Alles nur Einzelfälle? Alles nur Einzelfälle? - eBook-Ausgabe
Das System hinter der Polizeigewalt
— Über Racial Profiling, NSU 2.0 und Machtmissbrauch in der PolizeiAlles nur Einzelfälle? — Inhalt
Rassistische und antisemitische Polizei-Chats, Machtmissbrauch im Amt, Racial Profiling, weit verzweigte rechtsextreme Netzwerke, tödliche Polizeigewalt – laut Innenministerien und Sicherheitsbehörden alles nur Einzelfälle. Doch basierend auf repräsentativen Studien, langjährigen investigativen Recherchen und persönlichen Erlebnissen deckt Mohamed Amjahid auf, wie tief das Polizeiproblem in Deutschlands Sicherheitsarchitektur verwurzelt ist. Von der systematischen Vertuschung von Machtmissbrauch bis hin zum NSU 2.0: Dieses Buch erschüttert das Grundvertrauen in die Institution Polizei und fordert eine ehrliche Debatte über das Polizeiproblem.
Immer wieder gibt es Schlagzeilen zu rassistischen Polizeichats, Racial Profiling und Polizeigewalt. Sind das Einzelfälle oder haben wir ein Polizeiproblem?
Genau diese Frage war die Ausgangslage für mein neues Buch. Indem ich alle „Einzelfälle“ betrachte, versuche ich eine Struktur aufzuzeigen. Neben der dichten Beschreibung dieser einzelnen Fälle braucht es meines Erachtens auch einen ganzheitlichen Blick auf das Phänomen. Nur ein paar Zahlen: Jährlich gibt es laut einer Bochumer Studie mindestens 12.000 mutmaßlich rechtswidrige Übergriffe durch Polizeibeamte. Das sind 33 pro Tag. Die Dunkelziffer müsste deutlich höher sein. So versuche ich meine eigenen Recherchen, die Arbeit von vielen Kolleg:innen, wissenschaftliche und aktivistische Arbeit zu analysieren und aufzuzeigen, dass wir in Deutschland ein strukturelles Polizeiproblem haben, über das wir unbedingt sprechen müssen.
Worin besteht dieses System hinter der Polizeigewalt?
Es herrscht eine sogenannte Cop Culture, also eine Kultur des Wegschauens und der systematischen Billigung von Machtmissbrauch. Aber auch die Rolle der Medien, die Wirkmacht von Polizeigewerkschaften oder der Innenpolitik spielt hier eine entscheidende, leider sehr negative Rolle. Ich beschreibe darüber hinaus eine dysfunktionale Justiz in Deutschland, wenn es darum geht, das Polizeiproblem juristisch aufzuarbeiten: Weniger als ein Prozent der Fälle von Polizeigewalt enden mit einer Verurteilung. Da stimmt etwas nicht. Deswegen habe ich mich auf die Suche nach den Ursachen gemacht. Im Rahmen des Systems gab es seit 1976 allein in der Bundesrepublik rund 500 Todesopfer durch Schüsse der Polizei, jeder Tote ist dabei einer zu viel. Dabei sind andere Todesursachen in Verknüpfung mit Polizeigewalt da gar nicht mitgezählt. Das ist die Fallhöhe bei diesem Thema. Viele Menschen in diesem Land haben zu Recht Angst vor der Polizei.
Ist (tödliche) Polizeigewalt denn eine Gefahr für alle?
Ja, sie kann jeden treffen. Und sie trifft auch theoretisch jeden. Das kann ich in den Daten sehen. Bei meiner Analyse habe ich aber festgestellt, dass es mit Blick auf Polizeigewalt einige besonders verletzbare Gruppen gibt. Zum Beispiel minderjährige, traumatisierte Geflüchtete. Das zeigt sich gut am Fall des 16-jährigen Mouhamed Dramé, der im August 2022 in Dortmund von Polizist:innen erschossen wurde. Auch Menschen mit psychischer Erkrankung sind besonders gefährdet. Da schaue ich mir im Buch mehrere Fälle an: Ante P., der im Mai 2022 in Mannheim bei einem Polizeieinsatz ums Leben kam, oder Mohamed Idrissi, der im Juni 2020 in Bremen von der Polizei erschossen wurde. Oury Jalloh ist ein berühmter Fall. Jalloh ist im Januar 2005 in Dessau in Polizeigewahrsam bei lebendigem Leibe verbrannt. Wie kann das sein? Ich habe irgendwann damit angefangen, jeden Fall von Polizeigewalt zu dokumentieren, in Archiven zu lesen und direkt mit Zeug*innen und Betroffenen zu sprechen.
Du hast dich also jahrelang mit dem Thema beschäftigt. Wie kam es zu dieser langfristigen Recherche und dazu, dass du ein ganzes Buch darüber geschrieben hast?
Vor etwa zehn Jahren, als noch sehr junger Journalist, habe ich gemerkt, dass in deutschen Medien eine Lücke klafft, was eine sachliche und zugleich kritische Betrachtung der Polizei angeht. Eine Szene während meiner journalistischen Ausbildung hat mich geprägt: Ein Polizeireporter hat unkritisch die Perspektive eines Polizeisprechers in seinen Texten reproduziert. Also habe ich angefangen, investigativ zu recherchieren, einen Fall nach dem anderen aufzuarbeiten, mit Expert:innen weltweit zu sprechen, die Situation hier in Deutschland, aber auch in Österreich und der Schweiz mit anderen Ländern zu vergleichen. Dann irgendwann habe ich gemerkt: Ein Buch zum Thema Polizeiproblem existiert so noch nicht für ein breites Publikum. Das wollte ich unbedingt ändern. Dieses Buch ist also mein Beitrag für eine längst überfällige gesellschaftliche Debatte, bei der alles auf den Tisch gehört: die problematische Ausbildung von Polizist:innen, die polizeifreundliche und sehr unrealistische Copaganda in Film und Fernsehen oder die politische Entscheidungsfindung, wie Polizei vor jeder Kritik abgeschottet wird.
Wie bist du bei deiner Recherche vorgegangen? Wie kamst du an deine Quellen?
In den Reihen der Polizei zu recherchieren ist kompliziert, nichts ist selbstverständlich. Es ist teilweise auch gefährlich, wie ich im Buch beschreibe. Ich übertreibe nicht, wenn ich sage: Das ist eine abgeschottete Parallelgesellschaft und ich musste sehr lange suchen und Vertrauen aufbauen, um mit Informant:innen zu sprechen, teils geheime Dokumente auswerten und dann politische Entscheidungsträger:innen mit den sehr beunruhigenden Ergebnissen konfrontieren zu können. Vor allem Whistleblower:innen drohen innerhalb von Polizei- und anderen Sicherheitsbehörden schlimme Konsequenzen. Das muss sich unbedingt ändern.
Gibt es Lösungsansätze für das Polizeiproblem? Ja, einige. Die bespreche ich ausführlich in einem Kapitel im Buch. Das ist mir wichtig, obwohl es als Journalist nicht meine Aufgabe ist, direkt die Lösungen für dieses massive Problem zu liefern. Es gibt Reformen, die könnten quasi morgen beschlossen und unkompliziert umgesetzt werden: eine Dokumentationspflicht der illegalen Praxis des Racial Profiling, eine klare Kennzeichnung von Beamt:innen oder eine Oberpolizei, die Polizeibehörden unabhängig beaufsichtigt. Gegen solche sehr pragmatischen Ansätze gibt es in Deutschland und in anderen Ländern aber massiven Widerstand – wen wundert es – von der Polizei, der Innenpolitik und rechtskonservativen Medien. Und dann gibt es die großen, utopischen Fragen, die ich auch im Buch bespreche: Kann es überhaupt ein Zusammenleben ohne Strafen, ohne staatliche Gewalt und Machtmissbrauch, ohne Polizei geben?
Im Rahmen von „Lesart“ Deutschlandfunk Kultur
Mit Margot Overath, Jens Dirksen, Chefreporter[...]
In der Reihe „Respekt! Augsburg lebt Vielfalt“
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