ich für mich sein könnte, statt mich ständig um die ganze Welt zu kümmern

Das hast du lange genug getan, sagte Meinmann, und es tat mir gut, das aus seinem Mund zu hören

Also notiere ich gelegentlich einige Zeilen auf Zettel und Blätter, ich lege sie ihm vor und erzähle ihm, wie ich am Schreibtisch gesessen und den Schwalben zugesehen habe, die man aus der siebten Etage gut beobachten kann, wie sie durch die Luft schießen, ohne jemals zusammenzustoßen, und dann, sage ich ihm, sei mir ein Einfall gekommen

Den ich gleich aufgegriffen hätte

 

Meinmann lächelt ohne Triumph, mein Tagwerk bereitet ihm aufrichtige Freude, und an seinem Stolz, mir diese Arbeit ermöglicht zu haben, wärme ich mich fast jeden Abend

So kamen bisher, obwohl ich langsam schreibe, schon einige Seiten zusammen

Er ist so stolz auf mein Werk, dass er mich unseren Freunden gegenüber lobt und manchmal auch einige Verse zitiert, die aus seinem Mund seltsam klingen

Er liest die Pausen nicht mit

Die Freunde lauschen beklommen, sie sind nicht gekommen, um eine Dichterlesung zu hören, sondern
um Wein zu trinken und mit Meinemmann zu
debattieren

Meinmann liebt die Debatte, er versteht es, jedes Wort feinsinnig zu drehen und zu wenden, aber er kann auch laut werden

Wenn die anderen ihn dann verstört ansehen und verstummen, genießt er die Stille und hält aus dem Stegreif eine kleine, wohlformulierte Rede (für alle lehrreich)

Das war auch früher schon so

Ich wusste, dass ich mich beteiligen musste

Auf gar keinen Fall wollte ich schweigend an der Seite Meinesmannes sitzen und ihm lauschen, das wäre auch ihm nicht recht gewesen

Wir haben oft darüber gesprochen, dass er sich eine kluge, wortgewandte Frau wünsche, die ihre Meinung sagte, wann immer ihr danach war

Genau das war ich ja immer gewesen

 

Schließlich hatte ich ein Leben, bevor ich Meinenmann traf:

gelernt und studiert

gute Noten verdient und viel Lob bekommen (ich
war nicht auf den Kopf gefallen, ein helles Köpfchen, ja, eigentlich war mein Kopf sogar das Beste an mir)

H, der Mann vor Meinemmann, liebte meinen Kopf so sehr, dass er ihn beständig streichelte und an sich drückte, manchmal so heftig, dass ich keine Luft bekam

Seitdem ich hier oben in der siebten Etage an meinem Tisch sitze, denke ich oft an H, mit dem ich über die Wiesen ging und in der Bibliothek Bücher tauschte

Wir lasen oft nacheinander dasselbe, schrieben mit
fein gespitzten Bleistiften, obwohl das strengstens
verboten war, Anmerkungen an den Rand, die der andere dann fand, und wir lächelten uns über den Tisch und die aufgetürmten Bücher hinweg zu

Ich habe schon überlegt, ob ich H einen Brief schreiben könnte, aber ich weiß nicht, wie ich ihn ihm zukommen lassen würde

Vielleicht sollte ich doch mein Notebook hierher bringen lassen, dann wäre ich mit allen in Kontakt

Aber dann wäre schnell wieder alles beim Alten

Das wäre gegen die Abmachung

Die einzige Möglichkeit: Meinenmann bitten, die Post zum Briefkasten zu tragen, aber er würde sie vermutlich unterwegs aufreißen und lesen

Ich weiß nicht, warum ich das schreibe, ich vertraue Meinemmann natürlich und habe keinen Grund anzunehmen, er könnte mich ausspionieren

Dennoch möchte ich ihn nicht fragen

Es wäre ein Fehler

Ich habe ein feines Gespür für Fehltritte jeglicher Art entwickelt

Rheingau Literaturpreis 2020: 11.111 Euro und 111 Flaschen Rheingauer Riesling an Annette Pehnt

Den Rheingau Literatur Preis 2020 erhält die deutsche Schriftstellerin Annette Pehnt für ihren Roman Alles was Sie sehen ist neu. Die durch das Rheingau Literatur Festival initiierte Ehrung wird in diesem Jahr zum siebenundzwanzigsten Mal vergeben. Die Auszeichnung ist mit 11.111 Euro und 111 Flaschen besten Rheingau Rieslings dotiert. Das Hessische Ministerium für Wissenschaft und Kunst und der Rheingau Musik Festival e.V. stiften je 5.000 Euro des Preises, der vom Relais & Chateaux Hotel Burg Schwarzenstein um 1.111 Euro ergänzt wird. Die erlesenen Weine stammen aus den herausragenden Kellern des Verbandes Deutscher Prädikatsweingüter Rheingau.

Die Jury begründet ihre Wahl folgendermaßen: „In Alles was sie sehen ist neu erzählt Annette Pehnt von der Reise einer Gruppe deutscher Kulturbürger in ein fernöstliches Land namens Kirthan. Sie kommen mit festen Erwartungen, doch sie finden einen Staat in tiefer Ambivalenz zwischen Tradition und Vormarsch in die Moderne. Alle westlichen Wahr- und Weisheiten kommen dort an ein Ende, und bald droht auch dem Reiseprogramm der Abbruch. In diesem Moment verlässt Annette Pehnts Roman die Deutschen und begibt sich auf den Spuren des kirthanischen Reiseleiters zu dessen Lebensstationen über drei Jahrzehnte hinweg. Die europäische Perspektive wird neu fokussiert, ehe das Buch in einem furiosen Finale die Hybris eines angelesenen Verständnisses der Kraft des Zuhörens und Weitererzählens gegenüberstellt. Alles was wir sehen ist neu  sucht die Balance zwischen Orient und Okzident, Kollektivismus und Individualismus, Allegorie und Beobachtung. Das Buch ist ein Schlüsselroman, denn es öffnet die Welt.“

 

Aus der Laudatio von Andreas Platthaus:

Wenn Sie, verehrte Zuhörer, einen interessanten Namen tragen, aber auch wenn Sie kleine Kinder oder alte Eltern haben, Probleme im Beruf oder in der Liebe, Freude an Haustieren oder Kultur, dann sind sie bei Pehnts Büchern genau richtig. Mutmaßlich hat sich längst ein Spiegelbild von Ihnen in eines davon verirrt. Sie müssen es nur noch finden und sich selbst erkennen. Das ist bekanntermaßen die gewagteste Geistesübung. Aber wie gesagt: Annette Pehnts Bücher sind immer auch Abenteuererzählungen.

Die große Geschichtenerzählerin Annette Pehnt erschafft in Alles was sie sehen ist neu einen großen Geschichtenerzähler: Nime, den Reiseleiter. Schon dieser Beruf macht einen langjährigen Pehnt-Leser hellhörig, denn im Debütroman Ich muss los rettete sich der ebenso lebensuntüchtige wie lebenskluge Protagonist Dorst in eine selbstgewählte Existenz als Fremdenführer, mit lauter Lügen im Gepäck, die aber lebenswahr sind. Neunzehn Jahre später wiederholt Annette Pehnt nun diese Konstellation mit Nime. Er, der nicht das Herz, aber das Hirn auf der Zunge trägt, spürt den Stimmungen der ihm Anempfohlenen aufmerksam nach und weiß genau, wann es Zeit ist, nach all dem verstörend Neuen des modernen Kirthan etwas vertrautes Altes einzuflechten, etwa durch den Besuch im hauptstädtischen Tempel der Ewigen Freundlichkeit. „Nime“, so lesen wir dann, „hatte nun die Stimme eines Märchenerzählers, flüsterte von Kurtisanen und Erntetagen, Verbrennungen und Himmelsrichtungen und dem Mittelpunkt der Welt, der seit tausend Jahren mitten im Tempel ruht. Wir lauschten mit halb geschlossenen Augen, hier war sie, die erhabene Schönheit von Kirthan, hier und nicht auf den verstopften Straßen und in den Betonsiedlungen, und den Mittelpunkt der Welt würden wir uns nicht entgehen lassen.“

Annette Pehnt erhält den Preis der Ricarda-Huch-Poetik-Dozentur für Frauen und Gender in der literarischen Welt 2016

Die Stadt Braunschweig und seine Stiftungspartner verleihen der Autorin Annette Pehnt für ihren Roman „Chronik der Nähe“ den Preis der Ricarda-Huch-Poetik-Dozentur für Frauen und Gender in der literarischen Welt 2016.

Der Preis wurde 2015 im Namen der prominenten Braunschweiger Schriftstellerin zur Förderung der Auseinandersetzung mit Genderdimensionen in der Gegenwartsliteratur ins Leben gerufen und umfasst ein Preisgeld in Höhe von 7.000 € und einen dotierten Lehrauftrag im Sommersemester 2016 an der Technischen Universität Braunschweig. Im vergangenen Jahr ging der Preis an die Journalistin Kristina Maidt-Zinke.

Die Jury würdigt mit diesem Preis Pehnts „Sujets, Geschichten, Handlungen, die zugleich einfach und phantastisch sind. Ihre Werke thematisieren Grenzen, die befragt, beschritten und überschritten werden.“

Annette Pehnt

Über Annette Pehnt

Biografie

Annette Pehnt, geboren 1967 in Köln, studierte und arbeitete in Irland, Schottland, Australien und den USA. Heute lebt sie mit ihrer Familie in Freiburg und Hildesheim, wo sie das Institut für Literarisches Schreiben & Literaturwissenschaft leitet. 2001 veröffentlichte sie ihren ersten Roman „Ich muß los“, für den sie unter anderem mit dem Mara-Cassens-Preis ausgezeichnet wurde. 2002 erhielt sie in Klagenfurt den Preis der Jury für einen Auszug aus dem Roman „Insel 34“, 2008 den Thaddäus-Troll-Preis sowie die Poetikdozentur der Fachhochschule Wiesbaden und 2009 den Italo Svevo-Preis. 2022 wurde sie mit dem Rheingauer Literaturpreis und 2023 mit dem Großen Preis des Deutschen Literaturfonds für ihr Gesamtwerk ausgezeichnet. 2011 erschien ihr Roman „Chronik der Nähe“, im selben Jahr erhielt sie den Solothurner Literaturpreis sowie den Hermann Hesse Preis. 2013 erschien der Prosaband „Lexikon der Angst“, 2014 war sie Mitherausgeberin der Anthologie „Die Bibliothek der ungeschriebenen Bücher“. Darüber hinaus schrieb sie mehrere Kinderbücher, unter anderen „Der Bärbeiß“. Zuletzt veröffentlichte sie den Roman „Die schmutzige Frau“.

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www.annette-pehnt.de   »

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