Heilpädagogische Abteilung der Universitätskinderklinik, Wien 1932
Erich
Der Stuhl steht in der Mitte des Raums. Sie können mich alle beobachten. Ich weiß nicht, wie viele es sind, denn ich kneife die Augen zusammen. Meine Muskeln sind steinhart und tun weh. Schon beginnt mein Bein zu wippen. Das tut es immer, wenn ich nervös bin, und ich presse die Hand aufs Knie, damit es aufhört, aber es nützt nichts.
Ich öffne die Augen ein ganz kleines bisschen und schaue heimlich in das Gesicht des Mannes, der vor mir sitzt. Er trägt einen weißen Kittel, also ist er ein Arzt. Sein Gesicht ist schmal, auf der Nase sitzt eine kleine Brille, und das kurze Haar kringelt sich an den Schläfen. Er wirkt angespannt, seine Muskeln sind ebenso hart wie meine. So etwas erkenne ich sofort. Es hilft mir, die Menschen besser einzuordnen. Er schaut mich an wie ein Bauer seine kranke Kuh. Da beginnt mein rechtes Auge zu zucken.
Wenn ich mich jetzt nicht konzentriere, verliere ich den Halt. Dann muss ich aufspringen, schreien und mit den Fäusten gegen meine Schläfen trommeln. Was dann passiert, weiß ich. Sie stürzen sich auf mich und greifen nach mir, zwängen mich in eine Jacke und binden die langen Ärmel am Rücken zusammen. Das letzte Mal haben sie mir dabei ein Stück von einem Schneidezahn ausgeschlagen. Dabei war mir der Zahn erst vor ein paar Monaten gewachsen. Seither fahre ich ständig mit der Zunge über die scharfe Kante – so lange, bis die Zunge blutet. Die Jacke ist eine unendliche Qual. Ich habe Angst, darin zu ersticken. Allein beim Gedanken daran bricht mir kalter Schweiß aus.
Ich atme flacher und beginne, in Gedanken Zahlenreihen zu bilden. Bei jeder ungeraden Zahl zähle ich drei dazu, und von jeder geraden Zahl ziehe ich eins ab. Woher ich das kann, weiß ich nicht. Es war einfach da. Ich habe immer schon alles gezählt. Wenn ich das tue, verschwindet manchmal die Angst, und ich kann die Fragen meines Gegenübers beantworten.
Doch heute klappt es mit dem Zählen nicht. Der Raum fühlt sich an wie eine Blase, in der ich haltlos hin und her schlittere. Die Stimmen der Menschen verschwimmen zu einem Brei. Keines ihrer Worte erreicht mich. Sie bleiben wie ungeordnete Silbenreihen in der Luft hängen.
Ich öffne die Augen. Das Licht ist viel zu grell. Es brennt auf meiner Haut wie Feuer. Ich will mich kratzen, weiß aber, dass ich das nicht darf. Die Stelle am Handgelenk ist vom letzten Mal noch blutig. Solange ich den Arzt anschaue, behalte ich die Kontrolle. Sein Gesicht ist ruhig. Er richtet seine Aufmerksamkeit auf mich, ohne mir dabei direkt in die Augen zu schauen. Weiß er, wie ich mich fühle? Seine Worte an mich sind sachlich. Keine gebrüllten Befehle oder Schimpftiraden, wie ich sie sonst oft zu hören bekomme.
„Wir nehmen den Jungen auf die Station auf.“
Redet er über mich? Irgendjemand antwortet ihm. Eine Frau? Oder doch ein Mann? Mein Herz rast. Es sind zu viele Fremde im Raum.
„Er ist ein autistischer Psychopath.“
Die Worte kommen mir vertraut vor. Ich habe sie schon mal gehört, kann mit ihnen aber nichts anfangen.
Auf einmal tritt jemand von der Seite auf mich zu und fasst mir an die Schulter. Viel zu schnell, viel zu nah. Schreiend springe ich auf. Alle Bemühungen waren umsonst. Die Farben um mich herum explodieren. Ein wildes Durcheinander. Keine Ordnung mehr. Die Worte verwandeln sich in sinnlose Fetzen, die an meinen Ohren vorbeirasen. Selbst die Äußerungen des Arztes, die ich eben noch verstanden habe, sind nur noch Lärm. Ich balle meine Hände zu Fäusten, will sie gegen die Schläfen schlagen, um den vertrauten Schmerz zu spüren. Um sicherzugehen, dass ich am Leben bin und mich nicht in der Leere auflöse.
Da fällt mein Blick auf die Jacke. Ich winde mich, will weglaufen. Ich beiße zu. Keine Ahnung, wen ich erwische. Jemand schlägt mir ins Gesicht. Dann spüre ich, wie meine Hände in die Jacke geschoben werden. Es ist zu spät. Es gibt kein Entkommen.
Wien 1986
Sarah
Dicke Regentropfen klatschten an das staubige Fenster des winzigen Büros und liefen an der Scheibe entlang. Sollte der Regen irgendwann aufhören, würden hässliche Schlieren zurückbleiben. Doch im Moment war kein Ende des nassen Wetters in Sicht.
Sarah war Regen gewöhnt, sie hatte die achtundzwanzig Jahre ihres bisherigen Lebens in Gloucester verbracht, und im Südwesten Englands standen oft heftige Schauer und Nieselregen auf der Tagesordnung. Sie hatte gehofft, dass das Wetter in Wien besser sein würde. In ihrem Reiseführer hatte gestanden, dass die durchschnittliche Anzahl von Regentagen im September acht betrug. Diese Zahl war längst überschritten.
Seit zwei Wochen war Sarah nun schon in der Stadt des Walzers und der Kaffeehäuser und hatte die Sonne nur ein einziges Mal zu Gesicht bekommen. Gerade als sie auf dem Turm des Stephansdoms gestanden und über die Stadt geschaut hatte, war es ein paar zaghaften Sonnenstrahlen gelungen, die graue Wolkendecke zu durchbrechen. Sofort hatten die nassgrünen Dächer zu leuchten begonnen und in Sarah eine Vorstellung davon geweckt, wie Wien an einem warmen Herbsttag aussehen könnte. Doch schon während sie die enge Wendeltreppe hinuntergeklettert war, hatte sich der Himmel wieder zugezogen. Als sie auf die Straße hinaustrat, wäre sie beinahe in einen jungen Mann hineingelaufen. Statt ungehalten zu sein, hatte er ihr ein warmes, gewinnendes Lächeln geschenkt. Zu gerne hätte sie ihn in ein Gespräch verwickelt, aber er war genauso rasch, wie sich die Sonne verflüchtigt hatte, wieder aus ihrem Blickfeld verschwunden.
Bei dem schlechten Wetter hätte Sarah sich ganz auf ihre eigentliche Aufgabe konzentrieren können. Schließlich war ihr Aufenthalt in Wien kein Urlaub, sondern ein Forschungsaufenthalt. Von der Begeisterung, die sie beim Abschied von ihrer Mutter in Heathrow verspürt hatte, war nur wenig übrig geblieben.
„Warum ausgerechnet Wien?“, hatte ihre Mutter sie gefragt, als sie ihr das erste Mal von ihren Plänen erzählt hatte. „Du könntest doch nach Bremen oder Hamburg gehen. Dort haben wir Verwandte und Freunde. Meinetwegen auch nach Heidelberg, die Stadt hat eine hervorragende Universität.“
Sarahs Mutter stammte aus einer kleinen Ortschaft in der Nähe von Bremen, weshalb ihre Tochter akzentfrei Deutsch sprach. Emilia Winter war vor dreißig Jahren der Liebe wegen nach England gezogen, und nachdem die Ehe mit Colin Albright in die Brüche gegangen war, hatte sie sich entschieden, der Kinder wegen in Gloucester zu bleiben.
„Wie soll ich denn in Heidelberg oder Hamburg zu Hans Asperger forschen?“, hatte Sarah entgegnet. „Der Mann hat in Wien gearbeitet und dort auch seine Arbeiten veröffentlicht.“
Beim Abschied hatte ihre Mutter sie in den Arm genommen und so fest an sich gedrückt, als würde sie nach Papua-Neuguinea auswandern und nicht bloß für ein halbes Jahr nach Wien gehen. „Pass gut auf dich auf“, hatte sie geschnieft und dann all die guten Ratschläge wiederholt, die sie ihr schon in den letzten Wochen mitgegeben hatte. Sarah hatte alles geduldig über sich ergehen lassen.
„Sag Harry, dass ich ihm eine Postkarte aus dem Zoo in Schönbrunn schreiben werde. Ich suche nach einer Karte mit Pinguinen“, hatte Sarah gesagt. „Und wenn es keine gibt, werde ich ihm eine zeichnen.“ Dann hatte sie sich aus der Umarmung ihrer Mutter gelöst und war zum Gate geeilt.
„Träumst du mit offenen Augen?“
Sarah zuckte zusammen. Vor ihr im Büro stand Johannes, der Assistent, mit dem sie das Zimmer teilte und der sich während ihres Aufenthalts um sie kümmern sollte. Der Professor, der eigentlich dafür bezahlt wurde, hatte keine Zeit für ausländische Studenten, die an ihren Doktorarbeiten schrieben.
„Ich bin mit meinen Gedanken wohl etwas abgedriftet“, gab Sarah zu. Sie richtete sich auf und legte den Kopf in den Nacken, denn Johannes war mindestens zwei Meter groß. Auf der spitzen Nase saß eine runde Metallbrille. Heute trug er ein türkisfarbenes Hemd mit einem schicken Palmenmuster. „Kommst du mit in die Mensa?“, wollte er wissen.
Sarah schob die Bücher, die sie sich gestern in der Institutsbibliothek ausgeliehen hatte, zur Seite. „Gern.“
„Dann lass uns gehen“, meinte Johannes.
Über einen fensterlosen Gang liefen sie zum Treppenhaus. Der Aufzug, ein quietschender Paternoster, war ständig überfüllt. Sarah fuhr nicht gerne damit. Sie hatte ständig Angst, den Ausstieg zu verpassen und zu spät aus der Kabine zu springen. Und sie wäre keineswegs die Erste gewesen, die sich dabei verletzte. Erst letzte Woche war eine Studentin mit einem gebrochenen Knöchel und aufgeschlagenen Knien ins Krankenhaus gebracht worden.
Seit ihrem ersten Tag im NIG fragte sich Sarah, warum der Bau „Neues Institutsgebäude“ hieß, denn er war dreckig und heruntergekommen. Die Wände in den Fluren und im Treppenhaus waren mit Plakaten gepflastert: Werbung für Restaurants und Kaffeehäuser, Ankündigungen für Vorträge und Theateraufführungen, aber auch politische Botschaften. Johannes hatte ihr erklärt, dass die Parteien ihre Kandidaten für die bevorstehenden Nationalratswahlen bewarben.
„Das hängt aber schon länger hier“, meinte Sarah und deutete auf ein Plakat mit dem Slogan Jetzt erst recht und einem Hinweis auf eine Wahl am 8. Juni.
„Das sind ja auch die Reste der Bundespräsidentenwahl“, erklärte Johannes. „Nachdem die ganze Welt darüber entsetzt war, dass Kurt Waldheim Mitglied der SS war, fiel der Volkspartei kein besserer Slogan ein, um ihre Wähler davon zu überzeugen, jetzt erst recht für Waldheim zu stimmen.“
„Und das hat gewirkt?“, fragte Sarah ungläubig.
„Wie du siehst. Kurt Waldheim ist in der Stichwahl zum Präsidenten gewählt worden. Und jetzt hat Österreich einen Präsidenten, der nur noch von Diktatoren empfangen wird und in den USA auf der Watchlist steht.“
Johannes lief weiter die Treppe hinunter, und Sarah folgte ihm. Sie würde bei anderer Gelegenheit nachfragen, was es genau mit der Waldheim-Affäre auf sich hatte.
Die Mensa befand sich im Untergeschoss. Schon auf dem Gang duftete es verführerisch. So mitgenommen und schäbig das Gebäude auch sein mochte – das Essen in der Mensa war köstlich. Selbst in den teuren Innenstadtlokalen von Gloucester bekam man selten Gerichte von dieser Qualität.
„Ich beneide euch um diese Mensa“, meinte Sarah.
„Heute gibt es Buchteln, die sind ganz in Ordnung“, entgegnete Johannes. „Aber sonst ist das Essen ein Fraß. Bei jedem Würstlstand in der Stadt kriegt man etwas Besseres.“
Sarah wollte widersprechen, doch sie behielt ihre Bemerkung lieber für sich. Johannes machte sich gerne über sie lustig, und sie wollte auf keinen Fall die Vorurteile über die britische Küche weiter befeuern.
In einer Ecke des riesigen Saals fanden sie einen Vierertisch, der bloß von einem jungen Mann besetzt war. Johannes ging zielstrebig auf ihn zu.
„Ist hier noch frei?“
„Nur zu.“ Der Angesprochene blickte kurz von seinem Teller hoch und widmete sich dann wieder den Unterlagen, die neben ihm auf dem Tisch lagen. Er hatte struppiges, blondes Haar, das ihm unordentlich in die Stirn fiel, und trug ein dunkles Poloshirt. Eine abgewetzte Lederjacke hing über seiner Stuhllehne.
„Soll ich dir eine Portion Buchteln mitnehmen?“, fragte Johannes. „Dann kannst du die Plätze für uns besetzen.“
„Ja bitte“, sagte Sarah. „Und eine Packung Lattella.“
„Trinkst du eigentlich noch etwas anderes?“, fragte Johannes belustigt.
„Ich hätte nie gedacht, dass ein Abfallprodukt der Milchproduktion so gut schmecken kann“, sagte Sarah. Sie liebte das süße Molkegetränk, das es zu Hause nicht gab.
Kaum hatte Johannes sich auf den Weg zur Essensausgabe gemacht, warf ihr der Blonde einen neugierigen Blick zu.
„Kennen wir uns?“, fragte er.
Und plötzlich fiel Sarah ein, wo sie ihn schon einmal gesehen hatte.
„Ich hätte dich neulich am Stephansdom beinahe umgelaufen“, sagte sie.
„Ja, richtig! Ich erinnere mich.“ Da war wieder dieses gewinnende Lächeln. „Bist du aus Deutschland?“
„Nein, aus England, Gloucester.“
„Und warum redest du dann wie ein Piefke?“ Auf seiner rechten Wange bildete sich ein Grübchen. Er schien sich gerade über sie lustig zu machen.
„Ich habe keine Ahnung, was ein Piefke ist“, meinte Sarah irritiert. „Aber meine Mutter stammt aus Deutschland.“
„War das der Grund, warum du auf den Südturm geklettert bist? Sightseeing?“
„Ich muss gestehen, dass der Dom das einzige Wahrzeichen ist, das ich bis jetzt besichtigt habe.“
„Das kann nicht sein!“ Mit gespielter Empörung richtete er sich auf. „Das muss dringend geändert werden. Die Stadt hat viel mehr zu bieten.“
„Bestimmt. Leider hatte ich bisher keine Zeit.“
„Zeit nimmt man sich“, meinte er. „Was kann so wichtig sein, dass du keine Zeit hast, dich ein paar Stunden in der Stadt umzusehen?“
„Meine Doktorarbeit.“
„Welche Studienrichtung?“
„Psychologie.“
„Oje.“ Er verzog leidend den Mund. „Eine von denen, die glauben, den Menschen auf den Grund der Seele schauen zu können?“
„Nein“, sagte Sarah. „Wie kommst du auf die Idee?“
„Die meisten Psychologiestudenten, die ich kenne, haben dieses Fach gewählt, weil sie sich entweder selbst heilen wollen oder sich erhoffen, alle anderen Menschen entschlüsseln zu können. Aber das ist bestimmt ein Vorurteil. Bitte entschuldige.“
„Schon gut“, meinte Sarah. „Wir sind alle nicht gegen Vorurteile gefeit.“
„Welches Thema erforschst du?“, fragte er.
„Ich beschäftige mich mit Autismus. Genauer gesagt mit der Entdeckung des Autismus durch den Wiener Arzt Dr. Hans Asperger.“
„Das ist ja interessant. Ist das eine Krankheit?“
„Autismus ist eine Behinderung.“
„Wo ist der Unterschied?“
„Eine Krankheit ist im Idealfall heilbar, die Behinderung nur therapierbar.“
„Guter Gedanke“, meinte er. „Darüber habe ich noch nie nachgedacht.“
„Das tun die wenigsten Menschen“, sagte Sarah. „Und mit Autismus beschäftigt man sich wohl auch nur als Forscher oder als Betroffener. Was studierst du eigentlich?“
„Publizistik. Wobei ich hoffe, dass ich mich nicht bis zum Ende durchs Studium quälen muss, sondern vorher schon einen Job als Journalist bekomme.“ Er lachte. Es klang ansteckend und herzlich. Dabei schlug er das Heft, das vor ihm lag, zu. „Im Moment arbeite ich an einem Artikel über den Spiegelgrund.“
„Spiegelgrund? Was ist das?“
Er griff nach seiner Kaffeetasse und nahm den letzten Schluck. Etwas zu schwungvoll stellte er sie zurück auf die Untertasse, und der Löffel schlug klirrend gegen den Rand. „Eine ganz spezielle Kinderklinik.“
„Inwiefern speziell? Hat man dort zu bestimmten Themen geforscht?“
„Geforscht?“ Er zog erstaunt die Augenbrauen hoch, doch noch bevor er eine Erklärung abgeben konnte, kam Johannes zurück.
„Einmal Buchteln mit Vanillesoße und eine Packung Lattella.“
Er stellte das Tablett auf den Tisch und ließ sich selbst auf einen Stuhl plumpsen.
Der Publizistikstudent griff nach seinen Unterlagen und stopfte sie in eine speckige Ledertasche, die er vom Boden aufhob. Gleich mehrere bunte Sticker klebten darauf. Stoppt den Kraftwerksbau!, las Sarah. Auf anderen stand: Rettet die Au! und Hainburg.
„Ich würde mich gerne länger mit dir unterhalten“, sagte er. „Leider muss ich jetzt los. Bestimmt sieht man sich wieder. Die Uni ist klein.“ Er stand auf. „Ich heiße übrigens Stefan.“ Er streckte ihr die Hand entgegen.
Sarah ergriff sie. Seine Finger waren kräftig und warm. „Sarah.“
„Freut mich, bis bald.“ Er strich sich die blonden Strähnen aus der Stirn, dann ging er mit beschwingten Schritten zum Ausgang.
Johannes starrte ihm düster nach. „Was war das denn für ein eingebildeter Heini?“
„Stefan, ein Publizistikstudent“, sagte Sarah. Sie fand nicht, dass er eingebildet wirkte. Ganz im Gegenteil – er kam ihr sympathisch vor und war zudem ziemlich gut aussehend. Aber das wollte sie auf keinen Fall mit Johannes erörtern.
„Er schreibt über den Spiegelgrund“, sagte sie stattdessen. „Hast du davon schon mal gehört?“
„Neulich war ein Artikel in der Zeitung. Aber ich muss gestehen, dass ich ihn nur überflogen habe. Nach der ganzen Waldheim-Geschichte habe ich im Moment genug von der Vergangenheit. Es gibt ja auch noch andere Themen. Außerdem solltest du nicht alles glauben, was Typen wie dieser Stefan erzählen.“
„Wieso?“
„Sie bauschen winzige Dinge zu riesigen Themen auf. Blender, die große Worte schwingen. Aber außer heißer Luft steckt nicht viel dahinter. Der Typ ist in unserem Alter und hat anscheinend nicht einmal einen Magister in der Tasche.“
Sarah fand Johannes’ harsche Kritik nicht angebracht. Schließlich wussten weder er noch sie, wie lange Stefan schon studierte oder warum er womöglich länger für sein Studium gebraucht hatte. Sie zog den Teller näher zu sich, griff nach der bunten Lattellapackung und ertappte sich bei der Hoffnung, Stefan schon recht bald wieder über den Weg zu laufen.
Als sie abends das Universitätsgebäude verließ, lag eine Mappe voller Kopien in ihrer Umhängetasche. Den halben Nachmittag hatte sie am Kopierer verbracht und Abzüge von Fachliteratur gemacht. Es war spät geworden und dämmerte bereits. Langsam ratterte die Straßenbahn stadtauswärts, Richtung Neustift am Walde. An der Endhaltestelle stieg Sarah aus und lief eine schmale Straße entlang, die einen kleinen Hügel hinaufführte. Als sie an einer öffentlichen Telefonzelle vorbeikam, stellte sie schuldbewusst fest, dass sie wieder vergessen hatte, eine Telefonwertkarte zu kaufen. Mit den wenigen Schillingmünzen, die sie in ihrer Geldbörse hatte, würde sie gerade „Hallo“ und „Wie geht es dir?“ zu ihrer Mutter sagen können, ehe die Verbindung wieder abbräche. Die Telefonate nach England waren unverschämt teuer. Sie nahm sich vor, am nächsten Tag eine Karte zu erstehen, am besten mit einem Guthaben von mindestens fünfzig Schilling, damit sie ihrer Mutter von ihren ersten Tagen in Wien erzählen konnte.
Vielleicht würde sie hinterher auch Benedict anrufen. Doch schon im nächsten Moment verwarf sie den Gedanken wieder. Sie würde ohnehin nur zu seiner Sekretärin Mrs Summer durchkommen, die sie so lange in der Warteschleife hängen lassen würde, bis das Guthaben aufgebraucht war. Zu Hause durfte Sarah den Professor für englische Literatur nicht anrufen. Die Gefahr, dass seine Frau oder eines seiner pubertierenden Kinder ans Telefon ging, war zu groß.
Sarah versuchte, Benedict wieder aus ihren Gedanken zu verbannen. Die unglückliche Beziehung zu ihm war ein weiterer Grund dafür gewesen, nach Wien zu gehen. Sie brauchte Abstand, um in Ruhe nachzudenken, und zwar mit absoluter Benedict-Abstinenz.
Inzwischen hatte sie ihr Ziel erreicht. Vor ihr ragte die Jugendstilvilla auf, in der sie ein Zimmer gemietet hatte. Das Gebäude hatte schon bessere Tage gesehen. Überall blätterte der Putz von den Außenwänden, in den Ecken der hübschen Erker bildete sich Schimmel, und das Geländer des Balkons war ebenso verrostet wie das quietschende Gartentor, das Sarah jetzt öffnete. Bestimmt saß Fräulein Weichsel, Sarahs Vermieterin, in ihrem Wintergarten und beobachtete, wie sie durch den verwilderten Garten zur Haustür ging.
Gleich bei ihrer Ankunft hatte Sarah sich in diesen Ort verliebt. Seit Jahren schienen hier die Pflanzen wachsen zu dürfen, wie es ihnen gefiel. Nur der Rasen wurde von Zeit zu Zeit gemäht. Die knorrigen Äste der Apfelbäume bogen sich unter den reifen Früchten, und wilde Rosenbüsche rankten am Gartenschuppen empor. Manchmal hörte sie abends einen Igel in der dichten Hecke schnaufen, und es hätte sie nicht gewundert, wenn dort auch andere Wildtiere wohnten. Es war ein verwunschenes Paradies, das zum Spinnen fantastischer Geschichten einlud. Sarah war in einer winzigen Wohnung einer Sozialsiedlung am Rand von Gloucester aufgewachsen und hatte immer von so einem Garten geträumt.
Sie betrat das Haus durch den Vordereingang. Da ihre Vermieterin die Tür erst spätabends absperrte, bevor sie schlafen ging, musste Sarah keinen Schlüssel herauskramen.
Wie erwartet, hatte Fräulein Weichsel sie kommen sehen. „Guten Abend“, rief sie aus dem Wintergarten.
Sarah war ihre einzige Mieterin. Die alte Dame hatte sie auf Anhieb in ihr Herz geschlossen und umgekehrt. Sie bestand darauf, als Fräulein angesprochen zu werden, da sie nie verheiratet gewesen sei. „Das war mir leider nicht vergönnt“, hatte sie gleich am ersten Abend traurig gesagt und damit zugleich signalisiert, dass sie nicht mehr erzählen wollte. Sarah vermutete, dass ihr Liebster im Krieg gefallen war, denn im Esszimmer hing eine alte Sepiafotografie eines hübschen jungen Mannes. Dieses Zimmer war wie die meisten anderen im Haus ungenutzt. Fräulein Weichsel aß ausschließlich in der Küche und verbrachte den Großteil des Tages im Garten oder im Wintergarten.
„Haben Sie schon gegessen?“, erkundigte sich Fräulein Weichsel. Die Verpflegung war keineswegs Bestandteil des Mietvertrags, aber die alte Dame lud Sarah jeden Abend zum Essen ein. Sie war eine hervorragende Köchin und hatte es sich zur Aufgabe gemacht, Sarah die österreichische Küche näherzubringen.
„Nein, noch nicht.“
„Ich habe Krautfleckerl gemacht. Kennen Sie die?“
Sarah verneinte. Aber dem Geruch nach zu urteilen würde es wie immer köstlich schmecken.
Sie hängte ihre Regenjacke auf und folgte Fräulein Weichsel in die Küche. Hier schien die Zeit stehen geblieben zu sein. In einer weißen Anrichte standen Teller, Tassen und Gläser, die so aussahen, als stammten sie aus dem vorigen Jahrhundert. Auf einer gemütlichen Eckbank lag eingerollt der Kater Moritz, der den ganzen Tag zu verschlafen pflegte. Als Sarah die Küche betrat, hob er träge den Kopf, nur um ihn wieder sinken zu lassen und weiterzuschlafen. Vor einem Herd, den man mit Holz befeuerte und der gleichzeitig den Raum beheizte, stand Fräulein Weichsel und rührte in einer schwarzen, gusseisernen Pfanne.
„Setzen Sie sich.“ Die alte Frau trug eine geblümte Schürze über einem braunen Kleid und hatte das graue Haar zu einem ordentlichen Knoten frisiert. Der einzige Schmuck, den sie angelegt hatte, war eine goldene Kette mit einem ovalen Anhänger, den man aufklappen konnte. Beim Kochen verstaute sie den Anhänger unter ihrer Bluse, damit er nicht im Weg war.
„Hatten Sie einen erfolgreichen Tag an der Universität?“
„Ich denke schon“, wich Sarah aus. Sie wusste nicht, ob das Kopieren von Fachliteratur wirklich als Erfolg zu verbuchen war.
Fräulein Weichsel nahm die Pfanne vom Herd und trug sie zum Tisch. Jetzt erst sah Sarah, dass bereits für zwei gedeckt war. Ihre Vermieterin hatte mit dem Essen auf sie gewartet. Sarah setzte sich auf die Bank neben Moritz, der laut schnurrte, sich aber keinen Millimeter bewegte.
Fräulein Weichsel stellte die dampfenden Krautfleckerl auf dem Tisch ab und nahm ebenfalls Platz, ehe sie das Essen auf die beiden Teller verteilte.
„Haben Sie neue Menschen kennengelernt?“, erkundigte sich Fräulein Weichsel wie jeden Abend.
„Ja, ich habe mich in der Mensa ein bisschen mit einem Studenten unterhalten.“
„Aha.“ Fräulein Weichsel hob neugierig den Kopf. „Es freut mich, dass Sie endlich soziale Kontakte knüpfen. Bis jetzt sind Sie ja bloß in Ihrem Zimmer gehockt, oder Sie haben gearbeitet.“
Sarah musste schmunzeln, dass Fräulein Weichsel sich wegen ihres Mangels an sozialen Kontakten sorgte, während sie selbst ihr Haus nur verließ, um einkaufen zu gehen. Die Vermutung ihrer Vermieterin, dass sie ständig am Schreibtisch saß, stellte Sarah lieber nicht richtig. In Wirklichkeit fiel es ihr schwer, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren, seit sie in Wien angekommen war.
„Und welche Fachrichtung hat dieser Student belegt?“, wollte Fräulein Weichsel wissen.
„Er möchte Journalist werden und schreibt gerade an einem Artikel, von dem er mir erzählt hat.“
„Interessant. Worüber denn?“
Sarah musste nachdenken. Was hatte Stefan noch gesagt?
„Über eine Kinderklinik. Ich kann mich an den Namen aber nicht mehr erinnern.“
„Na, macht nichts. Sie werden schon wieder darauf kommen.“
„Bestimmt“, meinte Sarah. Ihr fiel ein, dass sie Fräulein Weichsel nach der Waldheim-Affäre fragen könnte. Sie hatte gar nicht mehr daran gedacht, Johannes in der Mensa noch einmal darauf anzusprechen.
„Was hat es eigentlich mit dieser Waldheim-Affäre auf sich?“, fragte sie. „Ich habe das von England aus nicht so genau verfolgt.“
„Ach, die ganzen Diskussionen über unseren Bundespräsidenten haben viel Staub aufgewirbelt“, sagte Fräulein Weichsel ungewohnt streng. „Die Zeitungen waren voll mit alten Nazigeschichten, die längst vergessen waren. Sobald man den Fernseher aufgedreht hat, wurde über den Krieg geredet. Ich will das alles nicht mehr hören. Ich habe genug davon. Das Thema muss irgendwann einmal abgeschlossen werden.“
„Denken Sie nicht, dass es wichtig ist, sich mit seiner eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen?“, fragte Sarah vorsichtig.
„Nein“, antwortete ihre Vermieterin ungehalten. „Der Krieg ist lange vorbei, Gott sei Dank.“ Sie stach energisch mit ihrer Gabel nach einem Krautfleckerl. Zum ersten Mal, seit Sarah in der Villa wohnte, verhielt sich die alte Dame ihr gegenüber abweisend. Sie hatte eindeutig signalisiert, dass das Thema für sie beendet war. Sarah fing ebenfalls zu essen an.
Eine Weile schwiegen beide. Sarah fragte sich, warum Fräulein Weichsel so harsch reagiert hatte, und um die Stimmung zu heben, bemerkte sie: „Die Krautfleckerl sind wirklich himmlisch.“
Fräulein Weichsel lächelte versöhnlich. „Ein Rezept meiner Mutter. Sie war Köchin in einem großen Haushalt auf der Ringstraße.“
„Und welchem Beruf ging Ihr Vater nach?“
„Er war Schuhmacher, starb aber im Ersten Weltkrieg.“
„Das tut mir leid“, sagte Sarah.
Sie fragte sich, wie es kam, dass die Tochter einer alleinerziehenden Köchin in einer Jugendstilvilla wohnte. Denn trotz seiner Baufälligkeit war das Haus mit Sicherheit ein kleines Vermögen wert.
Der Rest des Abendessens verlief unter Schweigen. Sarah gelang es nicht, das Gespräch erneut in Gang zu bringen.
Erst beim gemeinsamen Abwasch fingen sie wieder zu plaudern an. Fräulein Weichsel meinte, das Wetter in den nächsten Tagen solle besser werden, und sie könne dann endlich die Nüsse, Äpfel und Birnen im Garten ernten.
Als Sarah sich in ihr Zimmer zurückzog, war alles wieder friedlich, wie gewohnt.
Nach der lauwarmen Dusche wickelte sich Sarah zuerst in einen flauschigen Bademantel und dann zusätzlich in eine dicke Wolldecke. Auch der alte Boiler im Badezimmer bedurfte einer Sanierung. Beim Aufdrehen des Wasserhahns rumpelte und krachte er, als würde er jeden Moment explodieren. An die seltsamen Geräusche konnte Sarah sich gewöhnen, an die kühlen Wassertemperaturen nicht.
„Kaltes Wasser hält frisch und jugendlich“, hatte Fräulein Weichsel behauptet. Auf sie selbst schien das zuzutreffen. Ihre Haut hatte wenig Falten, und die alte Dame war körperlich noch so rüstig, dass sie problemlos auf hohe Leitern steigen konnte, um Obst zu ernten.
Sarah setzte sich an den Schreibtisch, ein wunderschönes, altes Möbelstück mit unzähligen Schubladen und Fächern. Gerne hätte sie so einen Tisch zu Hause in Gloucester gehabt. Aber zum einen waren Antiquitäten sündhaft teuer, zum anderen würde der Tisch in ihrem winzigen Wohnzimmer wie ein Eindringling aus einer anderen Welt aussehen. Sie musste sich wohl weiterhin mit dem kleinen Tisch der Billigmöbelkette aus Schweden begnügen.
Sarah zog die Decke enger um ihre Schultern und widmete sich den kopierten Unterlagen. Hoffentlich kam niemand im Institut dahinter, wie viele Seiten es waren. Gleich bei ihrer Vorstellung hatte der Institutsleiter sie darum gebeten, sparsam mit den Kopien umzugehen. „Die Wartung der Geräte kostet ein Vermögen. Gehen Sie in die Bibliothek, und leihen Sie sich dort die Bücher aus, die Sie benötigen.“
Sarah hatte in ihrem Leben schon so viele Stunden in verstaubten Bibliotheken verbracht, dass sie lieber auf Kopien zurückgriff.
Ganz oben auf dem Stapel lag ein Artikel über die Entstehung der Heilpädagogischen Abteilung an der Wiener Universitätskinderklinik in den Zwanzigerjahren. Es war die Abteilung, in der Asperger später gearbeitet und geforscht hatte. Bedeutende Namen der Psychotherapie stachen ihr ins Auge: Alfred Adler, Bruno Bettelheim, Erik Erikson, Anna Freud, Erich Fromm, Carl Gustav Jung und Melanie Klein. Sie alle waren in dem 1922 gegründeten Psychoanalytischen Ambulatorium tätig gewesen, einer Einrichtung für die ambulante Behandlung, die für die Patienten sogar kostenlos war. Offenbar hatte es eine enge Zusammenarbeit zwischen diesem Ambulatorium und der Heilpädagogischen Abteilung gegeben, deren Gründer und Leiter Dr. Erwin Lazar gewesen war.
Sie betrachtete ein schlecht kopiertes Gruppenfoto, auf dem der Mitarbeiterstab der Heilpädagogischen Abteilung im Jahr 1933 zu sehen war. Gleich viele Männer wie Frauen lächelten in die Kamera, sie alle trugen weiße Mäntel. In der sitzenden Reihe rechts vorne erkannte Sarah Dr. Hans Asperger. Sie verehrte diesen Arzt, der herausgefunden hatte, dass Menschen mit Autismus die Welt mit anderen Augen sahen und differenzierter wahrnahmen. Sie waren nicht minderintelligent und keineswegs „autistische Psychopathen“, wie sie bezeichnet worden waren, bevor Asperger seine Forschungen publiziert hatte. Ganz im Gegenteil – viele von ihnen verfügten über faszinierende Inselbegabungen, die sie zwar vom Rest der Bevölkerung unterschieden, sie aber mit ganz besonderen Fähigkeiten ausstatteten.
Der schlanke, groß gewachsene Mann mit dem schmalen Gesicht und der kleinen, runden Brille war Sarah im Zuge ihrer Forschungen vertraut geworden. Von der Frau, die hinter ihm stand, fiel ihr gerade nur der Vorname ein, Viktorine. Sarah blätterte in ihren Unterlagen. Wo steckte nur der kopierte Bericht des Bostoner Psychiaters Joseph Michaels? Darin befand sich eine Namensliste, da war sie sich ganz sicher. Er hatte 1936 im American Journal of Orthopsychiatry die Abläufe in der Heilpädagogischen Abteilung von der Morgentoilette bis zur Gymnastik im Detail beschrieben.
Sie wühlte sich durch einen Haufen aus Kopien, Mitschriften und Büchern. An ihrem Chaos hatte auch der wunderschöne Schreibtisch nichts geändert. Schließlich fand sie den Bericht ganz unten im Stapel und vertiefte sich darin.
Michaels war von der Klinik beeindruckt gewesen, was Sarah gut nachvollziehen konnte. Die hier angewandten Methoden waren bahnbrechend gewesen. Bis heute setzte man in vielen europäischen Kliniken Methoden ein, die nicht annähernd so human und modern waren wie damals in Wien. Besonders begeistert äußerte sich Michaels über die Beurteilungsverfahren im Ambulatorium, die sich von den strikten Diagnoseprotokollen in anderen Einrichtungen unterschieden. Wöchentlich wurden etwa sechzig bis siebzig Kinder und Jugendliche zur medizinischen Abklärung an die Klinik verwiesen. Für den stationären Aufenthalt standen fünfundzwanzig Betten zur Verfügung. Die Kinder sollten im Krankenhaus so leben, als wären sie zu Hause. Die Tage verliefen nach einem geregelten Zeitplan. Um keine Langeweile aufkommen zu lassen, erhielten die Kinder sogar Unterricht – eine Neuigkeit im Krankenhausalltag. Es gab montags Mathematik, dienstags Lesen, Orthografie und Textkomposition am Mittwoch, Geografie oder Geschichte am Donnerstag, Naturkunde am Freitag und samstags Handarbeiten oder Zeichnen. In der Regel blieben die Kinder vier bis sechs Wochen.
In dem Artikel kam zwar kein einziges Kind zu Wort, doch Michaels betonte, dass die Mitarbeiter um eine individualisierte Beurteilung aller Schützlinge bemüht seien. Er würdigte im Besonderen die Arbeit von Erwin Lazar, Georg Frankl und Anni Weiss. Asperger wurde nicht erwähnt, dabei hatte er doch später die Leitung der Abteilung übernommen. Wie hatte der Amerikaner ihn in seinem Bericht einfach übergehen können? Schließlich hatte Asperger die Diagnose Autismus erstmals mit wertschätzenden Worten beschrieben und die betroffenen Kinder aus der defizitorientierten Ecke herausgeholt.
Sarahs Blick fiel auf den Namen Viktorine Zak. Richtig, so hieß die Frau, die auf dem Foto hinter Asperger stand. Sie war jung und ausgesprochen hübsch. Dunkle Locken umspielten ihr Gesicht, das eine offene Freundlichkeit ausstrahlte.
Sarah lehnte sich seufzend zurück und starrte aus dem Fenster. Der Garten lag in völliger Dunkelheit da. Sarah dachte über ihr eigenes Aussehen nach. Sie war weder groß noch klein oder besonders hübsch. Alles an ihr war durchschnittlich – bis auf ihre rotblonden Locken. Als Kind hatte sie die Farbe gehasst, weil man sie in der Schule dafür verspottet hatte. Benedict hingegen liebte ihr Haar. Meistens band sie es zu einem praktischen Pferdeschwanz zusammen, nur bei besonderen Anlässen trug sie es offen. Wie bei den meisten Menschen mit rotem Haar überzogen ihre Haut unzählige Sommersprossen. Kaum kam die Sonne hinter den Wolken hervor, breiteten sich die Flecken auch auf ihren Schultern und Armen aus.
Die Sommersprossen und das rote Haar waren ein Erbe ihres Vaters, mit dem sie nur den allernötigsten Kontakt pflegte, der sich auf Geburtstage und Feiertage beschränkte. Die Treffen verliefen stets nach demselben Muster: Ihr Vater lud sie in eine billige, von einem Inder betriebene Pizzeria in Gloucester ein, wo die Pasta nach Curry und Suppenwürfel schmeckte. Sie nahmen an einem Fenstertisch Platz, von wo man auf die Straße schauen konnte, wenn das Gespräch stockte, was meist schon nach der ersten Frage der Fall war. Ihr Vater erkundigte sich nach ihrem Befinden, und sie antwortete mit stereotypen Floskeln. Dann folgte Schweigen. Früher hatte er ihr am Ende einen Umschlag überreicht. Das Geldgeschenk fiel stets sehr sparsam aus, obwohl er sich hätte ausrechnen können, dass Sarahs Mutter kein Geld übrig hatte, um Sarah auch nur kleine Extrawünsche zu erfüllen wie eine Schallplatte oder ein neues T-Shirt. Später im Bett hatte Sarah Tränen der Wut und der Enttäuschung geweint, doch am nächsten Tag hatte sie sich meistens wieder im Griff gehabt und so getan, als wäre alles bestens in ihrem Leben. Inzwischen hatte sie sich damit abgefunden, dass ihr Vater keinerlei echtes Interesse an ihr hatte.
Mit einem Schütteln versuchte Sarah, ihn aus ihrem Kopf zu verbannen. Während sie die Krankenschwester Viktorine Zak und Asperger betrachtete, kam es ihr so vor, als würde ihre Hand seine Schulter berühren und eine Vertrautheit zwischen ihnen bestehen, die über das Arbeitsverhältnis hinausging. Und schon waren Sarahs Gedanken wieder bei ihrer eigenen Geschichte. Wie würden sie und Benedict wohl auf einem Gruppenfoto aussehen? Würde man erkennen, dass sie sich heimlich trafen? Bis jetzt hatten sie ihre Affäre vor Freunden und Kollegen verheimlichen können. Nur Sarahs Mutter ahnte, dass sich ihre Tochter mit einem verheirateten Mann eingelassen hatte. Sie hatte sie einmal darauf angesprochen, doch Sarah hatte abgeblockt, und seither kamen bloß noch vorwurfsvolle Blicke, aber keine Fragen.
Sarah presste die Augen fest zusammen, bis sie nur noch helle Kreise sah. Als sie sie wieder öffnete, widmete sie sich endlich ihren Unterlagen und las konzentriert, ohne ein einziges Mal abzuschweifen.
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