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Bücher über Angst und Panikattacken

Die besten Bücher gegen Angst und Panikattacken

Wenn Angst das Leben bestimmt: Unsere Autoren zeigen wie man Phobien, Ängste und Stress überwinden kann und schildern ihre eigenen Erfahrungen.

Wege aus der Depression - das neue Standardwerk

Blick ins Buch
Depression – wissen, was hilft Depression – wissen, was hilft

Neueste Erkenntnisse und wirksame Therapien, um die Krankheit zu überwinden

Wege aus der Depression

In einem Zeitalter grassierender Depression, mit großem Leidensdruck und oft weitreichenden persönlichen und sozialen Folgen, wird es immer wichtiger, dem etwas entgegenzusetzen. In seinem großen Depressionsbuch klärt Prof. Dr. med. Andreas Menke wissenschaftlich fundiert und verständlich darüber auf, wie Depressionen entstehen, was man selbst dagegen tun kann und wie man die passende Therapiemethode findet. Von den ersten Symptomen bis zur Therapieplatzsuche ist dieses Buch ein verlässlicher Begleiter und gibt Werkzeuge an die Hand, um die Depression begreifen und überwinden zu können.

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„Es gibt viele Bücher über Angst, doch keines ist so klug und gut erzählt wie dieses hier. Lest es und lasst euch trösten!“ Ronja von Rönne

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Herr G. hat AngstHerr G. hat Angst

Und macht sich auf eine Reise durch Philosophie, Wissenschaft und Spiritualität

An jedem Morgen droht der Weltuntergang. Klima, Krieg, Katastrophen. Die Menschheit: am Abgrund. Die Zukunft: ungewiss. Was Menschen wie Herrn G. lähmt, ist eine große Angst. Diffus, schwer greifbar. Wie ein Gift sickert sie in alle Lebensbereiche und nimmt jede Hoffnung. Doch was, wenn die Angst nicht mehr das letzte Wort hätte? 

Dieses Buch folgt Herrn G., einem Menschen, der wie so viele andere mit der Angst ringt und Antworten sucht: Was ist diese Angst und wo kommt sie her? Wie kann man sie verstehen und wie bezwingen?

So beginnt für Herrn G. eine Reise durch Philosophie und Wissenschaft, Achtsamkeit, Self-Care und Spiritualität – auf der Suche nach der Möglichkeit eines guten Lebens mit der Angst. Am Ende wird er fündig. Und wenn Herr G. einen Weg finden kann, dann können es alle. 

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Sprechen über gesellschaftliche Tabus, Bodyshaming und psychische Gesundheit

ungeschöntungeschönt

Sprechen über gesellschaftliche Tabus, Bodyshaming und psychische Gesundheit

„Sie ist da ehrlich, wo sich alle verstellen“ ZEIT

Einen Tag, nachdem ihr Partner plötzlich verstirbt, verfasst Jaqueline Scheiber einen Instagram-Post darüber. Sie präsentiert ihren von Dehnungsstreifen übersäten Bauch 40.000 Menschen. Sie macht ihre psychische Erkrankung öffentlich, auch auf die Gefahr hin, stigmatisiert zu werden.

Als minusgold berührt sie auf Instagram mit sehr persönlichen, leuchtenden, manchmal unbequemen Posts. Doch was für die einen mutig ist, stößt bei anderen auf Ablehnung.

Jaqueline Scheiber reflektiert präzise, warum sie es für heilsam hält, die eigene Stimme zu erheben und sich Gehör zu verschaffen. Sie schreibt über Herkunft, Feminismus, Body Neutrality, Trauer, Freundschaft, Liebe und unbequeme Wahrheiten und wird so auch für all diejenigen laut, die sich dazu nicht in der Lage fühlen.

Die umfassend überarbeitete und erweiterte Fassung von „Offenheit“ (Kremayr und Scheriau 2020)

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Mit Ängsten umgehen und den Alltag meistern

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Angstphase

Warum ich meine Angst annehmen musste, um wieder frei und selbstbestimmt zu leben

Antonia Wille leidet seit ihrem elften Lebensjahr an einer Angststörung. Klassenfahrten, Partys, Urlaube und so manches Jobangebot musste sie ziehen lassen, weil die Panik ihr den Atem nahm, die Angst sie krank machte. Die meiste Zeit kämpfte sie gegen die Angst an, ging in die Konfrontation und wurde doch immer wieder zurückgeworfen. Warum es ihr heute besser geht, wie sie meistens problemlos ihren Alltag meistert und wieso sie manchmal lieber verzichtet als ihre Panik überwindet, erklärt sie in diesem Buch, das zugleich ihr Coming-out als Angsterkrankte ist. Offen, ehrlich und humorvoll teilt sie ihre Erfahrungen, gibt wertvolle Tipps und spendet entlastende Worte für andere Betroffene.

„Wenn die Sehnsucht größer als die Angst ist, wird Mut geboren.

Ohne Sehnsucht machen wir uns nicht auf den Weg.“

Rainer Maria Rilke



Prolog

Als ich klein war, fürchtete ich mich vor den Monstern unter meinem Bett. Auf keinen Fall die Füße aus dem Bett hängen lassen, dachte ich allabendlich mit zusammengebissenen Zähnen. Was, wenn ein Monster danach greift? Meine Fantasie kannte keine Grenzen. Heute muss ich darüber lachen, und doch gibt es Momente, in denen ich mich dabei erwische, wie ich ganz schnell meine Füße wieder unter die Bettdecke stecke. Manche Monster verschwinden eben nie ganz.

Wir Menschen haben unterschiedliche Ängste. Das Gefühl gehört zu uns wie Freude, Trauer, Ärger und Wut. Wir haben Angst vor dem Tod, vor Krankheiten, vor finanzieller Unsicherheit, schlimmen Ereignissen oder Einsamkeit. Ängste können aber auch kleiner und weniger existenziell sein. Die Angst vor einer Prüfung, vor dem ersten Date, die Angst, verlassen zu werden, oder auch die Angst, das erste Mal etwas alleine zu tun.

 

Wer mich kennt, würde wohl nicht sagen, dass ich ein ängstlicher Mensch bin. Horrorfilme nachts alleine angucken? Kein Problem. Alleine im Dunkeln von der Bar durch die Großstadt nach Hause radeln? Ein Klacks. Komische Geräusche im Haus? Ich bin die Erste, die nachsieht, meiner Neugierde sei Dank. Selbst alleine in der U-Bahn fühle ich mich sicher. Na ja, zumindest fast immer. Nachts in der U-Bahn habe ich tatsächlich nie Angst, dafür umso mehr am Tag. Dann nämlich, wenn sie voll ist, es eng wird und sie vielleicht auch noch unverhofft im Tunnel stehen bleibt. Da wird mir plötzlich heiß, Übelkeit steigt auf, und ich will nur noch eins: raus hier. Der Kontrollverlust, die Enge, die fremden Menschen – herzlich willkommen in meinem persönlichen Albtraum!

 

Diese und andere Ängste gehören zu meinem Leben dazu. Denn ich habe eine Angststörung. Ich fürchte mich vor Dingen, vor denen der Großteil der Menschen keine Angst hat, die der Großteil der Menschen nicht mal bemerkt, während ich immer vor ihnen auf der Hut bin. Das kleine Monster Angst begleitet mich jeden Tag, es ist immer an meiner Seite, mal leise und zurückhaltend, mal laut und aufdringlich. Manchmal sieht es mich nur an, manchmal stellt es sich mir breitbeinig in den Weg. Ganz verschwindet es aber nie, und ich würde fast behaupten, so langsam habe ich es lieb gewonnen. Denn das Monster wetzt nicht nur die Krallen, es warnt mich auch vor stressigen Situationen, zeigt mir, wenn ich mir mal wieder zu viel auflade oder einen Gang zurückschalten sollte. Es ist auf jeden Fall ein netteres Monster als jene unter dem Bett.

 

Meine Angststörung und ich gehören zusammen. Lange habe ich nicht über sie gesprochen, weil ich nicht „die mit der Angststörung“ sein wollte. Ich bin doch so viel mehr. Journalistin, Freundin, Tochter und Geschäftsfrau, und vor allem Antonia – mit all ihren Facetten. Nur dass ich manchmal eben Angst habe.

Fünfundzwanzig Prozent aller Menschen in Deutschland erkranken im Laufe ihres Lebens an einer Angststörung. Eine große Zahl, doch tatsächlich kenne ich in meinem direkten Umfeld niemanden, der offen über seine Ängste spricht. Die meisten Menschen, die unter einer Angststörung leiden, bleiben lieber anonym. Psychische Erkrankungen gelten immer noch als Schwäche, finden selten Akzeptanz. Während körperliche Krankheiten ernst genommen werden, gilt eine angegriffene Seele oft als Ausrede, als Einbildung oder Luxusproblem. „Reiß dich zusammen, das wird schon wieder.“ Schwäche zuzugeben fällt in unserer Leistungsgesellschaft schwer.

Als Journalistin, die über die Jahre gelernt hat, dass jeder Mensch eine Geschichte zu erzählen hat, wollte ich irgendwann auch meine erzählen. Meine Erfahrungen aufschreiben, mein Wissen teilen und zeigen: Auch ich, die ich stark und cool sein kann, bin manchmal schwach. Nicht nur weil es mir geholfen hat, meine Ängste offen anzusprechen, und ich dadurch einen guten Umgang damit gefunden habe, sondern auch weil es anderen helfen kann, wenn jemand zu seiner Schwäche steht und Mut macht, zeigt, dass wir alle irgendwie unsere Päckchen zu tragen haben. Ich möchte andere Betroffene entlasten und dazu beitragen, Angsterkrankungen sowie seelische Leiden zu entstigmatisieren. Schließlich kann es jede*n von uns treffen, auch die nach außen Erfolgreichen und Mutigen. Es braucht im 21. Jahrhundert doch wirklich keine Scham und kein Schweigen mehr, sondern Dialog und Mut.

Ein Buch über meine Angststörung, meine Erfahrungen und meine Erkenntnisse schien mir dafür der beste Weg zu sein. Ich möchte Menschen ermutigen, ihre Ängste anzunehmen, sie zu umarmen und einen Weg zu finden, sich mit ihnen zu arrangieren, statt ständig gegen sie anzukämpfen. Denn auch ich habe immer wieder gegen die Angst gekämpft, wollte sie bloß nicht zulassen, bloß nicht sichtbar machen, bloß keine Schwäche zeigen, um mich nicht mehr so furchtbar hilflos zu fühlen. Geholfen hat das nicht. Die Angst wurde immer größer, ihre Besuche regelmäßiger.

Nicht umsonst heißt es: Wenn du deinen Feind nicht besiegen kannst, mach ihn dir zum Verbündeten. Also habe ich irgendwann versucht, die Angst zu verstehen. Was will sie von mir? Warum ist sie da? Und kann es eventuell sein, dass sie mich vor etwas schützen will? Noch habe ich nicht alle Antworten gefunden, aber die Angst und ich sind auf einem guten Weg. Wir haben Freundschaft geschlossen. Wir gehören zusammen, denn man wird sie nicht los, sie ist ein natürliches Gefühl. Man kann aber lernen, mit ihr zu leben, sie nicht mehr so ernst zu nehmen, sondern sie liebevoll zu begrüßen und ihre Besuche sogar mit Humor zu sehen.

 

Dieses Buch soll zeigen, wie man trotz Angst froh und frei durchs Leben geht, wie man trotz – oder vielleicht sogar dank – der Angst großartige Dinge schafft und wo die eigenen Grenzen liegen. Was die Angst mit einem macht und warum es okay ist, hin und wieder ein Angsthase zu sein.

Ich nehme dich mit auf meine Reise mit der Angst, berichte, was ich in den letzten Jahren erlebt und gelernt habe, und versuche vor allen Dingen, dir Tipps und Tricks an die Hand zu geben, wie du selbst mit deiner ganz persönlichen Angst umgehen kannst. Am wichtigsten aber ist es mir zu zeigen: Angst zu haben ist okay. Sie gehört zu uns, sie begleitet uns, aber sie macht uns nicht aus.

 

Monster werden kleiner, wenn man über sie spricht. Also erzähle ich jetzt die Geschichte von Katja und mir.


1

Ich habe sie Katja genannt. Frag mich nicht, wie ich gerade auf Katja gekommen bin, aber ich wusste, die Angst braucht einen Namen. Ich will sie anschreien können. Katja also. Kurz und prägnant. Kein Name, den ich furchtbar gerne mag (ein Sorry an alle Katjas dieser Welt), aber auch ein Name, den ich nicht extrem verabscheue. Außerdem schnell zu rufen. Denn keine*r will im aufkeimenden Panikmodus mit seiner Angst sprechen und dann einen Namen wie Philomena-Dorothea rufen. Da muss es schnell gehen. Katja schoss mir als Erstes durch den Kopf, seitdem spreche ich mit Katja. In Gedanken.

„Alles ist gut, wir brauchen keine Angst zu haben, Katja. Du kannst zurückbleiben, ich schaffe das alleine.“

 

Katja und ich also. Gemeinsam gehen wir durchs Leben. Katja ist dünn, groß und irgendwie sehr hager. Wie ein schwarzer Schatten steht sie vor mir. Niemand, den man gerne umarmt, sondern jemand, der einen mitzieht und manchmal auch nur schwer wieder loslässt. Ein Monster wie aus einem dieser schlechten Horrorfilme aus den Achtzigerjahren. An vielen Tagen läuft Katja vor mir her, bestimmt den Weg. Sagt: „Hier lang.“ Und obwohl ich rufe: „Nein, ich möchte lieber hier entlang“, zieht sie mich mit. Ätzend finde ich das, aber so ist das zwischen uns nun einmal. An anderen Tagen geht sie neben mir, flüstert mir leise irgendetwas ins Ohr, bis ich sage, sie soll damit aufhören, still sein. Und siehe da: Katja kann auch die Klappe halten. Und dann gibt es Tage, da ist sie gar nicht da. Verschwunden. Das fühlt sich gut an, frei. Unsere Freundschaft ist oft zu eng und zu intensiv, Verschnaufpausen tun gut.

Und ich möchte ehrlich sein: Ein Katja-Besuch alle paar Jahre würde mir reichen. Doch noch kommt sie öfter, als mir lieb ist.

Das Problem bei Katja ist: Sie klopft oft sehr leise an. Dann kann es passieren, dass ich sie nicht höre. Angstpatient*innen kennen das vielleicht: Man will die Angst nicht wahrhaben, selbst wenn die Warnzeichen schon auf Rot stehen. Hat es gerade geklopft? Nee, alles ruhig. Ich werde jetzt sicher keine Angst bekommen. Bis Katja die Tür eintritt – rücksichtslos wie der Elefant im Porzellanladen – und schreit: „Hallooo, du Liebe, ich bin wieder dahaa!“ Wie wenig man unangekündigten Besuch brauchen kann, muss ich keinem sagen.

Nichtsdestotrotz gehören Katja und ich irgendwie zusammen.

 

Seit über zwanzig Jahren leide ich an einer Angststörung. Dass ich damit nicht alleine bin, war mir lange nicht bewusst. Denn über Besuche von Katja habe ich nur selten gesprochen. Versteht ja sowieso keine*r, warum mir in der U-Bahn schlecht wird, sobald wir im Tunnel stehen – das habe ich zumindest lange Zeit gedacht. Dass genau das Gegenteil der Fall ist, wurde mir erst sehr spät klar. Schließlich ist die Angststörung neben der Depression die am häufigsten diagnostizierte seelische Erkrankung. Während zahlreiche Menschen beim Fliegen damit zu kämpfen haben, trauen sich andere wiederum manchmal wochenlang nicht aus dem Haus. Der eine bekommt in der Supermarktschlange Herzklopfen, die Nächste fährt nur noch Landstraße statt Autobahn. Die Angst hat viele Gesichter.

Ihre Vielfalt macht es aber auch schwierig, sie zu erkennen und zu verstehen. Schließlich ist Angst genau wie die Liebe ein universelles und wichtiges Gefühl. Sie hilft uns durchs Leben und zeigt uns den Weg. Sie schützt uns vor vermeintlich gefährlichen Situationen, oft ist sie eine Reaktion auf negative Erfahrungen, Traumata, Stress oder Überforderung. Bei Angstpatient*innen ist sie jedoch übertrieben und nicht mehr hilfreich, sondern störend. Denn wenn man vor den einfachsten Dingen Angst bekommt, wird der Alltag plötzlich zur Qual.

Erklären kann man das Ganze oft nur schwer, Fragen wie „Wovor hast du eigentlich Angst?“ lassen sich kaum beantworten. Denn rational weiß man, dass man keine Angst zu haben braucht, und doch fühlt man sie. Der Körper schaltet auf Fluchtmodus, die Achterbahn der Gefühle reißt einen unaufhaltsam mit. „Ich muss hier weg“, ist der einzige Gedanke, den man dann noch fassen kann.

So habe auch ich irgendwann Ängste entwickelt, die rational in keiner Weise erklärbar waren, und sich dennoch nicht minder real angefühlt haben.


2

Das Glas füllt sich langsam. Ich blicke von meiner Apfelschorle auf und durch den sonnendurchfluteten Raum. „Ganz schön viel los hier“, denke ich. Aber was soll man auch anderes erwarten an einem Samstag bei IKEA, noch dazu in den bayerischen Schulferien.

Wir sind zu Besuch bei meinen Verwandten in Salzburg und nutzen den Tag für einen gemeinsamen Abstecher zum geliebten Einrichtungshaus. Meine Familie wuselt irgendwo im Restaurant herum, wir machen eine Pause vom Shoppen: ein, zwei Dinge, die man braucht, viele, die man nicht braucht. Das ist auch schon im Jahr 2000 so.

Mein Glas ist endlich voll, auf dem Weg zum Tisch staune ich noch immer über die Möglichkeit, sich unendlich oft nachzufüllen. „Wie die das wohl finanzieren?“, denkt mein vierzehnjähriges Ich, als ich mich mit meinem Tablett an einem jungen Paar vorbeidrücke, das, ohne auf seine Umgebung zu achten, in Richtung Essensausgabe eilt. Ich verdrehe die Augen, balanciere durch die Tischreihen und erreiche endlich mein Ziel.

Meine Cousine, meine Tante, meine Schwester, meine Mutter – sie alle sitzen schon und mampfen ihr Mittagessen. Neben uns schreit ein Baby, die Leute am Tisch vor uns sind gerade mit dem Essen fertig geworden und stehen auf. Es ist laut, Stühle werden gerückt, das Geschirr klirrt. Mit meiner Gabel pikse ich in meine Pommes. Ich beiße in eine Fritte, während wir über die Schule reden, meine Cousine lacht.

Die Worte verhallen im Raum, meine Konzentration lässt nach. „Ganz schön warm hier“, denke ich und blicke über die Menschenmenge auf die Fensterfront, durch die die Sonne in den Raum prallt. Ich ziehe meinen Pulli aus, atme tief ein. Ist den anderen denn gar nicht heiß? Ich esse einen weiteren Bissen, als sich plötzlich mein Hals zuschnürt. Ich kann kaum noch schlucken, das Essen fühlt sich mit einem Mal wie eine zähe Masse an. Mein Blick fällt auf die Gerichte meiner Familie, die Gerüche werden intensiver, ich kämpfe mit einem unangenehmen Völlegefühl. Mir ist übel. Eine ungewohnte Unruhe steigt in mir auf, ich rutsche auf dem Stuhl hin und her, als ich wie von Weitem die Stimme meiner Mutter höre: „Antonia?“ Verschreckt schaue ich auf. „Antonia, geht’s dir gut?“, fragt sie. „Du bist plötzlich so blass.“

Ich schüttle den Kopf. „Mir ist schlecht“, antworte ich. Meine Beine zittern, es fühlt sich an, als würde ich den Halt verlieren, ich schiebe den Teller von mir und halte mich am Tisch fest. Die Lautstärke des Raumes scheint mich zu erdrücken. „Tief einatmen“, denke ich. Der Lärm wird immer unerträglicher.

„Was ist denn los?“ Die anderen hören mit dem Essen und Reden auf und starren mich an.

„Ich glaube, ich muss an die frische Luft“, presse ich heraus. Bevor meine Familie antworten kann, wird mir so heiß und schlecht, dass ich aufspringe und zur Toilette um die Ecke renne.

Noch auf dem Weg muss ich würgen, halte mir die Hände vor den Mund. Ich stürze in die erste freie Kabine. Sekunden später übergebe ich mich.

Zitternd kauere ich auf dem Boden der IKEA-Toilette. Nicht sehr hygienisch, doch mein schwacher Körper kann nicht anders. Mir ist immer noch schlecht, doch die Ruhe hilft. „Toni?“ Ich höre die zaghafte Stimme meiner Schwester. „Toni, geht’s dir gut?“

„Es geht“, sage ich, Tränen laufen meine Wangen hinunter. Ich bin plötzlich furchtbar erschöpft.

„Was war denn los?“

„Ich weiß nicht, mir wurde auf einmal so schlecht.“

„Geht’s ihr wieder besser?“ Nun ist auch meine Mama da.

Ich hieve mich hoch und schließe die Tür auf. „Es geht“, sage ich wieder, meine Stimme zittert, als mich meine Mama in den Arm nimmt.

„Komm, du trinkst jetzt einen Schluck Wasser, und dann gehen wir zügig durch den Laden. Das war bestimmt dein Kreislauf.“

Ich nicke und folge den beiden auf wackligen Beinen wieder in den Speisesaal. Meine Cousine kommt mir schon mit einem Glas Wasser entgegen. „Hier, trink.“ Das kalte Wasser tut gut, zittrig setze ich mich.

Die anderen essen schnell auf, während ich apathisch am Tisch sitze und mein Wasserglas umklammere. Immer wieder atme ich tief ein, die Übelkeit hat nachgelassen, doch wohl ist mir nicht, und auch die Unruhe bleibt. Dreißig Minuten später sitzen wir wieder im Auto, ich bin fix und fertig.

„Ist alles okay?“ Meine Mutter blickt mich besorgt durch den Rückspiegel an. Mit geschlossenen Augen nicke ich, ich will nur noch heim. Meine Katze in den Arm nehmen, mich in mein Bett kuscheln.

Am Abend sind wir wieder zu Hause. Als wir die Haustüre aufsperren, fällt die Anspannung von mir ab. Ich bin in Sicherheit. „Alles wieder okay“, denke ich noch, als ich mich ins Bett fallen lasse. Oder etwa doch nicht?


3

Freude, Liebe, Trauer, Wut oder Angst – wir Menschen fühlen die gesamte Bandbreite an Empfindungen. So gerne wir die negativen Gefühle ausklammern würden, keine*r von uns wird ein Leben ohne Wut oder Trauer leben. Also bleibt uns nur eines: Wir müssen uns unseren Gefühlen stellen, ihren Sinn erkennen und mit ihnen leben.

Dasselbe gilt auch für die Angst. Jede*r von uns fürchtet sich. Sobald wir Menschen in potenzielle Gefahr geraten, setzt die Angst ein. Sie gehört zu unseren menschlichen Urinstinkten, ist mindestens genauso stark wie die Liebe und neben ihr eines der wichtigsten Gefühle für uns. Denn die Angst schützt uns, aus evolutionärer Sicht ist sie sogar lebensnotwendig. Unsere Vorfahr*innen überlebten schließlich nur, weil sie mithilfe ihrer Angst lernten, Gefahren und Risiken zu erkennen und Vorsicht walten zu lassen. Nur durch die Flucht vor der Gefahr sicherten sie ihr Leben – und somit den Fortbestand der Menschheit. Ohne die Angst gäbe es – einfach gesagt – weder dich noch mich.

Während sich unsere Vorfahr*innen Säbelzahntigern und anderen lebensbedrohenden Gefahren ausgesetzt sahen und die Angst ein wichtiger und ständiger Begleiter in unerforschtem Gelände war, ist unser Leben heute jedoch weitaus weniger gefährlich. Das Gefühl der Angst begleitet uns aber nach wie vor. Allerdings kommt es nur noch selten mit einem Paukenschlag, schließlich stehen wir – Gott sei Dank – keinen hungrigen Raubtieren mehr gegenüber und schweben somit nicht mehr täglich in unmittelbarer Lebensgefahr. Die akute Angst aus Urzeiten ist einer theoretischen Angst gewichen. Sie macht sich breit, wenn wir Unsicherheit oder Ungewissheit verspüren. Wir fürchten das Unbekannte, haben also Angst vor etwas, das potenziell passieren könnte.

Es sind zum Beispiel soziale Ängste, die uns umtreiben, existenzielle Sorgen wie der Verlust des Arbeitsplatzes, der Wohnung oder die Furcht vor einer drohenden Krankheit beherrschen unsere Gedanken. Dazu kommen diffuse Befürchtungen wie die, Opfer eines Verbrechens oder eines Unfalls zu werden. Gleichzeitig sorgen wir uns um unsere Liebsten, unsere Beziehung oder fürchten uns vor dem Tod von Angehörigen.

Die Angst hat uns ursprünglich vor dem Aussterben bewahrt. Doch schon damals waren nicht alle Menschen Angsthasen. Auch hier gab es diejenigen, die sich furchtlos in risikoreiche Situationen begaben, während andere lieber einen Bogen um potenzielle Gefahren machten und am Lagerfeuer sitzen blieben. Wir Menschen sind eben unterschiedlich, und das gilt bis heute.

Hinzu kommt, dass wir bezüglich unserer Ängste auch stark gesellschaftlich geprägt sind. Ich als Frau kann und darf öffentlich meine Angst zeigen. Niemand wird mich ansehen und sagen: „Wie, du hast Angst?“ Schließlich blieben auch schon bei unseren Vorfahr*innen die Frauen zu Hause, während die Männer auf die Jagd gingen und sich den Gefahren stellten. Das hat zur Folge, dass von Männern selbst im 21. Jahrhundert noch erwartet wird, dass sie jederzeit Stärke zeigen. Aufgrund von längst antiquierten gesellschaftlichen Normen gilt für sie immer noch das Bild des mutigen, starken Mannes.

 

Manche Ängste erlernen wir bereits in der Kindheit. Unsere Familie, unser Umfeld oder andere soziale Einflüsse konditionieren uns und bereiten uns auf das Leben vor. So beginnen wir, basierend auf Erfahrungswerten, auf Charaktereigenschaften und frühen Prägungen spezielle Ängste zu entwickeln. Kinder ängstlicher Eltern sind ebenfalls oft ängstlich. Schreit eine Mutter beim Anblick einer Maus, überträgt sich das oft auch auf ihre Kinder. Wenn die Mama schreit, muss die Maus doch gefährlich sein, oder?

Im Erwachsenenalter legen sich diese Ängste häufig wieder, schließlich entwickeln wir uns weiter, sammeln neue Erfahrungen und verstehen, dass Mäuse eigentlich ganz putzig sind.

 

Ängste können also ganz unterschiedlich sein, sie wirken bei allen Menschen anders, und doch haben sie eines gemeinsam: Sie lassen uns aufmerksamer und vorsichtiger sein, sobald unser Leben in Gefahr scheint, wir uns in einer unbekannten, vermeintlich unkontrollierbaren Situation befinden.

Im Umkehrschluss bedeutet das aber auch: Ängste sind nicht nur negativ. Sie können uns antreiben, uns unsere Grenzen austesten und uns aktiv werden lassen. Jedes Ereignis, das uns erst Angst gemacht hat, das wir dann aber mutig überwunden haben, stärkt unser Selbstbewusstsein. Wir trauen uns mehr (zu) und lernen, dass Angstsituationen uns auch wachsen lassen. Unsere körperlichen wie geistigen Grenzen werden durch die Angst immer wieder neu gesteckt.

 

Niemand von uns ist ohne Angst. Doch es gibt Menschen, die Situationen bereits als Bedrohung erleben, die objektiv betrachtet noch überhaupt keine Gefahr darstellen. Wetten, du kennst solche ängstlichen Personen auch? Schließlich ist jede*r von uns mindestens einmal schon einem Menschen begegnet, der Angst vor dem Zahnarzt hat, schreiend vor einer Spinne davonrennt oder beim Fliegen Schweißausbrüche bekommt. Nichts davon ist wirklich lebens- oder existenzbedrohend, und doch treibt allein der Gedanke an die Situation diese Menschen an den Rand eines Nervenzusammenbruchs. Zumindest treibt er ihnen Schweißperlen auf die Stirn und sorgt für zittrige Beine.

Solche lästigen Alltagsängste können eine*n jede*n befallen, selbst Menschen, die das Rampenlicht lieben, schwitzen auf dem Zahnarztstuhl. Wirklich! Sie führen dazu, dass Menschen viel zu selten oder viel zu oft zum Arzt gehen, Autobahnfahrten meiden oder nur mit schweißnassen Händen überstehen und aus Angst vor möglichen Einbrecher*innen ihre Wohnung übertrieben verriegeln und überall Kameras aufstellen. Doch sie schränken nicht wirklich ein – meist finden die Geplagten Wege, ihre Phobien in den Griff zu bekommen. Und wenn sie nur den oder die Nachbar*in darum bitten, die Spinne aus der Wohnung zu tragen. Sie lernen, sich zu beruhigen, sich Hilfe zu suchen oder eine Zahnärztin zu googeln, die auf Angstpatient*innen spezialisiert ist.

Mit derartigen Ängsten kann man leben. Mit manch anderen allerdings nicht. Denn es gibt auch Menschen wie mich. Richtige Angsthäsinnen, die zwar in vielen Situationen mutig sind, in völlig unbegründeten Situationen aber Gefahr spüren. Die keine Angst vor dem Tod haben, Spinnen ohne Zittern aus dem Haus tragen, dafür aber in den Fluchtmodus wechseln, wenn der Aufzug plötzlich ruckelt. Deren Herz schneller schlägt, sobald sich der Verkehr staut oder sie sich in einer Menschenmenge befinden. Deren Alltag zu einer Herausforderung wird, weil sie ständig von Angst befallen werden, und das in Situationen, in denen nun wahrlich keine Gefahr droht.

 

Unter den Achtzehn- bis Fünfundsechzigjährigen leiden laut statistischem Bundesamt in Deutschland derzeit 14,2 Prozent an einer Angsterkrankung. Ihr Körper reagiert auf Situationen, die objektiv betrachtet völlig ungefährlich sind. Das sind Menschen, die Angst vor schweren Krankheiten haben und bei den kleinsten Anzeichen von Veränderung die Hautärztin oder den Frauenarzt aufsuchen. Menschen, die sich nicht mehr trauen, mit dem Auto zu fahren, die jeden Stau meiden, die die Enge der U-Bahn kaum ertragen. Menschen, die Angst vor fremdem Essen oder vor Gesprächen mit ihren Mitmenschen haben. Die das Erbrechen in der Öffentlichkeit fürchten, Begegnungen mit anderen Menschen als Qual empfinden und das Haus aus Angst vor der lauten, verstörenden Welt da draußen nicht mehr verlassen wollen.

Wenn die Angst zu groß wird, der Alltag stark beeinträchtigt ist und der Angsthase eigentlich die Welt entdecken will, die Angst ihm aber permanent das Stoppschild hinhält, ist es so weit: hallo, Angststörung!

 

Angststörungen sind grundverschieden, haben aber zumindest eines gemeinsam: Sie belasten das Leben der Betroffenen.

Wie viele Menschen wirklich unter übersteigerter Angst leiden, weiß kaum einer, denn Angstpatient*innen leben lieber unerkannt. Dabei hilft es, die Monster der Angst zu vertreiben, indem man offen über sie spricht, sie nicht für sich behält, sondern mit Menschen an seiner Seite gegen sie ankämpft.

Mutig ist also nicht, wer vermeintlich furchtlos durchs Leben geht, sondern wer sich seinen Ängsten stellt, ihnen ins Gesicht blickt und fragt: „Hallo Angst, was willst du eigentlich?“

„Ein Buch über meine Angststörung, meine Erfahrungen und meine Erkenntnisse schien mir dafür der beste Weg zu sein. Ich möchte Menschen ermutigen, ihre Ängste anzunehmen, sie zu umarmen und einen Weg zu finden, sich mit ihnen zu arrangieren, statt ständig gegen sie anzukämpfen.

Denn auch ich habe immer wieder gegen die Angst gekämpft, wollte sie bloß nicht zulassen, bloß nicht sichtbar machen, bloß keine Schwäche zeigen, um mich nicht mehr so furchtbar hilflos zu fühlen. Geholfen hat das nicht. Die Angst wurde immer größer, ihre Besuche regelmäßiger.”


Antonia Wille, Gründerin des Modeblogs amazedmag.de

„Ein engagiertes Plädoyer für einen neuen, offeneren Umgang mit psychischen Erkrankungen und eine Einladung zur Achtsamkeit.“ Dr. Eckart von Hirschhausen

Keine Angst!

Was wir gegen Depressionen und Ängste tun können. Eine Klinikleiterin erzählt

Ein Montagmorgen in Weißensee. Der Alltag im Alexianer St. Joseph-Krankenhaus erwacht. Menschen mit ganz verschiedenen psychischen Erkrankungen finden hier Schutz, Hilfe, Therapie. Es stimmt: Depressionen und Angststörungen sind längst zu Volkskrankheiten geworden. Dennoch wollen wir von den Erkrankungen der Seele oft nichts wissen – manchmal nicht einmal von unserer eigenen Furcht und Traurigkeit. Psychisch krank, das ist der Attentäter, der Amokläufer oder der Mörder, dessen Taten wir im Sonntagskrimi mit lustvollem Schauder verfolgen. Und doch sind der Druck und die Angst, die in einer immer unübersichtlicheren Welt auf uns lasten, manchmal mehr, als wir bewältigen können. Iris Hauth erzählt aus ihrer langjährigen Erfahrung als Klinikleiterin und im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie und öffnet die für gewöhnlich verschlossene Welt eines psychiatrischen Krankenhauses. Ein persönliches, Mut machendes Buch, das zeigt, wie wir trotz dunkler Stunden Zuversicht finden.

Vorwort

„Es ist nicht möglich, etwas von dem klarzumachen, woran man krankt, es hängt aber vor allem damit zusammen, dass rundherum alle Leute keine Ahnung von einer derartigen Krankheit haben“, schrieb die Schriftstellerin Ingeborg Bachmann Mitte der 1960er-Jahre. Für sie war es eine Zeit der Depression und der Angst. Über fünfzig Jahre sind seither vergangen. Fiele Bachmanns Befund heute anders aus? Das ist nicht gesagt. Obwohl die Weltgesundheitsorganisation (WHO) davon ausgeht, dass schon im Jahr 2030 die Depression unter allen Volkskrankheiten den ersten Rang einnehmen wird, gibt es noch immer eine Scheu, über diese oder andere psychische Erkrankungen zu sprechen. Oft resultiert das Schweigen aus einem Mangel an Wissen. Doch nur ein offener, informierter Umgang mit psychischen Erkrankungen kann die Stigmatisierung Betroffener verhindern, die leider noch viel zu oft an der Tagesordnung ist.

Als Leiterin der größten psychiatrischen Klinik in Berlin habe ich täglich mit Menschen zu tun, die in einer psychischen Krise den Mut aufgebracht haben zu sagen: Ich brauche Hilfe. Und diese Hilfe gibt es. Anhand der beiden häufigsten psychischen Erkrankungen in Deutschland, der Depression und der Angststörung, möchte ich mit diesem Buch gesicherte Informationen über ihre Entstehung, ihren Verlauf und, vor allem, über ihre wirksame Behandlung geben. Leiten lasse ich mich dabei von den Fragen, die mir Patienten und Angehörige in den dreißig Jahren, in denen ich schon als Psychiaterin tätig bin, immer wieder gestellt haben.

Gleichzeitig möchte ich versuchen, einige Einblicke in den Alltag einer psychiatrischen Klinik zu geben. Ein Ort, an den viele Menschen mit Argwohn oder Angst denken. Ihn erzählend ein wenig zugänglicher zu machen – etwa durch die genaue Schilderung des Lebens und der Abläufe auf Station – kann, so meine Hoffnung, vielleicht ein wenig dazu beitragen, Vorurteile zu korrigieren oder sogar ganz aus der Welt zu schaffen. Sodass die Menschen etwas weniger Scheu haben, sich in einer Klinik helfen zu lassen, wenn es ihnen schlechtgeht.

Im Gegensatzzu allen anderen medizinischen Disziplinen befindet sich die Psychiatrie stets in engem Austausch mit aktuellen gesellschaftlichen oder politischen Entwicklungen. Als ehemalige Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) konnte ich einige von ihnen im Austausch mit Politikern und Kollegen aus aller Welt diskutieren: Welche Auswirkungen haben die sich rapide verändernden Lebens- und Arbeitsgewohnheiten auf die seelische Gesundheit? Nehmen psychische Störungen in unserer immer unübersichtlicheren Welt zu? Wie lässt sich bei insgesamt steigendem Hilfebedarf weiterhin eine gute Versorgung gewährleisten? Hier warten auf das Fach in den nächsten Jahren spannende Aufgaben und große Herausforderungen.

Im Mittelpunkt steht jedoch immer der einzelne Mensch. Sein Leben, seine Geschichte, seine Gesundheit. Es gehört zu den schönsten Momenten unseres Berufs, eine tragfähige Beziehung zum Patienten aufzubauen und einander auf Augenhöhe im Gespräch zu begegnen. Die Patientengeschichten in diesem Buch sollen von solchen immer neu und überraschend verlaufenden Begegnungen erzählen.

Körperliche Fitness ist wichtig, die Erhaltung der seelischen Ausgeglichenheit und Gesundheit aber ist es nicht minder. Es gibt Frühwarnsymptome, die auf eine mögliche psychische Störung hindeuten können. Wer weiß, wie er sich vor zu großen Belastungen schützen kann, läuft weniger Gefahr zu erkranken. Mit einigen praktischen Tipps am Ende des Buchs möchte ich jeden Leser dazu ermutigen, etwas für seine psychische Widerstandskraft zu tun und dadurch in einer Balance zu bleiben, die ihn mit Zuversicht und ohne Angst durch den Alltag gehen lässt.

Iris Hauth, im Januar 2018

 

 

Kapitel 1

Man muss die Menschen lieben, sonst kann man nicht Psychiaterin sein

Der Wunsch zu helfen

Ich war sechs Jahre alt, als meine Mutter ihren ersten Asthma-Anfall erlitt. So ein Anfall kann eine ziemlich bedrohliche Angelegenheit sein, nicht nur für ein Kind, das ihn miterlebt. Die Betroffenen können nur noch mit Mühe Luft holen, aber noch viel schwerer fällt es ihnen, wieder auszuatmen. Ein Gefühl der Enge ergreift von ihnen Besitz, sie haben Angst zu ersticken und werden von Husten geschüttelt. Die Anfälle meiner Mutter steigerten sich mit den Jahren. Mein Vater war von der Situation überfordert und flüchtete aus dem Haus, wenn es wieder einmal so weit war. Ich aber blieb.

Mitte der 1960er-Jahre gab es noch keine speziellen Medikamente, die Asthma-Kranken im Notfall rasch und wirkungsvoll helfen konnten. Wenn mich meine Mutter bat, ihr etwas zum Einnehmen zu bringen, ging ich an den Schrank und holte, weil ich nichts anderes fand, Togal, obwohl das völlig wirkungslos war. Aber darauf kam es nicht an. Ich kochte ihr einen Kaffee und setzte mich zu ihr, auch wenn mich das Pfeifen ihrer Atmung und der Anblick ihres verkrampften Körpers noch so erschreckten. Ich blieb bei ihr und hielt alles aus. Und nach einer Weile wurde es tatsächlich besser. Meine Mutter erholte sich und bekam wieder normal Luft.

In diesen Stunden erlebte ich zum ersten Mal das, was Psychologen „Selbstwirksamkeit“ nennen, also die auf Erfahrung fußende Gewissheit, auch schwierige Situationen durch Eigeninitiative in den Griff zu bekommen. Im Gegensatz zu meinem Vater war ich nicht davongelaufen, sondern hatte helfen können. Mein Dableiben, mein Aushalten und mein beruhigendes Reden hatten dazu beigetragen, die Not meiner Mutter zu lindern.

Heute bin ich überzeugt davon, dass diese frühen Erlebnisse meinen späteren Berufsweg vorgezeichnet haben. Sie weckten in mir den Wunsch, anderen Menschen zu helfen und sie nach Möglichkeit zu heilen. Kurz erwog ich, Psychologie zu studieren, doch dann entschloss ich mich dazu, Ärztin zu werden. Ich wollte mich mit beidem auskennen, dem Körper und der Psyche.

Während des Medizinstudiums bin ich hier und da ein wenig vom angestammten Weg abgekommen. Ich sah mich auch in anderen Fachrichtungen um. Die Gynäkologie interessierte mich. Babys auf die Welt zu helfen stellte ich mir sehr schön vor. Auch als Hausärztin zu arbeiten und so die Menschen in ihrem Alltag begleiten zu können, reizte mich, und ich absolvierte ein entsprechendes Praktikum. Aber als es am Ende des Studiums darum ging, neben den obligatorischen Fächern Innere Medizin und Chirurgie ein drittes zu wählen, entschied ich mich für die Psychiatrie. Der Kreis hatte sich geschlossen.

 

Mein Werdegang

Ich hatte Glück und fand nach dem Studium sofort eine Stelle, was zu Beginn der 1980er-Jahre gar nicht so einfach war. Ich landete in der Psychosomatik. Damals hielt ich das einfach für eine Laune des Schicksals, mittlerweile bin ich mir da nicht mehr so sicher. Angesichts der Erfahrungen mit meiner kranken Mutter erscheint es mir nun nicht ganz zufällig, dass ich mich intensiv mit der Wechselwirkung von körperlicher und psychischer Erkrankung beschäftigte. Oder genauer: mit Beschwerden des Körpers, die auch einen psychischen Hintergrund haben.

Auf der Station, auf der ich arbeitete, befanden sich vor allem Patienten mit Essstörungen. Meist waren es junge Frauen. Manche von ihnen wogen nicht einmal vierzig Kilo, die am schwersten Erkrankten waren zwischenzeitlich sogar dem Tode nahe. Mit diesen Frauen begann ich psychotherapeutisch zu arbeiten. Von Beginn an hielt ich die Psychotherapie für existenziell wichtig, auch als sie noch gar nicht in die Psychiatrie integriert war. Nur Medikamente zu geben konnte ich mir nicht vorstellen. Ich wollte immer auch in Beziehung gehen mit den Patienten, mit ihnen reden und ihnen auf Augenhöhe begegnen, um gemeinsam mit ihnen einen Weg heraus aus ihrem Leid zu finden.

Zu dieser Zeit gab es den Titel des Facharztes für Psychosomatik und Psychotherapie noch nicht, es gab nur den Facharzt für Psychiatrie oder Nervenheilkunde. Er beinhaltete auch die Ausbildung in Neurologie, für die ich sehr dankbar bin. Ich lernte das menschliche Nervensystem systematisch von der körperlichen, der somatischen Seite aus kennen. Die Patienten kamen, ich untersuchte sie, klopfte sie mit dem Reflexhammer ab, und je nachdem, welche Beschwerden von ihnen angegeben wurden, konnte ich diese systematisch einzelnen Nerven oder aber den Folgen eines Bandscheibenvorfalls zuordnen. Auch die Symptome für eine Parkinson-Erkrankung oder für Multiple Sklerose ließen sich mühelos erkennen. Alles war so klar. Um eine Entzündungserkrankung auszuschließen, führte man eine Liquorpunktion durch, also die Entnahme von Gehirn-Rückenmarks-Flüssigkeit. Und wenn man sich das Gehirn anschauen wollte, half einem die Computertomographie dabei, sich ein genaueres Bild zu machen. Weil ich in einer kleinen Klinik untergekommen war, konnte ich den ganzen Prozess begleiten, von der körperlichen Untersuchung bis zur Bildgebung. Heute, da die einzelnen Abteilungen im Krankenhaus unabhängig voneinander arbeiten, wäre das nicht mehr möglich.

Der Beruf des Psychiaters hat für mich stets diesen Reiz der Vielfalt behalten. Neben dem des Allgemeinmediziners fällt mir keine andere ärztliche Tätigkeit mit einem ähnlich großen Tätigkeitsfeld ein. Und im Gegensatz zu den Psychologen sind Psychiater eben Ärzte. Sie können körperliche Erkrankungen diagnostizieren und behandeln sowie aufgrund ihrer Ausbildung auch Medikamente verschreiben, ohne dass sie auf die andere Säule des Heilens, das Sprechen, verzichten müssen. Bei allem Medizinischen tragen wir sozusagen den weißen Kittel, doch in der Psychotherapie ziehen wir ihn aus und begeben uns immer aufs Neue in eine Interaktion von Mensch zu Mensch, in der man mit seinen Kenntnissen und Erfahrungen, aber auch mit der eigenen Person, mit dem, was man selbst an Menschlichkeit einbringt, etwas bewegen und bewirken kann.

 

Das Dilemma der Psychiatrie

Ein Psychiater-Kollege hat mir einmal von einer Patientin erzählt, die nach mehreren Wochen intensiver, nicht zuletzt psychotherapeutischer Behandlung voller Ungeduld ausgerufen hat: „So, jetzt möchte ich aber endlich mal mit einem Psychologen sprechen!“ Eine Geschichte zum Schmunzeln, die aber das unterschiedliche Image beider Berufe verdeutlicht. Psychiater, heißt es oft, sperren die Leute weg oder verabreichen zumindest Medikamente, die abhängig machen, ruhig stellen und/oder die Persönlichkeit verändern; wohingegen Psychologen sich ganz dem Gespräch mit dem Patienten verschreiben. Und Gespräche genießen nun mal einen höheren Stellenwert als Tabletten.

Daher bin ich nicht unglücklich, wenn ich in Interviews gelegentlich auch zu leichteren Themen befragt werde, etwa wie man seinen Urlaub sinnvoll gestalten kann, was Liebeskummer im Körper so alles anzurichten vermag oder wie man ein Weihnachtsfest übersteht, wenn man ganz alleine ist. Eher banale Dinge, gewiss, und man könnte meinen, eine Psychiaterin solle sich mit derlei nicht abgeben. Doch es ist gut und wichtig, dass wir auch zu solchen Themen des Alltags Stellung beziehen. Das gibt uns die Möglichkeit, die Psychiatrie ein wenig aus der Schmuddelecke herauszuholen, in der sie für viele immer noch steckt.

Die Psychiatrie ist nicht nur Diagnostik und Therapie einer individuellen psychischen Erkrankung. Sie hat das Ganze im Blick, denn psychische Erkrankungen entstehen immer auch in einem psychosozialen Kontext. Damit verweisen sie auf die Lebensumstände eines Menschen und auf die sie beeinflussenden gesellschaftlichen Strömungen – seien es die Alltagsbedingungen in der Großstadt, seien es die Auswirkungen der Digitalisierung auf Arbeitswelt und Freizeit, die Folgen des demografischen Wandels oder die Herausforderungen durch die Zuwanderung.

Kaum ein anderes medizinisches Fach befasst sich ähnlich intensiv mit gesellschaftlichen Fragestellungen. Und gar keines ist wie die Psychiatrie zusätzlich mit ordnungspolitischen Aufgaben betraut. Denn das ist ja der Spagat, den unser Fach hinbekommen muss und der wohl auch verantwortlich ist für das schlechte Image, das es für viele besitzt. Wir sollen und wollen dem Einzelnen helfen, anderseits sollen wir aber auch Gefahren für die Öffentlichkeit abwenden, was mit hohen gesellschaftlichen Erwartungen verknüpft ist.

In dieses Dilemma geraten wir immer dann, wenn Patienten aufgrund einer schweren Erkrankung ihre Umwelt verkennen, sich verfolgt oder bedroht fühlen und aus Angst angespannt, bisweilen auch aggressiv auf ihre Mitmenschen reagieren. In so einer akuten Krankheitsphase sind diese Patienten nicht mehr selbstbestimmt. Wir haben dann die gesetzliche Verpflichtung, sie in unseren Kliniken unterbringen zu lassen. Dieses doppelte Anforderungsprofil bringt eine besondere Verantwortung mit sich. Kein anderer Arzt muss sich mit Fragen der Unterbringung oder der Behandlung gegen den erklärten Willen eines Patienten auseinandersetzen.

Daher werden uns auch Fragen der Ethik immer beschäftigen. Knapp zehn Prozent aller Patienten kommen nicht freiwillig in den stationären Bereich, sondern werden gegen ihren Willen in die Klinik gebracht, weil sie sich selbst oder andere gefährden. Ihre Behandlung führt zu einem oft schwierigen Abwägen zwischen der Autonomie des Erkrankten und der Aufgabe der Psychiatrie, Sorge für den Schutz des Einzelnen und der Allgemeinheit zu tragen.

Aspekte der seelischen Gesundheit, der Prävention oder des Heilens geraten oft an den Rand angesichts dieser von der Öffentlichkeit und den Medien mit großem Interesse wahrgenommenen Aufgaben. Insbesondere die Forensische Psychiatrie gerät dabei immer wieder in den Fokus. Sie befasst sich mit der Schuldfähigkeit von Straftätern, die ihre Tat als Folge einer psychischen Erkrankung begangen haben. Die von den Psychiatern erstellten Gutachten bilden die Grundlage für die Entscheidung der Gerichte, ob jemand ins Gefängnis kommt oder, wegen mangelnder Schuldfähigkeit, in eine forensische Klinik, also in den Maßregelvollzug. Jede Fehleinschätzung kann fatale Folgen haben, etwa die erneute Tat eines Patienten, der mit irrtümlich günstiger Prognose aus dem Maßregelvollzug entlassen wurde.

Einen eigentümlichen Platz in der öffentlichen Aufmerksamkeit nimmt auch die psychiatrische Klinik ein. Um sie ranken sich eine Menge Schauergeschichten und Mutmaßungen. Für viele Menschen ist sie ein düsterer, mit negativer Faszination aufgeladener Ort. Wenn man erst einmal drin ist, so lautet das Klischee, kommt man für lange, lange Zeit nicht mehr heraus. Man verschwindet einfach, und keinen interessiert es. Die Wände in der Klinik sind kahl, die Patienten sitzen teilnahmslos und mit matten Augen den ganzen Tag nur herum, wenn sie nicht von rabiatem Pflegepersonal herumgescheucht werden. Die Zeit vergeht quälend langsam. Man bekommt regelmäßig Spritzen und viel zu starke Tabletten, die jedes Aufbegehren gegen die menschenunwürdigen Zustände sinnlos erscheinen lassen. Versucht man es dennoch, wird man fixiert, festgeschnallt auf seinem Bett, und es werden einem von bösen Ärzten so lange Elektroschocks verabreicht, bis man wie ein Zombie durch die Gänge schleicht.

Das sind Vorstellungen, die ganz tief im kollektiven Gedächtnis verankert zu sein scheinen. Sie beruhen auf Filmen wie Einer flog über das Kuckucksnest mit Jack Nicholson, aber auch auf kritischen, manchmal reißerischen Berichten in Fernsehen und Zeitungen. Fast nie wird über all das Gelingende in den Kliniken berichtet, den ganz normalen Alltag, die gute und wirkungsvolle Arbeit von Ärzten, Pflegekräften und Therapeuten. Leser und Klicks generiert viel eher der reißerisch aufgemachte Einzelfall. Nach und nach verfestigen sich dann die negativen Eindrücke zu Vorurteilen, die nur noch schwer abzubauen sind. Das Fatale ist, dass sie sich nicht nur gegen psychiatrische Kliniken richten, sondern auch ganz allgemein gegen psychische Erkrankungen und, noch schlimmer, gegen die erkrankten Menschen, die doch dringend auf Verständnis und Unterstützung angewiesen sind.

 

Psychische Erkrankungen sind Volkskrankheiten

Wohl kaum ein Patient oder Angehöriger betritt ein psychiatrisches Krankenhaus leichten Herzens. Wer als Patient in die Klinik kommt, für den hat sich etwas verschoben. Er ist herausgefallen aus dem, was wir für gewöhnlich und ohne recht darüber nachzudenken „Normalität“ nennen. Was immer „Normalität“ auch heißen mag – eine Übereinkunft, wie man leben soll, ein reibungsloses Funktionieren, ein selbstständiges Meistern des Alltags.

Über dem Eingang des Alexianer St. Joseph-Krankenhauses in Berlin-Weißensee, das ich seit zwanzig Jahren leite, hat ein Glaskünstler eine Neonschrift angebracht: „Die Wildgans zieht allmählich der Hochebene zu“. Es sind Worte aus dem Taoismus, jener uralten chinesischen Religion, der es um den inneren Frieden, den rechten Weg und die Harmonie mit der Natur zu tun ist. Am Eingang einer katholischen Klinik mitten in Berlin steht für mich der Satz nicht nur für ein Miteinander der Lebensentwürfe, Weltanschauungen und Religionen. In ihm liegen auch Trost und Zuversicht. Der Weg in den Süden, der Hochebene zu, ist zwar lang, aber es ist möglich, ans Ziel zu kommen, wenn man sich auf sein Inneres verlässt. Und man kann Hilfe bekommen entlang des Weges. Die Wildgans fliegt nie allein, sondern findet Geleit und Schutz unter Ihresgleichen. So soll es auch den Menschen gehen, wenn sie in unsere Klinik kommen.

Eins steht fest: Wer bei uns Hilfe sucht, gehört zwar zu einer Minderheit. Aber zu einer verdammt großen. Über 800 000 Patienten zählen die psychiatrischen Kliniken Deutschlands Jahr für Jahr. Eine andere Zahl ist noch weitaus beeindruckender. Jeder dritte Mensch in Deutschland ist einmal im Jahr von einer psychischen Erkrankung betroffen, also beispielsweise von einer Depression oder einer Angststörung, um nur die beiden häufigsten zu nennen. Jeder Dritte. Man könnte also durchzählen in der Familie, im Bekanntenkreis: eins, zwei, DREI … Jeder kann davon betroffen sein. Der Ehemann, die Schwester, die Kollegin, der Nachbar.

Die in Deutschland aufgrund psychischer Erkrankungen anfallenden direkten Kosten beliefen sich im Jahr 2015 auf 44 Milliarden Euro. Dieses Geld wurde aufgewendet, um die Behandlung und Rehabilitation von Menschen mit psychischen Störungen zu sichern, aber auch um Präventionsmaßnahmen zu treffen. Nur Erkrankungen des Kreislaufs und des Verdauungssystems verursachten höhere Kosten. Zudem steigt die Zahl der Menschen, die wegen einer psychischen Störung nicht mehr arbeiten können. Ihr Anteil an allen krankheitsbedingten Frühberentungen betrug 2016 schon 43 Prozent. Tendenz steigend.

Das sind nur Zahlen, alarmierend zwar, doch was sie aussagen, bleibt abstrakt. Erst wenn man sich klarmacht, dass sich hinter den Zahlen Millionen von Einzelschicksalen verbergen, bekommt die Statistik anschauliche Wucht. Da ist die Ehe, die aufgrund der Erkrankung eines Partners eine immense Belastungsprobe erfährt. Da ist der berufliche Traum, der sich plötzlich zerschlägt, weil die Krankheit es unmöglich macht, die gestellten Aufgaben weiter zu erfüllen. Da ist die Familie, die langsam zerbricht, weil der Alltag aus den Fugen geraten ist. Und immer, sosehr sich die psychischen Störungen auch unterscheiden in Symptomatik und Schweregrad, sind da subjektives Leid und eine spürbare Beeinträchtigung der Fähigkeit, das Leben zu bewältigen. Manchmal wird die Beeinträchtigung als so stark empfunden, dass die Betroffenen sich dazu entschließen, nicht mehr weiterzuleben. 10 000 vollendete Suizide gibt es in Deutschland Jahr für Jahr. Neunzig Prozent davon werden von Menschen mit psychischen Erkrankungen begangen.

 

Stigmatisierung

Psychische Erkrankungen sind also längst Volkskrankheiten geworden, so wie Diabetes oder Rückenleiden. Nur möchte zu diesem Volk keiner gehören. Bekennt jemand auf einer Party, wegen seines Rückens in ärztlicher Behandlung zu sein, sind ihm das Interesse und die Anteilnahme der Umstehenden gewiss. Wohl nur sehr, sehr selten wird man aber jemanden auf derselben Party sagen hören: „Ich war gerade vier Wochen in der Psychiatrie wegen meiner Depression.“ Täte er es, fielen die Reaktionen mit ziemlicher Sicherheit ein ganzes Stück anders aus.

Psychisch erkrankt zu sein, das bedeutet für die meisten neben dem schon immensen Leidensdruck, den die Krankheit mit sich bringt, immer auch Angst. Angst vor der Reaktion der anderen. Wie wird sich das Umfeld verhalten, die Familie, der Chef, die beste Freundin? Noch immer werden psychisch Kranke stigmatisiert. In der Antike wurde das Stigma, also ein nach außen weithin sichtbares Zeichen, direkt in den Körper gebrannt. Die Öffentlichkeit sollte vor dem Träger des Zeichens gewarnt werden. Buchstäblich gebrandmarkt fristete der, sei es ein Verbrecher oder ein entlaufener Sklave, künftig sein Dasein als Ausgestoßener, der von den Menschen gemieden wurde.

Heute läuft die Stigmatisierung subtiler ab. Ein wie unmerkliches Abrücken im Freundeskreis; Menschen, die plötzlich auf Distanz gehen; ein schiefer Blick beim Sport; übertriebene Rücksichtnahme; vermeintlich gutgemeinte, doch in Wahrheit nur gönnerhafte Ratschläge; eine Versetzung oder gar Entlassung am Arbeitsplatz, weil auch dem längst Wiedergenesenen nichts mehr zugetraut wird. All das kommt einer Verurteilung gleich, auf die der Erkrankte mit Schamgefühlen und Selbstvorwürfen reagiert. Er sucht die Schuld bei sich, glaubt, nicht stark genug zu sein, sich zu wenig zusammenzureißen oder zu dramatisieren. Kein Wunder, dass daher lieber geschwiegen wird als geredet, lieber mit versteckten als mit offenen Karten gespielt wird. Der Prävention psychischer Störungen ist das genauso wenig zuträglich wie dem ganz spezifischen Verlauf der Krankheit des Einzelnen. Wer setzt sich schon gern der Gefahr aus, gemieden zu werden? „Eine psychische Krankheit wirkt wie eine Handgranate im Lebenslauf“, schrieb die Autorin Jana Simon einmal. Leider hat sie recht.

Das Empfinden von Ausgrenzung und Stigmatisierung ist nicht nur die rein subjektive Angelegenheit der Betroffenen. Es gibt Studien, die belegen, dass sich auf diesem Gebiet in den letzten Jahrzehnten kaum etwas zum Besseren gewendet hat. Einerseits hat das Wissen um die Ursachen psychischer Erkrankungen deutlich zugenommen, ob sie nun biologischer, psychologischer oder sozialer Natur sind. Die Ergebnisse dieser Forschung haben die Öffentlichkeit auch durchaus erreicht. Zudem ist die Akzeptanz professioneller Hilfe, die man in Anspruch nehmen kann, gestiegen. Nur haben die Erkrankten nichts davon. Da sind die Zahlen eindeutig.

Seit 1990 hat sich an der negativen Einstellung gegenüber Menschen mit psychischen Störungen nichts geändert. Vielleicht muss man schon froh sein, dass bei der Depression die Zahlen ungefähr gleich geblieben sind. In Bezug auf Schizophrenie hat sich die öffentliche Meinung nämlich sogar verschlechtert. „Möchten Sie einen Menschen mit Schizophrenie als Nachbarn oder Arbeitskollegen haben?“ Da schüttelte ein Drittel der Befragten den Kopf und winkte ab. Über die Hälfte von ihnen konnte sich nicht vorstellen, mit einem Psychose-Kranken befreundet zu sein. Zu gefährlich, zu unheimlich, zu seltsam. Lieber Abstand halten.

Man hat Angst vor denen, die oft genug selbst nichts als Angst haben. Hartnäckig halten sich die Vorurteile, und es sieht so aus, als würden sie so schnell auch nicht verschwinden. Schizophren, das „ist“ der Gewaltverbrecher, der Amokläufer, der Merkwürdige, der durch die Stadt läuft, vor sich hin brabbelt und nicht mehr ansprechbar scheint. Und brauchen wir eine Bestätigung für dieses Klischee, so liefert sie uns fast jeden Sonntag der Krimi zur besten Sendezeit. Das Bild des unberechenbaren, aggressiven „Verrückten“, den seine Krankheit zum Mord treibt, bleibt dem Betrachter im Gedächtnis, auch nachdem der Abspann lange schon gelaufen ist.

Das Label „Psychische Erkrankung“, mit dem zunehmend in der Öffentlichkeit sozial unerwünschtes Verhalten etikettiert wird, entlastet. Erschreckende Taten können damit erklärt, ihre Verursacher ausgegrenzt und der Psychiatrie überantwortet werden. Fragen nach eventuellen gesellschaftlichen Voraussetzungen oder gar Fehlentwicklungen stellen sich dann gar nicht erst. Wen wundert da der Argwohn, mit dem in der Öffentlichkeit auf psychisch Kranke geschaut, die Unsicherheit, mit der ihnen begegnet wird, und die Scheu der Betroffenen, über ihre Krankheit zu reden?

Um Ängste abzubauen, hilft am besten, wie immer in solchen Fällen, der direkte Kontakt. Hört man zu, wenn jemand erzählt, was es wirklich heißt, psychisch krank zu sein, und befasst man sich näher mit einem zunächst so seltsam anmutenden Verhalten, löst sich manches Klischee rasch in Wohlgefallen auf.

Fast genauso hilfreich ist es, Aufklärung zu betreiben. Wissen zu vermitteln. Immer und immer wieder aufs Neue. Unwissenheit ist der Boden, auf dem Vorurteile prächtig gedeihen können. Wir dürfen nicht aufhören damit, die Dinge zu erklären, richtigzustellen, zu kommunizieren. Mit jedem Wissenden, der kommt, geht ein Ängstlicher. Bei Krebs ist es in den letzten Jahrzehnten nicht zuletzt mithilfe von Aufklärungskampagnen sehr gut gelungen, die Krankheit aus dem gesellschaftlichen Abseits zu holen und ein öffentliches Bewusstsein für Früherkennung und Therapieformen zu schaffen. Die Krankheit hat mittlerweile jene Anrüchigkeit, die ihr lange Zeit anhaftete, verloren. Vielleicht gelingt uns das ja mit psychischen Erkrankungen eines Tages genauso gut.

 

Man sieht nur mit dem Herzen gut

Still ist es im Garten des Alexianer St. Joseph-Krankenhauses mit seinen schmalen gepflasterten Wegen zwischen den Rasenflächen, den alten Bäumen und den Parkbänken, von denen aus man das machtvolle Hauptgebäude mit seinen rötlichen Backsteinen sehen kann. So still, dass man es manchmal kaum glauben mag, dass nur wenige Meter vom Klinikgelände entfernt Tag und Nacht der Verkehr auf der Berliner Allee dahinfließt, die, von Prenzlauer Berg kommend, Weißensee durchschneidet.

Ich weiß noch, wie ich 1998 zum ersten Mal die Atmosphäre des Gartens, die besonders für Großstadtmenschen ein Aufatmen, eine erholsame Reizreduzierung ermöglicht, in mich aufgenommen habe. Zuvor hatte ich zwei Jahre am Landeskrankenhaus im brandenburgischen Teupitz gearbeitet, und jetzt also war ich hier, eine junge, tief im Westen sozialisierte Chefärztin, die es mit Menschen zu tun bekam, denen ein ganzes Land weggebrochen war, das sie vielleicht geliebt, vielleicht gehasst hatten.

Gehe ich morgens vom Parkplatz durch den Garten zu meinem Büro, ergibt sich immer eine Gelegenheit für eine Begegnung mit Patienten. Manche sind noch müde, manche rauchen die erste Zigarette des Tages, und wieder andere eilen geradezu, weil ihre Therapiestunde gleich beginnt. Ich mag diese Morgenstimmung sehr. Am schönsten ist es, wenn sich spontan ein Gespräch ergibt. Leicht dahingesagte, doch nie oberflächliche Sätze, die im besten Sinne Normalität zum Ausdruck bringen. Besonders Psychose-Patienten kümmern sich nicht allzu sehr um Etikette oder Floskeln, sondern konfrontieren einen direkt mit dem, was sie wahrnehmen: „Oh, Sie haben aber heute ein schönes Kleid an!“ Oder auch: „Mensch, Sie sehen heute aber schlecht aus!“ Es sind kurze Unterhaltungen, jenseits von Visite und therapeutischem Dialog. Sie zeigen, dass da eben nicht nur eine Krankheit existiert und ein Therapieplan, sondern trotz allem immer auch ein Raum, wie klein er auch sein mag, in dem sich zwei Menschen begegnen und respektieren können, mit einem Nicken, einem Lächeln.

Als ich noch ganz am Beginn meiner beruflichen Laufbahn stand, erhielt ich von meinem damaligen Chefarzt eine Ausgabe des Kleinen Prinzen und dazu eine kleine Figur, einen Fuchs. Der Fuchs spielt bekanntlich in Saint-Exupérys Buch eine entscheidende Rolle, denn er entwirft im Zwiegespräch mit dem Kleinen Prinzen eine Lehre der Freundschaft und der Achtsamkeit: „Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.“ Berühmt gewordene Sätze, die sich mühelos, das wollte mir Dr. Faber mit seinem Geschenk klarmachen, auch auf das Verhältnis zwischen Arzt und Patient übertragen lassen.

Man muss die Menschen lieben, sonst kann man nicht Psychiaterin sein. Auch wenn jemand gerade noch so schwer zugänglich erscheint, muss man versuchen, mit ihm in Kontakt zu kommen und eine positive Beziehung zu ihm aufzubauen. Und man muss sich selbst lieben, eine positive Verinnerlichung haben. Nur dann schafft man es, mit manchmal schwierigen oder aggressiven Situationen einigermaßen gelassen umzugehen. Nur dann kann man dem Gegenüber auch etwas geben. Nicht zuletzt Hoffnung.

Ja, psychische Erkrankungen treten häufig auf. Jeder kann sie bekommen. Und sie sind oft schlimm, manchmal sehr schlimm. Aber sie lassen sich behandeln, vor allem mit Psychotherapie, aber auch mit Medikamenten. Zudem passiert gerade sehr viel in der Forschung. Auch die Versorgung der Erkrankten wird neu gedacht. Wir sind auf einem guten Weg, psychische Erkrankungen bald noch besser, noch individueller behandeln zu können. Es gibt Hoffnung. Wir müssen keine Angst haben.

Kann man Angst als etwas Positives empfinden?

Blick ins Buch
Die Angst, Dein bester Freund

Komplett überarbeitete und ergänzte Neuausgabe

„Alexander Hubers Auseinandersetzung mit der Angst ist ein wirklich spannendes und kluges Buch.“ Alpin

Kann Angst, dieses lähmende Gefühl, eine positive Emotion sein? Für Extremkletterer Alexander Huber ist sie ein lebenswichtiger Begleiter. In seinem hochaktuellen, rundum aktualisierten Bestseller beschreibt er, wie sie ihn auf seinen Touren antreibt, schützt und leitet. Er erzählt, wie sie ihm fast das Bergsteigen nahm, als sie zur Last wurde, und vermittelt eindringlich, was man auch im Tal daraus lernen kann. Dass man kein Extremsportler sein muss, um aus der Gedankenspirale herauszufinden. Und dass es sich lohnt, im Leben Risiken einzugehen und sich mit der Angst zu verbünden.

Das Buch beantwortet so wichtige Fragen wie:

  • Kann ich Angst als etwas Positives empfinden?
  • Inwiefern ist sie eine intensive Lebenserfahrung?
  • Und warum verhelfen meine Ängste mir zu mehr Unabhängigkeit?

Einleitung

Die Angst hat ein Lob verdient, ein besseres Bild als jenes, das nur allzu oft gezeichnet wird. Die Angst hat viel in mir bewegt, mich weitergebracht. Sie hat viel für mich getan und wird es hoffentlich auch in Zukunft tun. Deswegen sind diese Zeilen auch ein kleiner Dank an die Angst. In den vielen Jahren, in denen ich rund tausend Vorträge gehalten habe, habe ich immer mit Begeisterung von meinen Aktionen in den Bergen gesprochen, vom Freiklettern, Free-Solo-Klettern, Speedklettern und von der Magie der großen Wände an den großen Bergen der Welt erzählt. Mir ist nicht entgangen, dass die Erfahrungen und der Umgang mit der Angst längst nicht nur für mich als Extremsportler wertvoll sein können. Angst kommt schließlich in jedem Leben vor, auch in dem meiner Zuhörer und bei jedem, der dieses Buch liest. Wahrscheinlich in einer anderen Form als bei mir, denn Angst ist wiederum auch etwas sehr Persönliches, Individuelles. Jeder hat seine ganz eigene Angst­liste. Wer kennt sie nicht, die Angst, seine Gesundheit zu verlieren, unheilbar krank zu werden? Wer fürchtet sich nicht davor, im Rollstuhl zu landen oder dass ein wichtiger, nahe­stehender Mensch bei einem Autounfall sein Leben verliert? Oder du schaust vom Balkon eines Hochhauses lieber doch nicht hinunter? Wer hat bei sich die Angst vor wilden Tieren, engen Fahrstühlen, rauschenden Volks­festen oder anderen großen Menschenansammlungen entdeckt? Oder davor, abends allein zu sein? Es gibt Menschen, die ihr ganz eigenes Problem mit Zügen oder Clowns haben. Anderen wird sofort schwindlig, wenn sie nur daran denken, dass sie bald ein Referat an der Universität oder im Beruf halten müssen, vor vielen Leuten sprechen sollen. Ganz egal, wie ihr selbst die Angst kennen­gelernt habt … fest steht: Die Angst ist in unserem Leben all­gegen­wärtig.

Nicht jeder muss ein Extremsportler werden. Aber es lohnt
sich, beizeiten mutig zu sein und ein gewisses Risiko einzu­gehen. Somit ist das Buch auch ein Plädoyer für den Mut, die Courage. Weil eben Mut und Angst untrennbar miteinander verbunden sind.

Wir alle reagieren ja erst mal auf die gleiche Art und Weise auf die Angst. Die Angst bringt Anspannung, da kommt keiner aus, in dieser Reaktion sind wir gefangen. Aber danach haben wir die Freiheit. Laufe ich davon, lasse ich es sein? Oder stelle ich mich, gehe ich das Problem an? Ich habe in meiner Lauf­bahn als Bergsteiger oft begreifen müssen, dass es der falsche Weg ist, der Angst aus dem Weg zu gehen. Das ist so, als ob man vor einem großen Berg steht und aus Angst, ihn anzugehen, dem Berg aus dem Weg geht. Anstatt mit dem Aufstieg zu beginnen, wechselt man ins nächste Tal, um am Ende festzustellen, dass der Berg auf der Rückseite noch genauso hoch ist wie auf der Vorderseite.

Gewiss, es macht Sinn, den Berg nicht blind und planlos zu attackieren. Besser, man sondiert die Lage, sucht einen sinnvollen Weg zum Gipfel. Da kann auch eine Querung zweck­mäßig sein. Man sollte sich aber stets bewusst sein, dass man irgendwann hinaufsteigen und den Höhenunterschied überwinden muss.

Bergsteigen ist hier nichts anderes als eine Metapher für das Leben, denn es ist ja nicht der Berg, den man bezwingt, sondern immer nur das eigene Ich. Jeder für sich sei angesprochen, die Gewohnheiten, die Routinen im Beruf oder in der Familie zu überdenken und zu hinterfragen. Etwas mehr Neugier, das eigene Leben zu erforschen und zu erkunden! Mehr Bereitschaft, unbekannte Wege zu gehen, andere Men­schen zu treffen. Immer wieder mal diese imaginäre Linie zwischen dem Altbekannten und dem noch Unbekannten zu überschreiten. Insofern will dieses Buch auch ein Plädoyer für mehr Pioniergeist im Alltag sein. Denn zu Tode gefürchtet ist auch gestorben. Ich bin kein Philosoph und schon gar keiner, der die Weisheit erfunden hat. Ich bin immer noch vor allem anderen ein begeisterter Bergsteiger. Einer, der euch gerne moti­vieren würde: Bringt euch ruhig in Situationen, vor denen ihr Angst habt. Wenn ihr auf eure Angst hören, wenn ihr sie zulassen könnt, wird sie euer Leben reicher machen. Denn der Weg ist meist dort, wo die Angst ist. Den Weg finden muss aber jeder für sich selbst.

Das Vertrauen in mich selbst, dass ich es kann

Wer kennt es nicht, im Bett zu liegen, nicht schlafen zu können, aber auch nicht wirklich wach zu sein? Dieses unruhige Herum­wälzen von der einen Seite auf die andere. Kalter Schweiß… Der erholsame Schlaf wird zur Qual und so schnell sonst im Leben die Zeit verrinnt, hier bewegt sich nichts. Nach einer halben Ewigkeit schaut man auf die Uhr und es ist wieder mal nur eine Stunde vergangen. Tausend Gedanken drehen sich im Kreis, finden kein Ziel, bloß nutzloses Zeug. Vor meiner Hauptdiplomprüfung rechnete ich in den Albträumen sinnlose Aufgaben zur Quantenmechanik oder Thermo­dyna­mik. Vor einer großen Begehung kommt der Horror angesichts einer ausweglosen Situation am Berg.

Schon oft ist es mir passiert, dass ich Ziele lange in mir herum­getragen habe, ohne dass sie mich tief greifend beschäftigten, im Unterbewusstsein oder sogar in Träumen verfolgten. Sobald ich aber eine konkrete Entscheidung treffe, dass ich ebendieses Pro­jekt in wenigen Tagen tatsächlich realisieren will, ändert sich alles. Es ist kein theoretisch angedachtes Projekt mehr, das irgendwann vielleicht mal verwirklicht wird, sondern ein reales Szenario. Konkret und glasklar mit allen seinen Herausfor­derungen und Risiken. Der Adrenalinspiegel im Blut steigt. Der ruhige Schlaf weicht einem unruhigen Geist. Die Träume sind da. Ebenjene Art von Träumen, die einem die Nacht zur Qual werden lassen.

In der Nacht zum 1. August 2002, in den Stunden, bevor ich die Direttissima an der Großen Zinne ohne Seil, ohne Sicherung, ohne alles klettern wollte, ging es mir genauso. Der echte Albtraum. Eine schlaflose Nacht im Schlafsack, in meinem Auto oben am großen Parkplatz bei der Auronzohütte. Selbstgespräche, bei denen ich immer wieder versuche, mich selbst von meinem Kletterkönnen zu überzeugen. Davon, dass ich die Schwierigkeiten derart dominieren könne, dass ich alles im Griff habe. Aber gleichzeitig gibt es doch immer noch scheinbar unendlich viele Frage­zeichen. Es ist eine riesige Wand, Hunderte Meter, Tausende von Griffen und Kletter­zügen, endlos viele verschiedene Details, bei denen irgendetwas schieflaufen könnte.

Wenn man ohne Sicherung in einer senkrechten Wand unterwegs ist, dann ist das ein lebensgefährlicher Sport, und es soll keiner denken, dass mir das nicht bewusst wäre. Mache ich beim Free-Solo-Klettern einen Fehler, sterbe ich. So einfach ist das. Und dennoch bin ich nicht lebensmüde. So paradox es klingen mag, ich und mein Leben hängen in der Wand an meinen Fingerspitzen, und ich hänge doch wiederum an meinem Leben. Und ich hatte in den Bergen auch schon oft genug Angst, mein Leben zu verlieren. Aber ich kann dabei nur unterstreichen: Zum Glück habe ich Angst! Denn die Angst ist unser bester Freund in den Bergen. Ein hoffentlich treuer Begleiter, der uns mahnt, lenkt und leitet. Nur so überleben wir die Tatsache, dass wir im schwierigen, exponierten Gelände ständig einem potenziell tödlichen Absturz ausgesetzt sind. Doch wegen der Angst gehe ich mit der maximalen Kon­zent­ration vor, nehme mir bei jedem einzelnen Zug die doppelte Zeit, die optimale Position der Finger auf einem Griff zu erfühlen, um erst dann zuzugreifen. Dann aber ist es ein Zugreifen mit der doppelten Kraft, denn erst das Aufwenden dieser „doppelten“ Kraft gibt mir die Überzeugung, in voller Ausge­setzt­heit, ohne Sicherung „sicher“ unterwegs zu sein. Wobei – absolute Sicherheit gibt es nicht. Bergsteigen ist ein ernsthaftes Unterfangen und das Restrisiko ist im Vergleich zu vielen anderen Sportarten als durchaus signifikant anzusehen. Wenn mich jemand fragt: „Kannst du dir wirklich sicher sein, dass dir nie etwas passiert?“, dann antworte ich: „Nein, kann ich nicht.“ Doch fragt mich jemand: „Bist du überzeugt davon, dass nichts passieren wird?“, sage ich: „Ja, ich bin aus tiefstem Herzen davon überzeugt.“

Angst schadet mir nicht, ganz im Gegenteil. Lasse ich Angst zu und beobachte, was sie mit mir macht, kann sie mir nützen. Nämlich dann, wenn sie mich warnt und ich mich wegen ihr besser konzentriere, meinen Fokus in einer brenzligen Situ­ation auf das Wichtige richte. Als Bergsteiger brauche ich die Angst, sie ist mein zuverlässiger Berater. Die Angst hilft mir, meine gefährlichen Aktionen zu überleben. Wäre ich ein angstfreier Bergsteiger geworden, wäre ich längst schon im Jenseits.

Tief im Schlafsack eingegraben, laufen ständig die wichtigsten Sequenzen an den Schlüsselstellen durch alle Windungen meines Gehirns. Ein Film spult sich vor meinem inneren Auge ab. Ich visualisiere die einzelnen Bewegungen, um mich im Traum davon zu überzeugen, dass alles gut ist. Doch ehrlich gesagt: Nichts ist gut! Mir geht’s beschissen. Da kommen wieder die schwarzen Gedanken und leider nur allzu deutlich. Ohne zu wissen, was eigentlich passiert ist, löst sich mein Körper plötzlich vom Fels. Ich bin sprachlos, will schreien und kann es doch nicht. Die Beschleunigung raubt mir den Atem. Ich will nicht verstehen, warum das jetzt geschieht, weshalb ich nun ins Bodenlose dem sicheren Tod entgegenstürze. Aber ich habe schon verloren. Es ist vorbei.

Bis es aber vorbei ist, dauert es im Traum noch ewig. Scheinbar endlos müht sich meine fiebernde Fantasie mit dem Moment ab, wenn ich unten im Schuttkar einschlage. Kann ich noch etwas wahrnehmen? Oder ist es einfach zu schnell, um irgendetwas zu begreifen? Wie geht das, in solch einem Moment das Bewusstsein zu verlieren? Eine Spirale dreht sich um die zentrale Frage, wie ich den Tod erlebe. Immer enger wird die Spirale, die Gedanken drehen sich schneller und schneller, bis ich schließlich wieder mal wirklich wach bin – schweißgebadet.

Quälend langsam wie bei einem Biwak bei minus 30 Grad Celsius verstreichen die Stunden und ich bin mehr als nur froh, als sich das erste Licht des Morgens zeigt. Es geht los. Aktion lässt den Gedanken weniger Spielraum. Endlich passiert etwas. Mit einem kleinen Rucksack laufe ich zum Paternsattel, um auf die Nordseite der Drei Zinnen zu wechseln. Diese mauer­glatten Wände! Die Drei Zinnen sind nicht nur so etwas wie das Wahrzeichen der Dolomiten. Neben ihrer unverwechselbaren, eindrucksvollen Gestalt vermitteln vor allem die Nordwände eine totale Unnahbarkeit. Abweisender und steiler können Bergwände gar nicht sein. Da ist es völlig egal, dass die Zinnen gerade mal knapp an die 3000 Meter heranreichen. Die Zinnen überzeugen nicht mit der Höhe, sondern durch ihre gnadenlose Steilheit.

Und mitten durch die Große Zinne will ich jetzt klettern – ohne Seil, ohne Sicherung, ganz allein. Von außen betrachtet ist es ein völliger Wahnsinn, sein Leben bewusst aufs Spiel zu setzen, doch letztlich nichts anderes als das, was die echten Pioniere taten. Welche Idealisten, Fanatiker und Träumer waren gerade jene, die die Zivili­sation Tausende von Kilometern hinter sich ließen, um die weißen Flecken der Erde wie die Pole zu erobern. Keiner konnte sich sicher sein, dass er seine Heimat je wieder erreichen würde. Jeder Einzelne von ihnen hatte Angst um sein Leben. Welches Manifest der Cou­rage hinterließen diese Pioniere der Nachwelt! Wie klein erscheint mir da jetzt mein Traum, eine überschaubar „kleine“ Wand in den Alpen ohne Sicherung zu klettern. Aber doch, auch hier auf diesem scheinbar so überschaubaren Raum ergeben sich so viele Unwäg­barkeiten, unbekannte Momente, die aber weniger im Berg, sondern vor allem in uns selbst zu finden sind.

Ich werde mich wie ein Schiffbrüchiger in einem Meer aus gelbem, überhängendem Dolomit fühlen. Es wird keine Insel geben, auf die ich mich retten könnte, keinen Ort, an dem ich mich ausruhen könnte. Es ist ein Gefühl der Ausgesetztheit, wie es so offensichtlich und plakativ noch nicht zu sehen war. Und das macht dieses Unternehmen aber auch so ehrlich. Hier handelt es sich nicht um eine heimtückische, schwer zu erkennende Gefahr. Ganz anders als bei der Lawinengefahr spürt hier jeder die Todesgefahr des Abgrunds. Auch für mich war diese Urangst vor dem Absturz in den gnadenlosen Abgrund erst nach einer langen Phase der Vorbereitung kontrollierbar geworden. Das seilfreie Klettern kürzerer und leichterer Routen sowie das Kennenlernen der Direttis­sima beim Klettern in Seilschaft gaben mir irgendwann das nötige Selbstvertrauen. Denn nur, wenn die Angst in mir keine übermäßige Nervosität oder gar Panik auslöst, sondern nichts anderes als völlige Konzentration, ist die Angst mein bester Freund. Und nur dann lebe ich meine Passion.

Eine Stunde bin ich unterwegs gewesen, bis ich den Ein­stieg am Fuß der Nordwand der Großen Zinne erreiche. Eine Stunde, in der ich die reale Welt beiläufig wahrnehme. Wie tags zuvor und in der Nacht begleitet mich ein skurriler Zweikampf der Gefühle, der einmal meinen Schritt beschleunigt, mich unruhig macht und hetzt und mich später wieder ruhig werden lässt. Gerade dieser mentale Prozess ist aber beim Bergsteigen alles andere als negativ, sondern ein notwendiges Vorspiel der Gedanken vor dem großen Spiel selbst. Denn die Gefahr ist da, die Frage ist nur: Wie gehe ich damit um? Und offensichtlich hängen dann doch die meisten an ihrem Leben. Die geringe Zahl der Unfälle in der Geschichte des seilfreien Kletterns lässt zumindest darauf schließen, dass lediglich die wenigsten Akteure echte Desperados sind. Jedenfalls fühle ich mich wesent­lich weniger lebensmüde als die vielen Mount-Everest-Aspiranten, die glauben, sich den höchsten Berg der Erde erkaufen zu können. Doch mit dem Zahlen großer Summen wird der Berg zwar scheinbar kleiner, aber deswegen noch lange nicht weniger gefähr­lich. Die wenigsten Bewerber haben als Laien noch nicht einmal den Hauch einer Ahnung, wie vielschichtig und komplex die Gefahren an einem Himalaja-Riesen sind. Ver­schär­fend kommt hinzu, dass auf dem Weg zum Gipfel bei zunehmend dünner Luft mit jedem Höhen­meter mehr und mehr die Vernunft verloren geht. Ihres Verstandes beraubt, schätzen sie den Gipfel höher ein als ihr Leben, und sie gehen so weit, bis nichts mehr geht. Dann wird an Ort und Stelle bei minus 50 Grad auf 8500 Meter Seehöhe biwakiert, als wäre ihnen das eigene Leben nichts mehr wert.

Besser also, wenn man ein reflektierender Mensch ist, der bewusst lebt, die Signale der Umwelt aufnimmt, sie verarbeitet, um dann mit gesundem Menschenverstand zu reagieren. Und das noch viel mehr, wenn ich ohne Sicherung klettere. Hier den Helden spielen zu wollen ist grundverkehrt. Man muss die Angst zulassen, sie zugeben, sich die Angst eingestehen und sie auch richtig ausleben. Erst dann wird sie kontrollierbar. Lieber stelle ich mir die Frage einmal zu viel als einmal zu wenig, ob ich am Ende in die Wand einsteigen soll oder nicht. Auch dann, wenn mich das Ganze fertig macht.

Am Einstieg wird mir ein erstes Mal klar, dass es vielleicht heute nicht der Tag sein wird, an dem ich mein Vorhaben realisiere. Würde ich aber heute abbrechen, so wird der Eindruck, den die Wand auf mich ausübt, unweigerlich steigen. Wo­möglich besteht ohnehin nur diese eine Chance? Erst jetzt wird mir diese Systematik bewusst. Es gibt keinen Versuch „einfach so“. Allein das Vorhaben, es heute versuchen zu wollen, macht mir deutlich, dass es nur das Heute geben kann. Entweder jetzt oder nie!

Die ersten 80 Meter sind nicht schwierig. Keine ernsthaften Probleme tauchen bis dorthin auf, dann kommt die erste Stelle im oberen siebten Grad – der Point of no Return. Wenn ich diesen Punkt überklettere, gibt es nur noch die Flucht nach vorne. Ent­scheide ich mich dort zum Weiterklettern, habe ich die Kon­sequenz zu tragen, die weiteren 500 Meter klettern zu müssen – ob ich will oder nicht. Ich spüre, dass ich es wohl zumindest versuchen muss. Heute oder gar nicht, vielleicht würde sogar ein einziges Mal umzudrehen vor der dritten Seillänge ausreichen, um von der erdrückenden Dimension der Wand erschlagen zu werden.

Noch einmal gehe ich am Wandfuß der Großen Zinne auf und ab. Ich setze mich wieder hin. Meine Gedanken, die voll und ganz von dieser Route gefangen sind, lassen es nicht zu, jetzt abzubrechen, und dieser Zwang macht es mir nicht leichter. Ich bin genau an dem Punkt angekommen, wo ich mir wünsche, dieses Projekt nie ins Auge gefasst zu haben. Aber ich habe keine Wahl mehr, ich muss heute die Entscheidung treffen. Nun bin ich das gehetzte Tier, kauere gespannt und warte auf das, was in den nächsten Minuten passieren wird.

Dann wird’s ernst. Ich kann ja nicht ewig warten. Mechanisch ziehe ich die Kletterschuhe an, ein kurzer Griff ins Magnesia und los geht’s, ich klettere die ersten vier Meter. Es läuft bescheiden. Ein Gedankenchaos beherrscht mich, ich fühle mich in vollem Umfang überfordert. Ich verliere mich selbst, bin total betäubt, spüre nichts – so geht es nicht. Ich steige wieder zurück, setze mich noch einmal am Einstieg hin.

Völlig frustriert geschieht erst mal gar nichts. Tief in mich versunken, lasse ich meinen Geist wieder Boden finden. Gott sei Dank versucht man ja immer, das Positive zu sehen – egal, wie übel es gerade ausschaut. Und ja, es gibt etwas Positives: Ganz offensichtlich ist mir mein Leben mehr wert als diese verdammte Wand! Diese Gewissheit nimmt mir ein großes Stück weit die Angst vor mir selbst. Ja, ich habe beizeiten Angst, nicht mehr Herr der Lage zu sein. Und diese Angst habe ich auch hier vor der Direttissima. Wie oft wird von der hohen Kunst des Umkehrens beim Berg­steigen gesprochen und wie schwer ist es, sie wirklich umzusetzen. Wer ist bei der Entscheidung zum Umkehren nicht schon alles eingeknickt, wenn das Ziel kurz vor der Verwirk­lichung steht?

Mein Zurücksteigen hat mich aber nun auch weitgehend davon überzeugt, dass ich noch Herr der Lage bin und die notwendige Souveränität besitze, knapp vor der finalen Ent­schei­dung abzubrechen. Und das ist gut, die Gedanken werden wieder leichter und in meinem Denken entsteht die Vorstellung, dass ich jetzt tatsächlich die Freiheit besitze, bis zur ersten wirklich schwierigen Stelle hinaufzuklettern, um herauszufinden, wie es an diesem Tag um meine Kraft bestellt ist. Um die Kraft meiner Finger und noch viel mehr um meine mentale Kraft. Diese 80 Meter bis dorthin werden meine Teststrecke sein und erst dann, am Point of no Return, wird ernsthaft eine finale Entscheidung fällig. Für einige wenige Minu­ten habe ich diese nochmals hinausgezögert, aber noch viel wichtiger ist: Ich gebe mir die Chance, auf diesen Metern meinen Lauf zu finden. Ich fühle mich freier.

Ich bin so weit. Kletterschuhe, Magnesia und ich steige ein. Es beginnt leicht, eigentlich spielerisch, alles nur Kletterei in moderat schwierigem Gelände, das bei „Normalzustand“ als Genuss zu bezeichnen ist. Während ich in den Stunden vor dem Durchstieg Angst hatte und übernervös war, verschwindet jetzt, als ich endlich in die Wand hineinklettere, unter dem reibungs­losen »Nor­mal­betrieb« des Kletterns die Betäubung. Nun scheinen die negativen Folgen der Angst in den Hinter­grund zu treten. Meine Welt reduziert sich jetzt nur noch auf die jeweils wenigen Quadrat­zentimeter des nächsten Griffes. Alles mich Umgebende tritt zurück und ich erlebe bloß noch mich selbst.

Ich bringe mein Leben als Einsatz in das Spiel und deswegen wird das Erleben jetzt so tief und intensiv. Nur wer verloren in der Wand direkt und unmittelbar der unbedingten Gefahr für das eigene Leben ausgesetzt ist, wird diese elementare Erfahrung machen, wird spüren, was das eigene Leben bedeutet. Angst empfinden, die mich stets wach und vorsichtig sein lässt. Die Angst, die mir das Überleben sichert. Und so erlebe ich auch hier in der Senkrechten das Wahrhaftige, frei von äuße­rer Einflussnahme, frei von äußerer Kontrolle – die komplette Reduktion auf mich selbst. Die totale Unmittelbarkeit des Todes offeriert ein ungetrübtes Bild auf die Bedeutung des Lebens. Oft genug ist man ja selbst Gefan­gener in seiner Umwelt, der bestehenden Ordnung in seinem Leben. Wenn ich dagegen jetzt den Schritt mache, am Point of no Return weiterklettere und damit unwiderruflich in diese Wand einsteige, dann ist es so, als würde ich die Türe hinter mir schließen. Bis zum Erreichen des Gipfels bin ich in einer anderen Wirklichkeit unterwegs. In einer Welt, in der nur ich existiere, einer Welt, die bloß für mich besteht.

Wie Watte legt sich diese veränderte Wahrnehmung um mich. Wie ein Schweben im Leeren, weit über dem Tal, beziehungslos zur Erde. Zumindest auch weit genug weg, um durch nichts mehr erreichbar zu sein. Ich handle jetzt nur für mich selbst, für mich allein.

Nach gut 60 Metern des Kletterns haben sich viele meiner Zweifel zerstreut, mit jedem Meter habe ich Vertrauen gewonnen. Vertrauen zu mir selbst, dass ich es kann. Noch einmal komme ich auf einem Felsband zu stehen. Jetzt wird es final, nun wird es ernst. Ich klettere in die dritte Seillänge hinein und nach vier Metern erreiche ich den Point of no Return: ein kleines Dach im oberen siebten Grad. Ich kenne die Stelle genau und ohne mir jetzt groß Gedanken zu machen, nehme ich mit der rechten Hand den ersten Griff über dem kleinen Dach, setze den linken Fuß und dann gibt es nur ein kurzes, kaum wahrzunehmendes Anhalten in der Bewegung. Die Ent­schei­dung ist jedoch längst getroffen und ich ziehe weiter, mit der linken Hand zum nächsten Griff, steige über die Dachkante. Gefühlt lag nicht hier, am kritischen Punkt, sondern am Einstieg die Schlüsselstelle – das Verlassen des Bodens war die mentale Barriere, die ich zu überwinden hatte.

Das Soloklettern erfordert sowohl Selbstüberwindung als auch Selbstkontrolle. Erstere hatte ich am Einstieg zu meistern. Und nun, 150 Meter über dem Boden, scheint es die viel einfachere Aufgabe zu sein, die Kontrolle über die Angst zu gewinnen. Ich habe das dazu notwendige Vertrauen, kenne die Route, ihre Schlüsselstellen und bin jetzt aus tiefstem Herzen überzeugt, die Schwierigkeiten jedes einzelnen Kletterzuges dominieren zu können. Meine Reise geht weiter, Meter für Meter hinauf in Richtung Gipfel der Großen Zinne, mit ruhigen, präzisen Bewegungen – und doch gewinne ich schnell an Höhe, weil ich ja keine einzige Sekunde mit Sicherungs­maß­nahmen „verschwende“. Alles habe ich vorher exakt einstudiert und spule nun das Programm Punkt für Punkt ab – fast wie eine Maschine, fast…

Nach acht Seillängen erreiche ich das große Band vor den Schlüsselseillängen. Alles ist bisher völlig reibungslos verlaufen, trotzdem bin ich 50 Minuten ununterbrochen geklettert. Alle Sinne, die mit der Bewegung befasst sind, standen ständig unter Strom, und ich merke, dass es sinnvoll ist, eine Pause zu machen. Ich lege mich flach auf das Band und starre lange Zeit mit bewegungslosem Blick nach oben in die Dächer. Die nächsten 120 Meter sind eindeutig die Schlüsselstelle der Direttis­sima, ein weit überhängendes Bollwerk aus gelbem Dolomit. 120 Klettermeter, drei Seillängen im achten Grad. Noch dazu kann ich die Stand­plätze in dieser Steilheit nicht wie in Seilschaft als Ruhepunkte benutzen. Ich muss die Schwie­rig­kei­ten in einem Zug hinter mich bringen – ohne die Möglichkeit des Rastens, weder für die Kraft noch für die Psyche. Das ist auch genau jener Abschnitt der Wand, in dem die Erstbegeher Dieter Hasse, Lothar Brandler, Jörg Lehne und Siegfried Löw zum großen Teil mit Haken, Hammer und Leiter unterwegs waren, während sie im Rest der Wand viel frei klettern konnten. Hier geht es zur Sache, und vor allem geht es hier im steilsten Teil der Wand auch um die Felsqualität. Die Nordwände der Drei Zinnen sind berüchtigt für ihren Bruch. Auch und gerade in den schwierigsten Stellen der Direttissima finden sich diese brüchigen Griffe, denen ich nicht auch nur in einem einzigen Fall mein Leben anvertrauen darf. Viel Zeit verwendete ich in der Vorbereitung darauf, die Solidität der Griffe zu bestimmen und Sequenzen herauszufinden, die es mir erlauben, auch die schwierigen Stellen mit soliden Griffen zu klettern. Damit ergab sich immer wieder die Notwendigkeit, mit wesentlich kleineren, dafür aber sicheren Griffen zu klettern. Ich steige letztendlich eine durchgehende, 120 Meter lange Seillänge am Stück durch, mit weit kleineren Griffen als denen, die man normalerweise verwenden würde. Daraus resultiert eine Schwie­rig­keit, die man gerne im soliden glatten neunten Grad ansiedeln darf.

Nach 20 Minuten setze ich mich wieder auf, ziehe meine Klet­terschuhe abermals fest, greife in den Magnesiabeutel und klettere los. Wie ein Arbeiter, der nach einer Pause seine Tätigkeit wieder aufnimmt. Allmählich gewinne ich an Höhe, die Ausgesetztheit nimmt zu wie auch die Leere unter den Füßen. Ich komme zum nächsten Hotspot. Mittendrin in den 120 Metern gibt es einen überhängenden, abdrängenden Schulterriss, den ich noch nie trocken erlebt habe und der vermutlich auch nie trocken wird. Aber auch hier habe ich eine Sequenz gefunden, die es mir möglich macht, an zwar kleineren, dafür aber trockenen Griffen zu klettern, bloß der linke Fuß kommt zweimal im nassen Riss zum Einsatz. Alles ist unter Kontrolle. Es geht weiter, ohne große Gedanken, stets im gleichen Rhyth­mus. Immer langsam, stets bedacht auf jedes kleine Detail.

300 Meter über dem Einstieg. Der letzte schwierige Meter vor dem nächsten Band und auch gleichzeitig die Schlüsselstelle liegt vor mir. Das ist der exponierteste Punkt der gesamten Direttis­sima. Alles unter mir bricht überhängend weg, alles um mich herum ist überhängend. Ich hänge ganz allein in dieser jetzt für mich so feindlichen Welt. Die Griffe, denen ich mich anvertraue, sind gut, meine Hände finden ihren Weg zum beruhigenden, staubtrockenen Magnesiapulver. Auch die Griffe auf den kommenden Metern sind gut, liegen aber weit auseinander. Athletische Züge, die entschlossenes Durchziehen verlangen. Noch einmal wandert der Blick nach unten. Der Puls ist ruhig. Ich sehe weit unten das Schuttkar, die kleinen Wege, die zu den Einstiegen der Nordwand führen. Es berührt mich nicht. Ich habe das Vertrauen in mich selbst, dass ich es kann. Wenige konsequente Züge bringen mich in senkrechtes Gelände, noch zwei Meter und ich stehe auf dem kleinen Band. Die große Hürde ist übersprungen. Vor mir liegt nur noch eine überhängende Seillänge, dann bloß mehr vergleichsweise einfaches Gelände entlang einer Kaminreihe bis zum Gipfel.

Erst eine halbe Stunde nachdem ich hier angekommen bin, verlasse ich mein kleines Band und klettere durch die letzten ausgesetzten Meter. Es ist eigentlich nur eine kurze harte Stelle und wie zur Belohnung tauche ich direkt darüber in die Kamine ein. Tief im Berg versteckt, winde ich mich nach oben. Die Schwierigkeiten lassen nach, diktieren nicht weiter den Ablauf des Geschehens. Langsam, aber sicher werden meine Ge­dan­ken wieder frei. Wie von selbst steigt mein Körper nach oben, nimmt mich mit. Kleine Wolken ziehen die Nordwand herauf, lassen die Berge rundherum im Grau verschwinden. Je weiter ich nach oben komme, desto ruhiger werde ich. Und dann, am Ende, der Gipfel. Ein Moment, an dem es weder ein Gestern noch ein Morgen gibt. Ich lebe im Jetzt. Ich lebe das wahre Leben.

Ein Mantra gegen die Angst

Warum geht der eine in der Krise in die Knie – und der andere bleibt stehen?

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Minusgefühle

Mein Leben zwischen Hell und Dunkel

Jana Seelig hat im Netz herausgebrüllt, was es heißt, depressiv zu sein, und ist damit zu einer starken Stimme vieler Betroffener geworden. In „Minusgefühle“ beschreibt sie ihre Niederlagen, ihre Chancen, ihre Traurigkeit und ihren ständigen Kampf gegen die Krankheit. Sie erzählt, was man fühlt, wenn man nichts fühlt. Davon, wie es ist, wenn man alles Mögliche versucht, um überhaupt etwas fühlen zu können: Alkohol, Sex, Drogen — der Versuch, so viel es geht zu leben, kostet sie genau so viel Kraft wie die vielen Erklärungen für Nichtbetroffene. Sprachmächtig und kompromisslos schreibt sie über die Depression, die ein Teil ihres Lebens ist — aber ihr Leben nicht mehr bestimmt.

Prolog



Tagebuchschreiben war noch nie mein Ding. Ich weiß noch, dass ich als Kind immer Unwahrhei ten in mein pinkes Diddl-Buch schrieb. Es hatte Schlösser, die sich viel zu einfach knacken ließen. Man brauchte dazu nicht einmal Haarklammern oder diese anderen Dinge, die Verbrecher immer in Krimis benutzen. Der Verschluss ließ sich mit etwas Fingerspitzen­gefühl ein wenig eindrücken, und schon waren meine Gedanken nicht mehr privat, sondern zugänglich für jeden, der sie lesen wollte – und ich wollte, dass man sie liest. Es waren ja nicht wirklich meine Gedanken, sondern meine Lügen, weil ich meinen eigenen kleinen Kosmos für zu unbedeutend hielt. Ich wollte immer, dass der Nachwelt etwas von mir erhalten bleibt, und so schlitterte ich von Extremen zu Extremen – in meinem Tagebuch. Dieses Tagebuch existiert schon längst nicht mehr. Irgendwann während meiner Pubertät hab ich es feierlich verbrannt und mir zum Ziel gesetzt, meine eigene Geschichte zu erleben. Ich wollte nicht mehr die sein, die ihr Tagebuch und damit auch sich selbst belügt. Vor allem aber auch nicht die, an die man sich wegen ihrer Lügen erinnert.

Seitdem habe ich viele weitere Tagebücher begonnen. Mal schrieb ich in Ringblöcke, mal in wunderschöne Bücher und manchmal auch ins Internet. All diese No­­tizen verstreuten sich irgendwann, sie verloren sich in den Tiefen meines Schreibtisches, in Mülltonnen oder im Netz. Natürlich enthielten sie weiterhin Lügen und oft ein riesengroßes Nichts – nur dass mittlerweile nicht mehr ich Unwahrheiten erzählte, sondern meine Depression, und wenn sie nicht gerade log, dann vergaß sie. Die Abstände zwischen den Zeilen waren teilweise so lang, dass meine eigene Geschichte mir nicht mehr schlüssig erschien. Ich vergaß, was zwischen zwei Liebeskummern passiert war. Oder zwischen zwei tollen Momenten. Weil ich immer zu leer oder zu glücklich war zum Schreiben, und immer dann kam mir das Geschehene irrelevant vor. Eine Geschichte, die keinen roten Faden hat, verfolgt man eben nicht so gern.

Doch irgendwann ging mir auf, dass ebendas mein roter Faden ist. Dass diese Leere zwischen zwei Momenten genau meine Geschichte ist. Dies ist das Tagebuch einer Depression.




1
Nicht einfach nur traurig



Du musst einfach mal klarkommen«, sagt er und wendet sich von mir ab. „Jeder ist mal depressiv. Kein Grund, sich so hängen zu lassen. Merkst du nicht, wie du mich damit belastest?“
Mein Freund Sven hat es noch immer nicht verstanden. Seit zwei Stunden reden wir jetzt über meine De­­pression und die Auswirkungen, die sie auf mich, mein Leben, meinen Job, aber auch auf meine Freundschaften und Beziehungen hat. In den letzten Wochen war sie ständig Thema. Ich bin gerade dabei, in eine meiner de­pressiven Episoden abzurutschen. Die Gründe dafür kann ich erahnen, will sie aber nicht wahrhaben. Ich sehne mich nach ein wenig Verständnis, jemandem, der sagt, dass alles nicht so schlimm ist und dass es okay ist, depressiv zu sein. Ich bin nicht einfach nur traurig oder unzufrieden, sondern schlicht und ergreifend krank, und aus dieser Erkrankung hab ich nie ein Ge­­heimnis vor ihm gemacht. Ich finde es nicht schlimm, depressiv zu sein. Also so ganz grundsätzlich, meine ich. Es gehört eben einfach zu mir, so wie meine Liebe zu Katzen und schlechter Popmusik oder die Tatsache, dass ich keine Augenbrauen hab. Natürlich wäre ich auch lieber gesund, denn ehrlich, wer ist schon gerne krank? Doch man findet sich irgendwann ganz einfach damit ab und lebt damit, so gut es geht.

„Du bist genau wie meine Ex“, fährt er fort. „Die war auch ’ne Borderlinerin.“
„Ich habe kein Borderline, sondern Depressionen“, antworte ich, „und wenn du dich mal ein bisschen mit mir und meiner Krankheit auseinandergesetzt hättest, wüsstest du das auch.“
„Jeder ist mal depressiv“, wiederholt er. »Ich war auch schon depressiv und wollte mir eine Kugel in den Kopf jagen. Wie du siehst, hab ich es geschafft, mich zu­­sammenzureißen. Du musst das endlich auch mal tun. Wenn ich wie du den ganzen Tag vor dem Computer ­sitzen würde, wär ich auch schlecht drauf. Du musst ­einfach mal rausgehen. Unternimm was. Such dir einen neuen Job. Und mach gefälligst nicht alles von mir ab­­hängig. Du kannst deine Depressionen nicht auf mich schieben, ich habe damit nichts zu tun.«
„Wann hab ich denn . . .“, setze ich an, doch Sven unterbricht mich.
„Ich habe keine Lust mehr, mit dir zu diskutieren. Bitte geh. Wenn ich noch länger mit dir rede, werde ich selbst noch depressiv.“
Svens Worte machen mich wütend, doch ich weiß, dass jeder Versuch, ihm meine Lage zu erklären, zwecklos ist. Ich schwinge mir meinen Rucksack über die rechte Schulter und verlasse genervt seine Wohnung. Mir ist klar, dass ich auf normalem Weg nicht an ihn herankomme. Es gibt nur eine Möglichkeit, ihn zu erreichen: Twitter. Auch wenn er niemals zugeben würde, dass er meine Aktivitäten auf der Plattform mit großem Interesse verfolgt, weiß ich, dass er alles liest, was ich dort schreibe.

Ich öffne die App und scrolle durch meine Timeline. Das mache ich immer, bevor ich meine eigenen Worte in die Welt hinausschreibe. An einem Tweet von einem Freund bleibe ich hängen.



@R3nDom
„Hey, Depressionen sind die Geißel der modernen Lebenswelt!“
„Oh? Dann spann mal einen Tag aus, jeder ist mal down. Wird schon wieder.“
15:44 - 10 Nov 2014



Ich drücke auf „retweeten“ und fange dann an, selbst zu schreiben.


@isayshotgun
Wenn ihr selbst keine Depressionen habt, dann dürft ihr auch nicht mitreden und uns sagen, wie es uns zu gehen hat und was wir tun sollen.
15:55 - 10 Nov 2014



@isayshotgun
Mein Leben ist mehr als okay, und ich bin trotzdem depressiv. Nur weil ich alles habe, was ich brauche, muss es mir nicht gut gehen.
15:57 - 10 Nov 2014



Binnen weniger Sekunden werden beide Tweets mehrfach retweetet und mit kleinen gelben Sternchen ver­sehen. Ein Zeichen dafür, dass ich einen Nerv getroffen habe. Dass ich nicht die Einzige bin, der es so geht und die sich von den vielen und oftmals wenig hilfreichen Kommentaren zu ihrer Krankheit in eine Ecke gedrängt fühlt, in der sie nicht sein will.

Die Resonanz ermutigt mich weiterzuschreiben. Ich be­­ginne, meine Geschichte zu erzählen oder zumindest einen Teil davon – immer in der Hoffnung, dass sie vor allem auch bei dem Menschen landet, der mich dazu getrieben hat, überhaupt öffentlich Stellung zu der Thematik zu beziehen. Ich schreibe über meine jahrelange Unwissenheit darüber, was überhaupt mit mir los ist, die Reaktionen meines Umfelds, das Nicht-ernst-ge­­nommen-Werden und die für mich befreiende Diagnose. Ich erzähle dem Internet von meinen Medikamenten, den Schwierigkeiten, die ich damit hatte, und von einem Selbstmordversuch. In Wirklichkeit waren es zwei: einer mit Tabletten, und beim zweiten Mal habe ich versucht, mir die Pulsadern aufzuschneiden. Ich schnitt damals einfach nicht tief genug, und als ich die Tabletten zusammen mit einer Flasche Wodka nahm, passierte gar nichts, außer dass ich mich drei Tage lang nur übergab. Alles, was ich jahrelang in mich hineingefressen habe und aus Angst, in die Geschlossene eingewiesen zu werden, und weil ich nicht bemitleidet werden wollte, nicht einmal meiner Therapeutin erzählt habe, ballere ich ohne den Gedanken an irgendwelche Konsequenzen in das Netz. Dass ich andere damit triggern oder verletzen könnte, ist mir zu diesem Zeitpunkt nicht bewusst.
Meine Notifications blinken im Sekundentakt auf. Die kurzen Texte werden Hunderte Male geteilt und ge­­langen so an immer mehr Menschen, die sie lesen und mit ihren eigenen Followern teilen. Innerhalb weniger Stunden habe ich über 1000 neue Leser hinzugewonnen. Die Zahl übt eine gewisse Faszination auf mich aus. Sind wir wirklich so viele? Bisher hatte ich immer das Ge­­fühl, mit meiner Erkrankung allein zu sein – auch wenn ich natürlich weiß, dass es da draußen unglaublich viele Menschen gibt, die mit denselben Problemen zu kämpfen haben wie ich.

Irgendwann legt sich der Schreibfluss. Ich habe alles gesagt, was ich sagen wollte. Das Fach mit den Direktnachrichten quillt unterdessen über. Sie sind sich alle ziemlich ähnlich: „Ich wusste nicht, dass es dir auch so geht“ oder „Endlich spricht’s mal jemand aus“. Eine Followerin fragt nach, ob ich nicht einen Hashtag für die Tweets machen wolle. Sie habe auch eine Menge zu sagen, ihr persönlich fehle aber die Reichweite, um so viele Leute zu erreichen wie ich. Ein Hashtag würde die Aussagen besser bündeln und so jeden erfassen, der etwas zu sagen habe. Ich schreibe, dass ich keinen Nerv hätte, mich um ein Hashtag zu kümmern, und dass ich mir alles, was ich sagen wollte, bereits von der Seele ge­­schrieben hätte, dass sie sich aber gerne mit einem Hashtag bei mir melden solle, den auch ich an meine Follower geben würde.

Sie schlägt #NotJustSad vor, einen Hashtag, der zuvor bereits im englischsprachigen Raum benutzt wurde, aber dort kaum Beachtung fand. Ich teile den Tweet, in dem sie das Schlagwort erwähnt und schreibt, meine vorangegangenen Tweets hätten sie zu einem Hashtag inspiriert – und dann bricht die Lawine endgültig los. Bereits nach wenigen Minuten ist der Hashtag gefüllt mit Statements anderer Betroffener. Viele davon drücken auch meine Gefühle, oder besser gesagt, Nichtgefühle aus. Die, die mich am meisten berühren, teile ich mit meinen Lesern, schreibe zu manchen ein paar eigene Worte. Mein Handy hört gar nicht mehr auf zu piepen.

Irgendwann schalte ich es aus und mache mich auf den Weg zu Sven. Er hat die kurzen Nachrichten gelesen und möchte nun noch einmal mit mir reden.
Das Gespräch ist eine einzige Katastrophe. Statt auf das, was ich geschrieben habe, einzugehen, greift er mich an.
„Du denkst, du könntest mit ein paar Tweets die Welt verändern. Ich sag dir, was passiert, wenn du Dinge ins Internet schreibst: nichts. Twitter ist genauso irrelevant wie du und sie. Alles, was passieren wird, ist, dass die Leute, die dir folgen, dich für noch gestörter halten, als du eh schon bist.“
„Hab ich jemals irgendwo behauptet, dass ich die Welt verändern will?“, kontere ich. „Ich hab die Tweets für dich geschrieben, damit du mir endlich mal zuhörst. Dass sie auf solche Resonanz stoßen, konnte ich ja wohl nicht ahnen!“
„Feier dich nur dafür ab“, sagt er, und ich frage mich, wo ich mich gerade feiere. „Morgen wird es schon vergessen sein. Du kannst mich mit ein paar Tweets nicht erpressen.“
„Wo hab ich dich denn erpr . . .?“
»Erreich erst mal was Richtiges, dann reden wir ­weiter.«
„Wow“, sage ich, „kaum hab ich mal das Gefühl, dass du endlich kapiert hast, um was es hier eigentlich geht, beweist du, dass es nicht so ist. Und genau deshalb rede ich so gern mit Twitter.“
„Du drohst mir?“
„Du kapierst es nicht.“
Wütend knalle ich die Tür hinter mir ins Schloss. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Sven mir hinterherkommt, also renne ich die Stufen bis zur Eingangstür hinunter, so schnell ich kann. Draußen angekommen, lasse ich mich auf der Treppe nieder, drehe mir eine Zigarette und schalte mein Handy wieder ein. Noch bevor ich unten angekommen war, hat er mir eine Mail geschrieben. Ich ignoriere sie und öffne stattdessen Twitter. Mehr als 300 neue Mitteilungen haben sich angesammelt. Dazu kommen viele Nachrichten per E-Mail und WhatsApp. Ich beantworte die wichtigsten in wenigen Sätzen und twittere, dass ich mich aus der Diskussion fürs Erste herausziehe, die unter dem Hashtag gesammelten Statements aber trotzdem lesen werde.
Natürlich halte ich mich nicht daran. Bis tief in die Nacht sitze ich da, lese die kurzen Texte anderer Be­­troffener und schreibe selbst noch viele weitere dazu. Irgendwann bringt meine Mitbewohnerin frisch gebackene Kekse an mein Bett, und wir entscheiden uns dafür, unseren Mitbewohner zu wecken, um eine Runde Scrabble zu spielen. Ich gewinne haushoch und verabschiede mich gegen halb fünf mit den Worten „Das abgebrochene Germanistikstudium muss ja für was gut gewesen sein“ ins Bett.

Als ich gegen elf Uhr aufwache und einen Blick auf mein Handy werfe, trifft mich fast der Schlag. Hunderte neue Nachrichten sind in den letzten Stunden eingegangen, private SMS von Freunden, Familie und Menschen aus der Schul- und Unizeit, die ich längst vergessen habe. Auch mein Nachrichtenfach bei Facebook quillt über, selbst meine beiden privaten E-Mail-Postfächer blieben nicht verschont. Ich habe Mühe, alle Nachrichten zu lesen, und frage mich immer wieder, wie all diese Menschen mich so schnell im Netz finden konnten. Neben vielen sehr persönlichen E-Mails sind auch Interviewanfragen darunter, die sich auf einen Artikel beziehen, der am frühen Morgen erschienen sein muss. Ich klicke auf einen der angehängten Links, und es öffnet sich eine Website, auf der ein großes Foto von mir prangt. Die Überschrift enthält den Hashtag #NotJustSad und meinen Klarnamen, den ich bisher, so gut es ging, aus dem Internet herausgehalten habe. Mein Pseudonym „Jenna Shotgun“ hat mich immer beschützt, war immer mehr Kunstperson als das reale Ich. Noch bevor ich den Artikel zu Ende gelesen habe, kommen mir die Tränen. Ich bin schlicht und ergreifend überfordert von der Resonanz, auf die ich mit ein paar in den Raum geworfenen Worten gestoßen bin. Trotzdem klicke ich mich durch alle Texte, versuche, sie, so gut es geht, zu beantworten.
Auch eine Mail von Sven ist darunter:

Du bist in allen großen Zeitungen. Gut gemacht, ich bin stolz auf dich. Mach da weiter, wo du angesetzt hast, und gehe gut mit dem Ruhm um. Auf dich werden jetzt große Dinge zukommen.

Ich verstehe nicht, was genau er damit meint. Er, der mich gestern noch für meine Worte angegriffen und gesagt hat, dass man mit Twitter nichts erreicht. Abge­sehen davon, dass ich nicht mal was erreichen wollte, außer dass er endlich kapiert, wie es mir geht.

Plötzlich klingelt das Telefon, eine unbekannte Nummer. Überfordert von den ganzen Reaktionen auf meine Tweets, hebe ich ab, obwohl ich sonst eigentlich nie rangehe, wenn ich nicht weiß, wer mich anruft. Es ist ein großer deutscher Fernsehsender, die Nummer haben sie von einem meiner Freunde. Sie wollen noch am selben Abend mit mir drehen. Ohne zu wissen, was ich da gerade tue, sage ich zu. Die Sache ist nämlich die: Im Moment fühle ich nichts. Keine Freude darüber, dass ich anscheinend eine sehr wichtige Diskussion in Gang gesetzt hab. Und keine Angst vor dem, was mich erwarten könnte.
Ich fühle mich leer und bin mir nur einer Sache be­­wusst: dass ich das Bild, das die Medien gerade von mir schaffen, so lange es nur geht, aufrechterhalten muss.

Du bist für viele jetzt ein Vorbild, geht die Mail von Sven weiter. Sorg dafür, dass das so bleibt, und lass dich nicht unterkriegen, Kleines.