Albert Bonnier und seine Zeit Albert Bonnier und seine Zeit - eBook-Ausgabe
„Ein äußerst lesenswerter Band“ - Börsenblatt
Albert Bonnier und seine Zeit — Inhalt
Albert Bonnier kam 1835 als Sohn eines jüdischen Buchhändlers von Kopenhagen nach Stockholm. Zwei Jahre später veröffentlichte er sein erstes Buch. Alberts Zeiten standen im Zeichen des Wandels: technisch, politisch, sozial, wirtschaftlich - und literarisch. Als er 1900 starb, war er der bedeutendste Herausgeber schwedischer Belletristik. Dass er diese Position trotz des Antisemitismus, der ihm entgegengebracht wurde, erreichte, grenzt an ein Wunder.
Dies ist die Geschichte von Schwedens erstem modernen Verlag, der Mutter des Piper Verlags, der sich ständig an dem journalistischen Prinzip orientiert, das er sich zu eigen gemacht hat: verbreiten, nicht beurteilen.
Leseprobe zu „Albert Bonnier und seine Zeit“
EINLEITUNG
Stockholm 1838
1838, während der letzten Augustabende, als die milde Spätsommerdämmerung über Stockholm hereinbrach, wurde der Frieden von johlenden Menschenmengen gestört, die durch die Gamla Stan zogen. Alle hatten reichlich dem Branntwein zugesprochen, der damals in Schweden noch für den Hausbedarf destilliert werden durfte. Sie warfen Steine, prügelten und pöbelten.
Diese Unruhen folgten auf die vorangegangenen sogenannten Crusenstolpe-Krawalle.
Die von sozialen Missverhältnissen und der autoritären Herrschaft Karls XIV. Johan ausgelösten [...]
EINLEITUNG
Stockholm 1838
1838, während der letzten Augustabende, als die milde Spätsommerdämmerung über Stockholm hereinbrach, wurde der Frieden von johlenden Menschenmengen gestört, die durch die Gamla Stan zogen. Alle hatten reichlich dem Branntwein zugesprochen, der damals in Schweden noch für den Hausbedarf destilliert werden durfte. Sie warfen Steine, prügelten und pöbelten.
Diese Unruhen folgten auf die vorangegangenen sogenannten Crusenstolpe-Krawalle.
Die von sozialen Missverhältnissen und der autoritären Herrschaft Karls XIV. Johan ausgelösten Spannungen hatten bereits seit Längerem zugenommen. Die Lage eskalierte, nachdem der beliebte rabulistische Skribent Magnus Jacob Crusenstolpe, einer der schärfsten Kritiker des Königs, zu drei Jahren Festungshaft verurteilt worden war, weil er den König und die Regierung bezichtigt hatte, gegen das Gebot der Sonntagsruhe verstoßen zu haben, als sie eine Ernennung an einem Sonntag vornahmen. Die Unzufriedenheit führte zu Gewalttätigkeiten, die ihren Höhepunkt am 19. Juli erreichten. Das Militär griff ein und tötete zwei Demonstranten.
Anschließend breitete sich eine nervöse Ruhe in der schwedischen Hauptstadt aus, aber Ende August und Anfang September war es wieder so weit. Jetzt richtete sich der Zorn nicht nur gegen die Herrschenden, sondern auch gegen eine kleine, nur ein paar Hundert Personen umfassende religiöse Minderheit in einer Stadt, die damals etwa 80 000 Einwohner besaß. Diese Leute bezeichnete man als Anhänger des mosaischen Glaubensbekenntnisses, mit anderen Worten waren es Juden. Im gesamten schwedischen Reich betrug ihre Zahl etwa 900. Sie lebten mit wenigen Ausnahmen in vier Städten, denn nur hier durften sie wohnen und arbeiten. Unter ihnen befanden sich drei Brüder, die ursprünglich aus Kopenhagen stammten: Adolf, Albert und David Felix Bonnier.
Besonders Albert, der mittlere, würde einmal von sich reden machen.
Mit knapp fünfzehn war er 1835 nach Stockholm gekommen, um als Gehilfe in Adolfs Buchhandlung am Storkyrkobrinken 12 in der Gamla Stan zu arbeiten. Alberts wirkliches Interesse galt jedoch dem Verlegen von Büchern. Bereits 1837 gab er von seinen Ersparnissen seine erste Schrift, damals sprach man von Verlagsartikeln, heraus, ein satirisches und aus dem Französischen übersetztes Pamphlet, Bevis att Napoleon aldrig har existerat. Stort erratum (Beweis, dass Napoleon nie existiert hat. Großes Erratum), das einen gewissen Erfolg erzielte und daher in einer zweiten Auflage erschien. Die Dinge ließen sich also vielversprechend an. Aber bereits ein Jahr darauf musste Albert aus nächster Nähe einen besonders gewaltsamen Ausbruch antisemitischer Stimmungen erleben, der sein Leben und Wirken, wenn auch abgeschwächt, überschattete.
Nie war Schweden einem Pogrom so nahe wie zu jenem Zeitpunkt.
***
Am Dienstagabend, dem 28. August, und in der Nacht darauf wurden Wohnungen von Juden in der Stora Nygatan, der Västerlånggatan und am Järntorget von wütenden Volksmengen angegriffen. Das Geräusch splitternden Glases pflanzte sich durch die Straßen und Gassen der Gamla Stan fort.
Die Aufregung nahm zu, und am 30. August befürchtete Oberstatthalter Axel Johan Adam Möllerhjelm, der höchste zivile Stockholmer Verwaltungschef, dass die Situation vollkommen ausufern könnte. Er warnte vor „einem Versuch, gegen die Juden der Stadt eine starke, vorsätzliche Verfolgung durchzuführen“.
Verängstigte jüdische Familien wandten sich an die Behörden und forderten Schutz, den sie auch erhielten.
Dass es mit diesem Schutz nicht immer zum Besten stand, ließ sich dem 1830 von Lars Johan Hierta gegründeten Aftonbladet entnehmen.
Am 31. August berichtete die Zeitung von einem gewissen Herrn Rossbach, der bei einer Begegnung mit den Dragonern, die zur Wiederherstellung der Ordnung abkommandiert worden waren, zu Schaden gekommen war. Auf dem Heimweg hatte Rossbach darum gebeten, eine Patrouille passieren zu dürfen, und grünes Licht erhalten. Kaum hatten er und seine Gesellschaft sich in Bewegung gesetzt, als ihm einer der Dragoner nachjagte:
„Er rannte daraufhin in eine Gasse, wurde aber von dem Reiter verfolgt, der begann, ihn mit seinem Säbel zu schlagen. Er fuhr lange damit fort, obwohl die ganze Nachbarschaft hörte, dass Rossbach laut rief: ›Was wollt ihr, um Gottes willen? Ich habe doch nichts gesagt und getan‹ usw. Schließlich verlor Rossbach nach einem Schlag den Hut, und als er sich vorbeugte, um ihn aufzuheben, erhielt er einen Schwerthieb auf den Arm und anschließend noch mehrere weitere.“
Am folgenden Tag veröffentlichte das Aftonbladet ein wenig zerknirscht eine Ergänzung:
„Herr Rossbach ist Mitglied der jüdischen Gemeinde, was nicht unerwähnt bleiben sollte, insbesondere deswegen, weil er sich als älterer Mann mit Familie nicht im Geringsten gegen die Wache vergangen haben kann, sondern vollkommen unschuldig und ohne jeden Grund verfolgt und misshandelt wurde.“
Der auslösende Faktor des Tumults war das sogenannte Emanzipationsedikt, eine königliche Verordnung vom 30. Juni „bezüglich der Schuldigkeiten und Rechte der mosaischen Glaubensbekenner hier im Reiche“. Sie hob eine Verordnung vom Mai 1782 auf, die als Judenreglement (judereglementet) bezeichnet wurde. Die neue Verordnung sah erweiterte Rechte für die jüdische Minorität vor, nicht zuletzt eine freiere Wohnsitzwahl.
Gustav III. hatte 1774 dem jüdischen Kaufmann und Siegelgraveur Aron Isak (Aaron Isaac) aus Brandenburg erlaubt, sich in Stockholm anzusiedeln, ohne konvertieren zu müssen. Isak gelang es, einflussreiche Persönlichkeiten, u. a. den Oberstatthalter Carl Sparre, dafür zu gewinnen, Angehörige und Freunde in sein neues Heimatland nachholen zu dürfen. Das markierte den Beginn der jüdischen Einwanderung nach Schweden, allerdings in äußerst begrenztem Umfang.
Juden erhielten die Genehmigung zur Religionsausübung im streng protestantischen Schweden. Aber nach preußischem Vorbild wurden Vorschriften, das Reglement, erlassen, die das Leben dieser Juden regelten. Sie durften Synagogen bauen und eine begrenzte Anzahl Berufe ausüben. Die Beschränkungen waren einschneidend. Wie einschneidend, wird durch die Liste der Handwerksberufe deutlich, die Juden ausüben durften:
„Ein Jude darf sich im Übrigen durch Kunstmalerei ernähren, durchs Kupferstechen, Petschaftgravieren, durchs Schleifen von Diamanten und anderen Edelsteinen, durch optisches Glasschleifen sowie das Verfertigen von diversen mathematischen und mechanischen Instrumenten sowie Muster- und Schablonenzeichnen, Stickerei und andere spezielle Nähte, Lackherstellung, Korkschneiden und ähnliche Arbeiten, die nicht von Gilden geregelt sind.“
Juden durften sich ausschließlich in Stockholm, Göteborg, Norrköping und später auch in Karlskrona niederlassen. Nur dort durften sie ihr Gewerbe ausüben. Sie durften keine Ehe mit Partnern des christlichen Glaubensbekenntnisses eingehen. Politische Rechte besaßen sie keine.
Mit zunehmender Zahl und mit wachsendem Einfluss versuchte die jüdische Minderheit, unterstützt von einer liberaleren öffentlichen Meinung, die Behörden zu beeinflussen. Man forderte Erleichterungen des Reglements, das immer unzeitgemäßer wirkte. Das Ergebnis dieser Bestrebungen war die Verordnung vom 30. Juni 1838.
Im ersten Paragrafen heißt es, dass Juden, die schwedische Bürger sind, „fortan in jeder Hinsicht im gleichen Rechtsverhältnis mit den übrigen schwedischen Untertanen stehen sollen“. Der autoritär anmutende Begriff „Reglement“ kommt an keiner Stelle der neuen Verordnung mehr vor. Mehrere Einschränkungen blieben allerdings bestehen. Juden durften ohne königliche Genehmigung beispielsweise keinen Grundbesitz auf dem Land erwerben und waren für die Armenpflege in ihrer eigenen Gemeinschaft zuständig. Aber in allen Belangen von Bewegungs- bis hin zu Gewerbefreiheit schien sich ihre Stellung beträchtlich zu verbessern.
Am 10. August wurde die Verordnung in der offiziellen Statstidningen veröffentlicht, die auch unter dem Namen Post- och Inrikes Tidningar oder einfach Posttidningen bekannt ist.
***
Bald begann sich der Unmut zu regen, erst in der Oppositionspresse, die protestierte, weil die Verordnung nicht im Ständereichstag behandelt worden war, anschließend ergriff die Unzufriedenheit auch die breiten Volksmassen. Vor allem die jüdischen Gewerbetreibenden wurden als Bedrohung für die Versorgungsmöglichkeiten der christlichen Schweden angesehen.
Zu guter Letzt eskalierte die Lage.
Ein Großteil des Zornes richtete sich gegen einen Mann, der nicht einmal jüdischer Herkunft war, den Staatssekretär Carl David Skogman, dem die Emanzipationsverordnung zugeschrieben wurde. Skogman hatte die Gesetzesinitiative im Rat, dem „Konselj“, vorgetragen, also dem König und der Regierung. Als stellvertretender Präsident des Kommerskollegium, der für Gewerbe und Handel zuständigen Behörde, war er entscheidend an den Vorarbeiten zu der Verordnung beteiligt gewesen. Die Fenster von Skogmans Wohnung an der Skeppsbron wurden eingeworfen, laut der Dagligt Allehanda begleitet davon, dass „die Unzufriedenheit mit der Judenemanzipation lautstark und uneingeschränkt zum Ausdruck gebracht wurde“.
Es waren jedoch die Juden, die im Zentrum der aufgebrachten Aufmerksamkeit des Pöbels standen. Eines der am schlimmsten von dem Vandalismus betroffenen Anwesen in jüdischem Besitz war bezeichnenderweise das Haus Aron Levi Lamms, des Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde.
Nach einigen Tagen beruhigte sich die Lage. Die jüdische Gemeinde Stockholms bewilligte 3000 Reichstaler zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung. Die regierungskritische Presse hetzte weiter, und gerüchteweise hieß es, der als Jean Baptiste Bernadotte geborene, aus Frankreich importierte König sei Jude.
Am 4. September warnte Freja, ein aggressives Blatt, vor den Folgen „der Verbreitung der Juden im ganzen Reich“.
„Uns ist zu Ohren gekommen, dass die Erfahrung bislang gezeigt habe, dass die Juden trotz der Einschränkungen, die ihnen das Reglement auferlegte, über den Gesetzen standen. Wie viel mächtiger werden diese Fremden jetzt nicht im Lande werden, nachdem diese Einschränkungen nun zum größten Teil aufgehoben wurden.“
Sechs Tage später flammten die Gewalttätigkeiten erneut auf. Der Mob griff Lamms Haus nochmals an. Der Zorn richtete sich aber auch gegen Aron Isaks Schwiegertochter, eine der respektiertesten Vertreterinnen der jüdischen Gemeinde. Als die Zeitungen die Besitzer der vandalisierten Häuser nannten, wurde der Charakter der Unruhen deutlich: Die Opfer hießen Schück, Schneider, Glosemeyer, Scharp, Schön und Nachmanson.
König und Regierung wurden nervös. War die Verordnung vom 30. Juni etwa zu weit gegangen?
Die Ältesten der Stockholmer Bürgerschaft überreichten König Karl Johan ein Schreiben, in dem sie ihrer Sorge Ausdruck verliehen, dass die Verordnung den Juden die Einwanderung nach Schweden erleichtern könnte. Schwedische Gewerbetreibende „würden von Bekennern des mosaischen Glaubens ganz und gar verdrängt werden, und zwar mithilfe von deren Glaubensverwandten in fremden Ländern“. Der König antwortete entgegenkommend.
Die Rücknahme des Passus der Juniverordnung, der am meisten ins Auge fiel, betraf jedoch die Freizügigkeit außerhalb von Stockholm, Göteborg, Norrköping und Karlskrona. Am 21. September kam es zur Annahme einer ergänzenden Verordnung in Bezug auf die Anwendung der Juniverordnung in „gewissen Fällen“. Ausländer mosaischen Glaubensbekenntnisses mit einer Aufenthaltsgenehmigung sollten nur in einer der genannten vier Städte wohnen dürfen. Juden, die in Schweden zur Welt gekommen oder inzwischen schwedische Untertanen geworden waren, mussten um eine königliche Genehmigung ersuchen, wenn sie sich an anderen Orten niederlassen wollten. Am 25. September wurde die Bekanntmachung dieser Verordnung in der Statstidningen gedruckt.
In dem bis heute unersetzlichen Werk Judarnas historia i Sverige (Geschichte der Juden in Schweden), das erstmals 1924 im Albert Bonniers Förlag erschien, stellt der in Uppsala tätige Historiker Hugo Valentin fest:
„Damit opferte die Regierung, um Öl auf die Wogen zu gießen, eine der wichtigsten Verfügungen der Juniverordnung, die freie Wohnortwahl der Juden.“
Diese Beschränkung blieb bis 1854 bestehen. Erst ein Reichstagsbeschluss vollendete 1870 die Emanzipation der Juden. Schritt für Schritt erweiterte man ihre Rechte, ein langsamer, aber unausweichlicher Prozess, der parallel zu Albert Bonniers wachsender Verlagstätigkeit verlief.
***
Der antisemitische Exzess 1838 bedeutete einen Rückschlag für die jüdischen Emanzipationsbestrebungen, aber inwieweit die Unruhen den jungen Albert direkt beeinflussten, bleibt unklar. Der Umfang seiner Korrespondenz aus dieser Zeit ist begrenzt und handelt von anderen Dingen. Nichts deutet darauf hin, dass auch die Buchhandlung am Storkyrkobrinken von Vandalismus betroffen war. Vielleicht war sie zu unbedeutend. Albert, der sich sicher an das tolerantere Kopenhagen erinnerte, müssen die Krawalle jedoch geängstigt haben. Sie stellten einen brutalen Vorboten der Schwierigkeiten dar, mit denen er, der sich eine Zukunft in dem neuen Land aufbauen wollte, rechnen musste.
Von den kommenden antisemitischen Angriffen auf ihn selbst ahnte er glücklicherweise nichts – diese erreichten ihren Höhepunkt im Anschluss an den Blasphemieprozess nach der Veröffentlichung von Strindbergs Giftas („Heiraten“), während des darauf folgenden Streits im Schwedischen Buchverlegerverband und des Prozesses wegen Unsittlichkeit gegen Gustaf Fröding.
Allmählich würde sich jedoch zeigen, dass Albert Bonnier im richtigen Augenblick nach Schweden gekommen war. Der berühmte Kritiker und Literaturwissenschaftler Karl Warburg, später ein guter Freund Alberts, beschrieb die Zeit nach 1830 sehr treffend folgendermaßen:
„Die Zeit der Eisschmelze schien vorüber, und die Zeit des Frühlings für den schwedischen Liberalismus war angebrochen.“
***
Als der Jüngling Albert Bonnier 1835 mit acht Skilling banco in der Tasche schwedischen Boden betrat, setzte er auch den Fuß auf die Schwelle zu einer neuen Zeit in einem der rückständigsten und ärmsten Länder Europas, einer gebeutelten ehemaligen Großmacht, die durch verhängnisvolle Kriege im Ausland und Misswirtschaft innerhalb der eigenen Grenzen sowohl Territorien als auch Status eingebüßt hatte.
Trotz dieser unvorteilhaften Ausgangslage ist es erstaunlich, wie viele Fäden sich von Alberts späteren Erfolgen zu diesen miserablen Jahren zurückverfolgen lassen und wie diese Jahre sein Leben und Wirken formten.
Draußen in der Welt vollzogen sich gewaltsame Umbrüche. Polen wehrten sich gegen Russen, Italiener gegen Österreicher, und im britischen Imperium kam es zur Abschaffung der Sklaverei. Oberflächlich gesehen geschah in Schweden nichts.
In der großen politischen Frage, der Repräsentationsreform, der Beseitigung des mittelalterlichen Ständereichstags aus Adel, Geistlichen, Bürgern und Bauern, trat man trotz aller Hoffnungen, die man sich nach der Absetzung König Gustavs IV. Adolf 1809 gemacht hatte, auf der Stelle. Die Repräsentationsreform hätte das Ende des gustavianischen Absolutismus und die Einführung einer neuen Regierungsform bedeutet. Die in Großbritannien aufkommende Industrialisierung hatte das primär landwirtschaftlich geprägte Schweden noch nicht erreicht, wo man eine restriktive und merkantilistische Handelspolitik betrieb. Falls sich Schweden der Umwelt gegenüber öffnete, dann wohl eher in Bezug auf ansteckende Krankheiten als auf den Austausch von Waren. Die Choleraepidemie im Jahr 1834 kostete etwa 13 000 Menschen das Leben. Trotzdem war von „harmlosen“ Zeiten die Rede.
Die beiden Oppositionspolitiker Carl Henrik Anckarsvärd und Johan Gabriel Richert wetterten gegen die Lethargie in einem Pamphlet über die Repräsentationsfrage:
„Die Langsamkeit, die Kosten, die Abnutzung und Erschlaffung der Kräfte spüren wir. Eine spürbare Verbesserung der Gesetze, des öffentlichen Haushalts, der inneren Verfassung und des Wohlstands des Reiches nehmen wir nicht wahr: Alles stagniert in halbherzigen Maßnahmen, wenn überhaupt. Nach jahrelangem Streit versinken wir in derselben Gleichgültigkeit und Betäubung wie zuvor.“
Aber unter der Oberfläche liefen Prozesse ab, die das schwedische Dasein revolutionierten und ganz besondere Voraussetzungen für einen Buchverlag schufen, der mit der Zeit ging.
Der Durchbruch der Dampfmaschine erleichterte Transporte auf dem Seeweg. Schwere Bücherkisten zu verschicken ging so bedeutend schneller. Pakete aus Lund und Malmö waren mit Pferd und Wagen hin und wieder mehrere Monate nach Stockholm unterwegs gewesen. Allerdings war auf Dampfschiffe nur in den wärmeren Monaten des Jahres Verlass. Bei zugefrorener Ostsee war man noch immer auf Fuhrwerke angewiesen. Aber auch auf diesem Gebiet erfolgten Verbesserungen im Zuge der Einführung staatlich subventionierter Postkutschen. Anfänglich verkehrten diese zwischen Ystad und Stockholm und zwischen Göteborg und der Hauptstadt. Den großen Umbruch brachten jedoch die Eisenbahnen, mit deren Bau im großen Stil nach 1860 begonnen wurde. Parallel dazu expandierte der Albert Bonniers Förlag. Im Jahr 1856 hatte Albert Bonnier eine eigene Druckerei erworben.
Es erstaunt also wenig, dass sich bereits in der Svea-Ausgabe von 1846 ein glühendes Plädoyer für den Eisenbahnbau in Schweden findet. Zwei Jahre zuvor hatte Albert Bonnier begonnen, diesen literarischen „Volkskalender“ herauszugeben, und blieb bis zu seinem Tod im Jahr 1900 sein Redakteur. Er nutzte ihn, um neue Autoren anzuwerben und zu erproben, angefangen von August Blanche und August Strindberg bis hin zu Gustaf Fröding und Selma Lagerlöf:
„Man hat den Bedarf oder die Möglichkeiten des Eisenbahnbaus in Schweden in Zweifel gezogen. In einem Land, das so dünn besiedelt ist wie das unsere und in dem die Abstände so groß sind, dass es besonders für die Provinzen bedeutsam wäre, einander näher zu kommen, liegt ein Bedürfnis eigentlich auf der Hand.“
Der Ausbau des Eisenbahnnetzes führte in Schweden zu einer Zunahme der Reisen. Ein typisches Beispiel für Alberts Talent, Umbrüche und Erfindungen seiner Zeit kommerziell zu nutzen, war die Publikation einer neuen Form informativer Druckwerke. Heute würde man von Reiseführern sprechen. In Dagens Nyheter, einer Zeitung, deren Mitbegründer er war, erschien 1866 eine Anzeige, die von Albert persönlich unterzeichnet war. Sie richtete sich an die „Herren Hotelwirte, Restaurantbesitzer usf.“. Albert Bonnier forderte diese auf, für ein Illustrerad Reshandbok genom Sverige (Illustriertes Reisehandbuch durch Schweden), „zum Dienste sowohl der einheimischen Reisenden als auch der Ausländer“, Angaben zu Preisen, Ausstattung der Zimmer u. a. zu liefern.
Eine andere hochbedeutsame Veränderung bestand in der schrittweisen Abschaffung der Möglichkeit, ein Publikationsverbot auszusprechen (indragningsmakten). Dieser Paragraf in der sogenannten Druckfreiheitsverordnung aus dem Jahr 1812 ermöglichte es dem Hofkanzler, also einem der Minister, das Erscheinen einer Zeitschrift oder Zeitung zu verhindern, die „gefährlich für die allgemeine Sicherheit“ war. Immer wieder kam diese Vorschrift zur Anwendung, nicht zuletzt gegen die Tageszeitung Aftonbladet, die das Verbot aber umging, indem sie immer wieder von Neuem die Genehmigung zur Veröffentlichung beantragte, und zwar für Aftonbladet eins, Aftonbladet zwei usw. Dadurch wurde das Publikationsverbot wirkungslos und lächerlich. Ab 1838 wurde es nicht mehr angewendet, aber erst sieben Jahre später offiziell abgeschafft. Daraufhin ließ sich die Luft leichter atmen.
Auch die Unternehmensgründung und -führung gestaltete sich einfacher. Die Fabriks- und Handwerksverordnung von 1846 beendete den Zwang zur Gildenmitgliedschaft. Zwei Jahre später wurde Schwedens erste Aktiengesellschaft gegründet, und 1864 kam es endlich zur Niederlassungs- und Gewerbefreiheit. Die Freigabe der Zinsen führte zur Entstehung eines modernen und flexiblen Kreditwesens. Außerdem schloss sich Schweden dem europäischen Freihandelssystem an. Viele dieser Reformen setzte der liberale Finanzminister Johan August Gripenstedt durch, dessen Schriften der Bonnier’sche Buchhandel mit großer Zustimmung vertrieb.
Im Jahr 1838, dem Jahr der antisemitischen Krawalle, vollzog eine öffentliche Person eine Kehrtwende, die eine neue Ära einläutete. Erik Gustaf Geijer wandte sich vom Konservatismus ab und dem Liberalismus zu. Geijer war Historiker, Schriftsteller, Philosoph, Komponist und Mitglied der Schwedischen Akademie. In der Januarausgabe seiner neuen Zeitschrift Litteratur-Bladet gab er eine Art persönliche und politische Unabhängigkeitserklärung ab, die im gesamten Land widerhallte:
„Im Grunde habe ich nie einer Partei angehört, nicht einmal meiner eigenen, wenn es eine solche je gegeben hat. Aber falls jemand Wert darauf legt, mir Abtrünnigkeit vorzuwerfen: Wohlan! Dann bin ich meiner selbst abtrünnig geworden, was auch nicht schadet.“
Geijer propagierte eine Loslösung der Persönlichkeit von der erstickenden Abhängigkeit von Normen und Konventionen. Gleichzeitig sah er klarer als die meisten seiner Zeitgenossen, dass sich eine neue Klasse ihren Weg bahnte, die langfristig den Ton angeben würde und die berechtigte Forderungen nach Freiheit und Entwicklungsmöglichkeiten stellte. Diese Klasse, die Mittelklasse, las. In den bürgerlichen schwedischen Familien versammelte man sich abends um eine Lampe, und es wurde aus einem Buch vorgelesen. Diese Art der Abendunterhaltung setzte sich immer mehr durch.
Lesen konnten relativ viele Schweden, weil die schwedischen Pfarrer jedes Jahr auf den Bauernhöfen die Runde machten und den Inhalt des Kleinen Katechismus Martin Luthers abfragten. Zusätzlich verbesserte sich die Lesefähigkeit durch die Volksschulsatzung von 1842. Der Bau von Schulen allerdings zog sich hin. Am allerwichtigsten für den Verlag Albert Bonniers war jedoch, dass das Heranwachsen einer lesenden Mittelschicht mit dem Durchbruch eines literarischen Genres zusammenfiel, das mehr als jedes andere seinen Verlag prägen würde: der Roman.
Die Impulse dafür kamen von außen, vor allen Dingen aus Großbritannien und Frankreich und durch beliebte Autoren wie Walter Scott, Edward Bulwer-Lytton, Eugène Sue und, ein wenig später, Alexandre Dumas d. Ä. und Charles Dickens. Deren Romane erschienen in Übersetzung häufig in preiswerten Heften, die im Abonnement bezogen wurden. Auch auf diesem Gebiet war der Verleger Lars Johan Hierta 1833 ein Pionier mit seiner Läse-Bibliothek af den nyaste utländska litteraturen (Lesebibliothek der neuesten ausländischen Literatur). Später schloss sich Albert Bonnier mit seinem eigenen Europeiska följetongen (Europäisches Feuilleton) dem Trend an.
In Schweden geriet die Welt der Belletristik nun ebenfalls in Bewegung. Carl Jonas Love Almqvist begann 1832 mit der Veröffentlichung einer Folge von überaus erfolgreichen Erzählungen, betitelt mit Törnrosens bok (Buch der Heckenrose). Am Ende dieses Jahrzehnts erschien sein ehekritischer Roman Det går an (dt. 2004 von Anne Storm übersetzt unter dem Titel „Die Woche mit Sara“), dessen Botschaft von der Gleichberechtigung der Geschlechter größten Anstoß erregte.
In einer Zeit patriarchaler Unterdrückung, in der Frauen nicht einmal grundlegendste Rechte besaßen, feierte die Autorin Emilie Flygare-Carlén mit ihren auf den Schäreninseln Bohusläns angesiedelten Romanen dennoch größte Erfolge. Mit Rosen på Tistelön („Die Rose von Tistelön“) 1842 und Enslingen på Johannisskäret („Der Einsiedler auf Johannis-Klippe“) vier Jahre später erlebte sie ihren Durchbruch.
Das Gesetz von 1858, dass unverheiratete Frauen über 25 ihre Mündigkeit beantragen konnten, stellte den ersten winzigen, stolpernden Schritt in Richtung umfassenderer Bürgerrechte für die untergeordnete Hälfte der schwedischen Bevölkerung dar. Diesen Prozess trieb eine weitere Autorin voran, Fredrika Bremer, deren Werke von Adolf Bonnier, Alberts großem Bruder und Mentor, verlegt wurden.
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