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Persönliche Buchtipps unserer Kolleg:innen aus dem Verlag

Donnerstag, 05. Dezember 2024 von Piper Verlag


Buchtipps 2025

Die schönsten Bücher im Frühling

Exzentrisch, englisch, elegant

„Dieser witzige, weise Roman beleuchtet die Generationen einer Familie und geht dabei der Frage nach, ob und wie wir die Rollen, die uns als Kindern im heimischen Gefüge zugewiesen werden, im späteren Leben ablegen können. Und auch, wenn Camilla Barnes bereits jetzt in ihrer eigenen Liga schreibt, meint man, in „Keine Kleinigkeit“ auch Echos der frühen Romane ihres Onkels Julian Barnes zu erkennen." Felicitas von Lovenberg, Verlegerin

Keine KleinigkeitKeine Kleinigkeit

Roman

„Es war wie immer. Ich könnte sie umbringen.“

Mit „Boswell“, ihrer alten Tiefkühltruhe, sind sie vor zwanzig Jahren nach Frankreich gezogen: Mirandas Vater, pensionierter Oxford-Professor, der keine Diskussion scheut. Und ihre Mutter, die jede Gelegenheit nutzt, über den Krieg zu sprechen, den sie selbst nie erlebt hat. Nach fünzig Ehejahren haben sie die ein oder andere Eigenart entwickelt, und die Besuche bei ihnen stellen für Miranda immer öfter eine emotionale Herausforderung dar. „Ich könnte sie beide umbringen“, schreibt sie dann an ihre Schwester. Dabei empfindet sie eigentlich keine Wut, sondern Mitgefühl und Liebe? Und sie fragt sich, ob es nicht einen guten Grund für die Widerspenstigkeit ihrer Mutter gibt. Englische Exzentriker, irritierte Töchter und zwei Lamas. Großartig.

PROLOG

Sie sagt:

„Ich halte nicht viel von deinen neuen Socken.“

Er sagt:

„Ich halte nie irgendwas von meinen Socken.“

„Auf dem Etikett steht Handwäsche.“

„Und?“

„Ich werde nicht für den Rest meines Lebens deine Socken mit der Hand waschen.“

„Das ist auch unwahrscheinlich. Aber vielleicht für den Rest meines Lebens.“


JUNI

An einem Sonntagmorgen …

An einem Samstagmorgen im vergangenen Sommer saß ich am Küchentisch und sah Dad zu, der unter der heißen französischen Sonne am Ententeich stand und die Bösen Katzen fütterte. Er kam über den Rasen zurück zum Haus, in der einen Hand die leeren Katzenschüsseln, in der anderen, locker schwingend, den zerknautschten Gartenhut. Trotz seines Alters war er lang und schlaksig. Sein Haar hatte noch immer eine elegante Welle, und in den Augen lag das leise Blitzen des ungebärdigen Schuljungen von einst. Ich dachte, wie sehr er Alice ähnelte. Der gleiche schreitende Gang, eckig und englisch, aber nicht unbeholfen. Ein paar weiße Enten folgten ihm watschelnd und stocherten auf der Suche nach Würmern mit den Schnäbeln im Gras. Unter den staubigen Weinranken vor der Hintertür blieb er stehen und zog die Stiefel aus.

Gleichzeitig trat Mum auf der anderen Seite des Hauses durch die Vordertür. Sie trug ein Kleid – sie hätte es als Tageskleid bezeichnet –, das sie, wie ich mich erinnerte, in England gekauft hatte, bevor sie nach Frankreich gezogen waren, also musste es dreißig Jahre alt sein. Es war ein Sommerkleid in knalligen Rosarot- und Blautönen und noch gut in Form, aber ich sah, dass sie die Abnäher auf dem Rücken aufgetrennt hatte. Sie war schon immer eher robust und stämmig gewesen. Untersetzt, im Gegensatz zu Dad. Um sie nachzubauen, hätte man für beide dieselbe Menge Knete gebraucht, allerdings unterschiedlich verteilt. Mum war wie ein wuchtiges viktorianisches Möbelstück: weiche Polster, strapazierfähiger Stoff, Armlehnen aus dunklem Holz und zu schwer, um es allein zu bewegen. Nichts an ihr war schlaff – sie hatte ein rundliches Gesicht und straffe Haut, mit einem leichten Schimmer, wie gutes Eichenholz. Ihre Kleider saßen so eng, als wäre sie in flüssigem Zustand hineingegossen worden.

In der Küche war ich in einer strategisch günstigen Position: Ich konnte sowohl den Vorder- als auch den Hintereingang sehen, blieb selbst aber in der Ecke des L-förmigen Raums verborgen. Mum war auf dem Markt gewesen: Sie trug einen schweren Korb auf der Hüfte, und mit der anderen Hand schleppte sie eine Einkaufstasche. Sie konnte mich nicht sehen, als sie hereinwankte, Korb und Tasche vor dem kleinen Einbaukühlschrank abstellte und sich stöhnend aufrichtete. Sie rief Dad. Keine Antwort. Sie wusste, dass er seine Hörgeräte nicht eingesetzt hatte, aber das kümmerte sie nicht. Für sie war seine Schwerhörigkeit bloß ein Mangel an Bemühen. „Er versucht es ja nicht mal“, sagte sie oft.

Sie rief noch mal, lauter und gereizter. „Beeil dich! Du bist schon seit Ewigkeiten da draußen.“ Sie wartete auf eine Antwort, obwohl sie gar keine Frage gestellt hatte. „Ich hab alles erledigt. Alles, was auf der Liste stand. Ganz allein.“ Stille. „Wo bist du? Was machst du?“

Dad öffnete die Hintertür und streckte den Kopf herein. Er sah mich, sagte aber nichts.

Mum bemerkte ihn. „Stell deine Stiefel nicht da ab.“

„Ich habe meine Stiefel nirgendwo abgestellt. Noch nicht.“

„Hast du Miranda gesehen?“

„Was?“ Er legte eine Hand hinter das Ohr. Dann drehte er sich um und zwinkerte mir zu.

„Miranda. Deine Tochter. Hast du sie gesehen?“

Er dachte eine Weile nach. „Ich glaube nicht. Noch im Bett, nehme ich an. Oder nein, vielleicht habe ich sie doch gesehen. Sie ist in die Stadt gefahren. Oder war das gestern?“

„Ich bin in die Stadt gefahren, nicht Miranda.“

„Sie wird bestimmt irgendwann auftauchen.“ Er kam herein und tat, als würde er mich jetzt erst bemerken. „Ah, da bist du ja!“ Und dann zu Mum: „Siehst du? Ich habe ja gesagt, sie wird irgendwann auftauchen.“

Ich hustete und winkte den beiden stumm zu.

Mum sah adrett, aber erschöpft aus. Sie wandte sich zu mir, während sie geschäftig die Einkäufe sortierte. Dabei gerieten die Knöpfe an der Vorderseite ihres Kleides unter Zug, sodass sich augenförmige Hautfenster öffneten. „Ich hab gar nicht gesehen, dass du da herumschleichst. Na, schön ausgeschlafen?“ Das war ihr subtiler Hinweis darauf, dass ich im Gegensatz zu ihr nicht bei Sonnenaufgang aufgestanden war. Sie wartete nicht auf eine Antwort, sondern schob Dad mit dem sandalenbewehrten Fuß den Korb zu. „Das alles kannst du wegräumen.“ Er kniete sich hin und begann, die Sachen im Korb mehr oder weniger willkürlich im Kühlschrank zu verstauen. Mum überwachte das Ganze, beugte sich unvermittelt hinunter und riss ihm einen Rotkohl aus der Hand. „Nein, das nicht.“

„Aber du hast gesagt das alles.“

„Ja, aber ich habe natürlich nicht alles gemeint.“

„Na gut, dann räume ich eben nur das alles in den Kühlschrank und den Rest nicht.“

„Und das ist für den Gefrierschrank“, sagte sie und gab ihm eine Plastiktüte.

„Das alles? Oder nur das?“ Er nahm die Tüte und sah hinein. „Manchmal frage ich mich, warum wir all dieses frische Fleisch und Gemüse kaufen, wenn wir es dann einfrieren. Ich meine, warum kaufen wir nicht gleich Tiefkühlzeug?“

„Das ist besser für den Metzger, da bleibt er im Geschäft.“

„Ja, aber ist es auch besser für uns? Könnten wir nicht mal was essen, bevor es eingefroren wird?“

„Du würdest den Unterschied gar nicht merken. Ich könnte dir ein Stück Pappe geben, und du würdest den Unterschied nicht merken.“

„Das kommt darauf an, ob du die Pappe kochen würdest. Oder würdest du sie einfrieren? Also, wenn wir frische Pappe hätten, könnte ich –“

„Raus.“

Mit raus meinte sie das, was bei ihnen die Buanderie hieß, dabei war es kaum mehr als ein an die Küche angebauter Schuppen. Darin gab es jede Menge alte Eiscreme-Eimer, ein Regal für Saatkartoffeln und eine Reihe kaputter Kaffeemaschinen. In einer Ecke stand ein glänzender neuer Gefrierschrank, zum Schutz vor den Fledermäusen mit einem verblichenen Stück Stoff abgedeckt. Sie schob Dad aus der Küche und schloss, noch immer Instruktionen gebend, die Tür. „In die oberste Schublade, nicht in die unterste, wo viel Platz ist. Den brauche ich für meine Johannisbeeren.“ Sie hielt inne, hörte ihn hantieren und fuhr fort: „Und lass bloß nicht die Bösen Katzen –“

Dad kam zurück, in der Hand die leere Plastiktüte. „Ich hab alles in die unterste Schublade getan – in den oberen war kein Platz mehr“, sagte er, während ein Strom von Katzen seine Beine umspülte. Die Bösen Katzen streiften im Garten herum, nie weit entfernt von der Küchentür, immer auf die Gelegenheit zu einem kollektiven Überfall lauernd, der ein bisschen Wärme und ein paar Happen Trockenfutter versprach. Hodge und Juno, die Hauskatzen, sollten die Katzenklappe eigentlich bewachen, sahen dem Treiben aber meist nur träge aus der Ferne zu.

„Du hast sie reingelassen! Steh doch nicht da rum. Husch, husch – raus mit euch, und zwar alle. In der untersten? Und was hab ich dir gesagt?“

Dad betrachtete freundlich das getigerte Rudel zu seinen Füßen. „Na dann, raus mit euch. Tut, was man euch sagt. Wie wir alle.“

„Wirklich, du lässt sie machen, was sie wollen. Wenn es nach dir ginge, würden sie das Haus übernehmen. Du musst die Sachen umräumen und irgendwie Platz in der oberen Schublade finden. Also los, raus mit euch.“

Ob sie nun Dad meinte oder die Katzen – jedenfalls trotteten alle gehorsam hinaus.

Ihre erste Kühltruhe hatte Mum 1971 in Oxford angeschafft, ein gewaltiges Ding mit einem schokoladenbraunen Resopaldeckel. Sie war Boswell getauft worden, nach dem Geschäft, in dem Mum sie gekauft hatte. Im Lauf der Jahre war der Deckel von Braun zu Beige verblasst und hatte nicht mehr richtig geschlossen, sodass man ihn mit einem Ziegelstein hatte beschweren müssen. Der Motor hatte unter der ständigen Belastung geseufzt und gestöhnt, und doch hatte das Ding meine Eltern bei ihrem Umzug nach Frankreich begleitet und dort noch zwanzig Jahre durchgehalten. Nachdem wir jahrelang suspektem Essen ausgesetzt gewesen waren, hatten meine Schwester und ich schließlich in einem von Eigennutz geschmälerten Akt der Großzügigkeit einen schicken Gefrierschrank gekauft und Mum zum Geburtstag geschenkt. Die Leute vom Lieferservice hatten strikte Anweisung gehabt, die Boswell mitzunehmen.

Mum hockte vor dem offenen Kühlschrank und kramte darin herum. „Dein Vater wird schrecklich unbeholfen“, sagte sie über ihre Schulter. „Und vergesslich.“ Ich hielt ihr die Hand hin, um ihr aufzuhelfen, doch sie reichte mir eine Untertasse mit einem grauen Stück Pastete, das es zum Mittagessen geben sollte. Bestimmt hatte Hodge sie am Morgen verschmäht. „Und du solltest wirklich mal was zu diesen grauenhaften Hausschuhen sagen. Wie kann man so was nur tragen?“

Dad kam wieder herein. Seine Hausschuhe waren tatsächlich grauenhaft. Mum zeigte auf sie. „Du sollst mit denen nicht rausgehen, davon gehen sie kaputt.“

„Du hast doch gesagt, ich soll rausgehen.“

„Ja, aber nicht in Hausschuhen. Du bist alt genug, auf deine Schuhe achtzugeben, oder?“ Dad schwenkte die Plastiktüte und zog fragend die Augenbrauen hoch. „Streich sie glatt und räum sie weg, wenn du aufgehört hast, rein- und rauszurennen wie ein Kuckuck. Und? Hast du alles untergebracht? Diese blöden Schubladen sind eine solche Platzverschwendung. Die Boswell war viel praktischer.“

Er gab mir die Plastiktüte, damit ich mich darum kümmerte, und trocknete sich die Hände an einem Geschirrtuch ab. „Praktisch vielleicht, aber auch am Ende eines langen Lebens angekommen. Es wäre humaner gewesen, sie friedlich in England sterben zu lassen.“ Nachdem er mutig seine Meinung gesagt hatte, setzte er sich an den Küchentisch und tat, als würde er den Sämereienkatalog studieren.

„Ja“, warf ich ein, „und dann hättet ihr euch nach dem Umzug hier eine neue kaufen können.“

„Wir wollten aber gar keine neue – die alte war einwandfrei in Ordnung. Solide und haltbar, nicht wie die Sachen heute“, sagte Mum. „Außerdem hätten wir sie gar nicht zurücklassen können. Was hätten wir mit all dem Essen machen sollen?“

Dad sah von den mit Tomaten bedruckten Hochglanzseiten auf. „Deine Mutter hat recht: Was hätten wir mit all dem Essen machen sollen?“ Es war oft schwer zu sagen, ob er ehelichen Konflikten ausweichen wollte oder versuchte, sie anzuheizen.

„Es essen?“, schlug ich vor.

„Wir haben es ja gegessen, aber hier“, sagte Mum.

Das stimmte. Sie hatten England verlassen und nicht nur die Boswell, sondern auch ihren gesamten Inhalt mitgenommen. Man hatte ihr den Stecker gezogen und sie, noch immer vollgestopft mit Hähnchenschenkeln, in einen Lastwagen geladen, nach Dover und über den Ärmelkanal geschafft und schließlich durch halb Frankreich gekarrt. Zehn Tage später war sie hier angekommen, und Mum hatte den Stecker wieder in die Steckdose gesteckt, was ihr zufolge „vollkommen sicher“ war, denn schließlich war die Boswell die ganze Zeit geschlossen gewesen.

Sie kam mühsam hoch, musterte die Pastete, die ich noch immer in der Hand hielt, nahm dann ein Messer und kratzte die trockenen Stellen am Rand ab. „Außerdem war das vor zwanzig Jahren, und jetzt habe ich ja eure schöne neue. Das war eine ausgezeichnete Gelegenheit, sich mal anzusehen, was da eigentlich drin war. Ich habe ein paar sehr interessante Sachen gefunden.“

„Leichen“, vermutete Dad.

„Sehr alte Leichen“, sagte ich.

„Sehr witzig, ihr beiden. Hier – wenn du das unbedingt lesen musst, mach dich nützlich.“ Sie legte mit Nachdruck einen Stift auf den Tisch. „Du kannst die Bohnen ankreuzen, die wir pflanzen wollen. Du weißt doch, welche wir wollen, oder?“ Sie wandte sich zu mir. „Als meine Mutter gestorben ist, hatte sie noch immer einen Topf Eier in Fischgelatine in der Garage.“

„Vielleicht ist sie daran gestorben“, sagte Dad und blätterte auf der Suche nach Bohnen im Katalog.

„Wozu das denn?“, fragte ich Mum.

„Das machte man so im Krieg. Man rührte in einem Topf Gelatine aus Fischhaut an und legte Eier hinein, damit sie sich länger hielten.“

„Ich denke, im Krieg gab es keine Eier.“

„Gab es auch nicht. Wenn man also welche kriegen konnte, behielt man sie“, sagte sie mit unerbittlicher Logik. „Es gab keine richtigen Eier. Nur Eipulver.“

Dad zögerte, den Stift in der Hand. Aßen sie lieber Spargelbohnen oder Windsor? Man konnte es nicht wissen. Sicher war nur, dass er es falsch machen würde. „Ah, Eipulver, ja!“, sagte er zur Welt im Allgemeinen. „Das hat ein bisschen wie Haarschuppen geschmeckt. Nur nicht so lecker.“

„Ich staune, dass ihr keine Lebensmittelvergiftung gekriegt habt“, sagte ich.

„Lebensmittelvergiftung?“, schnaubte Mum. „Als ich ein Kind war, kriegte man keine Lebensmittelvergiftung.“

„Wir hatten keine Zeit, an vergifteten Eiern zu sterben“, sagte Dad. „Diphtherie oder Polio waren schneller.“

Mit einem „Jetzt hast du ja wohl lange genug darin herumgekritzelt“ nahm Mum ihm den Katalog ab und schob ihn hinter die Obstschale. Sie hatte das Bestellformular schon vor einer Woche abgeschickt. „Die Leute sagen immer, dass man die Sachen nicht länger als ein paar Monate einfrieren darf, aber denkt bloß an Mallory.“ Wir sahen sie an und warteten auf eine Erklärung. „George Mallory. Everest, 1924. Als sie ihn achtzig Jahre später im Eis gefunden haben, hatte er noch immer seine Stiefel an und alles andere. Wenn etwas gefroren ist, kann es nicht verderben.“

„Ich glaube nicht, dass irgendjemand versucht hat, Mallory zu essen“, sagte ich.

„Tja, und keiner von uns ist tot.“

„Noch nicht, meine Liebe, noch nicht“, sagte Dad und hustete.

„Ich trinke meinen Kaffee im Wohnzimmer, vielen Dank“, sagte Mum, setzte energisch die Brille auf, ging hinaus und machte die Tür hinter sich zu.

–––––

Endlich waren Dad und ich allein und unbeaufsichtigt. Er stand auf und schlurfte in seinen viel geschmähten Hausschuhen zur Kaffeemaschine. „Ich frage mich, ob sie mich einfrieren wird, wenn ich tot bin.“

„Für dich ist da drin nicht genug Platz.“

„Vielleicht in der untersten Schublade, wenn wir die verdammten Johannisbeeren gegessen haben. Seit wir dieses schreckliche Ding haben, müssen sich unsere Därme weiterentwickelt haben. Sie sind jetzt imstande, billiges Fleisch zu verdauen, das beim Kauf schon abgelaufen war und dann eingefroren, aufgetaut und noch einmal eingefroren worden ist. Darwin. Der Stärkere überlebt. Ob es auf der Beagle wohl eine Gefriertruhe gab?“ Er streckte den Arm aus, um den Schrank über der Spüle zu öffnen. „Kaffee? Pass auf deinen Kopf auf, ich will nur eben –“ Ein Stapel Tassen und Untertassen glitt heraus und fiel zu Boden. „Mist.“

Er hob eine gewölbte Scherbe aus dünnem weißem Porzellan auf und betrachtete sie traurig. „Jetzt komme ich in die Hundehütte.“ Er reichte mir die Scherbe. „Steck sie in die Mülltonne. In die große, die draußen steht, sonst sieht sie es. Ganz nach unten, unter die Flaschen.“

„Sie wird bestimmt nichts merken. Es sei denn, sie zählt vor dem Zubettgehen die Tassen.“

„Bei den anderen hat sie nichts gemerkt.“

„Bei wie vielen anderen?“

„Schwer zu sagen. Zähl die Untertassen. Ich zerbreche immer nur die Tassen, nie die Untertassen. Und ich werfe nie eine Untertasse weg, sondern kaufe eine neue Tasse. Und wenn man eine Tasse kauft, kriegt man die Untertasse dazu. Irgendwann wird sie also merken, dass wir achtundsiebzig Untertassen, aber nur drei Tassen haben … Aber vielleicht liege ich dann schon in der untersten Schublade.“

Nach mehr als fünfzig Ehejahren waren sie in ihren Eigenarten gefangen wie Mallory im Eis. Es war ein Ringen zwischen Sturheit und Pedanterie, und jede Einmischung war sinnlos. Ich sah zu, während Dad mit der raumschiffartigen Kaffeemaschine kämpfte und mir schließlich zwei halb volle Tassen reichte. Ich gab in eine davon eine klitzekleine Menge Zucker, brachte beide ins Wohnzimmer und ließ ihn seine Tasse allein brühen. Mum hatte eine muntere Ragtime-Platte aufgelegt, die Dad besonders verabscheute, obwohl er sie ja eigentlich nicht hören konnte. Für ihn waren alle Formen von Jazz „Eiswagenmusik“.

Juno, die Schildpattkatze, saß auf Mums Schoß und grub die Krallen in ihre Oberschenkel. „Ich kann nicht aufstehen.“ Sie zeigte auf die Kaffeetasse in meiner Hand. „Stell sie auf das Kaminsims. Aber Vorsicht mit der Uhr.“

„Ich hab etwas Zucker reingetan“, sagte ich.

„Aber bitte nur ein bisschen. Hat dein Vater die Maschine richtig ausgeschaltet? Mit dem Knopf vorne und dem Schalter hinten?“

„Ja, bestimmt. Allerdings verstehe ich nicht, warum ihr sie überhaupt ganz ausschaltet.“

„Wegen dem roten Licht an der Vorderseite. Das kann man doch nicht die ganze Zeit brennen lassen – denk mal an die Stromkosten.“

„Ich glaube, wenn die das ganze Jahr brennen würde, käme vielleicht ein Euro zusammen.“

„Sag ich doch.“

Dad kam herein und schritt vorsichtig über die diversen rutschenden Teppiche. „Wo ist Hodge?“ Er sah zu dem leeren Hocker neben seinem Sessel. Vor dem kalten Kamin blieb er stehen und hielt Mum eine Tasse hin. „Hier.“

„Aber ich hab doch schon eine!“, sagte sie. „Das ist deine. Vorsicht mit der Uhr.“

Er stellte die Tasse auf das Kaminsims und rückte die leise tickende Reiseuhr zur Seite. Sie war vor vielen, vielen Jahren ein Verlobungsgeschenk gewesen. Er sah verwirrt aus. „Nein, das kann nicht meine sein. Ich hab Zucker reingetan.“

„Es ist ja nur Zucker. Und nur ein bisschen.“

„Ich werde mir eine neue machen.“ Er griff nach der Tasse.

„Du wirst diesen Kaffee doch wohl nicht wegschütten?“

„Natürlich nicht. Das wäre Verschwendung. Ich werde ihn trinken, während ich mir einen neuen mache.“ An der Tür drehte er sich noch einmal um und sagte: „War das gestern nicht ein leckeres Abendessen, Miranda? Deine Mutter nennt es blonkett de vo, aber ich würde es eher als Schmortopf bezeichnen. Wie fandest du denn das Fleisch?“ Er schloss leise die Tür hinter sich. Mum sah mich erwartungsvoll an.

„Sehr … zart?“, sagte ich.

Ein triumphierendes Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Sie strich mit fester Hand über Junos knochigen Rücken. „Kalbskoteletts, tiefgekühlt. 1983.“


JULI

Bevor ich fortfahre …

Bevor ich fortfahre, sollte ich Ihnen vielleicht die Besetzungsliste geben. Da wir keine sehr fruchtbare Familie sind, ist sie kurz:

               Dad: emeritierter Professor der Philosophie, Ende siebzig

               Mum: seine Frau, zwei Jahre jünger

               Charlotte: Anfang fünfzig, Tochter Nr. 1

               Miranda (das bin ich): nicht ganz fünfzig, Tochter Nr. 2

               Alice (meine Tochter): nicht ganz zwanzig, Chemiestudentin

Ich war zwanzig und noch in London auf der Schauspielschule, als ich beschloss, nach Paris zu ziehen. Ich wollte Schauspielerin werden und England und allen oben Genannten (mit Ausnahme von Alice, die es noch nicht gab) entkommen. Die Schauspielerei war in vielerlei Hinsicht bereits eine Flucht vor der Realität, aber das reichte mir nicht; ich wollte eine Distanz, die in Kilometern zu messen war. Kaum hatte ich das Land verlassen, da ging Dad überraschend in Vorruhestand. Er hatte sich immer schon über die dummen, oberflächlichen Studenten beklagt, die den Unterschied zwischen philosophischer Logik und der Philosophie der Logik nicht mal erkannten, wenn sie sich daraufsetzten. Er sagte, er habe genug und werde seine Zeit nicht mehr an andere verschwenden, sondern seinen eigenen Interessen nachgehen und über etwas nachdenken, das er reichlich nebulös, wie ich fand, als „validen Schluss“ bezeichnete. Meine Eltern verkauften das große Backsteinhaus in Nord-Oxford, in dem sie seit meiner Geburt gelebt hatten, und folgten mir nach Frankreich.

Sie kauften ein großes, heruntergekommenes manoir mit einem zugewachsenen Garten am Rand eines Weilers in der französischen Provinz. Die Zivilisation (in Form von Bahnhof und Geschäften) war eine halbstündige Autofahrt entfernt in Poitiers. Damals konnte keiner von beiden fahren, und es war klar, dass einer es würde lernen müssen.

Das Haus hieß La Forgerie, bestand aus den regional üblichen cremeweißen Steinen und hatte ein Schieferdach und am Ende einen Turm. Es war Anfang des 19. Jahrhunderts erbaut worden, und seitdem war, abgesehen von der Installation verschiedener Bäder und Toiletten, anscheinend nicht viel verändert worden. Obgleich es mit seinen drei Etagen, den hohen Fenstern und den hellgrauen Fensterläden vom Garten aus imposant wirkte, war es nicht so groß, wie es schien. Auf der anderen Seite, wo die geschotterte Zufahrt endete, befanden sich keine Zimmer, sondern lange, mit Fenstern versehene Flure. Das verlieh dem Haus etwas von einem Eisenbahnwagen aus vergangenen Zeiten. Im Erdgeschoss reihten sich aneinander: Küche, Treppenhaus, Esszimmer, Wohnzimmer und Musikzimmer (in dem nur ein ungestimmtes und unstimmbares Klavier stand), allesamt mit Marmorkamin, Eichenparkett und hoher Decke. In der ersten Etage gab es eine ähnliche Aufteilung in vier Schlafzimmer und zwei Bäder. Und ganz oben, unter dem Dach, waren die ehemaligen Dienstbotenzimmer, die durch Türen miteinander verbunden und jetzt komplett von Dads Bibliothek in Beschlag genommen waren. Es gab dort ein durchgesessenes Sofa und einen quietschenden Bürostuhl, der an seinem Schreibtisch mit dem Computer stand. Zwischen den Bücherregalen hingen Landkarten des alten Griechenlands. Die Dielen waren ungewachst, und eine Heizung gab es nicht – das hätte den Büchern geschadet.

Am Ende des Hauses stand der zugige Turm. Er enthielt nur ein zweites Treppenhaus, in dem alte Esszimmerstühle und mit Schnur zusammengebundene Zeitungsstapel lagerten. Die Tierwelt war reichlich vertreten: Fledermäuse, Wespen, Mäuse und einmal auch ein Eichhörnchen hatten hier schon genistet. Ranken hatten die selten geöffneten Fensterläden überwuchert und suchten einen Weg hinein.

In den ersten Jahren hatten meine Eltern die Räume im Erdgeschoss tapeziert, einen neuen Boiler installiert, das Dach des Entenhauses repariert und auf dem oberen Feld einen Tennisplatz anlegen lassen. Sie adoptierten zwei Lamas namens Lorenzo (genannt Lollo) und Leonora, die kamen und uns zusahen, wenn wir Tennis spielten. Meist traten beide Eltern gegen eine Tochter an, und immer war es Mum, die die Punkte zählte – auf ihre eigene unnachahmliche Art. Die Lamas wandten die Köpfe auf den langen Hälsen hin und her und sahen zu, während wir Menschen rätselhafterweise auf etwas eindroschen, das wie ein Apfel aussah.

Die Renovierungsmaßnahmen stockten und kamen schließlich ganz zum Erliegen. Im Lauf der Zeit wurden die Besuche von Freunden aus England seltener. Manche waren zu alt – das Haus war nicht leicht zu erreichen –, andere waren gestorben oder in weit entfernte Länder gezogen. Schlaf- und Badezimmer wurden eins nach dem anderen außer Betrieb genommen, und ich konnte mir vorstellen, dass sie in nicht allzu ferner Zukunft in einem Wohnschlafzimmer inmitten eines großen Landhauses leben würden.

Inzwischen war ich eine kompetente, aber uninspirierte französische Schauspielerin geworden. Ich muss fünf- oder sechsundzwanzig gewesen sein, als ich zum ersten Mal in einer professionellen Produktion auf der Bühne stand. Das Stück war Die Möwe, aber ich war Masha und hatte wenig Text. Ich stellte mir vor, dass Mum und Dad kommen würden, um es sich anzusehen. Vor meinem geistigen Auge saßen sie mit Hut und Mantel und steinernen Gesichtern auf ihren Plätzen, zwei Miesepeter in einem Meer fröhlicher Gesichter. Ich war besorgt: Wie sollte ich auf der Bühne stehen und sie nicht ansehen? Wie sollte ich vom elterlichen Blick nicht abgelenkt sein? Und danach – würden sie mir ehrlich sagen, ob es ihnen gefallen hatte? Würden sie mich bestärken, auch wenn sie gerade drei Stunden Tschechow verschlafen hatten? Würde vielleicht sogar ein kleines bisschen elterlicher Stolz aufblitzen, weil ich auf der Bühne gestanden und Applaus bekommen hatte?

Ich hätte mir die Sorgen sparen können – sie kamen nicht. Es gab immer einen guten Grund, warum es gerade nicht ging; einmal rettete sie ein Eisenbahnerstreik, ein anderes Mal hatte Dad eine üble Erkältung. Und als es ihnen schließlich passte, stellten sie fest, dass die Spielzeit vorbei war. „Oh! Zu spät – jetzt haben wir dich verpasst!“

Ich dagegen besuchte sie ziemlich oft. Für ein Wochenende, selten für länger. Ich lebte in Paris, und die Fahrt mit dem TGV dauerte nur ein paar Stunden. Ich hatte nicht das Gefühl, dass ich sie besuchen wollte oder sollte, sondern dass ich sie besuchen wollen sollte, also besuchte ich sie. Aber wie Dad auf seine philosophische Art sagen würde: Was meinte ich eigentlich mit sollte?

Im Lauf der Jahre hatten sie eine erprobte Technik des Zusammenlebens entwickelt. Es war ein Zwei-Personen-Stück, aber es gab auch eine kleine Nebenrolle für mich. Sie waren wie zwei Scherben eines zerbrochenen Tellers, die nicht zusammenpassten und vielleicht nie gepasst hatten und mich nicht so sehr als Klebstoff, sondern vielmehr als Dolmetscherin brauchten. Ich ertappte mich oft dabei, dass ich ihre Wünsche und Beschwerden an den jeweils anderen weitergab.

Meine Schwester Charlotte war vier Jahre älter und in fast jeder Hinsicht erstaunlich anders als ich. Sie hatte einen langen, geraden, unvorstellbar perfekt geflochtenen Zopf gehabt, der ihr über den Rücken hing. Ich hatte davon geträumt, ihn abzuschneiden, wenn sie nicht damit rechnete. Mein störrisches Haar wurde immer möglichst kurz geschnitten, und zwar in der Küche, von Mum, mit der Küchenschere. Wir wurden älter, und Charlotte schnitt sich den Zopf schließlich selbst ab, aber die Unterschiede zwischen uns blieben. Sie lebte allein und in sicherer Entfernung, nämlich in Bicester. (Ja, sie war mein Geschwister in Bicester – eine verlockende erste Zeile für einen Limerick.) Ihre Kinder, zwei sportliche Jungen, waren erwachsen, der dazugehörige Vater hatte sich schon vor Jahren aus dem Geschehen verabschiedet. Die geografische Distanz zwischen uns half, unsere geschwisterliche Rivalität in eine geschwisterliche Einigkeit zu verwandeln. Was uns einst getrennt hatte – unsere Eltern –, brachte uns jetzt zusammen. Sie wurden älter und zu unserer Schnittmenge, unserer Gemeinsamkeit.

Charlotte hatte selten das Gefühl, sie sollte nach Frankreich fahren. Oder vielleicht hatte sie das Gefühl, sie sollte selten fahren. Im Ergebnis war es dasselbe.

Charlotte zu schreiben war meine Methode, der Frustration Luft zu machen, die sich nach einem Wochenende in La Forgery aufgestaut hatte. Katharsis wäre wohl das richtige Wort. Mum hätte gesagt: „Viel Theater um nichts.“

–––––

Von: MIRANDA

An: CHARLOTTE

Datum: Dienstag, 17.07.2018 11:15

Betreff: Ab nach Bolivien

Nur ein schneller Brief, während ich den Rucksack packe. Die Produktion, in der ich war, ist vorbei. Es war ein entsetzlich langweiliges Stück, aber so ist das Leben als Schauspielerin: Man nimmt, was man kriegen kann, und dann beklagt man sich darüber. Morgen fliege ich über Lima nach La Paz, übermorgen bin ich dort. Ich habe viele warme Strümpfe und vier Bände von Das Juwel der Krone mitgenommen; das wird mir in den Anden Kraft geben. Ah! Ich werde einen ganzen Monat kreuz und quer durch den Altiplano reisen, allein und ohne mir Gedanken über andere Leute und andere Schauspieler machen zu müssen – das klingt paradiesisch.

Es war wieder mal ein langes, deprimierendes Wochenende in La Forgerie. Mum war in Bestform. Beim Frühstück ging es um den neuen Gefrierschrank (die Boswell war viel besser, etc., etc., du kennst die Leier) und darum, wie verschwenderisch Dad und ich sind. (Im Krieg war das anders, wir haben nie irgendwelche Süßigkeiten oder Bananen oder Schokolade gekriegt. Gestern gab’s Marmelade, und morgen wird’s welche geben, aber heute gibt’s keine.) Denkt sie, wir können nicht rechnen? Man könnte meinen, dass sie diejenige war, die den Bombenkrieg erlebt hat, und nicht Dad. Sie war ein Baby, als der Krieg vorbei war, auch wenn sie sich an die Rationierungen noch erinnern kann. Hast du je von „Eiern in Fischgelatine“ gehört? Ich auch nicht. Ich hab nachgeforscht: Es hat was mit Fischhäuten zu tun. Igitt!

Am Samstag nach dem Abendessen hat sie sich ein tolles Ding geleistet. Ich hab die Messer abgewaschen – wie immer von Hand, weil „es die Griffe ruiniert, wenn man sie in die Maschine tut“. Dasselbe gilt natürlich für die Gabeln und Löffel. Und die Teller sind empfindlich und müssen schonend gespült werden. Desgleichen die Gläser, damit sie keine Kratzer kriegen. Also kommen nur Töpfe und Katzenschüsseln in die Maschine, und der ganze Rest wird von Hand abgewaschen, mit dem schmutzigen Schwamm, der mal gelb war, als sie ihn 1965 bei Shergold gekauft hat. Ich machte also den Abwasch, und irgendwann juckte mein Auge, und ich rieb mit dem seifigen Finger darüber. In einem Anfall von Wahnsinn sagte ich Mum, ich hätte das Gefühl, als würde ich ein Gerstenkorn bekommen. Sofort eilte sie herbei und fummelte mir mit Fingern, mit denen sie wahrscheinlich gerade eine Packung Schneckenkorn geöffnet hatte, am Auge herum. „Ja, das ist ganz gerötet. Aber ich hab eine Salbe dafür.“ Widerstand war zwecklos. Schon holte sie ihre „Medizinkiste“ (= rostige alte Keksdose) aus dem Schrank unter der Treppe und brachte mir eine kleine Tube mit langer, spitzer Tülle – so alt, dass die Farbe abgeblättert war und man die Aufschrift nicht mehr lesen konnte. „Das mache ich vor dem Badezimmerspiegel“, sagte ich. Ich ging rauf, machte die Badezimmertür zu und wartete ein paar Minuten, dann ging ich wieder runter, sagte vielen Dank und fragte, wohin ich die Tube tun sollte. Sie zeigte auf eine Schachtel, die auf dem Küchentisch lag. Darauf stand, in krakeliger Kugelschreiberschrift (und das ist wirklich wahr): „2 x täglich, für Cornelius“. Sie hatte mir eine uralte Salbe gegeben, die für eine Katze bestimmt gewesen war. Eine Katze, die seit fünf Jahren tot ist. Ich zeigte sie Dad. Er sagte: „Leg sie wieder zurück und sag vielen Dank. Das ist leichter. Viel leichter.“

Ich tat die Tube in die Schachtel, die Schachtel in die Keksdose und die Keksdose in den Ali-Baba-Schrank unter der Treppe, wo ich, neben einem beeindruckenden Sortiment von Glühbirnen, rostigen Backofenspraydosen, Putzlumpen und Silberputzmittel, Folgendes fand:

●           einen fürs ganze Leben ausreichenden Vorrat an Plastiktüten, zusammengeknüllt und in eine größere Plastiktüte gestopft

●           eine Schachtel mit Spritzen, die Dad mal für eine Entzündung am Bein verschrieben bekommen hat

●           17 Rollen Backpapier (allesamt angebrochen)

●           eine beeindruckende Sammlung von Schnüren in den verschiedensten Längen, Stärken und Farben, alle einzeln zu kleinen Knäueln aufgewickelt

●           allerlei Geräte zum Töten von Fliegen, Wespen, Maulwürfen und Mäusen

●           einen verstoßenen Toaster, in dem noch zwei Scheiben Toast steckten

●           ein Bügeleisen mit englischem Stecker

●           einen Föhn ohne Stecker

Keine leeren Marmeladengläser, Zeitungen, Eiscreme-Eimer und Eierkartons, sagst du? Nein, natürlich nicht – diese Sachen werden draußen, in der Buanderie, aufbewahrt, wo mehr Platz ist.

Ein kurzer Austausch beim Frühstück, der dir gefallen könnte:

               Dad: Warum kriegen die Katzen eigentlich diese teure frische Milch und wir nur die H-Milch aus dem Tetrapak?

               Mum: Sie mögen keine H-Milch.

               Dad: Ich auch nicht.

               Mum: Du magst weder die eine noch die andere. Du trinkst keine Milch.

               Dad: Das tut nichts zur Sache.

Oder wie wär’s hiermit, ich und Mum nach dem Mittagessen auf dem Sofa:

               Mum (liest die Zeitung): Hier steht, dass ein neuer Steve-McQueen-Film kommt, aber das kann nicht stimmen – er ist ja tot.

               Ich: Vielleicht meinst du einen anderen Steve McQueen.

               Mum: Steve McQueen. Die glorreichen Sieben. Du weißt schon: Da da, dum di da DA, da da, dum di DA DA. Vielleicht bist du zu jung. Aber ich bin sicher, dass er tot ist.

               Ich: Du meinst den Schauspieler Steve McQueen, nicht den Regisseur. Das ist jemand anders. Er macht Filme, aber er ist kein Schauspieler. Er hat einen Film über die Sklaverei in Amerika gemacht, der hieß Twelve Years a Slave. Er ist schwarz. Und nicht tot.

               Mum: Sei nicht albern. Steve McQueen ist nicht schwarz. In Die glorreichen Sieben jedenfalls war er’s nicht.

Ich muss sagen: Sie sind vielleicht völlig verrückt, aber wenn ich dort war, habe ich immer ein paar gute Anekdoten zu erzählen. Bin jetzt wieder in Paris, sicher und geborgen und NICHT an Lebensmittelvergiftung gestorben.

Liebe Grüße

Miranda

 

P. S.: Noch immer nicht tot, aber frag mich morgen noch mal …

 

–––––

Oxford, Oktober 1962

 

Liebe Kitty,

liebe, liebe Kitty! Ach, was für ein Glück ich habe. Eine neue Welt öffnet sich. Neue Freunde und keine Familie. Was für ein Glück ich habe, hier zu sein und Dich zu haben. John und Matthew zu schreiben, wäre hoffnungslos, ganz hoffnungslos, das weißt Du. Sie sind beide sehr charmant, aber auch alberne junge Burschen und außerdem natürlich Brüder. Während Du eine Schwester bist. Und alt und weise. Ich meine das so freundlich, wie es nur geht – ich weiß ja, dass Du nicht alt bist, aber Du bist älter und weiser als ich. Und Du bist schon fort von zu Hause, also verstehst Du mich.

Ich hatte eine hübsche, saubere Stadt erwartet, sanft durchflossen von alten Bächen, aber was ich am Bahnhof sah, waren ein Wimpy und überquellende Mülleimer. Die Einfahrt in den Bahnhof war so trostlos und deprimierend, dass es auch irgendeine andere Stadt hätte sein können. Und der Bahnhof war gar nicht wie der zu Hause, mit dem Stationsvorsteher und seiner Katze und seinen Blumenkübeln, auf die man sich nicht setzen darf. Hier spricht niemand mit einem, und alle haben es eilig, weil sie wissen, wohin sie wollen – nur ich nicht! Ich fragte nach dem Weg, und man wies unbestimmt auf eine Brücke und dann nach links. Ich folgte den Anweisungen und marschierte durch den Regen, die Wagen zischten vorbei und spritzten meine Beine nass. Nein, eigentlich zischten sie nicht vorbei, ich ging die ganze Zeit an einem Verkehrsstau entlang. Die Wagen und Busse standen bloß da und bebten. Als ich vor der Adresse stand, die man mir gegeben hatte, war ich völlig durchnässt. Mein Unterhemd juckte, die Strümpfe waren bis zu den Knöcheln runtergerutscht, und meine Haare standen in alle Richtungen. Da waren ein großer Torbogen und ein schmiedeeisernes Tor, schwarz und golden glänzend, und darüber hing das Wappen des Colleges. Ich ging über große Steinplatten zum Portal, sah aber nirgends eine Klingel, also drückte ich gegen die Tür (noch mehr glänzender schwarzer Lack), und sie schwang auf. Drinnen war es weniger prächtig. Ich ging zur Pförtnerloge und nannte einem grimmigen alten Drachen meinen Namen. Sie sah in einem Buch nach und führte mich recht widerwillig nach oben. „Toilette hier, Waschraum da. Nur kaltes Wasser, sparsam verwenden, nachts verboten. Vorsicht auf der Stufe hier – da fehlt eine Teppichstange.“ Dann war ich mir selbst überlassen.

Ich setzte mich auf das harte Bett (das nennen sie Matratze? Fühlt sich eher an wie alter Toast), und plötzlich wurde mir bewusst: Ich war in meinem eigenen Zimmer mit meinem eigenen Fenster und meinem eigenen kleinen Schlüssel in der feuchten Hand. Ich setzte den Hut ab und sah hinaus. Hinter den Baumwipfeln ragte irgendwas Schauerromanhaftes auf. Verwegen beschloss ich, das Fenster aufzureißen und mich von Oxford umfangen zu lassen. Das Aufreißen klappte nicht gleich – die Gewichtsschnur war gerissen, und ich musste mit dem Handballen fest gegen den Rahmen schlagen wie beim Tor der Pferdekoppel –, aber schließlich war es offen, und ein Schwall grauer Luft kam herein, eine Mischung aus Lindenblüten und Benzin, nassen Schuhen und kaltem Tee. Ich war angekommen.

xxx, Deine Dich liebende Schwester

 

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Oxford, Anfang November 1962

 

Liebe Kitty,

ich weiß, dass ich nicht dumm bin, aber ich weiß auch, dass ich nicht so intelligent bin – ich meine, nicht so intelligent, dass sie mich genommen hätten, wenn Guteronkel nicht irgendwelche Strippen gezogen hätte. Er hat zwar nichts davon gesagt, aber da er hier so viele Leute kennt, bin ich sicher, dass er meinen Namen ein Stück nach oben gerückt hat. Du solltest die anderen Studentinnen sehen – so ernst, so vernünftig und entschlossen. Wahrscheinlich muss man als Mädchen so sein: Wir müssen beweisen, dass wir es verdienen, hier zu sein, während es für die Jungen (die Männer, sollte ich sagen, denn sie haben Bartstoppeln und Pfeifen) ganz selbstverständlich ist. Wir bekommen sie nicht oft zu sehen und müssen natürlich um zehn zu Hause sein, aber hin und wieder kreuzen sich unsere Wege. Sie scheinen mehr Zeit auf dem Fluss als in der Bibliothek zu verbringen, und wenn man rudern kann, muss man nicht intelligent sein. Eine Option, die den Damen nicht offensteht – Rudern gilt als „unangemessen“. Na ja, man kann rudern, aber ganz sicher nicht schnell. Als Mann dagegen muss man schnell rudern.

Ich muss akzeptieren, dass ich, wenn ich hier zurechtkommen will, ernster und vernünftiger als die Männer sein muss. Ich muss genauso hart arbeiten, darf aber nur weniger erwarten; ich muss akzeptieren, dass ich eher weniger als mehr haben werde. Alle, die ich bisher kennengelernt habe, sind wie Mr. Toad: forsch und laut. Die meisten kommen geradewegs von irgendwelchen Eliteschulen und denken, dass ihnen all dies – und dazu alles, was es ihnen später ermöglichen wird – einfach zusteht. Bevor ich hierherkam, habe ich nie darüber nachgedacht, auf welcher Sprosse der Lebensleiter ich stehe. Ich dachte immer, ich würde auf die richtige Art von Schule gehen, aber jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher. Ich bin mir bei gar nichts mehr sicher. Die Mr. Toads dieser Welt dagegen sind sich immer sicher. Sie marschieren einfach weiter, ohne sich noch mal umzudrehen – sie wissen, dass sie die richtigen Kleider und die richtigen Haare haben. Sie fahren in Booten herum und lesen die richtigen Bücher. Für sie ist gesorgt, da fragt niemand nach. Und was ist mit mir? Dem armen Maulwurf, der nach dem Frühjahrsputz aus seinem Haus tritt? Wird Ratty vorbeischauen und mir den Fluss zeigen? Ich weiß es nicht, noch nicht.

Was meinst Du? Werde ich es hinkriegen?

xxx, DDlS

 

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Oxford, Ende November 1962

 

Liebe Kitty,

ich bin die Einzige hier, die selbst geschneiderte Sachen trägt, aber über so was spricht man nicht. Sie sehen es, aber sie sagen nichts. Niemand sagt mir, dass mein Strumpf eine Laufmasche oder mein Handschuh ein Loch hat. Tatsächlich trägt niemand Handschuhe, ganz anders als in der Schule. Gestern habe ich gemerkt, wie besonders schrecklich mein Rock aussieht. Als ich ihn genäht habe, kam vom Oberkommando die Order, ich soll beim Zuschnitt zwei Zentimeter zugeben, damit ich „noch reinwachsen“ kann. Glaubt sie wirklich, dass ich mit achtzehn noch in irgendwas reinwachse? In die Breite vielleicht, aber nicht in die Höhe. Es muss ein Alter geben, in dem man in nichts mehr reinwachsen kann, egal, was es ist. Man ist, was man ist – Punkt. Jetzt hat der Rock am Bund ein paar Falten, und mit dem Reißverschluss war ich noch nie ganz zufrieden, darum ziehe ich meinen Pullover immer ganz runter. Trotzdem ist es der beste Rock, den ich habe, und der einzige, für den wir Stoff gekauft haben, anstatt einen alten Mantel oder die Kinderzimmervorhänge zu verarbeiten. Für mich ist er mein Weggehrock – und jetzt, wo ich tatsächlich weggegangen bin, kann ich den Saum kürzen.

Das Beste hier ist, dass niemand über den Krieg spricht. Zu Hause gab es kein anderes Thema: der Krieg der Krieg der Krieg der Krieg. Ich kann mich nicht an den Krieg erinnern, und er ist mir auch egal. Wir waren weit weg, auf einem anderen Kontinent, und außerdem ist das alles ewig her. Ich war noch nicht geboren, und wir waren nicht in England, und als wir wieder da waren, haben wir ja nicht in Coventry oder London gelebt – Hereford war nach dem Krieg bestimmt nicht anders als vorher, oder?

Du hast Glück: Du hast das erste Haus noch erlebt, vor Hereford, vor England. Ich wollte, ich könnte das auch sagen. Ich kenne nur die Fotos. Die Hochzeit: Pa und OK stehen im fleckigen Licht vor der Schule, beide in ihren besten Sachen und ohne ein Lächeln. Es gibt sogar eins von mir, einem winzigen, krabbenartigen Wesen, das sich an OKs Busen schmiegt. Gibst Du mir recht, wenn ich sage, dass sie einen Busen hat? Kein anderes Wort passt. Für mich ist sie nicht „Mutter“ oder „Mama“, aber dass sie von uns allen, einschließlich Pa, erwartet, dass wir sie OK nennen, ist schon ein bisschen seltsam, oder? Das Oberkommando, wo alles entschieden und organisiert wird. Sie lässt keinen Raum für Wärme, Geborgenheit und Gemeinschaft. „Im eigenartig duftenden Schatten des großen, dunklen Johannisbrotbaums“ – so heißt es doch bei D. H. Lawrence, oder? Ich frage mich, wie ein Johannisbrotbaum aussieht. Habe ich dorthin gehört? Ich nehme an, das ist der Sinn eines Empires: dass es anders ist als zu Hause, meine ich.

Hier sind alle entweder wie ich zu jung, um über Luftangriffe und Bomben zu reden, oder so alt und verknöchert und mit ihren Kreuzworträtseln beschäftigt, dass sie sich nicht mehr erinnern, was sie gestern gemacht haben, ganz zu schweigen von vor zwanzig Jahren – und damals wären sie ohnehin zu alt gewesen, um zu kämpfen. Nein, das ist nicht fair, sie sind nicht alle so alt – mein Tutor zum Beispiel ist ziemlich jung und lebhaft –, aber hier kommt einem alles so vor, als wäre es schon seit Jahrhunderten da – was ja auch stimmt – und als wäre der Krieg bloß eine kurze, schon vergessene Störung gewesen.

Im Korridor hängt neben der Pförtnerloge ein Foto aus der Zeit, als das College ein Lazarett war. Auf dem Rahmen steht: „1943 – Lazarett für Kopfverletzungen“. Zwei Schwestern stehen in weißer Tracht mit einem roten Kreuz auf der Brust hinter zwei sitzenden Soldaten. Der eine trägt Uniform und Stiefel, der andere hat seinen Morgenrock an und eine Decke über den Beinen, also ist er vermutlich die Kopfverletzung. Im Hintergrund sieht man Infusionsständer und Eisenbetten auf Rädern, und das Witzige ist, dass das Foto im Garten hinter dem Haus aufgenommen worden ist – man sieht sogar mein Fenster mit der gerissenen Gewichtsschnur. Glaubst Du, sie haben sie jeden Tag rausgefahren an die frische Luft? Oder mussten sie im Garten schlafen? Manchmal frage ich mich, ob eine Kopfverletzung in meinem Zimmer gestorben ist. Wenn ja, dann hoffe ich, sie ist nicht unschön, sondern romantisch gestorben.

Hier reden alle unentwegt über die neue Umgehungsstraße, die vielleicht gebaut oder auch nicht gebaut werden wird (gar nicht so romantisch oder intellektuell), und alle finden es eine Sehr Schlechte Idee. Aber das hat man auch 1830 über die Eisenbahn gesagt. Und wahrscheinlich über alle anderen Erfindungen seit 1066, mit Ausnahme der Druckerpresse. Im Grunde soll sich nichts ändern. Mit einem Dozenten hatte ich eine Diskussion über die Umgehungsstraße. Ich sagte: „Wenn es eine Umgehungsstraße gäbe, wäre es leichter, hierherzukommen, oder?“ Und er antwortete: „Aber sehen Sie, es wäre uns lieber, wenn andere Leute nicht hierherkommen würden.“ Das fasst Oxford ziemlich gut zusammen. (Gerade denke ich, dass ich hätte sagen können: „Ist nicht der Sinn einer Umgehungsstraße, dass die Leute einen leichter umgehen können?“ Aber solche Schlagfertigkeiten fallen mir immer erst einen Tag später ein …)

 

xxx, DDlS

 

–––––

Oxford, Dezember 1962

 

Liebe Kitty,

letzte Woche ist was Lustiges passiert, das muss ich Dir erzählen. Ich war auf dem Cornmarket und hab in meiner Tasche nach einem Handschuh gekramt (ja, ich weiß, hier trägt niemand Handschuhe, aber ich kann es mir nicht abgewöhnen, noch nicht), als plötzlich ein Wagen neben mir hielt. Auf der Beifahrerseite sprang ganz konfus ein älterer Mann in einem Mantel heraus, ein Klemmbrett in der einen Hand, eine Aktentasche in der anderen und den Hut in der dritten, wenn er eine gehabt hätte. Und dann taumelte auf der Fahrerseite ein schlaksiger junger Mann in Hemdsärmeln und einem schicken Pullunder mit Fair-Isle-Muster heraus. Er sah schrecklich aus, ganz grün und bleich und an den Rändern ausgefranst wie Wirsing. Er streckte die Hand aus, um sich von dem Mann mit dem Klemmbrett zu verabschieden, und im nächsten Moment schoss aus seinem Mund ein dicker Strahl Kotze, voll auf den Mann mit dem Klemmbrett. Kleine Karottenstückchen rutschten an seinem Mantel herunter und tropften auf die Schuhe.

Ich bot ihm mein Taschentuch an und versuchte, etwas von dem Zeug abzuwischen, aber eigentlich hätte man einen Gartenschlauch gebraucht. Der Wirsingmann starrte uns an und ging wortlos weg. Der arme Klemmbrettmann wischte seine Hutkrempe ab, und ich schüttelte das Taschentuch aus und sagte, viel mehr könnte ich wohl nicht für ihn tun. Der Klemmbrettmann sagte: „Ich hätte nicht gedacht, dass ihn das so mitnehmen würde.“ „Was denn?“, fragte ich. „Das war seine Prüfungsfahrt für den Führerschein, und er hat es sehr gut gemacht. Ich wollte ihm gerade sagen, dass er bestanden hat, als vor uns ein Hund auf die Straße lief. Er ist nicht in Panik geraten und hat das Lenkrad verrissen, aber er hat auch nicht gebremst – er hat das arme Tier einfach überfahren.“

Ich sah mir den Wagen an, und es stimmte: Die ganze Seite war irgendwie hundeartig verschmiert, und am Rückspiegel war ein Blutspritzer.

xxx, DDlS

 

P. S.: Mit „lustig“ meinte ich nicht den toten Hund, sondern die Kotze.

 

Für wärmende Lesestunden am knisternden Kamin

„Eine magische Welt, in der es darum geht, das Leben langsamer angehen zu lassen und sich mit den schönen Dingen des Lebens zu befassen. Wenn es ein Buch gibt, das das Bild vom gemütlichen Lesen auf dem Sofa zur kalten Jahreszeit mit einem Heißgetränk perfekt einfängt, dann ist es das hier.“ Simone; Marketing

Can’t Spell Treason Without TeaCan’t Spell Treason Without Tea

Honig, Tee und Hochverrat

Für kuschelige Lesestunden am knisternden Kamin

Das Büchercafé lädt zum Träumen ein, doch Magie und Abenteuer ruhen nie!

Als ein Attentäter Reynas Leben in Gefahr bringt, hat sie genug von ihrem Job als Leibwächterin der Königin. Kurzerhand beschließen sie und ihre Partnerin Kianthe, eine mächtige Magierin, ein Büchercafé mit besonderen Teesorten zu eröffnen. Doch die erhoffte Ruhe bleibt zunächst aus: Sie müssen sich nicht nur in ihrem neuen Leben zurechtfinden, sondern auch herausfinden, was es mit den Drachenangriffen auf sich hat, die ihr neues Zuhause immer wieder heimsuchen.

Eine Geschichte voller Wagnisse, Hoffnungen und gemütlicher Kamingespräche.

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Ein Roman wie ein Paukenschlag

„Die Art und Weise, wie Clare Leslie Hall die raue Schönheit des Landlebens mit der herzzerreißenden Geschichte von wahrer und erster Liebe verwebt, ist unwiderstehlich. ›Wie Risse in der Erde‹ ist für mich schon jetzt die fesselndste Lektüre des Jahres.“ Kerstin Beaujean, Presseleitung

Blick ins Buch
Wie Risse in der ErdeWie Risse in der Erde

Roman

„Mitreißend, poetisch und geheimnisvoll.“ Delia Owens, Autorin von „Der Gesang der Flusskrebse“

Im Mittelpunkt dieses umwerfenden Romans steht eine leidenschaftliche Dreiecksbeziehung, die mit einem spannenden Todesfall verknüpft ist.

»Wie viel einfacher wäre es doch, wenn wir die Wahrheit sagen könnten.«

Als Siebzehnjährige verliebt sich Beth in den schönen und klugen Gabriel. Am Ende eines leidenschaftlichen, flirrenden Sommers jedoch zerbricht ihr Glück. 13 Jahre später lebt Beth glücklich mit ihrem Mann auf einer Farm. Sie kümmern sich aufopferungsvoll um Land und Tiere und genießen ihre noch immer große Liebe. Doch dann kehrt Gabriel mit seinem Sohn Leo in das Dorf zurück und reißt alte Wunden auf. Beth hat einen Sohn verloren – damals war er so alt, wie Leo jetzt. Ihre Gefühle brechen mit Wucht über sie herein, und sie trifft eine Entscheidung, die verheerende Folgen hat. Ein Mensch wird sterben, und ein anderer wird dafür büßen. Doch wer wirklich die Schuld trägt, bleibt bis zum Schluss das große Geheimnis dieses herausragenden Romans.

Herzzerreißend und doch hoffnungsvoll

Clare Leslie Hall hat eine Geschichte geschrieben, die das Leben in all seinen Facetten zeigt: die Schönheit und den Schrecken, Geburt und Tod, Liebe und Verlust, Lust und Schmerz – dieses verrückte Nebeneinander von Gegensätzen, das überwältigend sein kann.

Über die Unausweichlichkeit der Liebe, die Unberechenbarkeit des Lebens und eine Frau, die dem Schicksal trotzt.

„›Wie Risse in der Erde‹ von Clare Leslie Hall ist eine unvergessliche Geschichte über Liebe, Verlust und die Entscheidungen, die unser Leben prägen, aber es ist auch ein meisterhaft ausgearbeiteter Krimi, der einen bis zur letzten Seite in Atem hält. Und dieses Ende?! Das habe ich nicht kommen sehen.“ REESE WITHERSPOON

„Eine Liebesgeschichte, die ihresgleichen sucht. Ein fulminanter und wunderschöner Roman.“ CHRIS WHITAKER, Autor von „Von hier bis zum Anfang“

„Clare Leslie Halls Roman ist mitreißend, poetisch und geheimnisvoll. Er beschreibt, wie eine zarte und unschuldige Liebe das Leben von Familien über Generationen hinweg prägt. Selbst auf einer idyllischen Farm in England kann unmögliche Leidenschaft tödliche Folgen haben. Doch auch wenn Liebe zerstörerisch ist, kann sie als heilende Kraft an den Ort zurückkehren, wo sie begonnen hat. Dieser bewegende, sensible und fesselnde Roman zielt direkt aufs Herz und trifft mitten ins Schwarze.“ DELIA OWENS, Autorin von „Der Gesang der Flusskrebse“

„›Wie Risse in der Erde‹ zieht einen in den Bann: zart und kraftvoll, lyrisch, gewaltig und leidenschaftlich. Ich habe es verschlungen.“ MIRANDA COWLEY HELLER, Autorin von „Der Papierpalast“

„Wie Risse in der Erde“ ist ein wunderschön beobachteter und brillant konstruierter Roman, der einen nicht loslässt. Er hat alles: Liebe, Verlust, Wut, Vergebung – und ich war von der ersten Seite an absolut gefesselt.« MARY BETH KEANE

„Die englische Autorin Clare Leslie Hall hat mit ihrem klugen und wendungsreichen US-Debüt eine im englischen Dorset spielende Geschichte über Trauer, Liebe und Mord geschrieben. (…) Hall macht Beth zu einer faszinierend komplexen Hauptfigur, die zwischen Unruhe und Glücklichsein schwankt. Alles erweist sich als anders, als es auf den ersten Blick scheint. Dieser scharfsinnige Gesellschaftsroman wird den Lesern noch lange in Erinnerung bleiben.“ PUBLISHERS WEEKLY

„›Wie Risse in der Erde‹ ist ein meisterhaftes Buch einer versierten Autorin, das so herzzerreißend wie spannend ist.“ BOOKLIST 

„Halls Sprache ist so mitreißend, dass man unbedingt weiterlesen muss. Ein elegant geschriebener Roman mit einer fesselnden Dreiecksbeziehung und einigen cleveren Wendungen.“ KIRKUS 

Teil 1
Gabriel

Der Farmer ist tot, und alle wollen wissen, wer ihn getötet hat. War es ein Unfall oder war es Mord? Es sieht nach Mord aus, sagen sie, ein so präziser Schuss ins Herz muss Absicht gewesen sein.

Sie warten darauf, dass ich etwas sage. Zwei Augenpaare starren unerbittlich. Aber wie kann ich aussprechen, was er von mir verlangt, die Sätze, die wir in den Minuten vor Eintreffen der Polizei wieder und wieder geübt haben?

Ich schüttele den Kopf, ich brauche mehr Zeit.

Es stimmt, was die Leute sagen: In einem einzigen finalen Augenblick kannst du ein ganzes Leben leben. Wir sind wieder der Junge und das Mädchen, die alles noch vor sich haben, eine glanzvolle Zeit aus Licht und märchenhafter Schönheit, aus Nächten unter Sternen.

Er wartet darauf, dass ich ihn ansehe, und als ich es tue, lächelt er, um mir zu zeigen, dass es okay für ihn ist, und nickt ganz kurz.

Sag es, Beth. Sag es jetzt.

Ich sehe wieder in sein Gesicht, das für mich schön ist, damals und jetzt und immer, ein letzter Blick zwischen uns, bevor alles anders wird.


1968
Hemston, North Dorset

„Gabriel Wolfe ist wieder auf Meadowlands eingezogen“, sagt Frank beim Frühstück, und der Name trifft mich wie ein Schlag. „Frisch geschieden. Jetzt geistern bloß er und sein Junge in dem Riesenhaus rum.“

„Oh.“

Mehr will mir dazu nicht über die Lippen kommen.

„Dasselbe hab ich auch gedacht“, sagt Frank. Er steht auf, kommt auf meine Seite des Tisches, nimmt mein Gesicht in beide Hände und küsst mich. „Wir lassen uns von diesem Blödmann nicht aus der Ruhe bringen.“

„Wer hat’s dir erzählt?“

„War das große Gesprächsthema gestern Abend im Pub. Anscheinend haben die zwei riesige Laster gebraucht, um ihr ganzes Zeug aus London herzuschaffen.“

„Gabriel wollte immer nur hier weg. Wieso sollte er zurückkommen?“

Sein Name fühlt sich seltsam auf meiner Zunge an, als ich ihn zum ersten Mal seit Jahren ausspreche.

„Sonst gibt’s ja keinen, der sich um das Haus kümmert. Sein Vater ist schon lange tot, seine Mutter auf der anderen Seite vom Globus. Steckt hoffentlich bis zum Hals in Dingoscheiße.“

Frank schafft es immer, mich zum Lachen zu bringen.

„Was kann er hier bloß wollen?“, sagt Frank beiläufig, aber ich sehe ihn, den unausgesprochenen Gedanken, der ihm durch den Kopf schießt. Abgesehen von dir. „Er wird garantiert verkaufen und nach Las Vegas oder Monte Carlo ziehen, oder wo auch immer diese …“ – er sucht nach dem passenden Wort, sieht zufrieden aus, als er es gefunden hat – „Promis so rumhängen.“

Frank verbringt den ganzen Tag und auch einen Teil der Nacht draußen, um unsere Farm zu bewirtschaften und unsere Tiere zu versorgen. Ich kenne niemanden, der härter arbeitet als er, aber er findet immer noch Zeit, die Schönheit eines Sonnenuntergangs im Frühling oder das jähe, schwindelerregende Auffliegen einer Feldlerche in sich aufzunehmen, denn die Verbundenheit mit der Natur ist tief in ihm verwurzelt. Eines der vielen Dinge, die ich an ihm liebe. Frank hat keine Zeit, Romane zu lesen oder ins Theater zu gehen. Er würde einen trockenen Martini nicht mal erkennen, wenn jemand ihm einen ins Gesicht schütten würde. Er ist das genaue Gegenteil von Gabriel Wolfe oder zumindest von dem Gabriel Wolfe, über den die Zeitungen schreiben.

Ich schaue zu, wie mein Mann sich gegen die Tür lehnt, um seine Stiefel anzuziehen. In zwanzig Minuten wird der Gestank von Kuhmist seine Haut porentief durchdrungen haben.

Als es laut an der Tür klopft, erschrickt Frank. „Verdammt“, sagt er und reißt die Tür so schnell auf, dass sein Bruder fast hereinfällt.

Bei uns beginnt jeder Tag so.

Jimmy, das Gesicht noch gerötet vom Bier am Vorabend, die Augen halb zusammengekniffen, eine Haarsträhne abstehend, als wäre sie gegelt, sagt: „Aspirin, Beth? Hab ’nen Brummschädel.“

Ich nehme die Medikamentenschachtel von der Anrichte, wo sie hauptsächlich dazu dient, Jimmys morgendlichen Kater zu lindern. Früher enthielt sie mal Kinderparacetamol und Wundpflaster.

Frank ist fünf Jahre älter als Jimmy, aber die beiden sehen sich so ähnlich, dass selbst ich von Weitem Mühe habe, sie auseinanderzuhalten. Sie sind gut über einen Meter achtzig groß, haben fast schwarzes Haar und auffallend blaue Augen. Man sagt, sie hätten die Augen ihrer Mutter, aber die habe ich nie kennengelernt. Beide tragen zerschlissene Cordhosen und dicke Hemden, über die sie gleich blaue Latzhosen ziehen werden, ihre Alltagsuniform. Im Dorf werden sie manchmal „die Zwillinge“ genannt, aber nur im Scherz. Frank ist durch und durch der große Bruder.

„Was war denn mit ›ich trink nur noch aus, dann geh ich nach Hause‹?“, fragt Frank und grinst Jimmy an.

„Bier ist Gottes Lohn für einen Tag ehrliche Plackerei.“

„Steht das in der Bibel?“

„Falls nicht, sollte es drinstehen.“

„Wir sind gegen Mittag bei den Lämmern. Bis dann!“, ruft Frank mir zu, als die Brüder hinausgehen und, noch immer lachend, den Hof überqueren.

Jetzt, da die Männer zum Melken sind und ich in der Küche freie Bahn habe, steht so einiges an Arbeit an. Die große Wäsche – die Latzhosen beider Brüder sind eingeweicht und warten am Waschbrett auf mich. Der Abwasch vom Frühstück. Ein Fußboden, der immerzu gefegt werden muss, egal, wie oft ich den Besen schwinge.

Stattdessen koche ich mir noch einen Kaffee, ziehe eine alte Wachsjacke von Frank an und setze mich an den kleinen schmiedeeisernen Tisch mit Blick über unsere Weiden, bis meine Augen ihr Ziel finden: drei unterschiedlich hohe rote Schornsteine, die über das flirrende grüne Eichenlaub am Horizont ragen.

Meadowlands.


Früher
1955

Ich nehme gar nicht wahr, wo ich bin, weil ich vor mich hin träume, lauter romantische Szenarien im Kopf habe, in denen ich triumphiere. Ich sehe mich an einem Springbrunnen stehen, wo mir, untermalt von einem ganzen Streichorchester, eine leidenschaftliche Liebeserklärung gemacht wird. Ich lese zu dieser Zeit viel Austen und Brontë und neige zur Schwärmerei.

Ich muss wohl in den Himmel gestarrt haben, ganz in meinem Wolkenkuckucksheim gefangen, denn der Zusammenstoß kommt aus dem Nichts.

„He, was soll das!“

Der Junge, in den ich hineingelaufen, gegen dessen Schulter ich geprallt bin, ist kein Held. Groß, schlank, arrogant wie ein jugendlicher Mr Darcy.

„Kannst du nicht aufpassen?“, sagt er. „Das hier ist Privatbesitz.“

Ich finde den Ausdruck „Privatbesitz“ ziemlich lächerlich, erst recht, wenn er in so einem knappen, geschliffenen Tonfall ausgesprochen wird. Die Wiese, auf der wir stehen, grün und hügelig, Eichen voller Blütenwolken, ist England in all seiner Pracht. Sie ist Keats, sie ist Wordsworth. Alle Welt sollte sich daran erfreuen können.

„Grinst du etwa?“ Er sieht dermaßen entrüstet aus, dass ich fast lachen muss.

„Wir sind mitten im Nirgendwo. Außer uns ist hier weit und breit kein Mensch. Also was soll’s?“

Der Junge starrt mich einen Moment lang an, ehe er erfasst, was ich gesagt habe. „Du hast recht. Gott! Was ist bloß los mit mir?“ Er streckt die Hand aus, ein Friedensangebot. „Gabriel Wolfe.“

„Ich weiß, wer du bist.“

Er sieht mich erwartungsvoll an, will meinen Namen hören. Aber ich bin noch nicht bereit, ihm den zu verraten. Ich habe schon einiges über Gabriel Wolfe gehört, den ach so gut aussehenden Jungen aus dem Herrenhaus, doch jetzt sehe ich ihn zum ersten Mal leibhaftig vor mir. Er hat ein gutes Gesicht: dunkle Augen, umrahmt von Wimpern, für die meine Freundinnen sonst was geben würden, welliges braunes Haar, das ihm in die Stirn fällt, markante Wangenknochen, elegante Nase. Aber er trägt eine Tweedhose, deren Beine er in Wollsocken gestopft hat. Eine Jacke aus demselben Tweed hängt ihm mit baumelndem Gürtel über den Schultern wie eine Art Cape. Altmännerkleidung. Er ist überhaupt nicht mein Typ.

„Und was machst du hier?“

„Nach einem Plätzchen suchen, wo ich in Ruhe lesen kann.“ Ich ziehe mein Buch aus der Manteltasche – ein dünnes Bändchen von Emily Dickinson.

„Oh. Gedichte.“

„Du klingst ein bisschen enttäuscht. Wodehouse ist wohl eher nach deinem Geschmack, was?“

Er seufzt. „Ich weiß, was du denkst. Aber da liegst du falsch.“

Ich lächele wieder, ich kann nicht anders. „Kannst du etwa Gedanken lesen?“

„Du hältst mich für einen hirnlosen feinen Pinkel. Einen Bertie Wooster.“

Ich lege den Kopf schief und mustere ihn. „Deine Aufmachung würde ihm jedenfalls gefallen, das musst du zugeben. Er würde sagen, die ist famos.“

Als Gabriel lacht, verändert ihn das völlig.

„Das ist die alte Angelhose von meinem Vater. Hab ich mir aus einer Kiste mit Zeug für den Wohltätigkeitsbasar geklaut. Wenn ich gewusst hätte, dass du sie so schrecklich findest, hätte ich sie nicht angezogen.“

„Machst du das gerade? Angeln, meine ich.“

„Ja, gleich da unten. Ich zeig’s dir, wenn du willst.“

„Ich dachte, Gesindel wie mir wäre der Zutritt verboten.“

„Und genau deshalb musst du mitkommen. Ich war unhöflich und will es wiedergutmachen.“

Unsicher bleibe ich stehen. Ich möchte mich nicht auf etwas einlassen, aus dem ich schwer wieder rauskomme. Ich wollte doch bloß ein hübsches Plätzchen zum Lesen finden.

Er lächelt wieder, dieses Lächeln, das sein Gesicht verwandelt. Er sieht gut aus, selbst in den Klamotten seines Vaters. „Ich hab auch Kekse. Komm doch mit, bitte.“

„Was für Kekse?“

Gabriel zögert. „Welche mit Vanillecreme.“

Springbrunnen, Streichorchester. Ein See, Kekse. Der Unterschied ist gar nicht so groß.

„Tja, wenn das so ist …“, sage ich, und so beginnt es.

Ein sagenhaftes Lesevergnügen!

„›Frau im Mond‹ nimmt uns schon auf den ersten Seiten wieder mit auf eine poetische Bilderreise und umfängt uns mit diesem zärtlichen Zauber und der unvergleichlichen Sprachmelodie die Pierre Jarawan so besonders machen.“ Vera Kahl; Buchhandlung Blattgold

Blick ins Buch
Frau im MondFrau im Mond

Roman

„Es gibt für den menschlichen Geist kein Niemals.“
Am 4. August 1966 zündet eine Gruppe Studenten – die Lebanese Rocket Society – eine Weltraumrakete, um den Libanon in eine blühende Zukunft zu führen. Auf den Tag genau 54 Jahre später kommt es im Beiruter Hafen zu einer Explosion, die das ganze Land erschüttert. Meisterhaft verknüpft Pierre Jarawan diese beiden historischen Ereignisse zu einer Kontinente verbindenden Familiengeschichte weit über das Schicksal des Nahen Ostens hinaus. Denn im kanadischen Montréal stoßen die Zwillingsschwestern Lilit und Lina auf Spuren ihrer armenischen Großmutter Anoush ...

„Frau im Mond“ ist große Erzählkunst – vielschichtig, lebensprall und voller tragikomischer Ereignisse. Ein sagenhaftes Lesevergnügen!

Frau im Mond nimmt uns schon auf den ersten Seiten wieder mit auf eine poetische Bilderreise und umfängt uns mit diesem zärtlichen Zauber und der unvergleichlichen Sprachmelodie die Pierre Jarawan so besonders machen.“Vera Kahl, Buchhandlung Blattgold, München

„Pierre Jarawan ist ein begnadeter Erzähler. Jeder seine Romane eröffnet ein Universum der Geschichte(n) und verankert gleichzeitig durch die Wuchten der Zeit unsere Menschlichkeit fest im Heute. Seine Figuren schreibt er direkt in unser lesendes Herz.“ Maria-Christina Piwowarski

„Pierre Jarawans Geschichte um die Familie der Zwillinge Lilit und Lina sprüht nur so vor Farbigkeit. Einmal mehr hat er eine elegante, bildreiche Sprache gefunden, die wundervoll von Montreal bis in den Libanon führt. Ein Roman wie ein Fluss, der durch viele abzweigende Seitenarme trägt, er ist lehrreich, seine Figuren werden äußerst lebendig in Szene gesetzt. Themen wie Familie, Werte, Wurzeln, Zugehörigkeit, Verlust und Trauer finden ihren Platz und werden mit wachem Blick und großem Herzen behandelt.“ Georg Schmitt, Buchhandlung am Sand, Hamburg

„Mit dieser Kontinente überspannenden Familiengeschichte vor dem Hintergrund der dramatischen Ereignisse des 20. Jahrhunderts hat sich Jarawan selbst übertroffen: ein großer Wurf.“ Rainer Marquardt, Buchhandlung Reuffel, Koblenz

Fünfzig

Die Geschichte, wie ich sie kenne, geht so: Während Dana, unsere Mutter, auf der Fähre nach Longueuil zwischen zwei Brücken zwei Kinder gebar, stieg unser Großvater Maroun einige Kilometer entfernt die Feuertreppe des Seniorenwohnheims New Hope hinauf, um eine Rakete zu zünden. Dana trug dabei ein Hochzeitskleid, Großvater seinen besten Anzug und Hut. Es gibt ein Polaroidbild, das Jules, unser Vater, aufgenommen hat. Es ist kaum ausgeblichen und zeigt Dana auf Deck, kurz nach der Entbindung. Von Großvater gibt es ebenfalls ein Foto. Es findet sich auf Seite elf der Montreal Gazette vom 5. August 1986 und zeigt ihn im Moment seiner Verhaftung.

Unsere Eltern waren in diesem Sommer beide vierunddreißig Jahre alt und zum Unverständnis einer ganzen Heerschar von Verwandten und Freunden noch immer unverheiratet. Tanten, Vetter und Cousinen nahmen sie bei Kaffeekränzchen, Spaziergängen am Flussufer und sogar bei spontanen Begegnungen im Supermarkt zur Seite, um zu fragen, wann es endlich so weit sei. Dabei boten Dana und Jules, nahm man es genau, selbst hoffnungsvollsten Romantikern kaum Anlass zum Optimismus. In den fünfzehn Monaten ihrer Beziehung hatten sie es vollbracht, dreimal umzuziehen, sich zweimal zu trennen und einmal schwanger zu werden. Es war, als hätte Amor die beiden füreinander bestimmt, seinen Pfeil jedoch sturztrunken abgeschossen. Obwohl also nur wenige Beziehungen einen so funkensprühenden Untergang verhießen wie die Liaison der beiden, wurden die Umstehenden nicht müde, sie mit Fragen nach einer Hochzeit zu konfrontieren. Aus bestimmtem Grund: Dana und Jules hatten erst spät zueinandergefunden. Allerdings kannten sie einander schon viel länger. Als Kinder hatten sie unter den Augen derselben Verwandten in den Hinterhöfen des Saint-Laurent-Viertels gespielt. Mit sieben Jahren trennten sich ihre Wege oder besser: wurden getrennt. Und als sie sich schließlich – Mitte der Achtzigerjahre – an einer windigen Ecke in die Arme liefen, waren beide anderweitig verlobt. In den Augen der ihnen nahestehenden Personen bot ihre Verbindung so viele filmreife verpasste Gelegenheiten, dass diesen, als Dana und Jules endlich eine Beziehung führten, eine schnelle Ehe wohl als einziger Weg erschien, um ein erneutes Auseinanderdriften zu verhindern.

Aus den Mündern unserer Eltern klang das alles – Antrag, Einwilligung, Planung –, wenn sie uns Kindern davon erzählten, vor allem zweckmäßig und unspektakulär. Sie waren beide in Montréal geboren. Ihnen fehlte die Neigung zur Übertreibung, die ihren Vorfahren in den Genen saß, von der es heißt, sie könne eine Generation überspringen.

„Irgendwie scherten wir uns nicht um das, was damals normal war“, erzählte Mutter uns Kindern. Oder sie sagte: „Ich war schwanger. Es war einfach vernünftig.“

Wenn wir Vater fragten, sagte der nur: „Ich glaube, wir mussten uns erst finden.“

Was auch immer Dana und Jules zum Heiratsentschluss bewog: Es scheint einer jener Zufälle gewesen zu sein, die allen guten Geschichten zugrunde liegen, dass sie den 4. August als Datum wählten.

„Anscheinend hatte ganz Montréal vor, an diesem Tag zu heiraten“, erzählte Mutter. All die Jahre später schien sie immer noch ungläubig darüber. „Wir hatten keine Feier geplant, das ganze Drumherum fiel weg; aber wir bekamen einfach keinen Termin im Standesamt.“

Anstatt auf ein anderes Datum auszuweichen, schlug Jules vor, die Fähre vom Old Port of Montréal nach Longueuil zu nehmen, um die Eheschließung im dortigen Standesamt zu vollziehen. Unsere Eltern besaßen noch kein Auto, und hätten sie eins gehabt, sie hätten dennoch die Fähre genommen, denn die Staus auf den Brücken waren schon damals berüchtigt. Dana willigte ein. Sie war erst in der neunundzwanzigsten Woche. Bis auf einen Hang zu wirren Träumen und etwas Kurzatmigkeit gab es für sie keine Beschwerlichkeiten. Die Strecke über den Fluss war nur sieben Kilometer lang. Was sollte also schiefgehen?

 

Zur selben Zeit verfolgte unser Großvater einen eigenen Plan. Um ihn in die Tat umzusetzen, trug er sich drei Wochen in Folge für den Küchendienst im New Hope ein. Das Seniorenwohnheim hatte einen gemeinschaftlichen Speisesaal. Jeden Abend ab 17:30 Uhr reihte man sich vor der Theke ein, wo Köche das Essen auf die Teller gaben. Es gehörte zum Konzept, sich als Bewohner freiwillig einbringen zu können. Wer jahrelang einen Haushalt geschmissen hatte, hegte im Alter vielleicht den Wunsch, noch etwas zu tun zu haben, um bei Verstand zu bleiben. Es gab Beete, die gepflegt, Bücher, die sortiert werden wollten. Und es gab den Küchendienst. Im Durcheinander von Alltagsgesprächen und Besteckklirren schob Großvater Abend für Abend einen Geschirrwagen vor sich her, räumte dort ab, wo jemand aufgestanden war, wischte Krümel von Tischen und hielt sich ansonsten im Hintergrund. Das konnte er gut. Wir kannten ihn als plaudernden, herzlichen Mann, doch das war er vor allem im Kreis der Familie. Für die Heimbewohner war Maroun el Shami wie ein Buch in einem Regal, an das man nur über eine Leiter herankam. Zwar grüßte er höflich, blieb jedoch nirgendwo lang genug stehen, um angesprochen zu werden. Wenn er sich auf die Spieleabende einließ, jeden Mittwoch im dritten Stock, setzte er sich stets vor das Schachbrett, bis sich jemand fand, der es als das annahm, was es war: die Einladung, gemeinsam zu schweigen. Auf Gespräche über Politik oder – schlimmer noch – Sport ließ Großvater sich nicht ein, und falls er doch eine Meinung zu Brian Mulroney als Premierminister hatte oder zu Guy Lapointes Verteidigungskünsten auf dem Eis, so blieb die im New Hope ein Geheimnis.

Als er mit der Umsetzung seines Plans begann, war er unsichtbar geworden. Die Leute hatten aufgehört, ihn in Gespräche verwickeln zu wollen. Und so nahm auch niemand Notiz von dem Rucksackbeutel, den er über der Schulter trug: leer, wenn Großvater den Küchendienst begann, leicht ausgebeult, wenn er den Speisesaal verließ.

 

Etwas kann so oft und eindrücklich erzählt werden, dass man meint, sich selbst an die Ereignisse zu erinnern. Wir bekamen die Geschichten bereits im Kindesalter zu hören, und in den folgenden Jahren wurden sie bei verschiedenen Anlässen wieder und wieder erzählt. Anfangs noch einander ins Wort fallend und mit Abzweigungen, die sich als Einbahnstraßen entpuppen konnten, irrelevant für den Verlauf der Handlung. Später, als wir älter waren, mit wirksam gesetzten Pausen und ausgefeilten Erzählbögen, die sich wie Fäden eines Wandteppichs zu einem Bild verflochten. Ursprünglich waren es zwei getrennte Geschichten. Doch mit der Zeit verbanden sie sich zu einer Erzählung, die bei Familienfesten unter Girlanden und im Rauch der Grillfeuer weitergegeben wurde. Oder wir bekamen sie im kleinen Kreis vorgetragen, beim Sonntagsfrühstück, nur in Gegenwart unserer Eltern und unseres Großvaters.

Lina und ich liebten diese Geschichte. Obwohl wir darin kaum vorkamen, standen wir im Mittelpunkt. Am liebsten hörten wir sie, wenn wir den Zeitpunkt bestimmen durften. Meist war das um den Jahrestag der Ereignisse herum, und wir freuten uns Tage im Voraus darauf, bis wir es irgendwann nicht mehr aushielten. Dann rannte Lina los und zog die Erwachsenen aus allen Richtungen herbei, während ich die Sofakissen so auf dem Boden drapierte, dass wir einen Kreis bilden konnten.

„Ist die Rakete echt so weit geflogen?“

„Kam wirklich ein Fremder aus Michigan vorbei?“

„Ist der Krankenwagen mit Blaulicht gefahren?“

„Hat Abu Hamza Rache geschworen?“

Immer wieder stellten wir unsere Fragen, auch wenn wir die Antworten kannten. Selbst nach Jahren noch hofften wir insgeheim, den Erwachsenen etwas Unerwartetes zu entlocken. Vielleicht hatten wir auch das Gefühl, es gebe Dinge, die zwischen den Zeilen vor uns verborgen wurden. Wir waren jung, doch sogar uns war klar, dass es eine vage Geschichte blieb, von der Sorte, wie Eltern sie am liebsten erzählen.

 

Für unsere Mutter muss es ein aufreibender Sommer 1986 gewesen sein. Nicht nur wegen der Temperaturen, unter denen die Stadt ächzte und schwitzte, sondern auch, weil es ein Sommer der Veränderungen war. Die Schwangerschaft, natürlich. Ihr Körper. Die nahende Trauung. Aber jetzt, und das war neu, kam mit dem Rückzug von der Arbeit auch ein Innehalten hinzu, und Innehalten war Dana nicht gewohnt. Noch immer stapelten sich die Drehbücher auf ihrem Nachttisch, noch immer ging sie alten Gewohnheiten nach. Nachts, wenn das Liegen unbequem wurde, stopfte sie sich das Kissen in den Rücken und las bei gedimmtem Licht, als ginge sie weiterhin zur Arbeit.

Als Kinder wuchsen wir in einem engen Häuschen auf, weit außerhalb des Stadtkerns. Es hatte verwinkelte Zimmer, schiefe Treppen und Türrahmen, und da es im Schatten größerer Häuser stand, schien kaum einmal die Sonne in unsere Fenster. Doch dank der Fähigkeit unserer Mutter, in Räumen Dinge zu sehen, die andere nicht sahen, war es ein schönes Haus. Es wandelte sich mit den Jahreszeiten. Manchmal saß Dana, bevor sie eine Veränderung vornahm, stundenlang in ein und demselben Raum, sah Schatten wandern, das Licht sich verändern, und überraschte uns dann mit Einrichtungskniffen, die uns glauben ließen, gerade erst eingezogen zu sein.

Es war diese Fähigkeit, mit der sie sich Mitte der Siebzigerjahre einen der raren Jobs in Montréals Filmindustrie gesichert hatte. In Hollywood fand damals eine Zeitenwende statt. Junge Regisseure rebellierten gegen die Macht der großen Studios. Namen wie Friedkin, Bogdanovich, Polanski, Scorsese oder Coppola machten die Runde, und mit den Geschichten, die sie erzählten, sickerte das echte Leben in die Filme ein: moralische Verwerfungen, scheiternde Helden. Montréal war gerade dabei, sich einen eigenen Namen zu machen. Seit jeher war die Stadt Anziehungspunkt für Menschen aller Länder gewesen, um sich hier niederzulassen, oder als Tor nach Westen, und diese Einflüsse hatten das Stadtbild geprägt. Die Regisseure, die nun auf die Bildfläche drängten, noch ohne Zugriff auf die großen Budgets, wandten sich auch nach Kanada und fanden in Montréal eine Stadt, die jede Stadt der Welt zu sein vermochte.

Dana fand einen Job als Locationscout in einer Produktionsfirma, was sämtliche Verwandte vor Stolz beinahe platzen ließ und zu der Annahme verleitete, sie werde bald mit Marlon Brando beim Frühstück sitzen. Und falls nicht, könnte sie ihren Angehörigen fortan zumindest freien Eintritt in jedes Kino der Stadt verschaffen.

Sie begann, ihre Umgebung mit neuen Augen zu sehen. Montréal konnte sich in New York, Baltimore, Detroit, Chicago, Paris, Warschau oder Berlin verwandeln. Oder auch in das Montréal eines anderen Jahrhunderts. Was sie an ihrem Beruf liebte, war die Möglichkeit, die Stadt von innen zu sehen. Dana kannte die Straßen und Gassen seit Kindheitstagen, wusste, wie Wege miteinander verbunden waren. Doch jetzt erhielt sie mit nur einem Anruf Zutritt zu Wohnungen, Häusern, Palästen, die man sonst nur von außen oder aus Maklerbroschüren kannte. Sie bekam Drehbücher zugeschickt, machte Listen der Schauplätze, die im Film relevant sein würden. Sie war äußerst gewissenhaft. Sie besuchte infrage kommende Orte mehrfach und zu unterschiedlichen Tageszeiten, machte sich weitere Notizen über die Beschaffenheit des Lichts, das Auftreten von Störgeräuschen – eine rumpelnde Straßenbahn, eine Baustelle in der Nachbarschaft –, sah sich Zufahrtswege für Filmcrews an, Parkmöglichkeiten für Lastwagen, Kamerakräne und holte Genehmigungen ein für den Dreh oder das Sperren von Straßen.

„Ist wie die Bürgermeisterin, unsere Dana“, sagten die Verwandten.

In der ersten Zeit des Rückzugs hatte ihre Schwangerschaftsvertretung sich fast täglich mit Fragen gemeldet. Inzwischen aber rief niemand mehr an. Zurückgeworfen auf träge, lange Tage in ihrer Wohnung, erkannte Dana – oder glaubte zu erkennen –, dass sie ersetzbar war. Das war die eine Veränderung. Aber auch an Jules nahm sie einen Wandel wahr, der sie überraschte und der erfreulich war.

Anfangs, das gab Vater später zu, war er wenig begeistert gewesen von der Idee, ein Kind in die Welt zu setzen. Er war das vierte von acht Geschwistern und erinnerte sich, wie es sich anfühlte, wenn man von älteren Brüdern in Schränke gesperrt oder in Mülltonnen gesteckt wurde, es aber nicht an den Jüngeren auslassen konnte, weil die einfach zu klein waren. Der Unterschied zu seiner jüngsten Schwester – unserer Tante Emma – betrug sechzehn Jahre. Und weil sein Vater früh verstorben und seine Brüder früh ausgezogen waren, hatte er mit fünfzehn bereits das Gefühl gehabt, den ganzen Spaß – Windeln, Weinen, Wutausbrüche – schon mitgemacht und hinter sich gebracht zu haben. Einerseits war Jules mit dreiunddreißig klar, wie unsinnig diese Haltung war. Andererseits konnte er sich nicht davon freimachen, seine Erkenntnisse als empirisch evident zu betrachten: Kinder, die aufgehört hatten, alles und jeden vollzuspucken, kletterten in Spülmaschinen, hämmerten auf Möbeln herum, zerkauten Gehaltsnachweise oder tranken Flüssigseife und Schlimmeres. Nur alle paar Generationen tauchten sie auf wie Gerüchte, in Bergdörfern oder unter Inselvölkern, und selbst dort galten sie als ungewöhnlich: Babys, auf die diese Mängelliste nicht zutraf. Wann immer das Thema vor Dana oder – was weitaus öfter passierte – vor Verwandten zur Sprache kam, wiegelte Jules ab und führte Einwände an. Wie genau sie ihn überredete, ob er zur Besinnung kam oder welchen Umständen sie ihre Schwangerschaft verdankte, blieb das Geheimnis der beiden. Eine Mischung aus natürlichem Anstand und mangelnder Vorstellungskraft hielt Lina und mich als Kinder davon ab, nachzufragen oder uns diesen Teil der Geschichte auszumalen.

Jules’ Zweifel verflogen erst, als er Dana an einem verschneiten Tag Anfang März zum Ultraschall begleitete. Ihre Hand lag in seiner. Schneeflocken schmolzen auf ihren Jacken und tropften auf den Boden des Untersuchungszimmers. Er sah auf das Monitorflimmern, hörte das Herz seines Kindes schlagen. Und fand es unglaublich. Als er später im Kollegenkreis davon erzählte, imitierte er das Pochen, indem er mehrmals schnell gegen einen Pfannenboden klopfte. Jules arbeitete für ein Filmstudio. Er bereitete nicht nur Mahlzeiten für die Crew vor, die sich in den Drehpausen an langen Tischen traf, sondern auch das Essen für Szenen des Drehs. Das Sandwich zum Beispiel, in das Stacy Keach als Huntley McQueen in Two Solitudes beißt, hat unser Vater geschmiert. Natürlich hielt er die Bedeutung von Essen in Filmen für maßlos unterschätzt. Scorseses Raging Bull fand er in erster Linie wegen des falsch gebratenen Steaks interessant, das Jake LaMotta, gespielt von Robert De Niro, im Film ausrasten lässt. Die Hummer-Szene in Annie Hall fand er nicht Woody Allens gespielter Angst wegen toll, sondern weil er nie zuvor so makellose Scherentiere auf einer Leinwand gesehen hatte. Am liebsten aber mochte er den Anfang von Breakfast at Tiffany’s, als Audrey Hepburn neunundfünfzig Sekunden nach Filmbeginn in einen dänischen Plunder beißt und sich dabei zur Melodie von Moon River im Schaufenster spiegelt. „Dieses Gebäck“, sagte er eines Abends feierlich vor dem Fernseher, „trägt den gesamten Film. Besser wird’s nicht mehr.“

Die Untersuchung jedenfalls ließ zwei Dinge, die Jules wichtig waren, auf unerwartete Weise zusammenkommen. In den Tagen nach dem Ultraschall begann er, in Lebensmitteln Föten im Zustand der achten Woche zu sehen: in Brombeeren, Shrimps oder Kidneybohnen. „Das ist doch nicht zu glauben“, murmelte er jedes Mal. Seine Sorgen verschwanden und machten Vorstellungen von einer Zukunft Platz, die gar nichts Erschreckendes mehr hatten: Spaziergänge am Strand, kleine Fußabdrücke neben seinen. Nachhausewege vom Markt, Hand in Hand mit seiner Tochter. Jules’ Unsicherheit kehrte erst zurück, als er Dana zum nächsten Termin begleitete, wo der Ärztin ein „Hoppla“ entfuhr, gefolgt von einem „Da ist ja noch eins“.

Was Dana in jenem Sommer auffiel, war die Art, wie Jules „anzupacken begann“ – so nannte sie das. Er kaufte Zeitungen, und gemeinsam lasen sie die Wohnungsannoncen, denn die Bleibe in der Rue Saint-Aubin, die sie gerade erst bezogen hatten, war für eine Familie zu klein. Als sie die fünfundzwanzigste Woche vollendet hatten, kaufte Jules Bretter, Nägel und Leim und zimmerte einen Stubenwagen, der groß genug für zwei Babys war. Wie in der Anfangszeit ihres Kennenlernens kochte er wieder für Dana, aufwendig und indem er die Zutaten auf dem Teller zu Kunstwerken stilisierte. Und im Anschluss begann er, ohne dass sie ihn je darum bitten musste, ihr die Füße zu massieren.

Die Veränderungen an seiner Frau faszinierten ihn. Dass Danas Brüste voller wurden, damit hatte er gerechnet. Aber jetzt wurden auch ihre Brustwarzen dunkler. Braune Flecken tauchten an ihren Armen und Beinen auf. Eine Linie erschien unterhalb des Nabels.

„Sicher, dass das normal ist?“

Es war Mitte Juli. Sie lagen auf dem Küchenboden vor dem geöffneten Kühlschrank. Und weil es bis auf das elektrische Summen still war im Raum, während draußen der Sommer tobte, war es, als ob sie sich in zwei Welten bewegten: Vor dem Fenster tanzten die Schatten der Birken über den Gehsteig, Schulkinder wichen lachend Passanten aus, und eine Frau in Stöckelschuhen zog ein Kind hinter sich her, von dessen Kinn Schokoladeneis tropfte. Und drinnen fuhr Jules mit dem Finger das Fleckenarchipel auf Danas Haut nach und dachte: Ich bin vierunddreißig, aber mein Leben fängt gerade erst an.

„Ja, ganz sicher“, sagte sie. Und: „Das kitzelt.“

Jules wiederum fiel auf, wie ihre Ruhe in dieser Zeit auf ihn überging.

„Es war wirklich seltsam“, erzählte er uns, „Dana hatte die Fähigkeit, mir das Gefühl zu geben, sie habe alles unter Kontrolle und alles werde gut werden, ohne dass ich sagen konnte, wie sie es anstellte.“

„Das ist ja nicht auszuhalten“, unterbrach ihn Lina und rollte mit den Augen. Da waren wir neun oder zehn. „Sag doch einfach, ihr wart verknallt!“

Aber es war nicht nur das. Diese Eigenschaft blieb unserer Mutter, solange wir sie um uns hatten, erhalten, und auch wir spürten es. Sie gab uns das Gefühl, uns wachsam und sanft zu beobachten, immer bereit einzuschreiten, sollte es nötig sein. Selbst wenn wir sie ansahen und sie in einer Zeitschrift las, aus dem Fenster schaute oder in ihre Teetasse, wenn sie in Gedanken versunken war oder ein Gespräch führte, ja selbst wenn sie auf dem Sofa schlief, hatten wir das Gefühl, sie habe uns eben noch angesehen und gerade erst weggeschaut oder die Augen geschlossen. Es war eine seltene Verbindung von Abwesenheit und Zuneigung – und Jules wurde sich dessen zum ersten Mal bewusst dort auf dem Boden der Küche in der Rue Saint-Aubin, vierunddreißig Jahre jung und eingerahmt von Danas Arm und der tropfenden Kühlschranktür.

Im Warten sind wir wundervoll

"Charlotte Inden, die bereits einige tolle Kinderbücher geschrieben hat, legt in diesem Herbst ihren ersten ausgewachsenen Roman vor – und was für einen! „Im Warten sind wir wundervoll“ ist ein Buch, das vor Leben nur so sprüht.

Auf hinreißende Weise erzählt es eine von einer wahren Begebenheit inspirierte Geschichte. Die sogenannten War Brides, junge Frauen voller Hoffnung auf ein neues Leben, machten sich nach Kriegsende auf den Weg nach Amerika zu den GIs, in die sie sich verliebt hatten. Doch eine deutsche War Bride wird 1948 bei ihrer Ankunft in New York nicht von ihrem Verlobten am Flughafen abgeholt: Luise Adler. Sogar die Zeitungen greifen den Fall der hübschen jungen Frau auf, die umsonst zu warten scheint. Fast sieben Jahrzehnte später reist Luises Enkelin ebenfalls der Liebe wegen über den Atlantik, und auch sie wird ihren ganzen Mut zusammennehmen müssen, um dem Wink des Schicksals zu folgen." Felicitas von Lovenberg; Verlegerin

Im Warten sind wir wundervollIm Warten sind wir wundervoll

Roman

Eine junge Deutsche, die 1948 am New Yorker Flughafen strandet und als sitzen gelassene War Bride zum Star der Presse wird.

Ein US-Soldat, der ein Versprechen gegeben hat und es nicht einhalten kann.

Und eine Frau, die sieben Jahrzehnte später hofft, dass sich der Weg zum Glück wiederholen lässt.

Dies ist die Geschichte eines Endes, zweier Anfänge und der vielleicht größten Liebe aller Zeiten.

»Ein Buch, das mit leisem Zauber und tiefem Gefühl eine poetische Welt  erschafft, in der das Verliebtsein kostbar und berührend erscheint. Dieser Roman wurde mit einer sprachlichen Eleganz geschrieben, die eine sanfte und zugleich mitreißende Atmosphäre schafft und damit Herz und Verstand gleichermaßen fesselt und nicht wieder loslässt. Kleine, gut beobachtete Details verbinden sich in dieser Geschichte gekonnt zu berührender emotionaler Tiefe. (...) Ein Roman, der durch seine tiefgehende Empathie und durch die leisen Töne beeindruckt, die doch so laut von der Liebe erzählen. Zum Abtauchen und Anlehnen schön.« Aus der Begründung der DELIA-Fach-Jury, die den Roman aus insgesamt 300 eingereichten Neuerscheinungen des vergangenen Jahres zum Sieger kürte.

„Ein außergewöhnlicher Roman – klug gestrickt, mitreißend geschrieben und in jeder Hinsicht wunderschön!“ KATHINKA ENGEL

„Luise Adler ist verliebt in das Leben und das Leben in sie, darum schafft sie es auch sofort auf die Titelseiten der großen New Yorker Zeitungen. Liebevoll-frech, raffiniert und mit Witz und Tempo erzählt Charlotte Inden von den grandiosen Umwegen der Liebe.“ ELISABETH SANDMANN

So charismatisch wie Bonnie Garmus' „Eine Frage der Chemie“, so mitreißend wie Susanne Abels „Stay away from Gretchen“

I

Sie hatte noch nie zuvor versucht, ihr ganzes Leben in einen Koffer zu packen.

Sie hatte auch noch nie zuvor einen Reisepass besessen.

Doch hier stand sie nun. Mit dem Koffer in der einen Hand und dem Reisepass in der anderen.

„Are you really coming?“, hatte er in seiner letzten Nachricht an sie geschrieben. „To stay?“

Yes.


II

„Are you alright?“

„Yes“, lügt sie. „I’m only panicking.“

Und sie denkt, während sie versucht, sich unauffällig ein, zwei Tränen von der Wange zu wischen: Kann man das so sagen? Und denkt dann: Warum sagst du das überhaupt? Jetzt wird er nachfragen.

Genau das tut er.

„Flugangst?“, fragt er. Er fragt es in fast akzentfreiem Deutsch.

Beeindruckend, findet sie. Sie selbst sagt mit hörbarem Akzent: „No. It’s much more complicated.“

Das Flugzeug rollt langsam, aber unerbittlich weiter. Das Terminal verschwindet Stück für Stück aus ihrem Blickfeld. Warten sie noch dort? Winken sie?

Sie hebt die Hand und presst sie kurz gegen das dicke Fensterglas.

Sofort nach der Landung, noch auf dem Rollfeld, wird sie ihr Handy einschalten und ihnen allen texten: Bin da! Schöner Flughafen. Alles ist gut.

Und das wird hoffentlich nicht gelogen sein.

Da beschleunigt das Flugzeug plötzlich. Und sie sieht das Terminal nicht mehr.

„Meine Großmutter ist mit dem Fahrrad quer durch Deutschland geradelt“, stößt sie hervor und greift abrupt quer über den leeren Platz zwischen ihnen nach seiner Hand. „Da war der Krieg gerade erst vorbei. Denken Sie nur. Das hat sie getan.“

„Did she really?“, sagt er und schaut auf ihre verschlungenen Hände hinab.

„O ja“, sagt sie. Dann muss sie kurz die Luft anhalten und kann nicht mehr weitersprechen, denn das Flugzeug hebt vom Boden ab. Presst sie in die Sitze. „Da werde ich ja wohl noch ein Flugzeug nehmen können, um mich über den Atlantik fliegen zu lassen“, flüstert sie und umklammert seine Hand wie eine Rettungsleine. „Dachte ich jedenfalls.“

„And so you do“, sagt er sanft. „Open your eyes.“

Sie öffnet die Augen.

„Look“, sagt er.

Und sie blinzelt und sieht dann nicht etwa zum Fenster hinaus und ein letztes Mal auf ihre Heimat hinab, sondern zum ersten Mal in sein Gesicht.

„Oh“, sagt sie.

„Was hat Ihre Großmutter getan, als sie angekommen war?“, fragt er und streicht einmal wie beiläufig mit dem Zeigefinger über ihre Knöchel.

„Sie verlobte sich.“

„Ah“, sagt er. „Big love. Und was werden Sie tun, wenn Sie aus diesem Flugzeug gestiegen sind?“

„Heiraten“, sagt sie und lässt seine Hand voll Bedauern wieder los.


III 1

Ihr Foto schaffte es nicht auf die Titelseite.

Aber ihr Foto schaffte es in die New York Times. In die Post. Und in die Daily News. Und in all die anderen Zeitungen, die im Dezember 1948 in New York so gelesen wurden.

„Jetzt sieh dir das an“, sagte Mr Solomon Newton zu seinem Sohn Benjamin, der gerade sein hastiges Frühstück beendete. „Dieses reizende Mädchen hier. Mit dem Koffer. Steht einsam und verlassen am Flughafen. Armes Ding. Gestrandet. Was soll sie jetzt machen? ›Lovely War Bride‹, schreiben sie. Und sie haben recht. Dieses goldene Haar. Wie die Loreley.“

„Dad“, sagte Benjamin, ohne hinzuschauen. „Wie willst du erkennen, dass sie goldenes Haar hat? Es ist ein Zeitungsfoto. Schwarz-weiß.“

Mr Newton ignorierte das. „Du solltest ihr schreiben“, sagte er. „Deine Dienste anbieten. Die kann sie brauchen. Sonst werden sie das arme Kind zurückschicken.“

„Bitte?“, sagte sein Sohn. „Nein. Ganz sicher nicht.“

„Aber sie ist reizend!“

„Du wiederholst dich.“

„Und braucht Hilfe.“

„Die brauche ich auch. Wie konnte ich nur denken, es sei eine gute Idee, Jura zu studieren? Ich hätte mich wie du für deutsche Lyrik entscheiden sollen. Nichts als Heinrich Heine und goldenes Haar den ganzen Tag.“

Mr Newton kannte dieses regelmäßig wiederkehrende Lamento und ignorierte auch das. „Du wirst ihr nicht schreiben?“

„Nein, sorry, Dad“, sagte sein Sohn, schob seinen Stuhl zurück, klemmte sich die abgegriffene Ledermappe unter den Arm und klopfte seinem Vater im Vorbeigehen freundlich auf die Schulter.

„Dann tu ich’s“, rief Mr Newton ihm nach. „Ich werde schreiben: Mein Sohn, der Anwalt, kann helfen. O ja, ich schreibe.“

Und er tat es.

Er sollte nicht der Einzige bleiben.


2

Idlewild Airport war 1948 noch recht überschaubar.

Kein Jahr alt.

Mit nur einem Terminal.

Aber der verdammt noch mal beste Flughafen der Welt, sagte Bürgermeister La Guardia.

Mit sechs Landebahnen. Lang genug, dass Jumbojets und Militärmaschinen sie anfliegen konnten.

Mit zwölf Fluglinien, die Flüge in alle Welt anboten. Peru? Paris? In Reichweite.

Der Duft der weiten Welt umwehte Idlewild Airport.

Er lag nur fünfundzwanzig Kilometer von Manhattan entfernt und war im Sumpfgebiet der Jamaica Bay errichtet worden. Wer zu Fuß über das Rollfeld lief, konnte das Meer riechen. Und mit salzigen Lippen die Gangway erklimmen.

Wer kein Ticket hatte, stand auf dem Aussichtsdeck und sah den Maschinen beim Starten und Landen zu. Während ein Sternenbanner über dem Tower im Wind schlug.

Früher hatte es hier einen Golfplatz gegeben. Idlewild hatte er geheißen. Ein guter Name. Er hielt sich hartnäckig, auch wenn nun Douglas DC-3s statt Golfbällen über das Marschland flogen.

Offiziell hieß der Flughafen International Airport.

Und wirklich: Er war in diesen Tagen das Tor zu einer anderen Welt.

Vor allem für die War Brides.

Jene junge Frauen aus Europa und dem Pazifikraum, die sich mit in der Fremde stationierten Soldaten verlobt oder verheiratet hatten. Und ihnen jetzt, da die Männer heimwärts zogen, nachreisten. Die Damen wollten in den Vereinigten Staaten von Amerika ein neues Leben beginnen, weit weg von den Nachkriegswirren ihrer Heimat.

Eigentlich war das Einwanderungsgesetz bedauerlich unnachgiebig. Liebe war darin nicht vorgesehen. Aber besondere Zeiten erforderten besondere Maßnahmen. Und waren die Mitglieder der US-Streitkräfte nicht sämtlich Helden? Musste man ihnen da nicht entgegenkommen?

Also machte der Kongress es möglich und entwarf eine Ausnahmeregelung. Den War Brides Act. Er erlaubte für einen kurzen Zeitraum die Einreise der Angetrauten und Verlobten.

Sie kamen in Scharen.

Die meisten per Schiff. Aber einige per Flugzeug. Vor allem jetzt, kurz bevor sich das Jahr dem Ende zuneigte und die Ausnahmeregelung auslief.

Die Zeit drängte.

Noch zehn Tage bis Neujahr.

Noch drei Tage bis Weihnachten.


3

„I’ll be home for Christmas“, sang Rosie, die frisch wie der frühe Wintermorgen über der Jamaica Bay an ihrem Schalter von American Airlines in Terminal eins stand.

Die Stirn weiß wie Schnee.

Die Lippen rot wie Christbaumkugeln.

Und lächelte.

Ernest kannte sie nicht anders als lächelnd.

Vielleicht ist es der Job, dachte er. Aber vielleicht ist es auch einfach nur Rosie.

Ihr Halstuch war lässiger geknüpft als bei den Mädchen der anderen Airlines links und rechts. Die gekonnt aufgedrehten Locken wippten munterer, und ein oder zwei hatten trotz aller Haarspangen so eine Art, ihr frech in die Stirn zu fallen.

„Ich liebe Bing Crosby einfach“, rief Rosie quer über den Gang hinweg. „Sie nicht auch, Ernest?“

Nein, Ernest nicht. Ernest hätte Mr Crosby jederzeit für Charlie Bird Parker im Regen stehen lassen. Der schrieb seine Musik immerhin selbst, Mr Crosby nicht mal seine Texte. Und mit Texten nahm Ernest es sehr genau. Immerhin hatte Ernest von Earnest Books and Papers, der eher Papers denn Books führte, sein Leben lang von einer eigenen Buchhandlung geträumt. Immer gedacht, wie viel friedvoller so ein Laden sein musste im Vergleich zu einer Zeitungsredaktion. Jetzt hatte Ernest einen Flughafen-Zeitungsstand. In einer eingeschossigen Betonschachtel von Terminal, die zwar im Winter kaum beheizt und im Sommer nicht klimatisiert wurde, aber bei Eröffnung mit Salutschüssen und einer Flugschau gefeiert worden war.

War Ernest nicht stolz? War er zufrieden? Schrieb er Briefe nach Hause, in denen stand: Ich bin angekommen?

Ernest McIntry hatte drei Brüder. Alle verheiratet. Alle mit Kindern. Alle angestellt im Familienunternehmen McIntry and Sons. Drillich aus dem Mittleren Westen. Drillich für die Streitkräfte. Im Krieg hatte man gut verdient. Wenn sie etwas lasen, dann kein Buch, sondern die Zeitung. Und wenn sie die Zeitung lasen, dann vor allem den Sportteil.

Ernest las auch den Sportteil. Aber Ernest las zuerst die Titelseite. Dann die Leitartikel. Dann das Feuilleton. Und nach dem Wetter endlich den Sport.

Und er schrieb nach Hause: Habt ihr das Spiel gesehen? Die Cubs könnten es wieder in die World Series schaffen.

Er schrieb nicht: Hört auf mit dem Quatsch, es gibt keinen Fluch. Das ist reine Selbstsuggestion.

Er schrieb auch niemals: Ich bin Pazifist.

Und niemals: Seid Ihr sicher, dass Ihr Geld mit dem Krieg machen wollt?

Er schrieb: Danke für den Kaffee, wie geht es den Kindern, was macht Dads schlimmer Fuß? An Weihnachten muss ich arbeiten, leider.

Ernest konnte sehr diplomatisch sein.

Seine Ex-Frau nannte ihn feige, bevor sie ihn verließ.

„Wenn du meinst“, hatte er geantwortet.

„Ist das alles?“, fragte sie eisig.

„Jawohl“, sagte er.

Sie hatten keine sehr leidenschaftliche Beziehung gehabt.

„Mr Crosby hat eine schöne Stimme“, antwortete Ernest jetzt, diplomatisch. „Kaffee, Miss Rosie?“

Rosie nickte, dass die Locken tanzten.

Ernest wandte den Blick ab, denn immerhin war er Mitte vierzig und Rosie sicher erst kürzlich von der Schulbank gerutscht.

Er holte seine Thermoskanne aus dem Regal, angelte die zwei Becher von dem Bord mit den broschierten Kriminalromanen, goss Kaffee hinein und fügte Zucker hinzu. Viel Zucker.

Manche mögen’s süß, dachte Ernest, während er sorgfältig umrührte. Das wäre ein schöner Filmtitel. Als sie gleichzeitig nach dem Zucker griffen, trafen sich ihre Blicke. Das wäre ein guter Satz für ein Drehbuch. Wie viele Paare wohl bei Kaffee mit Zucker zusammenfanden? Darüber müsste mal jemand eine Geschichte schreiben. Eine Reportage. Sich einen Tag lang beobachtend in ein Diner setzen. Roger hätte eine ganze Seite dafür hergegeben. Nicht für Ernest allerdings, denn Ernest hätte nie über die Liebe geschrieben. Und nicht die Seite eins, die niemals. Aber auf die Eins hatte es ja bis 1945 nicht mal der Holocaust geschafft. Dabei war es die Times, verdammt noch mal.

Doch halt, nicht aufregen.

Ernest hatte schließlich seinen Hut genommen. Und dazu seinen Kaffeebecher gepackt und sein Adressbuch eingesteckt. Damit war er dann aus den Redaktionsräumen spaziert, die Lesebrille noch auf der Nase, ein bisschen resigniert, ein bisschen erleichtert.

Er hatte höflich gegrüßt, das schon.

Er war nicht nachtragend. Er hatte Prinzipien.

Also würde er nicht zurückkehren.

O nein, nie mehr, sagte sich Ernest, während er mit den Bechern die fünf Meter quietschenden Linoleums überquerte, die seine Seite des Terminals von Rosies Seite des Terminals trennten. Nur das ständige Formulieren im Kopf hatte er nicht abstellen können. Das kam so selbstverständlich zu ihm wie das Atmen.

Ernest wich einem Paar mit Reisekoffern aus, sie nervös, er schwitzend. Ein Koffer traf Ernests Schienbein. Heißer Kaffee schwappte über Ernests Handrücken.

„Sorry“, sagte Ernest.

Dachte: Das Terminal wird täglich voller.

Es kamen immer mehr Fluglinien, die immer mehr Schalter brauchten. Und es kamen immer mehr Menschen, die mit diesen Fluglinien fliegen wollten. Und sich bei Ernest Reiselektüre besorgten.

Ein Grund zur Freude, dachte Ernest. Ich sollte es feiern. Mit wem?

Dann stand er vor Rosie.

„Für Sie“, sagte er und überreichte der jungen Frau mit einem kleinen Diener das Heißgetränk.

„Sie sind ein Schatz“, sagte Rosie. Sie sagte das beinah täglich, es ging ihr so leicht über die sorgfältig angemalten Lippen wie ein Guten Morgen, das wusste er wohl, konnte aber nicht verhindern, sich trotzdem daran zu erfreuen.

„Wie läuft Ihr Tag so weit?“, fragte er, während er einen Schluck seines restlichen Kaffees nahm.

„Bestens, danke der Nachfrage“, antwortete sie. „Boston ist durch. Chicago checkt bald ein. Zeit für eine kleine Pause.“

Normalerweise würde sie sich jetzt auf ihren ungepolsterten Hocker sinken lassen, um die Füße zu entlasten und den Rücken zu entspannen. Das war nämlich erlaubt, wenn gerade keine Airline-Kunden vor ihr standen.

Aber heute setzte sie sich nicht. Wie sollte sie auch still sitzen, da es ihr doch ganz offensichtlich nicht einmal gelang still zu stehen? Sie wippte auf den Spitzen ihre kleinen, blanken Absatzschuhe, tat plötzlich gar einen Ausfallschritt. Es wirkte fast, als tanzte sie hinter ihrem Schalter. Bing Crosbys wegen?

Rosie beugte sich über den Tresen näher zu ihm. Ernest sah, dass ihre dunklen Wimpern sich fast so schön bogen wie ihre Locken. Dann hauchte sie, als verrate sie ihm ein Geheimnis: „Es landen gleich welche. Ein ganzer Flieger voll!“

O Gott, dachte Ernest in plötzlichem Begreifen. Sagte aber tapfer: „Großartig!“ Nur, um ihr nicht den Spaß zu verderben.

„Nicht wahr?“, jubelte Rosie. „War Brides direkt aus Europa.“ In dem Tonfall hätte sie auch sagen könnte: „Orangen, frisch aus Kalifornien!“ Es fehlte nicht viel, und sie hätte vor Begeisterung in die Hände geklatscht.

Ernest würgte ein bisschen an seinem Kaffee, während er um eine diplomatische Antwort rang. „Es ist ein schöner Tag, um das erste Mal New York zu sehen“, brachte er schließlich heraus. „Nur drei Grad über null. Aber spektakulär sonnig.“

Da strahlte Rosie, als wolle sie der Sonne Konkurrenz machen.

Ernest hätte jederzeit auf Miss Rosie gewettet.

Eine Reise zu den schönsten Kunstwerken unserer Zeit

»Ein wunderbarer, inspirierender und sehr, sehr lehrreicher Roman! „Monas Augen“ nimmt uns mit nach Paris, wo wir mit Mona und ihrem Großvater 52 große Kunstwerke kennenlernen – ein unheimlich wohltuendes Buch über die Macht der Kunst, die uns tröstet, uns Kraft gibt und aufrecht durchs Leben gehen lässt.« Franziska; Lektorat

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Monas Augen – Eine Reise zu den schönsten Kunstwerken unserer ZeitMonas Augen – Eine Reise zu den schönsten Kunstwerken unserer Zeit

Roman

Von der Macht der Kunst, unser Leben zu verändern

Und plötzlich ist alles anders: Als die zehnjährige Mona für eine Stunde ihr Augenlicht verliert, verweisen ihre Ärzte die besorgten Eltern an einen Kinderpsychiater. Monas Großvater Henry soll sie zu den Terminen begleiten, doch der hat eine andere, bessere Idee: Sie soll sie die ganze Schönheit der Welt in sich aufnehmen. Heimlich gehen die beiden in die großen Pariser Museen und betrachten dort Woche für Woche ein einziges Kunstwerk. Mit jedem Leonardo, jedem Monet und Kandinsky entdeckt Mona eine neue Weisheit – und dringt zum Grund ihres Leidens vor … 

„Monas Augen“ hat Frankreich und die Welt im Sturm erobert: ein tief berührender, hoffnungsvoller Roman über die rettende Kraft der Kunst!

„Der Triumph dieses Buches gleicht einem Märchen, das wahr wird.“ Le Monde

„Die Idee des Romans ist fabelhaft. Er liest sich ein bisschen wie ›Sofies Welt‹ in der Welt der Kunst, wie ein Bildungsroman, ein Roman der Freude.“ Le Figaro Littéraire

„Eine Ode an die Schönheit und die Weisheit.“ Le Parisien

„Die Verbundenheit zwischen Großvater und Enkelin trägt die Lesenden durch eine ausgesprochen erfrischende Annäherung an die Kunstgeschichte.“ Lire Magazine

„Eine ausgezeichnete Einführung in die Kunstgeschichte, die umso lebendiger ist, da sie durch zwei Figuren vermittelt wird.“ Libération

„Ein herausragender Roman, der in aller Munde ist.“ France Inter

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„Clara Maria Bagus beherrscht die Kunst des heilenden Erzählens." Nele Neuhaus

„In „Die Unvollkommenheit des Glücks“ erzählt Clara Maria Bagus von Ana und Lew, die sich vor vielen Jahren einmal flüchtig begegnet sind. Als das Leben sie ein zweites Mal zusammenführt, hat er Jahre als Soldat in einem Krieg verbracht, an dessen Ziele er nicht mehr glaubt, während sie nach Verlusten Wahlverwandtschaften schließt, die ihr helfen, das Rätsel ihres Lebens zu lösen. Clara Maria Bagus‘ Schreiben ist immer eine poetische Suche nach Erkenntnis, Heilung und Zuversicht, und das macht auch diesen Roman zu einem wahren Trostbuch" Felicitas von Lovenberg

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Die Unvollkommenheit des GlücksDie Unvollkommenheit des Glücks

Roman

Endlich – der neue Roman von Clara Maria Bagus!

Dies ist die Geschichte einer Frau und eines Mannes. Die in denselben Himmel blicken. Ihrer voller Zugvögel. Seiner voller Trümmer. Sie will ihrem alten Leben entfliehen – und findet Liebe und Bestimmung dort, wo sie es nie vermutet hätte. Er will dem Tod entkommen – und rettet damit nicht nur sein Leben. Zweimal begegnen sie sich. Einmal bleibt es bei einer Ahnung von Glück. Dann ordnet sich die Welt neu, und die beiden treffen sich unerwartet wieder.

In ihrem neuen, meisterhaft erzählten Roman verwebt SPIEGEL-Bestsellerautorin Clara Maria Bagus die Fragen nach Glück, Sinn und dem, was wirklich zählt im Leben. Ein zutiefst zärtlich geschriebenes Buch, das einen erfüllt und staunend zurücklässt.

Ein einzigartiger Roman über die zerbrechliche, und doch wundersame Schönheit des Lebens – für Fans von Delia Owens, Robert Seethaler und Matt Haig.

„Es könnte eines der traurigsten Bücher des Jahres sein. Clara Maria Bagus macht es zu einem der bewegendsten und hoffnungsvollsten.“Stephan Schäfer, Autor von 25 letzte Sommer

„Clara Maria Bagus beherrscht die Kunst des heilenden Erzählens.“ Nele Neuhaus 

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„Husch Josten erzählt zart und provozierend klug eine gewaltige und unvergessliche Geschichte über Liebe und Tod." Denis Scheck

„Das Bedürfnis nach Geschichten ist so alt wie die Menschheit. „Alles, was wir für wirklich halten, ist Erzählung“, schreibt Husch Josten in ihrem neuen Roman. „Wir glauben das ganze verdammte Leben erst, wenn es eine Geschichte darüber gibt.“

Zur Erzählung des Lebens gehört, wenn man die Sache ernst meint, unweigerlich der Tod als großer, übermächtiger Gegenspieler. Die Beschäftigung mit dem Unvorstellbaren, nämlich dem, was auf das Sterben folgt, ist das private Forschungsfeld von Sourie, dem Protagonisten von „Die Gleichzeitigkeit der Dinge“, einem so charismatischen wie rätselhaften jungen Mann, der alle, die ihm begegnen, in den Bann zieht. Husch Josten erzählt mit Verve, Temperament und provozierender Klugheit, und nicht nur Denis Scheck findet, dass an der Zeit ist, dass diese außergewöhnliche Autorin endlich ihren Platz in der ersten Riege der deutschsprachigen Literatur einnimmt." Felicitas von Lovenberg

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Die Gleichzeitigkeit der DingeDie Gleichzeitigkeit der DingeDie Gleichzeitigkeit der Dinge

Roman

Eine Geschichte über Freundschaft, Trauer und eine Liebe, die alles infrage stellt
Jean Tobelmann, Gastronom in dritter Generation, hat einen eigenwilligen Stammgast – der junge Sourie erforscht mit leidenschaftlichem Ernst, wovon die meisten Menschen lieber schweigen: das Ende des Lebens. Warum? Tobelmann geht der Geschichte des humorvollen Exzentrikers auf den Grund und stößt dabei auf etwas, das verständlicher und zugleich unbegreiflicher nicht sein könnte, etwas, das weit über Souries Amour fou mit der gemeinsamen Freundin Tessa und die Verbundenheit der beiden Männer hinausweist.

Schwerelos, mit feiner Ironie und Beobachtungsgabe erzählt Husch Josten von den Fallstricken des Lebens. Von wahrer Freundschaft, falschen Entscheidungen, der Suche nach Sinn und von der Liebe – unserer einzigen Waffe gegen die Sterblichkeit.

„Achtung: Dieses Buch könnte Ihre Einstellung zum Tod beeinflussen. Sie könnten ihm gelassener entgegensehen, vielleicht sogar über ihn lachen. Oder das Gegenteil. Ein großer Roman über Leben und Sterben. Klug und heiter, sprachgewaltig und tiefgründig.“ Bettina Böttinger

„Husch Josten erzählt zart und provozierend klug eine gewaltige und unvergessliche Geschichte über Liebe und Tod. Es wird höchste Zeit, dass Josten endlich ihren Platz in der ersten Reihe der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur einnimmt.“ Denis Scheck

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„Ein literarisches Meisterwerk.“ ttt

„Die Postkarte ist der Roman des Lebens von Anne Berest. Sie beschreibt darin nicht nur mitreißend die Geschichte ihrer Familie in der Shoah, sondern auch, was es heißt, als schöne, kluge, tatkräftige Frau in unserer Zeit mit diesem Erbe zu leben. 

Dieser autofiktionale Roman ist trotz seiner großen Themen ein echter Pageturner. Anne Berest löst wie in einem Detektivroman das Geheimnis einer höchst beunruhigenden Postkarte, die ihre Mutter vor 20 Jahren mit den Neujahrswünschen erhielt. Wir verfolgen dabei den Weg ihrer Familie von Russland über Litauen, 
Palästina und Frankreich bis in die Vernichtung. Wir erfahren, wie es nur Anne Berests Großmutter gelang, als Teil der Résistance zu überleben.

Lassen Sie sich von Der Postkarte erzählen, was es heißt als nicht-fromme Jüdin regelmäßig zwischen allen Stühlen zu sitzen und warum die Umwelt jemanden auch im säkularsten Leben manchmal zwingt, doch Position zu beziehen. 

Uns hat dieser Roman nicht nur begeistert und zu Tränen gerührt, wir sind darüber hinaus überzeugt, dass sich in ihm alles vereint, was gute Literatur ausmacht: Wahrhaftigkeit, Leidenschaft, eine fast unglaubliche Geschichte und die Kunst, sie einzigartig erzählen zu können." Felicitas von Lovenberg

Die PostkarteDie Postkarte

Roman

Eine große Familiengeschichte vom Holocaust bis ins heutige Frankreich

Im Januar 2003 fand Anne Berests Mutter unter den Neujahrswünschen eine verstörende Postkarte mit nichts als den Namen ihrer vier Angehörigen, die in Auschwitz ermordet wurden. Anne fragt nach, und die Mutter erzählt ihr die tragische Geschichte der Rabinovitchs. Aber erst als ihre Tochter in der Schule Antisemitismus erfährt, geht Anne der Sache wirklich auf den Grund: Sie recherchiert in alle erdenklichen Richtungen. Und das Ergebnis ist dieser Ausnahmeroman, der den ungewöhnlichen Weg der Familie nachzeichnet und fragt, ob man in unserer Zeit als Jüdin ein „ganz normales“ Leben führen kann.

„Ein Meisterwerk biographischer Erzählkunst.“ DLF

„Ein so ergreifendes wie elegantes Stück Erinnerungsliteratur.“ taz

Meine Mutter hat sich die erste Zigarette des Tages angezündet, ihre liebste, die einem beim Aufwachen die Lunge verbrennt. Dann ist sie vors Haus gegangen, um die weiße Pracht zu bewundern, die das ganze Viertel bedeckte. In der Nacht waren mindestens zehn Zentimeter Schnee gefallen.

Sie blieb trotz der Kälte lange draußen stehen, rauchend und die unwirkliche Stimmung genießend, die sich über ihren Garten gelegt hatte. Sie fand es schön, all dieses Nichts, diese Auslöschung der Farbe und der Linien.

Plötzlich hörte sie ein Geräusch, das durch den Schnee gedämpft wurde. Der Briefträger hatte gerade die Post auf den Boden fallen lassen, unter den Briefkasten. Meine Mutter ging hin, um sie aufzuheben, und sah sich vor, wo sie mit den Hausschuhen hintrat, damit sie nicht ausrutschte.

Die Zigarette noch im Mundwinkel, dicke Rauchwolken in die eisige Luft schickend, beeilte sie sich, wieder ins Haus zu kommen, um ihre kältetauben Finger aufzuwärmen.

Sie warf einen schnellen Blick auf die verschiedenen Umschläge: traditionelle Grußkarten, die meisten von ihren Studenten, eine Gasrechnung, etwas Werbung. Aber auch Briefe an meinen Vater – die Kollegen vom CNRS und seine Doktoranden wünschten ihm alle ein frohes neues Jahr.

Und da lag sie, in dieser vollkommen gewöhnlichen Januarpost. Die Postkarte. Sie hatte sich ganz unscheinbar zwischen die Umschläge gemogelt, so als hätte sie sich versteckt, um nicht aufzufallen.

Was meine Mutter sofort stutzig machte, war die Schrift: seltsam, unbeholfen, eine Handschrift, die sie noch nie gesehen hatte. Dann las sie die vier Vornamen, die untereinanderstanden, wie eine Liste.

  • Ephraïm
  • Emma
  • Noémie
  • Jacques

Es waren die Vornamen ihrer Großeltern mütterlicherseits, ihrer Tante und ihres Onkels. Alle vier waren zwei Jahre vor der Geburt meiner Mutter deportiert worden. Sie waren 1942 in Auschwitz gestorben. Und einundsechzig Jahre später tauchten sie in unserem Briefkasten wieder auf. An diesem Montag, dem 6. Januar 2003.

Wer schickt mir denn so eine schreckliche Karte, fragte sich Lélia.

Meine Mutter bekam furchtbare Angst, als bedrohte sie jemand, lauernd im Dunkel der Zeit. Ihre Hände begannen zu zittern.

„Schau mal, Pierre, was ich in der Post gefunden habe!“

Mein Vater nahm die Karte und inspizierte sie eingehend, aber es gab keine Unterschrift, keine Erklärung.

Nichts. Nur diese Vornamen.

 

In meinem Elternhaus wurde die Post damals vom Boden aufgesammelt, wie man Fallobst aufliest – denn unser Briefkasten war so alt geworden, dass er mit der Zeit nichts mehr hielt, ein richtiges Sieb, aber wir liebten ihn so, wie er war. Ihn zu ersetzen kam niemandem in den Sinn. In unserer Familie wurden Probleme nicht auf diese Weise gelöst, wir lebten mit den Dingen, als verdienten sie die gleiche Rücksicht wie Menschen.

An Regentagen wurden die Briefe nass. Die Tinte zerfloss, und die Worte wurden für immer unlesbar. Am schlimmsten erwischte es die Postkarten, unbekleidet wie junge Mädchen, im Winter mit bloßen Armen ohne Mantel.

Hätte der Verfasser dieser Postkarte einen Füllfederhalter benutzt, um uns zu schreiben, wäre seine Botschaft dem Vergessen anheimgefallen. Wusste er das? Die Karte war mit schwarzem Kugelschreiber verfasst worden.

 

Am nächsten Sonntag rief Lélia die ganze Familie zusammen, das heißt meinen Vater, meine Schwestern und mich. Als wir um den Esstisch versammelt waren, ging die Karte von Hand zu Hand. Wir schwiegen eine ganze Weile – was bei uns nicht üblich ist, vor allem nicht sonntags beim Mittagessen. In unserer Familie gibt es normalerweise immer jemanden, der etwas zu sagen hat und sofort damit herausrücken möchte. Diesmal wusste niemand, was er von dieser aus dem Nichts kommenden Nachricht halten sollte.

Die Postkarte war sehr banal, eine typische Ansichtskarte mit einer Fotografie der Opéra Garnier, wie sie zu Hunderten auf den Eisenständern in den Tabacs in ganz Paris zu finden sind.

„Warum die Opéra Garnier?“, fragte meine Mutter.

Niemand wusste eine Antwort darauf.

„Das ist der Poststempel des Louvre.“

„Meinst du, wir können dort mal nachfragen?“

„Es ist riesig, das größte Postamt von Paris. Was sollen sie dir da sagen können …?“

„Du meinst, es war Absicht?“

„Ja, die meisten anonymen Briefe werden vom Postamt Louvre aus verschickt.“

„Die Karte ist nicht mehr neu, sie ist mindestens zehn Jahre alt“, bemerkte ich.

Mein Vater hielt sie ins Licht. Er betrachtete sie aufmerksam und kam zu dem Schluss, dass die Fotografie aus den Neunzigerjahren stammen musste. Die Farbgebung des Abzugs mit seinen satten Magentatönen sowie das Fehlen von Werbeplakaten rund um die Opéra Garnier bestätigten meine Vermutung.

„Ich würde sogar sagen, aus den frühen Neunzigerjahren“, präzisierte mein Vater.

„Wie kommst du darauf?“, fragte meine Mutter.

„Weil 1996 die grün-weißen SC10-Busse mit offener Heckplattform, von denen ihr einen im Hintergrund seht, durch die RP312 ersetzt wurden.“

Niemand wunderte sich, dass mein Vater sich mit der Geschichte der Pariser Busse auskannte. Er hat zwar nie ein Auto gefahren – geschweige denn einen Bus –, aber er war Forscher, und sein Beruf brachte es mit sich, dass er aus vielerlei Bereichen, die ebenso verschieden wie hoch spezialisiert waren, eine Unmenge von Details kannte. Mein Vater hat ein Gerät erfunden, das den Einfluss des Mondes auf die irdischen Gezeiten berechnet, und meine Mutter für Chomskys Abhandlungen zur generativen Grammatik übersetzt. Die beiden zusammen wissen also eine unvorstellbare Menge an Dingen, von denen die meisten im konkreten Leben gänzlich nutzlos sind. Außer manchmal, wie an jenem Tag.

„Warum eine Karte schreiben und dann zehn Jahre warten, bis man sie abschickt?“

Meine Eltern stellten sich weiter Fragen. Mir selbst war die Postkarte völlig egal. Die Liste der Namen dagegen ließ mich aufhorchen. Diese Menschen waren meine Vorfahren, und ich wusste nichts über sie. Ich wusste nicht, welche Länder sie bereist, welche Berufe sie ausgeübt hatten, wie alt sie waren, als sie ermordet wurden. Hätte man mir ihre Porträts gezeigt, hätte ich sie unter Fremden nicht wiedererkannt. Dafür schämte ich mich.

Als das Mittagessen beendet war, verwahrten meine Eltern die Postkarte in einer Schublade, und wir sprachen nie wieder darüber. Ich war vierundzwanzig Jahre alt, und mich beschäftigten im Moment vor allem mein Leben und die Geschichten, die ich schreiben wollte. Ich löschte die Erinnerung an die Postkarte aus meinem Gedächtnis, nicht aber den Vorsatz, meine Mutter eines Tages zu unserer Familiengeschichte zu befragen. Doch die Jahre vergingen, und ich nahm mir nie die Zeit dazu.

Bis ich zehn Jahre später kurz vor der Entbindung stand.

Der Muttermund hatte sich schon etwas geöffnet. Ich musste liegen, damit das Baby nicht zu früh kam. Meine Eltern hatten angeboten, mich ein paar Tage bei sich aufzunehmen, da bräuchte ich nichts zu tun. Während ich auf die Geburt wartete, dachte ich an meine Mutter, an meine Großmutter, an die Reihe der Frauen, die vor mir ein Kind bekommen hatten. Und plötzlich wollte ich unbedingt die Geschichte meiner Vorfahren hören.

 

Lélia führte mich in das Büro, in dem sie den größten Teil ihrer Zeit verbringt, dieses Büro, das mich immer an einen Bauch erinnert hat, tapeziert mit Büchern und Aktenordnern, getaucht in das winterliche Licht der Pariser Banlieue, die Luft stickig von Zigarettenrauch. Ich legte mich unter das Bücherregal mit seinen alterslosen Gegenständen, den Erinnerungsstücken, bedeckt von einer zarten Schicht Asche und Staub. Meine Mutter griff nach einer grün-schwarz gesprenkelten Schachtel, einer von zwanzig Archivschachteln, die alle gleich aussahen. Als Jugendliche wusste ich, dass diese in den Regalen aufgereihten Schachteln Spuren der dunklen Geschichten aus der Vergangenheit unserer Familie enthielten. Sie erinnerten mich an kleine Särge.

Meine Mutter nahm ein Blatt Papier und einen Stift zur Hand – wie alle pensionierten Lehrer blieb sie in jeder Lebenslage Lehrerin, es betraf selbst ihre Art, Mutter zu sein. Lélia war bei ihren Studenten an der Universität von Saint-Denis sehr beliebt. In den gesegneten Zeiten, als sie im Hörsaal rauchen und zugleich Linguistik unterrichten konnte, tat sie etwas, das ihre Studenten faszinierte: Außerordentlich geschickt vermochte sie die Zigarette vollständig abbrennen zu lassen, ohne dass die Asche, die zwischen ihren Fingerspitzen einen grauen Zylinder bildete, jemals zu Boden fiel. Einen Aschenbecher brauchte sie nicht, sie stellte die heruntergebrannte Zigarette auf ihren Schreibtisch und zündete sich die nächste an. Dieses Kunststück flößte ihnen Respekt ein.

„Nur dass du es weißt“, sagte meine Mutter, „was du gleich hören wirst, ist eine zweischneidige Geschichte. Einige Fakten werden als gesichert dargestellt, aber du kannst dir selbst denken, wie viel davon auf persönlichen Hypothesen beruht, die am Ende zu dieser Rekonstruktion geführt haben – außerdem könnten neue Dokumente meine Annahmen natürlich substanziell ergänzen oder ändern.“

„Maman“, sagte ich zu ihr, „ich glaube, der Zigarettenrauch kann das Gehirn des Babys schädigen.“

„Ach was. Ich habe in meinen drei Schwangerschaften eine Schachtel pro Tag geraucht und nicht den Eindruck, am Ende drei Schwachköpfe produziert zu haben.“

Ihre Antwort brachte mich zum Lachen. Lélia nutzte die Gelegenheit, sich eine Zigarette anzustecken, und fing an, aus dem Leben von Ephraïm, Emma, Noémie und Jacques zu erzählen – den vier Vornamen auf der Postkarte.


BUCH I

Gelobte Länder


Kapitel 1

„Wie in russischen Romanen“, sagte meine Mutter, „beginnt alles mit einer unglücklichen Liebesgeschichte. Ephraïm Rabinovitch liebte Anna Gavronsky, deren Mutter Liba Gavronsky, geborene Yankelevitch, eine Cousine ersten Grades der Familie war. Doch diese Leidenschaft stieß bei den Gavronskys nicht auf Wohlgefallen …“

Lélia sah mich an und merkte, dass ich nichts begriff. Sie klemmte sich die Zigarette in den Mundwinkel und begann, die Augen wegen des Rauchs halb zusammengekniffen, in ihrem Archiv zu stöbern.

„Hier, ich werde dir diesen Brief vorlesen, dann wirst du es besser verstehen … Er stammt von Ephraïms älterer Schwester, sie schrieb ihn 1918 in Moskau:“


Liebe Vera,

meine Eltern haben nichts als Ärger. Hast du von dieser Geschichte zwischen Ephraïm und unserer Cousine Aniouta gehört? Wenn nicht, kann ich sie dir nur unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertrauen, obwohl offenbar viele von uns längst Bescheid wissen. Kurz gesagt: An und unser Fédia (der vor zwei Tagen vierundzwanzig wurde) haben sich verliebt. Meine Familie hat sehr darunter gelitten, es hat sie schier verrückt gemacht. Tante weiß nichts davon, es wäre eine Katastrophe, sollte sie es erfahren. Sie begegnen ihr ständig und sorgen sich sehr. Unser Ephraïm liebt Aniouta sehr. Aber ich muss gestehen, dass ich ihre Gefühle für nicht ganz aufrichtig halte. Das sind bei uns die Neuigkeiten. Manchmal habe ich wirklich die Nase voll von dieser Geschichte. So, mein Schatz, ich muss jetzt Schluss machen. Ich werde meinen Brief selbst einwerfen, um sicher zu sein, dass er auch wirklich abgeschickt wird …

Mit herzlichem Gruß, Sara

 

„Wenn ich das richtig verstehe, wurde Ephraïm gezwungen, auf seine erste Liebe zu verzichten?“

„Genau deswegen sucht man ihm schnell eine andere Verlobte, und das ist Emma Wolf.“

„Der zweite Vorname auf der Postkarte?“

„Ganz recht.“

„Gehörte sie auch zur Verwandtschaft?“

„Nein, ganz und gar nicht. Emma kam aus Łódź. Sie war die Tochter eines Großindustriellen, der mehrere Textilfabriken besaß, Maurice Wolf, und ihre Mutter hieß Rebecca Trotski. Aber sie hatte nichts mit dem Revolutionär zu tun.“

„Sag mal, wie haben Ephraïm und Emma sich überhaupt kennengelernt? Łódź ist doch mindestens tausend Kilometer von Moskau entfernt.“

„Weit über tausend Kilometer! Entweder haben sich die Familien an die schadkhanit der Synagoge gewandt, also an die Heiratsvermittlerin. Oder Ephraïms Familie waren Emmas kesteltern.“

„Emmas was?“

„Die Kesteltern. Das ist jiddisch. Wie soll ich dir das erklären … Erinnerst du dich an die Sprache der Inuit?“

Als ich ein Kind war, hatte Lélia mir beigebracht, dass es bei den Inuit zweiundfünfzig Wörter für Schnee gibt. Man sagt zum Beispiel qanik für den Schnee, wenn er fällt, aputi für den bereits gefallenen Schnee und aniu für den Schnee, aus dem man Wasser macht …

„Im Jiddischen“, fuhr meine Mutter fort, „gibt es verschiedene Begriffe für die Familie. Ein Wort bezeichnet die eigentliche Familie, ein anderes die Schwiegerfamilie und ein weiteres diejenigen, die man zur Familie dazuzählt, auch wenn keine verwandtschaftlichen Beziehungen bestehen. Und dann gibt es noch einen Begriff, die kesteltern, was man als Gastfamilie übersetzen könnte, denn es war Tradition, dass Eltern, die ein Kind zum Studium in die Ferne schickten, ihm eine Familie suchten, die ihm Unterkunft und Verpflegung bot.“

„Die Familie Rabinovitch waren also Emmas Kesteltern.“

„Genau … Aber hör es dir in Ruhe an, keine Sorge, du wirst dich irgendwann zurechtfinden …“

 

Ephraïm Rabinovitch bricht recht früh mit der Religion seiner Eltern. Als Teenager wird er Mitglied der Partei der Sozialrevolutionäre und erklärt seinen Eltern, dass er nicht an Gott glaubt. Aus Provokation tut er alles, was Juden an Jom Kippur verboten ist: Er raucht, rasiert sich, trinkt und isst.

1919 ist Ephraïm fünfundzwanzig Jahre alt. Er ist ein moderner, schlanker junger Mann mit feinen Gesichtszügen. Wäre seine Haut nicht so braun und sein Schnurrbart nicht so schwarz, könnte man ihn für einen echten Russen halten. Dieser brillante Ingenieur kommt frisch von der Universität, da er dem Numerus clausus entgangen ist, der den zulässigen Anteil der Juden auf drei Prozent beschränkte. Er will am großen Abenteuer des Fortschritts teilhaben und hat ehrgeizige Ziele für sein Land und sein Volk, das russische, dessen Revolution auch die seine ist.

Jude zu sein, hat für Ephraïm keine Bedeutung. Er sieht sich in erster Linie als Sozialist. Im Übrigen lebt er in Moskau auf Moskauer Art. Er stimmt der Heirat in der Synagoge nur zu, weil sie seiner zukünftigen Frau etwas bedeutet. Aber er warnt Emma:

„Wir werden unser Leben nicht an religiösen Vorschriften ausrichten.“

Die Tradition verlangt, dass der Bräutigam bei seiner Hochzeit am Ende der Zeremonie mit dem rechten Fuß ein Glas zertritt. Die Geste erinnert an die Zerstörung des Jerusalemer Tempels. Danach kann der Bräutigam einen Vorsatz fassen. Ephraïm gelobt sich, die Erinnerung an seine Cousine Aniouta für immer auszulöschen. Doch als er auf die am Boden verstreuten Glasscherben blickt, ist ihm, als läge dort sein Herz in tausend Scherben.


Kapitel 2

An jenem Freitag, dem 18. April 1919, reist das Brautpaar aus Moskau zur Datscha von Nachman und Esther Rabinovitch, Ephraïms Eltern, fünfzig Kilometer außerhalb der Hauptstadt. Ephraïm hat sich nur deshalb bereit erklärt, Pessach, das jüdische Osterfest, zu feiern, weil sein Vater in einem ungewöhnlichen Tonfall darauf bestanden hat und seine Frau schwanger ist. Er will die Gelegenheit nutzen, seinen Brüdern und Schwestern die gute Nachricht zu verkünden.

 

„Emma ist mit Myriam schwanger?“

„Ganz genau, mit deiner Großmutter …“

 

Unterwegs vertraut Ephraïm seiner Frau an, dass er Pessach immer besonders gemocht hat. Als Kind liebte er die geheimnisvollen Rituale dieses Festes, die bitteren Kräuter, das Salzwasser und die Äpfel mit Honig, die auf einem großen Teller in die Mitte des Tisches gestellt wurden. Er liebte es, wenn sein Vater ihm erklärte, dass die Süße der Äpfel die Juden daran erinnern sollte, wie sehr man sich vor Bequemlichkeit hüten muss.

„In Ägypten“, so betonte Nachman, „waren die Juden Sklaven, das heißt: Sie erhielten Unterkunft und Verpflegung. Sie hatten ein Dach über dem Kopf und Essen in der Hand. Verstehst du? Die Freiheit hingegen ist ungewiss. Zur Freiheit gelangt man unter Schmerzen. Das Salzwasser, das wir am Pessach-Abend auf den Tisch stellen, symbolisiert die Tränen derer, die ihre Ketten abwerfen. Und diese bitteren Kräuter erinnern uns daran, dass es grundsätzlich beschwerlich ist, als freier Mensch zu leben. Hör mir gut zu, mein Sohn, sobald du den Honig auf deinen Lippen spürst, frage dich: Von was oder wem bin ich der Sklave?“

Ephraïm weiß, dass seine revolutionäre Seele dort geformt wurde, durch die Erzählungen seines Vaters.

 

Als er an jenem Abend zu seinen Eltern nach Hause kommt, eilt er in die Küche, um den eigenartigen faden Geruch der Matzen zu riechen, der ungesäuerten Brotfladen, die Katerina, die alte Köchin, zubereitet hat. Ergriffen nimmt er ihre runzlige Hand, um sie auf den Bauch seiner jungen Frau zu legen.

„Schau ihn dir an“, sagt Nachman zu Esther, die die Szene beobachtet. „Unser Sohn ist stolz wie ein Kastanienbaum, der den Spaziergängern all seine Früchte zeigt.“

 

Die Eltern haben alle Rabinovitch-Cousins der Nachman-Linie und alle Frant-Cousins der Esther-Linie eingeladen. Warum so viele Leute, fragt sich Ephraïm und wiegt ein silbernes Messer in der Hand, das so glänzt, weil es sorgfältig mit Kaminasche poliert wurde.

„Haben sie die Gavronskis auch eingeladen?“, fragt er besorgt seine jüngere Schwester Bella.

„Nein“, antwortet sie, ohne zu verraten, dass die beiden Familien sich darauf geeinigt haben, eine Begegnung zwischen Cousine Aniouta und Emma zu vermeiden.

„Aber warum haben sie dieses Jahr so viele Cousins versammelt …? Haben sie uns etwas mitzuteilen?“, bohrt Ephraïm weiter und zündet sich eine Zigarette an, um seine Verwirrung zu verbergen.

„Ja, aber frag mich bitte nichts weiter. Ich darf vor dem Abendessen nicht darüber sprechen.“

 

Am Pessach-Abend ist es Tradition, dass der Patriarch die Haggada vorliest, also die Erzählung über den Auszug des hebräischen Volkes aus Ägypten unter der Führung von Moses. Nach den Gebeten erhebt sich Nachman und schlägt mit der flachen Seite des Messers an sein Glas.

„Wenn ich heute Abend diese letzten Worte des Buches so sehr betone“, sagt er, an den ganzen Tisch gewandt, „baue Jerusalem, die Stadt, schnell in unseren Tagen und lass uns hinaufsteigen, dann deshalb, weil ich als Familienoberhaupt die Aufgabe habe, euch zu unterrichten und es euch zu verkünden.“

„Uns was zu verkünden, Papa?“

„Dass es Zeit ist zu gehen. Wir müssen alle das Land verlassen. So schnell wie möglich.“

„Das Land verlassen?“, fragen seine Söhne.

Nachman schließt die Augen. Wie soll er seine Kinder überzeugen? Wie die richtigen Worte finden? Es ist, als hinge ein beißender Geruch in der Luft, gleich einem kalten Wind, der baldigen Frost ankündigt, es ist unsichtbar, fast nichts, und doch ist es da, zuerst ist es in seine Albträume zurückgekehrt, Albträume, die von Erinnerungen an seine Jugend durchwoben waren, als man ihn in manchen Weihnachtsnächten mit den anderen Kindern hinterm Haus versteckte, weil betrunkene Männer kamen, um das Volk zu bestrafen, das Christus getötet hatte. Sie brachen in die Häuser ein, um die Frauen zu vergewaltigen und die Männer zu töten.

Diese Gewalt zügelte Zar Alexander III., als er den staatlichen Antisemitismus mit den Maigesetzen verschärfte, welche die meisten Freiheiten der Juden einschränkten. Nachman war noch ein junger Mann, als ihnen mit einem Mal alles verboten war. Sie durften die Universität nicht besuchen, nicht von einer Gegend in die andere reisen, ihren Kindern keine christlichen Vornamen geben und nicht ins Theater gehen. Da das Volk mit diesen erniedrigenden Maßnahmen zufrieden war, wurde etwa dreißig Jahre lang weniger Blut vergossen. Nachmans Kinder kannten also nicht die Angst vor dem 24. Dezember, wenn sich die Meute mit Mordlust vom Tisch erhebt.

Doch seit einigen Jahren hatte Nachman wieder den Geruch von Schwefel und Fäulnis in der Nase. Die Schwarzhunderter, eine rechtsradikale monarchistische Gruppe, angeführt von Vladimir Pourishkévitsh, machte sich im Hintergrund bereit. Dieser ehemalige Höfling des Zaren gründete seine Thesen auf der Idee einer jüdischen Verschwörung. Er wartete auf seine Stunde der Rückkehr. Und Nachman glaubte nicht daran, dass diese brandneue Revolution, angeführt von ihren Kindern, den alten Hass vertreiben würde.

„Ja. Fortgehen. Meine Kinder, hört mir gut zu“, sagt Nachman ruhig: „S’shtinkt shlekht drek – es stinkt nach Scheiße.“

Bei diesen Worten verstummen die auf den Tellern klappernden Gabeln. Die Kinder hören auf, durcheinanderzureden, es wird still. Nachman kann endlich sprechen.

„Ihr seid fast alle frisch verheiratet. Ephraïm, du wirst bald zum ersten Mal Vater. Ihr habt Schwung, ihr habt Mut – das ganze Leben liegt noch vor euch. Jetzt ist es an der Zeit, die Koffer zu packen.“

Nachman dreht sich zu seiner Frau um und drückt ihre Hand: „Esther und ich haben beschlossen, nach Palästina zu gehen. Wir haben ein Stück Land in der Nähe von Haifa gekauft. Dort werden wir Orangen anbauen. Kommt mit uns. Dann werde ich dort Grund und Boden für euch kaufen.“

„Aber Nachman, willst du dich wirklich im Lande Israel niederlassen?“

Niemals hätten sich die Rabinovitch-Kinder so etwas vorstellen können. Vor der Revolution gehörte ihr Vater der Ersten Kaufmannsgilde an, das heißt, er war einer der wenigen Juden, die sich frei im Land bewegen durften. Es war ein unerhörtes Privileg, dass Nachman in Russland wie ein Russe leben konnte. Er hat sich einen guten Platz in der Gesellschaft erarbeitet, den er nun aufgeben will, um ans andere Ende der Welt zu emigrieren, in ein Wüstenland mit unwirtlichem Klima, um dort Orangen anzubauen? Was für eine seltsame Idee! Wo er doch nicht mal eine Birne schälen kann ohne die Hilfe der Köchin!

Nachman nimmt einen kleinen Bleistift und feuchtet ihn mit spitzen Lippen an. Er lässt den Blick über seine Nachkommenschaft schweifen und setzt hinzu:

„Also gut. Ich werde um den Tisch die Runde machen. Und aufgepasst, ich verlange, dass jeder Einzelne von euch mir ein Ziel nennt. Ich werde für jeden eine Schiffspassage kaufen. Ihr verlasst das Land innerhalb der nächsten drei Monate, ist das klar? Bella, ich fange bei dir an, das ist einfach, du kommst mit uns. Ich notiere also: Bella, Haifa, Palästina. Ephraïm?“

„Ich warte, bis meine Brüder sich geäußert haben“, antwortet Ephraïm.

„Ich würde gern nach Paris gehen“, sagt Emmanuel, der Jüngste unter den Geschwistern, und wippt lässig mit seinem Stuhl.

„Paris, Berlin und Prag meidet ihr besser“, antwortet Ephraïm ernst. „In diesen Städten sind die guten Plätze seit Generationen besetzt. Ihr werdet dort nicht Fuß fassen können. Man wird euch entweder für zu brillant oder für nicht brillant genug halten.“

„Da mache ich mir keine Sorgen, ich habe dort schon eine Verlobte, die auf mich wartet“, antwortet Emmanuel, um den ganzen Tisch zum Lachen zu bringen.

„Mein armer Sohn“, ereifert sich Nachman, „du wirst ein Leben wie ein Schwein führen. Dumm und kurz.“

„Ich sterbe lieber in Paris als am Arsch der Welt, Papa!“

„Ohhhhh“, antwortet Nachman und wedelt drohend mit der Hand vor seinem Gesicht. „Yeder nar iz klug un komish far zikh: Jeder Dummkopf hält sich für lustig und schlau. Ich meine es wirklich ernst. Los, weiter. Wenn ihr nicht mit mir kommen wollt, versucht euer Glück in Amerika, das dürfte auch gut funktionieren“, fügt er seufzend hinzu.

Cowboys und Indianer. Amerika. Nein danke, denken die Rabinovitch-Kinder. Die Landschaften sind zu verschwommen. Bei Palästina wissen wir wenigstens, wie es aussieht, denn es steht in der Bibel: ein Haufen Steine.

„Schau dir das an“, sagt Nachman zu seiner Frau. „Eine Bande Koteletts mit Augen, könnte man meinen! Denkt mal ein bisschen nach! In Europa werdet ihr nichts finden. Nichts. Nichts Gutes jedenfalls. Während ihr in Amerika, in Palästina, leicht Arbeit bekommen werdet!“

„Papa, du sorgst dich immer wegen nichts. Das Schlimmste, was dir hier passieren kann, ist, dass dein Schneider Sozialist wird!“

Und tatsächlich, wenn man Nachman und Esther da nebeneinandersitzen sieht wie zwei kleine Kuchen in der Vitrine eines Konditors, fällt es schwer, sie sich als Farmer einer neuen Welt vorzustellen. Sie halten sich gerade, sind tadellos zurechtgemacht. Esther achtet trotz ihrer weißen, zu einem niedrigen Dutt gesteckten Haare immer noch sehr auf ihr Äußeres. Sie verschmäht weder Perlenreihen noch Kameen. Nachman trägt stets seine berühmten Dreiteiler, die er sich bei den besten französischen Couturiers von Moskau machen lässt. Sein Bart ist weiß wie Watte, und sein besonderer Geschmack zeigt sich in den gepunkteten Krawatten, die er passend zu seinen Taschentüchern wählt.

Verärgert über seine Kinder, steht Nachman vom Tisch auf. Die Ader an seinem Hals ist so stark geschwollen, dass sie droht, Esthers schöne Tischdecke vollzuspritzen. Er muss sich hinlegen, um sein rasendes Herz zu beruhigen. Bevor Nachman das Esszimmer verlässt, bittet er alle, gut nachzudenken, und schließt mit den Worten:

„Ihr müsst eines begreifen: Irgendwann werden sie alle wollen, dass wir verschwinden.“

Nach diesem theatralischen Abgang geht es am Tisch mit fröhlichen Gesprächen bis spät in die Nacht weiter. Emma setzt sich ans Klavier und rückt wegen ihres Bauches den Hocker ein wenig ab. Die junge Frau ist Absolventin des renommierten Nationalen Musikkonservatoriums. Dabei wäre sie gerne Physikerin geworden. Wegen des Numerus clausus war ihr das jedoch nicht vergönnt. Sie hofft von ganzem Herzen, dass das Kind, das in ihr heranwächst, in einer Welt leben wird, in der es sein Studium frei wählen kann.

Zum sanften Klang der Musikstücke, die seine Frau im Wohnzimmer spielt, unterhält sich Ephraïm mit seinen Brüdern und Schwestern am Kaminfeuer über Politik. Dieser Abend ist so angenehm, die Geschwister sind sich einig und machen sich dabei auf nette Art über den Patriarchen lustig. Die Rabinovitchs ahnen nicht, dass dies die letzten Stunden sein sollen, in denen sie alle zusammen sind

Ethan Cross at his best: neuer Ermittler, neue Serienkiller, spannend wie immer

„Als Spannungslektorin gibt es ein paar Autoren, die einen über viele Jahre begleiten und immer wieder fesseln. Für mich ist Ethan Cross so ein Fall zusammen mit seinem genialen Serienkiller Francis Ackerman jr. 

Als Leserin habe ich alle Bände der Reihe verschlungen. Wie glücklich war ich, als sich die Gelegenheit bot, als Lektorin eine ganz neue Reihe zu akquirieren und zu betreuen! Mein Herz schlug höher- bis Ethan es mit seinem neuen Thriller wieder aussetzen ließ ...
Neue Stadt, neuer Ermittler, neue Serienkiller (Plural!) - und trotzdem unverkennbar Ethan Cross!" Regine Schmitt, Lektorin

RacheritualRacheritual

Thriller

Ethan Cross at his best: neuer Ermittler, neuer Serienkiller, spannend wie immer!
Der legendäre Ravenkiller hat ein blutiges Markenzeichen: Er ritzt seinen grausam zugerichteten Opfern Runen aus der nordischen Mythologie in die Stirn. Ganz klar ein Fall für Baxter Kincaid, der auf Ritualmorde, Serienkiller und die dunkelsten aller Verbrechen spezialisiert ist.

Diese Ritualmorde kann nur einer aufklären: Baxter Kincaid! 

Baxter quittierte den Polizeidienst, denn nur so kann der unangepasste Ermittler sich auf die perfiden Spiele der Täter einlassen – und sie schlagen. Deshalb engagiert ihn das San Francisco Police Department auch regelmäßig als „Berater“. Das Problem bei diesem Fall: Baxter hat den Ravenkiller vor zehn Jahren hinter Gitter gebracht ...

„Mit Baxter Kincaid wollte ich eine bodenständigere Hauptfigur, einen Mann ohne ›Superkräfte‹, der aber trotzdem bereit ist, sein Leben aufs Spiel zu setzen ...“ Ethan Cross

Die Thriller von Ethan Cross, insbesondere die Bestseller rund um Francis Ackerman junior, lassen Leser:innen immer wieder vor Spannung den Atem anhalten. Nun schickt Cross mit Baxter Kincaid einen neuen Ermittler ins Feld, der es mit einer Reihe perfider Serienkiller zu tun bekommt.

Die Bände der Baxter-Kincaid-Reihe:

Band 1: Racheritual
Band 2: Ritualblut
Band 3: Bluttotem

Die Bände sind unabhängig voneinander lesbar.

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