1923 – Kampf um die Republik 1923 – Kampf um die Republik - eBook-Ausgabe
„Kein anderes Werk bietet wohl auf dem vorhandenen Platz mehr Details und Einzelheiten.“ - Süddeutsche Zeitung
1923 – Kampf um die Republik — Inhalt
Ein deutsches Schicksalsjahr
Das unter den Folgen des verlorenen Weltkriegs ächzende Deutschland kann die ihm auferlegten Reparationen nicht mehr leisten. Franzosen und Belgier besetzen daraufhin das Ruhrgebiet. Berlin reagiert mit passivem Widerstand, doch die ohnehin zerrütteten Staatsfinanzen sind damit hoffnungslos überfordert. Die Folgen sind eine nie dagewesene Inflation, Verelendung und Radikalisierung. Gleichzeitig unterstützt Paris den Separatismus. Moskau und die KPD nutzen das Chaos für den Umsturz, den sie als entscheidenden Schritt zur Weltrevolution ansehen. Und die Hitler-Bewegung macht sich bereit für den Sturm auf die Republik. Eine ausweglose Lage für die politisch Verantwortlichen in Berlin, die um den Fortbestand eines demokratisch verfassten Reiches kämpfen. Fesselnd erzählt Ralf Georg Reuth die Geschichte dieses deutschen Schicksalsjahrs, die nicht zuletzt auch ein Lehrstück für die Gegenwart ist.
Leseprobe zu „1923 – Kampf um die Republik“
Der Weg in die große Krise
November 1918 – Dezember 1922
In der Silvesternacht 1922/23 wird in Berlins Ballhäusern und Varietés gefeiert, als gäbe es kein Morgen, zumindest von denen, die es sich leisten können. Dahinter verbirgt sich eine trotzige Gier nach Leben, haftet doch der deutschen Gegenwart etwas Finales an. Ein diffuses Gefühl hat sich breitgemacht, dass alles ohnehin zu Ende gehe. Denn Deutschland ächzt unter der Last der Kriegsfolgen, unter der Last der äußeren Bedrohungen und der ins Uferlose angestiegenen Inflation, die so vielen alles [...]
Der Weg in die große Krise
November 1918 – Dezember 1922
In der Silvesternacht 1922/23 wird in Berlins Ballhäusern und Varietés gefeiert, als gäbe es kein Morgen, zumindest von denen, die es sich leisten können. Dahinter verbirgt sich eine trotzige Gier nach Leben, haftet doch der deutschen Gegenwart etwas Finales an. Ein diffuses Gefühl hat sich breitgemacht, dass alles ohnehin zu Ende gehe. Denn Deutschland ächzt unter der Last der Kriegsfolgen, unter der Last der äußeren Bedrohungen und der ins Uferlose angestiegenen Inflation, die so vielen alles genommen hat. Hinzu kommt, dass nichts mehr ist, wie es einmal war. Einen gemeinsamen Kanon mit seinen althergebrachten Tugenden gibt es längst nicht mehr, genauso wenig ein verbindendes und verbindliches Weltbild, das die Nation einmal zusammengehalten hat. Stattdessen herrschen Klassenkampf und Klassenhass und als Antwort darauf die Angst vor dem bolschewistischen Schreckgespenst; und weil man es für ein „jüdisches Schreckgespenst“ hält, nimmt auch der Antisemitismus zu. Überhaupt ist die Angst vor dem Morgen die Grundstimmung, die die deutsche Gesellschaft beherrscht, eine Gesellschaft, in der sich die einen nach weggeworfenen Zigarettenstummeln bücken oder als Kriegskrüppel auf Brettern über die Bürgersteige rollen, während die anderen auf dem Vulkan tanzen und das Trugbild einer faszinierenden Zeit vermitteln. Der Maler und Karikaturist George Grosz schreibt in seiner Autobiografie darüber: „Es war eine völlig negative Welt, mit buntem Schaum obenauf […]. Dicht unter dieser lebendigen Oberfläche, die so schön wie ein Sumpf schillerte und ganz kurzweilig war, lagen der Bruderhass und die Zerrissenheit […].“[i]
Bruderhass und Zerrissenheit hatten mit dem Trauma des verlorenen Weltkriegs zu tun, der zwei Millionen deutschen Soldaten das Leben gekostet hatte. Und sie hatten mit der Revolution des Novembers 1918 zu tun, als die Matrosen in den Kriegshäfen meuterten und rote Fahnen auf den Schiffen aufzogen. Jene, die seit Jahren tatenlos herumgelungert hatten, war doch die Kriegsflotte seit der Skagerrak-Schlacht im Sommer 1916 nicht mehr ausgelaufen, wollten sich nicht mehr in einem letzten Gefecht verheizen lassen. So taten sie es vielmehr ihren russischen Brüdern gleich, die im Jahr zuvor mit den Schüssen des Panzerkreuzers Aurora in Petersburg die Revolution eingeleitet hatten. Von den norddeutschen Küsten weitete sich die Revolte, die eigentlich eine Friedensrevolte war, einem Flächenbrand gleich auf ganz Deutschland aus. Der Kaiser musste abdanken, und die Reaktion, die diesen fürchterlichen Krieg mitverantwortet hatte, lag am Boden. Das Ancien Régime fand ein klägliches Ende. Doch die, die jetzt die Macht in Händen hielten, waren uneins, wie das politische Deutschland in Zukunft aussehen sollte. Die dominierenden Mehrheitssozialdemokraten (MSPD) um Philipp Scheidemann und Friedrich Ebert wollten eine parlamentarische Demokratie. Die äußerste Linke um Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht trat mit Teilen der Unabhängigen Sozialdemokraten (Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands, USPD) für eine Räterepublik nach russischem Vorbild ein. So wurden am 9. November 1918 zwei ganz und gar unterschiedliche Republiken ausgerufen. Und die Gräben zwischen den Gemäßigten und den Radikalen, die sich zunächst unter Führung der MSPD zu einer provisorischen Regierung, dem Rat der Volksbeauftragten, zusammengefunden hatten, sollten bald immer tiefer werden.
Im Dezember 1918 kam es dann zum Bruch. Die USPD kündigte der MSPD die Zusammenarbeit auf, indem sie den Rat der Volksbeauftragten verließ und sich gegen die schnelle Wahl einer Nationalversammlung aussprach. Die zum Jahreswechsel 1918/19 aus Teilen der USPD und anderen linken Gruppierungen gegründete KPD verweigerte sich diesen Wahlen vollends und ging den Weg der revolutionär-außerparlamentarischen Opposition – denselben Weg, den Lenin 1917 in Russland beschritt, nachdem er erkannt hatte, dass seine Bolschewiki auf demokratischem Weg nicht die Macht würden erringen können. Im Januar 1919 probten die deutschen Kommunisten den Umsturz. Doch der Berliner Spartakusaufstand wurde unter der Verantwortung des Sozialdemokraten Gustav Noske mit Waffengewalt niedergeschlagen. Der Tod Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts – Freikorpsangehörige liquidierten sie – zerschnitt unwiderruflich die letzten Bande innerhalb der Linken. Die Folge: In Deutschland zogen für die kommenden Jahre bürgerkriegsähnliche Zustände herauf.
Und dennoch fasste die Demokratie unter Führung der MSPD Tritt, da sie den Pakt mit dem alten Heer geschlossen hatte, dessen neuer Chef Wilhelm Groener sich zur Republik bekannte. Was hätten die Mehrheitssozialdemokraten auch anderes tun können, wollten sie der „große[n] Drohung […], die 1918 über Deutschland hing“,[ii] begegnen? Der linksliberale Hugo Preuß, der die Weimarer Reichsverfassung entwarf, brachte auf den Punkt, um was es ging: „Die Wahl ist Lenin oder Wilson.“[iii] Und diese Wahl konnte nur mithilfe des Heeres entschieden werden, zumal auf der Seite der Linken nicht nur bewaffnete Arbeiter standen, sondern auch reguläre Marineeinheiten. Ein wichtiger Grund für das Bündnis mit dem Heer war für die führenden Mehrheitssozialdemokraten – allen voran für Friedrich Ebert, den Vorsitzenden des Rates der Volksbeauftragten und baldigen Reichspräsidenten – außerdem das Ziel, die Millionen Kriegsheimkehrer in den neuen Staat „mitzunehmen“. So gelang es, dass am 19. Januar 1919 eine Nationalversammlung gewählt werden konnte, die dann wegen des Spartakistenaufstands in der Reichshauptstadt ins abgelegene Weimar einberufen werden musste.
Die Wahl war eine Sternstunde der Demokratie in Deutschland, handelte es sich doch um die erste freie, gleiche und geheime Abstimmung im Lande, an der jetzt auch Frauen teilnehmen durften. Die sogenannte Weimarer Koalition aus MSPD, der katholischen Zentrumspartei und liberaler Deutscher Demokratischer Partei (DDP), die die Regierung stellen sollte, erreichte dabei 76,2 Prozent der abgegebenen Stimmen. 37,9 Prozent davon entfielen auf die MSPD. Die Kräfte der Reaktion waren vernichtend geschlagen. Die Deutschnationale Volkspartei (DNVP) erhielt gerade einmal 10,3 Prozent. Die Deutsche Volkspartei (DVP) 4,4 Prozent. Die USPD kam auf 7,6 Prozent der Stimmen. Es war dies ein beeindruckendes Zeugnis der Deutschen für eine demokratisch-republikanische und damit friedfertige Zukunft ihres Landes, ein Zeugnis aus der Geburtsstunde der deutschen Demokratie, das heute nahezu in Vergessenheit geraten ist.
Doch diese friedfertige Zukunft war den Deutschen nicht vergönnt. Die radikalen Revolutionäre, die sich zum Jahreswechsel 1918/19 mit Teilen der USPD zur KPD zusammenschlossen und sich als Vorhut der von Moskau ausgerufenen proletarischen Weltrevolution ansahen, ließen nichts unversucht, diese jetzt auch in Deutschland zu entfachen. Sie waren hierbei schon seit dem Herbst aus der russischen Botschaft in Berlin unterstützt worden, worauf die Reichsregierung die diplomatischen Beziehungen zu Moskau abgebrochen hatte. Mit dem beginnenden Frühjahr 1919 dauerten in der Hauptstadt die revolutionären Unruhen an. Im März kam es in Berlin zu Kämpfen. Doch es gelang der durch Freikorpsverbände verstärkten Reichswehr, die Spartakisten ein weiteres Mal niederzuwerfen. Das änderte jedoch nichts daran, dass in fast zwanzig Städten über ganz Deutschland verteilt Räte die Macht übernahmen. Begeistert telegrafierte Grigori J. Sinowjew, der Vorsitzende des Exekutivausschusses der Kommunistischen Internationale (Komintern), nach München, wo sowjettreue Revolutionäre die Macht übernommen hatten, dass nunmehr „drei Sowjetrepubliken [existieren]: Russland, Ungarn und Bayern“. Und er fügte noch hinzu, dass in einem Jahr Europa kommunistisch sein werde.[iv] Lenin richtete eine Grußbotschaft an die Führer der Räterepublik und bat darum, informiert zu werden, „welche Maßnahmen sie zum Kampf gegen die bürgerlichen Henker Scheidemann und Co. durchgeführt haben“.[v]
Die Angst ging seitdem in der bürgerlichen Gesellschaft in Deutschland um, die Angst vor den „russischen Verhältnissen“, also vor nie da gewesener Gewalt und Grausamkeit, wie man es vom russischen Bürgerkrieg immer wieder hörte. Ein düsteres Bild der Zukunft breitete sich aus. Pessimismus überall. Der in Berlin lebende russische Publizist Elias Hurwicz analysierte damals, es überwiege in Deutschland das Gefühl, der Bolschewismus sei ein „reißender Strom oder zumindest eine geistige Welle von übergroßer Ansteckungskraft oder doch endlich eine unabwendbare, eine neue Ära der Menschheit einleitende, sozialistische Reaktion auf den Weltkrieg, die, ob schnell oder langsam, aber jedenfalls sicher die ganze zivilisierte Welt überfluten wird“.[vi] Zeitgenossen wie der Schriftsteller Thomas Mann, der Diplomat und Schöngeist Harry Graf Kessler oder der protestantische Theologe und Kulturphilosoph Ernst Troeltsch sahen die Arme der „bolschewistischen Krake“ das alte Europa umschlingen.
Mit der bolschewistischen Bedrohung wurde der Antisemitismus befeuert. Denn nicht nur in Deutschland war es seit den Revolutionstagen eine sich rasch ausbreitende, bald vorherrschende Auffassung, dass der Bolschewismus jüdisch sei. Überall war es zu lesen. Mitunter wurde der Eindruck der Zusammengehörigkeit von Bolschewismus und Judentum von Juden selbst genährt, wenn zum Beispiel der Londoner Jewish Chronicle im April 1919 schrieb, dass die Botschaft des Bolschewismus in zentralen Punkten mit den Ideen des Judaismus übereinstimme.[vii] Man hob dabei offenbar auf die zionistische Weltbewegung ab, die eine sozialistische war. Theodor Herzl, ihr Begründer, hatte bereits in seinem kurz vor der Jahrhundertwende erschienenen Buch Der Judenstaat geschrieben, dass seine Glaubensbrüder „nach unten hin zu Umstürzlern proletarisiert“ würden und „die Unteroffiziere der revolutionären Parteien“ bildeten.[viii] Dass der Bolschewismus jüdisch sei, schien tatsächlich vor allem die große Anzahl seiner jüdischstämmigen Führer nahezulegen. So waren im ersten siebenköpfigen Politbüro der Kommunistischen Partei Russlands (KPR) mit Trotzki (Bronstein), Sinowjew (Apfelbaum), Lew Kamenew (Rosenfeld) und Grigori Sokolnikow (Hirsch) vier Mitglieder jüdischer Herkunft. Bei den Revolutionären in Ungarn und Deutschland war der Anteil der jüdischstämmigen Männer und Frauen ebenfalls ein hoher. Zu ihnen gehörten – um nur einige zu nennen – Béla Kun, Rosa Luxemburg und Paul Levi, ebenso die meisten der führenden bayerischen Räterevolutionäre.
So wundert es nicht, dass auch der amerikanische Präsident Wilson überzeugt war, dass der Bolschewismus jüdisch geführt werde.[ix] Winston Churchill, der britische Kriegsminister, bezeichnete die bolschewistischen Juden als „bemerkenswerte Bande“, die sich zu den unbestrittenen Herren im russischen Riesenreich aufgeschwungen hätten. „Ein bedeutender, wenn nicht tatsächlich der Hauptteil des Terrorsystems […] wurde von Juden ausgeübt […]“, meinte Churchill zu wissen.[x] Und er irrte sich offensichtlich nicht, denn Trotzki beklagte – laut Protokoll einer Politbürositzung vom April 1919 –, dass „unter den Tscheka-Mitarbeitern an der Front, den Exekutivkomitee-Mitarbeitern an und hinter der Front sowie bei den zentralen Sowjetbehörden […] der Anteil der Letten und Juden sehr hoch“ sei.[xi]
Gustav Stresemann, der DVP-Vorsitzende, schrieb 1920: „Jüdische Führer waren an der revolutionären Bewegung in Deutschland ebenso beteiligt, wie in der bolschewistischen Umwälzung in Russland, Ungarn und Bayern. In den Tagen der letzten Märzereignisse wurde an jeder Straßenecke des Berliner Westens der Bolschewismus von jüdischen Persönlichkeiten galizischen Ursprungs gepredigt […].“ Gleichzeitig hätten „die Fälschung von Geld, von Zinsscheinen der Kriegsanleihen, Schiebungen und Schleichhandel in den gemeinsten Formen […] ihren Einzug in Berlin gehalten“.[xii] Für Stresemann, der mit einer jüdischstämmigen Frau verheiratet war und viele einflussreiche Juden seine Freunde nannte, war klar, dass diese „Ostjuden“ nichts im Reich verloren hatten – eine Auffassung, die auch von Vertretern jüdischer Organisationen geteilt wurde.
Der Mythos vom „jüdischen Bolschewismus“ verbreitete sich vor allem auch im von der Revolution erschütterten Bayern. So hieß es Anfang Dezember 1918 im inoffiziellen Organ der katholischen Bayerischen Volkspartei (BVP): Die Parteimitglieder „achten und ehren jeden ehrlichen Juden. […] Was aber bekämpft werden muss, das sind die zahlreichen atheistischen Elemente eines gewissenlosen internationalen Judentums mit vorwiegend russischer Färbung“.[xiii] Gemeint waren damit die von Russland angeleiteten bolschewistischen Revolutionäre. Diese wurden von den alteingesessenen Glaubensjuden ebenso als große Bedrohung für die bürgerliche Welt, zu der sie gehörten, angesehen. Nicht wenige jüdischstämmige demobilisierte Soldaten hatten sich sogar entschlossen, in Freikorpsverbänden gegen die russischen Bolschewisten zu kämpfen.
Die Gleichsetzung von Kommunismus und Judentum war eine der „desaströsesten Konsequenzen“ der russischen Revolution.[xiv] Denn hierin lag die Hauptursache für den sich ausbreitenden Antisemitismus, besonders in den von Not und Elend heimgesuchten Ländern der Kriegsverlierer. Vermengt mit dem sozial motivierten Ressentiment wurde der Kampf der äußersten Rechten gegen den kulturzerstörerischen Bolschewismus in Deutschland oft zu einem Kampf gegen das Judentum als solchem – gegen ein Judentum, das ein zentraler Träger der Kultur war, die man zu verteidigen vorgab.
Nicht minder folgenschwer für die Zukunft der sich tapfer behauptenden Republik war der Ausgang der Friedensverhandlungen, die seit Januar 1919 in den Pariser Vororten stattfanden. Jäh zerstoben die mehrheitssozialdemokratischen Hoffnungen, Deutschland werde einmal – so wie es dem amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson ursprünglich vorgeschwebt hatte – einen gleichberechtigten Platz in der Gemeinschaft der westlichen Demokratien erhalten. Wilsons Vorstellungen von einer künftigen Neuordnung Europas beruhten auf den Grundsätzen der Demokratie und des Rechts sowie auf dem Selbstbestimmungsrecht der Völker. In Versailles war davon keine Rede mehr, und dies, obwohl Berlin mit dem Ende der Monarchie und der Einführung der Demokratie den Vorstellungen und Forderungen des Amerikaners voll entsprach. Und mehr noch: Deutschland hatte zudem die überaus harten Waffenstillstandsbedingungen von Compiègne akzeptiert. So räumte es die besetzten Gebiete, zog Truppen hinter den Rhein zurück und erbrachte darüber hinaus beträchtliche Sachleistungen. Aus dem Blickwinkel der sozialdemokratisch geführten Reichsregierung stand einem gerechten Frieden wenig im Wege.
Doch die Wunden, die der furchtbare Krieg geschlagen hatte, waren zu tief, der Hass noch zu jung und der Wunsch nach Abrechnung noch zu brennend. So hatte das, was Anfang Mai 1919 in Versailles den Deutschen diktiert wurde, nichts mit den Vorstellungen der Reichsregierung von einer künftigen Friedensordnung zu tun. Es hatte auch nichts mehr mit den Prinzipien eines Woodrow Wilson zu tun. Und es hatte auch nur sehr bedingt mit den Vorstellungen des britischen Premierministers David Lloyd George zu tun, der Deutschland im Zuge der Londoner Gleichgewichtsdoktrin als wirtschaftlichen und politischen Faktor im Spiel der kontinentaleuropäischen Mächte halbwegs erhalten wissen wollte. Beide beugten sich dem Druck des französischen Ministerpräsidenten Georges Clemenceau, für den es darauf ankam, den Erbfeind durch die Friedensbedingungen so nachhaltig wie möglich zu schwächen.
Dies geschah, indem dem Deutschen Reich eine Vereinigung mit Deutsch-Österreich untersagt wurde, wie sie die demokratisch gewählten und sozialdemokratisch geführten Regierungen in Berlin und Wien beschlossen hatten. Außerdem mussten beide Staaten auch fast ausschließlich deutschsprachige Gebiete abtreten, etwas, vor dem Lloyd George gewarnt hatte, könne er sich doch „keinen stärkeren Grund für einen künftigen Krieg denken“.[xv] So kam Südtirol zu Italien, das Sudetenland zur neu entstandenen Tschechoslowakei. Nicht ausschließlich von Deutschen besiedelte Reichsgebiete wie Posen und Westpreußen gingen an das wiedererstandene Polen, Eupen-Malmedy an Belgien, Nordschleswig an Dänemark. Hinzu kamen Gebiete, wie ein Teil Oberschlesiens und das Saarland, bei denen erst Volksabstimmungen über ihren Verbleib entscheiden sollten. Und das Rheinland sollte für einen Zeitraum von 15 Jahren besetzt werden. Am Ende ging ein Siebtel des Reichsgebiets verloren, auf dessen Fläche sich wichtige Schlüsselindustrien befanden und sechseinhalb Millionen Menschen lebten.
Doch damit nicht genug. Die Vertragsbedingungen sahen vor, Deutschland, das auch sämtliche Kolonien abzutreten hatte, militärisch zu einer Quantité négligeable zu machen. Das Heer, der einstige Stolz der Nation, sollte hierzu auf 100 000 Mann, die Marine auf 15 000 Mann begrenzt werden. Die Kriegsflotte, das Lieblingskind des Kaisers, war größtenteils abzuliefern. In der Bucht von Scapa Flow versenkten sich dann im Juni 1919 74 deutsche Kriegsschiffe selbst, worauf die Entente die Ablieferung fast der gesamten deutschen Handelsflotte verlangte. Ergänzend zu alldem sah der Vertrag von Versailles die Entmilitarisierung der linksrheinischen Gebiete und eines 50 Kilometer breiten Streifens rechts des Rheins vor, samt der Schleifung der dortigen Festungen sowie der Auflösung sämtlicher Garnisonen.
Darüber hinaus wurden Deutschland in dem monströsen Vertragswerk mit seinen 440 Artikeln, in dem selbst der Umfang der Polizeikräfte der Reichsländer festgeschrieben war, gewaltige Sachleistungen abverlangt. So sollten 60 Prozent der deutschen Kohleförderung für einen Zeitraum von zehn Jahren an die Entente-Mächte abgeführt werden. Ferner sollten 90 Prozent der deutschen Handelsschiffe, fast alle modernen Lokomotiven, Hunderttausende Eisenbahnwaggons, jedes zweite Binnenschiff, mehr als die Hälfte des Milchviehbestands sowie ein Viertel der Erzeugung an chemischen und pharmazeutischen Produkten abgegeben werden – und dies, obwohl die verlangten Gebietsabtretungen allein bereits zu einem Verlust von 50 Prozent der Eisenerzversorgung, 25 Prozent der Steinkohleförderung, 17 Prozent der Kartoffel- und 13 Prozent der Weizenernte führten.
Doch die „Großen Vier“, die Staatenlenker Frankreichs, Großbritanniens, der Vereinigten Staaten und Italiens, die der deutschen Verhandlungsdelegation den Zutritt zum Versailler Schloss nur durch einen Nebeneingang gestatteten, wollten es damit noch nicht bewenden lassen: Deutschland sollte auch noch finanzielle Wiedergutmachung leisten. Auf deren Größenordnung hatten sich die Siegermächte noch nicht geeinigt. Lediglich eine Abschlagszahlung in Höhe von 20 Milliarden Goldmark in Form von Devisen und Sachleistungen war für die Jahre 1919, 1920 und die ersten vier Monate des Jahres 1921 vorgesehen. Das entsprach 7168 Tonnen Gold. Die endgültige Summe sollte eine alliierte Wiedergutmachungskommission am 1. Mai 1921 festlegen. Die Besiegten mussten jegliche Entschädigungssumme im Voraus akzeptieren. Denn gegen alle historische Wirklichkeit verfügte der sogenannte Kriegsschuldartikel (Artikel 231), „dass Deutschland und seine Verbündeten als alleiniger Urheber des Krieges für alle Verluste und Schäden verantwortlich sind, welche die Alliierten erlitten haben“.[xvi] Deshalb blieb Deutschland auch die Aufnahme in den Völkerbund der zivilisierten Nationen verwehrt.
[i] George Grosz: Ein kleines Ja und ein großes Nein. Sein Leben von ihm selbst erzählt, Frankfurt am Main 2009, S. 181 ff.
[ii] David Zieblatt in: Andreas Christoph Schmidt: Musste Weimar scheitern? RBB-Dokumentation, Erstausstrahlung 4. 2. 2019, ARD.
[iii] Ebda.
[iv] Peter Rindl: Der internationale Kommunismus, München 1961, S. 19.
[v] Zit. nach: Ernst Nolte: Die Weimarer Republik. Demokratie zwischen Lenin und Hitler (weiterhin zitiert Nolte, Weimarer Republik), München 2006, S. 57.
[vi] David Eliasberg: Russischer und Münchner Bolschewismus, in: Die Ausbreitung des Bolschewismus. Süddeutsche Monatshefte, April 1919, S. 69.
[vii] The Jewish Chronicle vom 4. 4. 1919.
[viii] Theodor Herzl: Der Judenstaat, Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage, Zürich 1988 (Erstausgabe 1896), S. 33.
[ix] Szajkowski, Zosa: Jews, Wars and Communism, Vol. II, New York 1974, S. 153.
[x] Illustrated Sunday Herald vom 8. 2. 1920.
[xi] Alexander Solchenizyn: Zweihundert Jahre zusammen. Die Juden in der Sowjetunion, München 2003, S. 136 f.
[xii] Zit. nach Kahl Heinrich Pohl: Gustav Stresemann. Biografie eines Grenzgängers, Göttingen 2015, S. 99.
[xiii] Thomas Weber: Wie Adolf Hitler zum Nazi wurde. Vom unpolitischen Soldaten zum Autor von „Mein Kampf“, Berlin 2016, S. 135.
[xiv] Richard Pipes: Jews and the Russian Revolution, in: Polin, Vol. 9 (1999), S. 55.
[xv] Klaus Schwabe (Hrsg.): Quellen zum Friedensschluss von Versailles, Darmstadt 1997, S. 156 ff.
[xvi] Versailles 1919. Aus der Sicht von Zeitzeugen, München 2002 (weiterhin zit.: Versailles, Zeitzeugen), Der Wortlaut des Vertrages ist von S. 112 ff. abgedruckt, hier S. 222.
„Eines der positiven Merkmale des Buches ist, dass Reuth einen ausgezeichneten Überblick über das Jahr 1923 gibt. Er verschafft der Leserschaft eine Vorstellung davon, wie sich die politische Landschaft in dieser Zeit veränderte, und zeigt, wie die Krise von 1923 das politische System in Deutschland destabilisierte.“
„Eine fundierte, wissenschaftliche Darstellung.“
„Kein anderes Werk bietet wohl auf dem vorhandenen Platz mehr Details und Einzelheiten.“
DATENSCHUTZ & Einwilligung für das Kommentieren auf der Website des Piper Verlags
Die Piper Verlag GmbH, Georgenstraße 4, 80799 München, info@piper.de verarbeitet Ihre personenbezogenen Daten (Name, Email, Kommentar) zum Zwecke des Kommentierens einzelner Bücher oder Blogartikel und zur Marktforschung (Analyse des Inhalts). Rechtsgrundlage hierfür ist Ihre Einwilligung gemäß Art 6I a), 7, EU DSGVO, sowie § 7 II Nr.3, UWG.
Sind Sie noch nicht 16 Jahre alt, muss zwingend eine Einwilligung Ihrer Eltern / Vormund vorliegen. Bitte nehmen Sie in diesem Fall direkt Kontakt zu uns auf. Sie selbst können in diesem Fall keine rechtsgültige Einwilligung abgeben.
Mit der Eingabe Ihrer personenbezogenen Daten bestätigen Sie, dass Sie die Kommentarfunktion auf unserer Seite öffentlich nutzen möchten. Ihre Daten werden in unserem CMS Typo3 gespeichert. Eine sonstige Übermittlung z.B. in andere Länder findet nicht statt.
Sollte das kommentierte Werk nicht mehr lieferbar sein bzw. der Blogartikel gelöscht werden, ist auch Ihr Kommentar nicht mehr öffentlich sichtbar.
Wir behalten uns vor, Kommentare zu prüfen, zu editieren und gegebenenfalls zu löschen.
Ihre Daten werden nur solange gespeichert, wie Sie es wünschen. Sie haben das Recht auf Auskunft, auf Berichtigung, auf Löschung, auf Einschränkung der Verarbeitung, ein Widerspruchsrecht, ein Recht auf Datenübertragbarkeit, sowie ein Recht auf Widerruf Ihrer Einwilligung. Im Falle eines Widerrufs wird Ihr Kommentar von uns umgehend gelöscht. Nehmen Sie in diesen Fällen am besten über E-Mail, info@piper.de, Kontakt zu uns auf. Sie können uns aber auch einen Brief schicken. Sie erhalten nach Eingang umgehend eine Rückmeldung. Ihnen steht, sofern Sie der Meinung sind, dass wir Ihre personenbezogenen Daten nicht ordnungsgemäß verarbeiten ein Beschwerderecht bei einer Aufsichtsbehörde zu. Bei weiteren Fragen wenden Sie sich gerne an unseren Datenschutzbeauftragten, den Sie unter datenschutz@piper.de erreichen.