100 Gramm Wodka 100 Gramm Wodka - eBook-Ausgabe
Auf Spurensuche in Russland
„Ein hinreißendes Buch!“ - Dresdner Neueste Nachrichten
100 Gramm Wodka — Inhalt
Was hat es mit dem geheimnisvollen Himbeersee auf sich, an dem seine Großmutter unter Stalin zehn Jahre in einem Straflager war? Wie kam es, dass seine Mutter den Geburtsort „Soda-Kombinat“ im Pass trägt? Fredy Gareis wächst als Kind von Russlanddeutschen auf – mit vielen offenen Fragen. Und so macht er sich mit 39 Jahren selbst auf, das Riesenland im Osten zu erkunden. Drei Monate fährt er mit einem alten Militärjeep, mit dem Zug und per Anhalter quer durch Russland, wandelt auf den Spuren seiner Familie, setzt das Puzzle seiner Kindheit zusammen, übersteht Wodkaexzesse, macht hinreißende Zufallsbekanntschaften und versucht nebenbei zu ergründen, wie die Menschen im Land von Putin wirklich denken und fühlen.
Leseprobe zu „100 Gramm Wodka“
Ein Ende, ein Anfang
Mutter weint.
Wir stehen auf dem Parkplatz vor unserem Hochhaus; ihr Schluchzen ist das einzige Geräusch zwischen den Betonmauern der Sozialbauten. Es ist Samstagmorgen, fünf Uhr. Die Nacht verabschiedet sich, und der Tag bricht an.
„Fahr du, bitte“, sagt sie mit matter Stimme und drückt mir den Schlüssel in die Hand.
Ich starte den Motor und lenke den Wagen durch die Häuserreihen zum Autobahnanschluss Rüsselsheim-Mitte, fahre auf die Rampe und gebe Gas. „Nicht so schnell“, mahnt mich meine Mutter. Sie hat kein Interesse, allzu rasch [...]
Ein Ende, ein Anfang
Mutter weint.
Wir stehen auf dem Parkplatz vor unserem Hochhaus; ihr Schluchzen ist das einzige Geräusch zwischen den Betonmauern der Sozialbauten. Es ist Samstagmorgen, fünf Uhr. Die Nacht verabschiedet sich, und der Tag bricht an.
„Fahr du, bitte“, sagt sie mit matter Stimme und drückt mir den Schlüssel in die Hand.
Ich starte den Motor und lenke den Wagen durch die Häuserreihen zum Autobahnanschluss Rüsselsheim-Mitte, fahre auf die Rampe und gebe Gas. „Nicht so schnell“, mahnt mich meine Mutter. Sie hat kein Interesse, allzu rasch ans Ziel zu kommen.
Über den Zuckerrübenfeldern der Riedlandschaft steigt langsam die Sonne auf und taucht alles in ein helles Orange. Der Himmel ist sattblau und wolkenlos. Wann habe ich meine Mutter zum letzten Mal weinen sehen?
Ein Opel Astra setzt zum Überholen an. Ohne Eile zieht er an uns vorbei. Ich schaue hinüber. Hinter den halb offenen Scheiben ein Pärchen: sie mit einer Zigarette in der Hand, er mit einem Hut auf dem Kopf. Beide lachen, auf dem Dach liegen zwei Surfbretter. Leise höre ich meine Mutter neben mir wieder schluchzen.
Wenige Autos auf der Straße. Man braucht schon einen guten Grund, um um fünf Uhr morgens an einem Samstag unterwegs zu sein: eine Geburt, eine Hochzeit, eine Familienfeier. Oder man fährt in den Urlaub.
Der Opel setzt sich vor uns auf die rechte Spur und fährt langsam davon. Ich lege meine rechte Hand auf Mutters Oberschenkel, aber sie nimmt sie nicht. Sie ist damit beschäftigt, sich die Tränen aus den Augen zu wischen.
Im Gegensatz zu den Distanzen, die meine Familie einst in Russland zurücklegen musste, sind die 65 Kilometer zwischen Rüsselsheim und Mannheim ein Katzensprung. Jeden Sonntag sind wir diese Strecke gefahren, um Großmutter zu besuchen.
Wir passieren eine Fabrik zu unserer Rechten, aus deren Fassade sich eine Metalllippe hervorschiebt. Sie hat mich schon immer an ein trotziges Gesicht erinnert und gleichzeitig angekündigt, dass wir bald da sein würden. Gleich säße ich an Großmutters Tisch, vor mir einen Teller Borschtsch mit einer Haube Smetana, russischem Schmand, später würde ich im Wohnzimmer fernsehen, während sich die Verwandtschaft in der Küche verschanzte und sich mit klirrenden Wodkagläsern zuprostete.
Ich fahre von der Autobahn ab, vorbei an einem heruntergekommenen Bau, der früher als Lager für Russlanddeutsche diente, und parke im Stadtteil Rheinau direkt vor Großmutters Wohnung. Sie saß immer am Fenster und wartete auf uns, winkte, und ein Lächeln schlich über ihr Gesicht, während wir aus dem Auto stiegen.
Diesmal bewegen sich die Gardinen nicht.
Wortlos gehen wir auf das Haus zu. Mutter weint immer noch. Ich will sie in den Arm nehmen, aber sie läuft so schnell die Treppe hoch, dass ich kaum hinterherkomme. Sie stolpert durch die Tür, durch den kleinen Flur ins Schlafzimmer und fällt direkt vor Großmutters Bett auf die Knie.
Großmutter liegt auf dem Rücken, der Körper kerzengerade, die Hände über dem Bauch gefaltet, die Lippen schon blau.
Mutter greift nach diesen Händen, die vor Jahrzehnten im sibirischen Straflager mit Eisenstangen Soda gebrochen haben. Jetzt ist die Haut durchscheinend, von Äderchen durchzogen, dünn wie Pergament, und ich bilde mir ein, ein Knistern zu hören, als Mutter die starren Hände der Toten anhebt und an ihr Gesicht legt.
Oh Mamutschka … oh Mamutschka.
Ich muss an meinen Besuch bei meiner Großmutter vor ein paar Wochen denken. „Ich bin müde“, klagte sie, „ich will schon lange nicht mehr.“ Ständig war sie krank, der Mann verstorben, die Verwandten wohnten weit weg. Vielleicht, dachte ich, fehlt ihr auch eine Aufgabe – so wie damals, als es darum ging, Stalin und Sibirien zu überleben und die Familie nach Deutschland zu bringen.
Ich lasse meine Mutter allein und gehe in die Küche, setze mich an den Tisch mit der dicken Plastikdecke, die an den Ecken mit Metallklemmen befestigt ist. Nie wieder wird meine Großmutter mir ein Stück Napoleontorte abschneiden, nie wieder werden wir gemeinsam Kaffee aus einer Untertasse schlürfen, nie wieder vor der kleinen Stereoanlage sitzen und den Schlagerklassiker von Dschinghis Khan schmettern: „Moskau, Moskau, wirf die Gläser an die Wand – Russland ist ein schönes Land, hahahaha!“ Bald wird die Wohnung leer geräumt sein, und alles, was sich hier drin befindet, wird nur noch in meiner Erinnerung existieren. Dabei hätte ich noch so viele Fragen an meine Großmutter gehabt.
Ihre Stimme erfüllt meinen Kopf.
„Propaganda!“, schallte es aus der Küche. „Propaganda!“ Und dabei knallte Großmutter ein Glas auf den Tisch – wahrscheinlich verschüttete sie Wodka; alles so laut, dass es bis ins Wohnzimmer zu hören war.
Den Rest konnte ich nicht verstehen, denn die anwesende Verwandtschaft unterhielt sich auf Russisch. Ich war zehn Jahre alt und selbst in der Sowjetunion geboren, aber zu der Welt hinter der Küchentür hatte ich keinen Zugang. Ich durfte noch dabei zuschauen, wie Großmutter mehrere Laibe Brot auf den Tisch legte, riesige Einmachgläser mit sauren Tomaten öffnete, geräucherten Hering aufschnitt, eine Schüssel mit Pelmeni, Teigtaschen, in die Mitte stellte und an jedes Tischende eine Flasche Wodka mit blauem Etikett. Doch dann hieß es für mich: ab ins Wohnzimmer! Die Diskussionen wurden immer hitziger – ich musste den Fernseher lauter stellen. Heute weiß ich: In der Küche war Russland oder, besser, die Sowjetunion. Da wurden die Erinnerungen an den Kommunismus wach, an die Straflager, an den Hunger. Ins Wohnzimmer verscheucht, saß dort die nächste Generation, die damit nichts mehr zu tun haben sollte.
„Was wir erlebt haben, soll dich nichts angehen“, sagte Großmutter immer. „Das hier ist ein anderes Leben. Wir haben all das durchgestanden, damit ihr es einmal besser habt.“
Meine Oma war 1976 über das Durchgangslager Friedland nach Mannheim ausgesiedelt, ein Jahr später folgte ihre Tochter mit mir. Mit dem Grenzübertritt wollte meine Mutter die Sowjetunion für immer hinter sich lassen. Sie passte sich an, wie man sich nur anpassen kann, wurde bisweilen deutscher als die Deutschen und weigerte sich, zu Hause Russisch zu reden.
Jahre später, als ich anfing, mich mit meiner Familienbiografie und damit mit Russland zu beschäftigen, fiel mir der Ausweis meiner Mutter in die Hände. Als Geburtsort steht da: „Soda-Kombinat, UdSSR“. Das Straflager, in dem Großmutter elf Jahre lang für Stalin schuften musste und schließlich ihre Tochter gebar. Mutter riss mir den Ausweis aus der Hand und sagte nur: „Das geht dich nichts an!“
Sie schämt sich bis heute für diesen Eintrag, für dieses bürokratische Überbleibsel aus der Ära Stalin, das sie bis an ihr Lebensende begleiten wird.
Erst in späteren Jahren begann Großmutter, mir am Küchentisch Geschichten zu erzählen – vom Werben der deutschstämmigen Zarin Katharina der Großen um Siedler vor allem aus der alten Heimat, vom langen Treck Zehntausender Deutscher, Schweizer und Elsässer in den Osten, vom Leben der Kolonisten an der Wolga und in Bessarabien, vom Straflager in Sibirien, aber auch von der Enttäuschung, dass sie in Deutschland nicht das Zuhause gefunden hatte, von dem sie in der fernen Weite der sibirischen Steppe geträumt hatte.
„Weißt du, Fredy, der Himmel hängt auch hier nicht voller Geigen. In Russland waren wir die Fritzen. In Deutschland sind wir die Russen. So richtig gehören wir nirgendwo dazu.“
Sie starb, wie alle Großmütter, viel zu früh.
Am Ende bleiben mir 600 Euro in einem Umschlag, zwei Fotoalben mit Schwarz-Weiß-Aufnahmen von Menschen, deren Namen ich nicht kenne und deren Vergangenheit mir fremd ist, zwei Ordner mit Unterlagen über die Umsiedlung, ein Adressbüchlein, ein maschinengeschriebener Lebenslauf, der 1976 schließt, als wäre der Neuanfang das Ende.
Ich blättere eine Weile durch die Unterlagen, diese Dokumente der Migration, der Enteignung und der Verfolgung, und erinnere mich gleichzeitig daran, wie sehr Großmutter die Seifenoper „Reich und Schön“ liebte. Sie verpasste nie eine Folge. Dann gehe ich wieder ins Schlafzimmer zu meiner Mutter. Sie kniet immer noch am Bett. Auf dem Nachttisch stehen ein paar gerahmte Fotos, sie zeigen meine Oma stolz in einem Pelzmantel, eine goldene Brosche am Revers. Nie trat sie ungeschminkt vor die Tür; als es mit der Gesundheit bergab ging, wollte sie noch nicht mal die Verwandtschaft empfangen, damit keiner sah, wie es um sie stand.
Wie lange werde ich sie so lebendig noch im Gedächtnis behalten? Wie lange wird es dauern, bis diese Bilder anfangen zu schwinden und ich mich nicht mehr daran erinnern kann, dass sie immer nur Chanel N°5 benutzte und die Speisekammer so vollgestopft mit eingemachter Marmelade war, dass der nächste Weltkrieg für diejenigen, die bei meiner Großmutter Unterschlupf gefunden hätten, sehr süß geworden wäre?
Durch die Balkontür weht ein Luftzug herein, und ich rieche die Lilien aus dem kleinen Park, der direkt an die Wohnung grenzt. Die Vorhänge flattern sanft. Ich knie neben meiner Mutter nieder. Wir weinen gemeinsam. Es ist ein Ende, und es ist ein Anfang.
Санкт-Петербург:
Der Westen im Osten
Die fremde Seele
Ein paar Jahre später, an einem Sonntag im August, sitze ich im Flugzeug Richtung Sankt Petersburg, und alles, was ich unter mir sehe, ist ein grünes Meer aus Bäumen.
Hinter mir liegen Interviews mit Bekannten und Verwandten. Ein Treffen mit meinem Vater, den ich seit 20 Jahren nicht mehr gesehen hatte. Abende, an denen ich über meiner Reiseroute brütete, und Nächte, in denen ich auf Russisch träumte.
Jetzt schwinden die Kilometer bis zur Ankunft in dem Land, das sich über neun Zeitzonen erstreckt, doppelt so groß wie die USA ist, dabei aber nur halb so viele Einwohner hat. Ein Land, von dem es heißt, dass man es nicht mit dem Verstand fassen kann. Ein Land, dessen Seele mir so fremd ist wie der dunkle Wald da unter mir – und das doch die Heimat meiner Familie war.
Neben mir sitzen zwei Frauen. „Und Sie, junger Mann? Was haben Sie in Russland vor?“, spricht mich die deutlich Ältere der beiden an.
„Ich will mir ein Auto kaufen und bis zum Pazifik fahren“, antworte ich wahrheitsgemäß.
„Sie wollen sich ein Auto in Russland kaufen?“ Beide schauen mich ungläubig an. „Und bis zum Pazifik? Durch die Taiga? Wieso das denn?“
„Warum denn nicht?“
„Aber in der Taiga ist absolut nichts, da wird man von der Leere verschluckt!“, gibt die Ältere zu bedenken.
„So schlimm wird es hoffentlich nicht sein. Ich war schon an ganz anderen Orten.“
„Vielleicht“, entgegnet die junge Frau skeptisch, „aber die Taiga ist anders. Da herrschen Gesetze, die du nicht kennst. Die Bären werden dich zum Frühstück verspeisen!“
Dann wendet sie sich der alten Dame zu, und die beiden fangen an, sich über die Situation in der Ukraine zu unterhalten. Vor Kurzem erst hat Russland die Krim annektiert; ich höre sie davon reden, dass man den ukrainischen Drecksäcken und Verrätern, diesen Faschisten, keinen Meter geben dürfe. Und schon sind wir bei Putin. Wie gut es sei, einen Mann an der Spitze des Staates zu haben, der mit der so oft zitierten silnaja ruka regiere, der eisernen Faust.
Ungewöhnlich ist das nicht. Es gibt eine Denkschule, die besagt, dass Russland für immer eine Autokratie sein werde, dass westliche Regierungsformen in diesem Riesenland schlicht nicht funktionierten. Es sei einfach zu groß und zu chaotisch, Macht könne unter diesen Umständen nicht dezentralisiert werden. Im Gegenteil: Nur mit eiserner Faust lasse sich das gigantische Reich zusammenhalten. Vielleicht ist diese Argumentation zu einfach, dennoch zieht sich das Phänomen wie ein roter Faden durch die russische Geschichte, von den frühesten Herrschern bis heute.
Schließlich setzt die Maschine unter dem Applaus der Passagiere auf, rollt aus und entlässt uns in das brandneue Terminal des Flughafens Pulkowo, in dem die Böden und die Glasflächen auf Hochglanz poliert sind und die Zöllnerinnen in Miniröcken und auf Stöckelschuhen umherlaufen. Das Klack-klack, die Vorliebe der russischen Frauen für Absätze, wird mich über 12.000 Kilometer bis nach Magadan am Pazifik begleiten.
Meine Mutter will nie wieder einen Fuß in dieses Land setzen, aber ich stehe jetzt hier und warte, bis die Beamtin in dem Glaskasten meinen Pass stempelt. Ein russisches Sprichwort kommt mir in den Sinn: „Du suchst den gestrigen Tag – er ist bereits vergangen.“ Maybe so. Aber ohne Gestern kein Heute, oder?
In der U-Bahn rattere ich Richtung Stadtzentrum. Das Innenlicht flackert. Vom Band Informationen in der Landessprache über die nächsten Stationen. Ich hoffe, dass sich mein verschüttetes Russisch möglichst schnell wieder zutage fördern lässt, sodass ich nicht stumm durch dieses Land laufen werde wie einst meine Vorfahren. Daher kommt der Begriff für die Deutschen: nemetz – stumm. Bei der großen Einwanderungswelle im 18. Jahrhundert wurden alle Ausländer so bezeichnet: „Einen Deutschen nennt man bei uns jeden“, schrieb Nikolai Gogol 1832, „der aus einem fremden Land stammt, sei er nun Franzose oder Großkaiserlicher oder Schwede, immer ist er ein Deutscher.“ Während die anderen Völker im Laufe der Zeit andere Namen bekamen, blieb der Begriff „stumm“ an den Deutschen haften, das war das namentliche Schicksal der größten Einwanderergruppe.
Am Newski-Prospekt, der Hauptader der Stadt, erblicke ich wieder das Licht der Welt. Bei 32 Grad im Schatten läuft mir nach ein paar Minuten schon der Schweiß über den Rücken. Ich suche mein Hotel auf diesem endlosen Boulevard, dessen Häuserzeilen früher Metzger, Bäcker und Fischverkäufer beherbergten und wo vor knapp 100 Jahren 150.000 Arbeiter marschierten und „Brot, Brot, Brot!“ skandierten. Bewaffnet mit Messern und Hämmern, stellten sie sich gegen die Kräfte des Zarenregimes. Bald war die Monarchie der Romanows am Ende, und die Symbole der Revolution – die gebrochene Kette und die strahlende Sonne – erschienen auf Bannern und Zeitungsköpfen.
Heute reiht sich am Schauplatz der Russischen Revolution, die am Ende das zaristische Joch durch das kommunistische ersetzte, Restaurant an Restaurant; ihre Markisen hängen träge in der schwülen Luft. Die Männer auf den Terrassen ignorieren die zahllosen Frauen in luftigen Kleidchen und auf klippenhohen High Heels. Ein alltäglicher Anblick, an den sie sich schon lange gewöhnt haben. Sie interessieren sich eher für die BMWs und Audis und deren Fahrer, die an der roten Ampel mit nervösen Sohlen die Maschinen hochjagen und dann bei Grün über den Boulevard donnern, als gäben die Lichter das Signal für die Daytona 500. Das kraftvolle Röhren der Motoren hallt von den historischen Mauern wider, aber die Palais und Kirchen haben in den drei Jahrhunderten ihres Bestehens schon ganz anderes erlebt.
Alessia ist so zierlich, dass sie in ihrem SUV nahezu verschwindet. Sie hat grüne Augen, ist 27 und die Freundin einer Freundin aus Berlin, die sich bereit erklärt hat, mir einen ersten Überblick über Sankt Petersburg zu verschaffen. „Steig ein“, sagt sie, und ich ziehe die Tür des BMW hinter mir zu.
Handzahm fahren wir den Newski-Prospekt entlang, vorbei an den Touristenmassen, den zahlreichen Kanälen, der riesigen Kasaner Kathedrale. Nach einer Brücke machen wir eine Kehrtwende, sodass ich einen Panoramablick auf diese bombastische Stadt habe, die in der untergehenden Sonne glüht. Die Wolken leuchten fast purpurn.
Der Maßstab der Fünfmillionenstadt, ihre Größe und Wirkung sind fast surreal: die unendlichen Boulevards, die weitläufigen Plätze und die Weißen Nächte, wenn die Sonne fast nicht untergeht. Eine Stadt der Ausblicke und des Lichts, errichtet mit den Idealen der Aufklärung von einem jungen Zaren, der sich in den westlichen Ländern gebildet hatte.
Als Peter der Große die Stadt 1703 gründete, rümpfte der russische Adel kollektiv die Nase: ein sumpfiges Loch an der Mündung der Newa im abgelegenen Nordwesten des Reichs, am Finnischen Meerbusen? Unerhört! Aber bald schon sollte Petersburg der alten Hauptstadt Moskau den Rang streitig machen und zukünftige Generationen inspirieren. Auch wenn zu Beginn der Adel noch per Dekret in die neue Stadt beordert werden musste.
Peters Lebensstil würde man heute unter der Kategorie „work hard – play hard“ verbuchen. Er trank und feierte tatsächlich wie ein Großer, während er gleichzeitig Russlands Gesellschaft und Politik von Grund auf umkrempelte, um endlich auf Augenhöhe mit den Großmächten Frankreich, Großbritannien und Spanien zu gelangen. Alexander Puschkin, der Vater der russischen Literatur, spricht ein gutes Jahrhundert später in seinem Gedicht „Der eherne Reiter“ davon, dass Peter mit seiner Stadt „ein Fenster nach Europa hin“ geöffnet habe.
Das Fenster mag der Herrscher geöffnet haben, gebaut aber haben es Zehntausende Leibeigene, die zwangsrekrutiert worden waren und während der Schufterei für Peters Vision an Skorbut, der Ruhr, an Hunger und Erschöpfung starben.
Alessia arbeitet für eine Filmproduktionsfirma, und Sankt Petersburg ist für sie die schönste Stadt der Welt. Trotzdem denkt sie darüber nach, ihr und ihrem Land den Rücken zu kehren.
„Es wird immer schlimmer“, meint sie, als wir unsere kleine Rundfahrt fortsetzen und an der Universität vorbeikommen. „Schon jetzt darf man nichts Negatives mehr über die Annexion der Krim sagen. Aber viele denken natürlich auch ganz anders darüber, finden es gut, wie Putin das Land führt.“
An einem Park hält Alessia an, und wir steigen aus. „Hast du schon was gegessen?“ Ohne meine Antwort abzuwarten, stellt sie sich in die Schlange eines Imbisses.
„Hier.“ Kurze Zeit später drückt sie mir einen Pfannkuchen mit Erdbeermarmelade in die Hand. „Sind zwar nicht die besten der Stadt, schmecken aber ganz ordentlich.“ Dazu reicht sie mir ein Gläschen Wodka. Sto gramm – 100 Gramm. Eine gängige Trinkgröße in diesem Land.
„Willkommen in Russland“, sagt sie, warnt mich aber im selben Atemzug: „Pass auf, im Glas ertrinken hier mehr Menschen als im Meer.“
Wir setzen uns auf eine Parkbank und beobachten das Treiben. In der Mitte des Platzes sprudelt eine Fontäne. Um den Brunnen torkeln mehrere Männer in blau-weiß gestreiften Shirts und mit Käppi auf dem Kopf. Einige liegen bewusstlos auf dem Boden, andere werden von ihren Kameraden aus dem Delirium geohrfeigt, nur damit diese ihnen gleich die nächste Flasche in die Hand drücken können.
„Was ist denn hier los?“, frage ich verwundert.
„Heute ist der Tag der Seestreitkräfte“, erklärt Alessia.
„Und an dem betrinkt man sich einfach hemmungslos?“
„Ja, das artet immer etwas aus. Aber keine Angst, die sind alle so blau, die tun dir nichts.“ Dennoch rät mir Alessia, wie später viele andere, auch zur Vorsicht in ihrem Land: „Vor allem in den Dörfern. Ich würde da nie aus dem Auto steigen. Da laufen mir viel zu viele Betrunkene rum, und auf die Polizei kannst du auch nicht zählen – die ist komplett korrupt.“
„Ich dachte, Putin bekämpft die Korruption.“
„Stimmt auch, aber du wirst da draußen schon merken, dass Moskau verdammt weit weg ist“, entgegnet sie mit ernster Miene.
Ich lehne mich zurück und genieße meinen Pfannkuchen. Ein Junge läuft aufgedreht über den Platz, direkt in einen Pulk pickender Tauben hinein. Ihre Mahlzeit endet in aufgescheuchtem Durcheinander. Der kollektive Flügelschlag übertönt kurz das Gejohle der Besoffenen am Brunnen, die sich so feuchtfröhlich in den Armen liegen, als wären sie siegreich aus einem Krieg zurückgekehrt. Ich muss daran denken, dass die aktuelle politische Lage bereits an den Kalten Krieg erinnert und momentan nichts darauf hindeutet, dass sich das Verhältnis zwischen Russland und dem Westen in nächster Zeit entspannen könnte.
Die 100 Gramm Wodka brennen mir in der Kehle. Wahrscheinlich sollte ich mich daran gewöhnen. In meinem Kopf höre ich, wie in der Küche meiner Großmutter die Gläser klirren.
„Der bemerkenswerte Reisebericht wurde heuer mit dem ITB Award ausgezeichnet.“
„Der Autor schafft es mit seinen Worten mich als Leser mitzunehmen auf eine Reise in dieses Land. (...) Ein ganz persönlicher Reisebericht über Russland – fesselnd zu lesen.“
„wunderbares Buch“
„Er zeigt dem Leser Russland mit all seinen Facetten, mit pulsierenden Großstädten und öden Steppen, mit herzlichen Menschen, aber auch mit einem misstrauischen Staat, der seine Ohren scheinbar überall hat.“
„Ein hinreißendes Buch!“
„fesselnder Reisebericht“
„Hinreißender, feuchtfröhlicher und bisweilen halsbrecherischer Roadtrip durch ein Land voller Widersprüche.“
„Der fesselnde Bericht einer persönlichen Spurensuche, voller abenteuerlicher Erlebnisse, skurriler Begegnungen und berührender Momente.“
„Die wichtigste Erfahrung seiner Reise ist für ihn daher, nicht nur Geschichten darüber zu hören, woher seine Familie kommt, sondern seine eigenen Erlebnisse zu ergänzen. Auch damit die Geschichten der Verwandten nicht mit ihnen sterben.“
„Das Buch kratzt an der Seele. Es nähert sich Russland mit Entdeckerfreude, die aber nicht unbefangen ist.“
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