Am Ende des Zorns (Alexander-Gerlach-Reihe 18) Am Ende des Zorns (Alexander-Gerlach-Reihe 18) - eBook-Ausgabe
Ein Fall für Alexander Gerlach
— Actionreicher Krimi aus der Bestseller-ReiheAm Ende des Zorns (Alexander-Gerlach-Reihe 18) — Inhalt
Der achtzehnte Fall für Kommissar Alexander Gerlach von Spiegel-Bestsellerautor Wolfgang Burger
Auf dem verschneiten Heidelberger Weihnachtsmarkt prallt Kripochef Alexander Gerlach mit einer jungen Taschendiebin zusammen. Das Mädchen entkommt, doch wenig später begegnen sich die beiden in der Polizeidirektion wieder. Da die kleine Marie nicht sagen will, wo sie zu Hause ist, nehmen Gerlach und seine Tochter Sarah sie über die Feiertage bei sich auf. Bald wird klar, dass Maries Vater sich vor Kurzem das Leben genommen hat. Doch der Fall bereitet Gerlach Kopfzerbrechen, denn immer mehr Indizien sprechen gegen einen Suizid. Und Marie scheint in der Tragödie eine zentrale Rolle zu spielen.
„Gerlach ist der sympathischste Beamte, den je ein Autor erfunden hat!“ Rhein-Neckar-Zeitung
Preisgekrönte Spannung in Krimiserie!
Mit „Heidelberger Requiem“ legte Wolfgang Burger 2005 ein fulminantes Krimi-Debüt vor, das sich aus dem Stand zur neuen Obsession der Fans des Ermittlerkrimis mauserte. Seine Bücher waren bereits mehrfach für den Friedrich-Glauser-Preis nominiert und stehen regelmäßig auf der SPIEGEL-Bestsellerliste, so auch der achtzehnte Band „Am Ende des Zorns“.
Leseprobe zu „Am Ende des Zorns (Alexander-Gerlach-Reihe 18)“
„Eins, zwei, drei …“
Marie zählt bis zehn, ich schalte das Deckenlicht neunmal ein und aus. Sie beginnt von vorn, und wieder drücke ich den Schalter. Während sie zum dritten Mal zählt, laufe ich zum Fenster, rüttle noch einmal an dem tausendmal verfluchten Gitter, das immer noch um keinen Millimeter nachgibt.
„Zehn!“
Ich renne zum Lichtschalter zurück, spule mein Blinkprogramm ab. Mit jeder Sekunde scheint es heißer zu werden. Ich meine schon das Brummen und Knacken des Feuers zu hören, das unaufhaltsam näher kommt, im Treppenhaus überreichlich Nahrung [...]
„Eins, zwei, drei …“
Marie zählt bis zehn, ich schalte das Deckenlicht neunmal ein und aus. Sie beginnt von vorn, und wieder drücke ich den Schalter. Während sie zum dritten Mal zählt, laufe ich zum Fenster, rüttle noch einmal an dem tausendmal verfluchten Gitter, das immer noch um keinen Millimeter nachgibt.
„Zehn!“
Ich renne zum Lichtschalter zurück, spule mein Blinkprogramm ab. Mit jeder Sekunde scheint es heißer zu werden. Ich meine schon das Brummen und Knacken des Feuers zu hören, das unaufhaltsam näher kommt, im Treppenhaus überreichlich Nahrung findet und unseren einzigen Fluchtweg, die hölzerne Treppe ins Erdgeschoss hinab, vermutlich schon zerstört hat. Mehr und mehr Rauch quillt durch die Ritzen der schweren Eichentür, die hoffentlich noch einige Minuten standhalten wird. Aber es ist nur eine Frage der Zeit …
„Zehn!“
Und wieder blinke ich: dreimal kurz, dreimal lang, dreimal kurz – SOS.
Himmel, hilf! Wenn nicht mir, dann wenigstens dem Kind.
Ausgerechnet jetzt fällt mir ein, wie ich Marie zum ersten Mal begegnete. Auch damals war es Abend gewesen.
1
Drei Wochen früher
Mein erster Kontakt mit Marie war ein kräftiger Stoß in den Rücken. Mitten im Gewühl des Heidelberger Weihnachtsmarkts, abends um halb sieben, umgeben von Bratwurstgebrutzel, Glühweinschwaden, dem Duft von Tannenbäumen und gebrannten Mandeln. Noch während ich mich umschaute, wer mich so rücksichtslos angerempelt hatte, begann nicht weit von mir mit schriller Stimme eine Frau zu schreien.
„Festhalten! Sie hat mich beklaut! Halten Sie sie fest! Mein Geldbeutel, mein Geldbeutel ist weg, jetzt halten Sie das kleine Luder doch fest, um Gottes willen!“
Aber bevor ich reagieren konnte, war die Diebin schon außer Reichweite. Die Zehn-, maximal Zwölfjährige, die ich nur noch von hinten sah, war wie ein Junge gekleidet. Jeans, eine billige, schmutzig orangene Steppjacke, die Kapuze tief in die Stirn gezogen, registrierte mein Polizistenhirn automatisch. Auf dem Rücken trug sie einen blaugrünen Schulrucksack. Wie ein quecksilbriges Fischchen tauchte das Kind durch das Getümmel schwitzender, lärmender, glühweinseliger Einheimischer und Touristen aus aller Welt. Der Heidelberger Weihnachtsmarkt ist ja berühmt für seine romantische Kulisse.
Obwohl ich solche Massenveranstaltungen nicht besonders schätze, hatte ich mich heute, eine Woche vor Heiligabend, ins Gewühl gestürzt, in der Hoffnung, hier ein Geschenk für Sönnchen zu finden, meine Sekretärin und unverzichtbare Ratgeberin in beruflichen und nicht selten auch privaten Angelegenheiten. Irgendeine nette, nicht allzu alberne Kleinigkeit mit lokalem Bezug, da sie eine geborene und heimatverliebte Heidelbergerin war. In den vergangenen Tagen hatte es fast ununterbrochen geregnet, heute war der erste Abend, an dem man sich wieder ins Freie traute.
Eine gängige Methode von Diebesbanden war, Kinder als Taschendiebe einzusetzen. Kinder unter vierzehn Jahren, die nach deutschem Recht noch nicht strafmündig waren. Wurden sie erwischt, dann sprachen sie kein Wort Deutsch, wussten nicht, wie sie hießen, woher sie kamen oder wer ihre Eltern waren. Nach ein, zwei Tagen mussten wir sie regelmäßig wieder laufen lassen. Und bald darauf waren sie meist schon wieder auf Beutezug, in derselben oder einer anderen Stadt. Diese Banden blieben nur für kurze Zeit im Land, immer wurden die Kinder begleitet und beaufsichtigt von Erwachsenen, die sie anleiteten, ihnen die Beute abnahmen und sie am Ende des Tages verprügelten, wenn sie nicht genug eingebracht hatten.
Die bestohlene Frau stand jetzt vor mir, funkelte mich wütend an.
„Wieso haben Sie das Miststück laufen lassen, Sie Penner?“, zeterte sie. „Sie ist Ihnen doch praktisch in die Arme gelaufen, Herrgott noch mal! In meinem Geldbeutel sind fast zweihundert Euro, und die sind jetzt futsch. Dazu Ausweis, Karten und, Herrgott, ich weiß gar nicht, was noch alles, und Sie lassen das Miststück einfach laufen, Sie Schnarchsack, Sie kreuzblöder.“
Sie verstummte kurz, um Luft zu holen für die Fortsetzung ihrer Tirade. Ihre Kleidung war gepflegter als ihre Ausdrucksweise, der dunkle, elegant geschnittene Wollmantel mit echtem Pelzkragen zeugte von Wohlstand. Am Arm trug sie eine große, offene Handtasche, in der vor wenigen Sekunden vermutlich noch das jetzt vermisste Portemonnaie gelegen hatte.
„Machen Sie vielleicht gemeinsame Sache mit dem Miststück? Haben Sie jetzt meinen Geldbeutel?“, fuhr sie fort. „So machen die Taschendiebe das doch für gewöhnlich, sieht man ja dauernd im Fernsehen.“
Zweihundert Euro – heute Abend würde es wohl keine Schläge geben für die kleine Diebin.
Andere gesellten sich zu dem empörten Opfer, musterten mich finster, manche neugierig, andere schon drohend. Ich hörte Sätze wie: „Sieht gar nicht aus, als hätt er es nötig …“, „Diese Jugend heutzutage …“, „Jetzt sogar schon Kinder …“, „Hat’s doch früher nicht gegeben“, „Bestimmt wieder Ausländer!“
Ich versuchte, mir Gehör zu verschaffen, aber ein älterer Herr mit Silberhaar und Goldzahn schnitt mir das Wort ab und winkte entschlossen jemanden herbei.
„He, Sie da! Kommen Sie doch mal rasch her, ja?“
Augenblicke später stand ich zwei uniformierten Polizisten gegenüber.
„Was ist passiert?“, fragte der ältere der beiden gemütlich in die Runde.
„Diese Dame ist soeben bestohlen worden“, erklärte der Silberhaarige empört, „und wir vermuten, dass dieser … Herr hier gemeinsame Sache mit der Diebin macht.“
Der Kollege grinste mich an, wandte sich dann wieder dem aufgebrachten Wortführer zu, dessen Gesichtsfarbe einen nahenden Schlaganfall fürchten ließ.
„Das glaub ich jetzt eigentlich nicht.“
„Darf man erfahren, aus welchem Grund Sie das nicht glauben?“
„Weil ich den Herrn zufällig gut kenne. Das ist nämlich unser Herr Gerlach.“
„Es ist mir völlig wurscht, wie der Mann heißt. Ich verlange, dass Sie ihn auf der Stelle und vor Zeugen durchsuchen.“
Der Kollege hörte auf zu grinsen. „Das werden wir schön bleiben lassen. Der Herr Gerlach ist nämlich der Chef von unserer Kripo. Wir verdienen zwar nicht besonders viel bei der Polizei, aber so arm sind wir dann auch wieder nicht, dass wir stehlen müssen, gell, Herr Kriminaloberrat?“
„Kann ich dann jetzt gleich hier meine Anzeige aufgeben?“, wollte die bestohlene Frau nach kurzer Verblüffung wissen.
„Das erledigen die beiden Kollegen“, erwiderte ich verbindlich. „Und keine Sorge, Taschendiebe sind normalerweise nur auf Geld aus. Ihren Geldbeutel und den restlichen Inhalt können Sie bestimmt noch vor Weihnachten im Fundbüro abholen.“
2
„Alter circa dreißig bis fünfunddreißig“, berichtete mir Sven Balke am Donnerstagmorgen. Er hatte einen mehrseitigen Computerausdruck vor sich liegen – den Obduktionsbericht des Rechtsmedizinischen Instituts. „Größe eins neunundsiebzig, aber nur fünfundsechzig Kilo, ein ziemliches Fliegengewicht also. Von der Konstitution her war er wohl kein großer Sportler. Todesursache ist zweifelsfrei die Kugel, die er sich in den Kopf gejagt hat. Anschließend hat er drei bis vier Tage im Wasser gelegen. Hinweise auf seine Identität haben wir bisher keine.“
Spaziergänger hatten die männliche Leiche am Tag zuvor im Badesee nördlich von Heddesheim entdeckt, vielleicht fünfzehn Kilometer nordwestlich von Heidelberg.
„Steht denn fest, dass er sich selbst erschossen hat?“
„Aus meiner Sicht ja. Aufgesetzter Schuss in die linke Schläfe, an der linken Hand sind Schmauchspuren. Die waren sogar nach drei Tagen im Wasser noch nachweisbar.“ Balke demonstrierte mit dem Zeigefinger, wo der Tote die Waffe angesetzt hatte. „Wird Linkshänder gewesen sein, nehme ich an.“
Was die Anzahl der infrage kommenden Menschen schon einmal beträchtlich reduzierte. Von den gut vierzig Millionen deutschen Männern mochte jeder Zwanzigste im passenden Alter sein. Und ungefähr zehn bis fünfzehn Prozent davon bevorzugten die linke Hand …
Im Vorzimmer hörte ich Sönnchen telefonieren. Vor den Fenstern schrie eine Krähe, als wollte sie gegen irgendetwas Beschwerde einlegen. Mein Blick ruhte kurz auf dem Tannenzweig, den mir meine Töchter zur Zierde meines kargen Beamtenbüros geschenkt hatten. Er war mit einigen winzig kleinen goldenen Kugeln geschmückt, in der Mitte steckte eine rote Kerze, und manchmal bildete ich mir sogar ein, Harzduft zu riechen.
„Und wo ist die Waffe?“, fragte ich.
Die lag irgendwo im Wasser, vermutete mein engagierter Mitarbeiter.
„Der ganze See ist rundrum eingezäunt. Am südlichen Ende liegt das Strandbad. Mit großem Parkplatz, Umkleidekabinen, Liegewiesen, Spielplatz, Kiosk und so weiter. Bin selbst schon ein paarmal da gewesen. Ist echt nett da. Aber auch da kommt man um diese Jahreszeit nicht ans Wasser ran, weil alles verriegelt und verrammelt ist. Die einzige Stelle, wo man überhaupt eine Chance hat, ins Wasser zu fallen, ist am östlichen Ufer. Dort fehlen etwa fünf Meter Zaun, weil im Herbst ein Baum umgestürzt ist.“
Balke hatte bereits Taucher angefordert, die im Wasser nach der Tatwaffe und Dingen suchen sollten, die uns vielleicht die Identifizierung des Toten ermöglichten.
„Die Jungs haben aber erst noch einen Auftrag im Mannheimer Rheinhafen zu erledigen. Voraussichtlich rücken sie morgen Vormittag am Badesee an.“
Ich lehnte mich zurück und runzelte die Stirn.
„Sie glauben also, er hat sich erst erschossen, dann die Waffe ins Wasser geworfen und sich anschließend auch noch ertränkt?“
„Ertränkt natürlich nicht. Er hatte kein Wasser in der Lunge.“
Der Tote hatte also schon nicht mehr geatmet, als er ins eiskalte Wasser fiel.
„Das Ufer ist da sehr steil, und das Wasser wird schnell tief“, fuhr Balke fort. „Wenn er an der Kante gestanden hat, dann könnte er mitsamt der Waffe ins Wasser geplumpst sein.“
Balke schien sich seiner Sache plötzlich nicht mehr ganz sicher zu sein, wollte aber noch nicht aufgeben. Aus nachvollziehbaren Gründen hielt er an der Selbstmordhypothese fest. Weihnachten stand vor der Tür, und wir alle freuten uns auf ein paar ruhige Tage. Da kam ein Mordfall ungelegen. „Auch wenn er nicht direkt am Ufer gestanden haben sollte, könnte ihm der Rückstoß die Pistole aus der Hand gerissen haben. Dann ist sie vielleicht zwei, drei Meter weit geflogen, und platsch, liegt sie im See. Er selbst hat noch ein paar Schritte gemacht, bevor er zusammengebrochen ist … Klingt doch plausibel, finden Sie nicht?“
Ich war immer noch nicht überzeugt, aber nun gut.
„Und er hat nichts bei sich gehabt, was einen Hinweis auf seine Identität geben könnte?“
Seufzend schüttelte Balke den Kopf mit dem raspelkurz geschnittenen Blondhaar. „Papiere Fehlanzeige. In der Hosentasche hatte er knapp zwanzig Euro, einen Schlüsselring mit sage und schreibe einem einzigen Schlüssel dran und ein älteres Huawei-Smartphone.“
Dem der Aufenthalt im Wasser allerdings nicht gut bekommen war.
„Die KTU versucht gerade, es wieder zum Leben zu erwecken, macht mir aber wenig Hoffnung, dass da noch viel zu retten ist.“
„Was ist mit diesem Schlüssel?“
„Ist für ein Abus-Sicherheitsschloss, das seit einem Vierteljahrhundert nicht mehr hergestellt wird. Seine Kleidung gibt auch nichts her, alles Kaufhausware. Nur bei der Jacke hat er sich in Unkosten gestürzt. Sie ist von Fjällräven.“ Balke legte zwei Fotos vor mir auf den Tisch, die das Gesicht des Toten zeigten. Obwohl es vom Wasser aufgedunsen und bläulich verfärbt war, sah ich, dass die Wangen eingefallen waren. Tiefe Falten in den Mundwinkeln ließen ihn mürrisch wirken.
„Was halten Sie davon, wenn wir damit an die Presse gehen?“
„Vorläufig noch nichts. Wir geben nur eine Meldung raus, dass ein unbekannter Toter gefunden worden ist.“
Der Mann trug einen Ehering mit der Gravur T & H für immer, und ich wollte vermeiden, dass seine Frau morgen früh das Gesicht ihres Gatten in der Zeitung sehen und auf diesem Weg erfahren musste, dass sie Witwe geworden war.
Neben den Tauchern hatte Balke eine Hundertschaft Bereitschaftspolizisten angefordert, die in Kürze beginnen würden, den Uferbereich des Gewässers sowie das Umfeld nach Spuren abzusuchen. Auf verwertbare Fußspuren brauchten wir wegen des Regens der vergangenen Tage nicht zu hoffen.
„Mit ein bisschen Glück finden die Kollegen vielleicht seine Brieftasche oder wenigstens die Patronenhülse.“
„Sie gehen davon aus, dass er eine Pistole benutzt hat?“
„So wie die Schmauchspuren an seiner Hand aussehen, halte ich einen Revolver oder ein Gewehr für ausgeschlossen. Er hat die Hand über dem Hülsenauswurf gehabt und sich sogar einen Finger geklemmt, als der Schuss losging. Fragen Sie mich nicht, wie er das angestellt hat.“
„Wie ist er eigentlich da hingekommen?“ Ich sah mir nebenbei im Internet eine Luftaufnahme des Tatorts an. „Steht irgendwo ein herrenloses Auto?“
„Gute Frage.“ Balke hob die muskulösen Schultern, zog eine schiefe Grimasse. „Einen Autoschlüssel hatte er jedenfalls nicht in der Tasche. Am Eingang des Strandbads stehen ein paar verlassene Bikes herum, aber die kann man nur schwer einem Besitzer zuordnen. Ich tippe eher auf S-Bahn. Die nächste Haltestelle ist nur einen guten Kilometer entfernt.“
Allerdings hatte der Tote auch keinen Fahrschein bei sich gehabt. Wir beschlossen, die Ergebnisse der Suchaktion abzuwarten und uns morgen früh wieder zusammenzusetzen.
„Da fällt mir ein, ich soll Sie von Klara grüßen“, sagte Balke, als er sich erhob.
Klara Vangelis, meine Erste Kriminalhauptkommissarin, war schon seit zwei Wochen in Griechenland, um ihrer Großmutter oder einer alten Tante beim Sterben beizustehen.
„Es geht ihr gut, das Wetter ist super, und sie hat überhaupt keine Lust zurückzukommen.“
Was wir ihr beide nachfühlen konnten.
Am späten Nachmittag sah ich die schmutzig orangene Steppjacke zum zweiten Mal. Ich hatte im Erdgeschoss zu tun gehabt, bei einer Gegenüberstellung wegen eines Falls versuchter Vergewaltigung. Das Beinaheopfer, eine Frau um die dreißig, war etwas zu heftig geschminkt und herzzerreißend aufgeregt. Als sie die sechs Männer durch den Einwegspiegel betrachtete, begann sie vor Nervosität fast zu weinen. Fünf davon waren Kollegen, der zweite von rechts war der mutmaßliche Täter. Erst tippte sie auf den Richtigen, korrigierte sich dann hastig, hielt den Mann links daneben für wahrscheinlicher, der tatsächlich eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Verdächtigen hatte, schließlich den Kollegen ganz links, der überhaupt nicht zu ihrer Beschreibung passte. Am Ende war sie dann wirklich in Tränen ausgebrochen.
„Ich kann das nicht“, hatte sie geschluchzt. „Was, wenn ich auf den Falschen tippe? Und der muss dann ins Gefängnis? Nein, das kann ich nicht, tut mir leid, es geht nicht.“
Als ich den Raum verließ, sah ich die kleine Taschendiebin gerade noch um eine Ecke verschwinden, begleitet und bewacht von einer uniformierten Kollegin, die ich gut kannte. Polizeiobermeisterin Ilzhöfer trug die blaue Uniform der Schutzpolizei, war in den Vierzigern, stämmig gebaut und mit einem übergroßen Herzen gestraft, das ihr das Polizistinnenleben manchmal schwer machte. Allzu oft hatte sie zu viel Mitgefühl mit den Pechvögeln und lebensuntüchtigen Gestalten, mit denen wir es im Alltag meist zu tun hatten. Ich folgte den beiden.
„Geklaut hat sie“, erwiderte die Kollegin auf meine Frage. „Im Penny an der Bahnhofstraße. Hat sich aber dummerweise erwischen lassen.“
In der Hand trug sie den Rucksack des Mädchens.
„Haben Sie sie schon vernommen?“
„Hab’s versucht.“ Sie rollte die Augen. „Aber sie lügt wie gedruckt. Angeblich heißt sie Mandy Spears, ist neunzehn und kommt aus London. Dabei redet sie astreines Heidelbergerisch.“
Die Lügnerin, die sie mit eisernem Griff am Oberarm festhielt, sah mich mit einer Mischung aus Neugier und Furcht an. Ihr Gesicht war rund, die Augen waren wasserblau. Die haselnussbraunen glatten und kinnlangen Haare sahen aus wie im Do-it-yourself-Verfahren geschnitten und waren heute noch nicht gebürstet worden. Aus der Nähe wirkte sie sogar noch jünger, als ich sie gestern geschätzt hatte. Eher acht oder neun. Und sie sah nicht aus, als würde sie auf der Straße leben. Das Gesicht war sauber gewaschen, auch die Hände waren nicht übermäßig schmutzig.
„Aus dem Ausland ist sie also nicht?“
„Definitiv nicht. Die stammt von hier.“
Ich wandte mich an das Kind. „Und du willst uns nicht sagen, wie du heißt und wo du daheim bist?“
Kurzes Kopfschütteln mit zugekniffenem Mund.
„Wieso nicht?“
Schweigen. Ihre Angst schien zuzunehmen. Die schmalen, blassen Lippen hielt sie fest aufeinandergepresst.
„Deine Eltern werden sich Sorgen um dich machen.“
Keine Reaktion.
„Wir haben uns schon mal gesehen, weißt du noch?“
Ihre Augen wurden schmal.
„Gestern Abend auf dem Weihnachtsmarkt.“
Nichts.
„Was geschieht jetzt mit ihr?“, fragte ich die Kollegin Ilzhöfer.
„Jugendamt natürlich. Ich hoffe, sie holen sie heut noch ab. Hier kann ich sie ja nicht unterbringen.“
Ich berichtete ihr von meinem Zusammenprall mit der angeblichen Mandy Spears aus London. Resigniert hob sie die gut gepolsterten Schultern. Die Kleine konnte hundert Diebstähle begangen haben und jeden einzelnen gestehen, und wir würden sie dennoch nicht festhalten können. Immer noch starrte die Taschendiebin mich an, jetzt aber nicht mehr furchtsam, sondern eher so, als erhoffte sie sich etwas von mir. Ihr Blick war wach und aufmerksam.
Ich ging in die Hocke, um auf Augenhöhe mit ihr zu kommen. „Du sprichst also nicht mit uns?“
Erst kam wieder keine Reaktion, der Blick irrte ab, aber dann immerhin ein angedeutetes Kopfschütteln.
„Wie alt bist du?“
Endlich öffnete sie den Mund. Mit klarer Stimme und in selbstbewusstem Ton verkündete sie: „Sechzehn.“
„Ha!“, rief Kollegin Ilzhöfer grimmig. „Die Ärztin hat gesagt, du bist noch nicht mal zehn.“
„Was wird deine Mama dazu sagen, dass du jetzt bei der Polizei bist?“, fragte ich.
Die Kleine schluckte, sah zu Boden, blinzelte. Schließlich murmelte sie: „Die ist weggegangen. Nach Amerika.“
„Ach herrje, du armes Ding.“ Die Kollegin ließ sie unwillkürlich los. „Und dein Papa?“
Die jetzt sehr kleinlaute Delinquentin zuckte mit den selbst in der wattierten Jacke noch schmalen Schultern. Soweit ich erkennen konnte, war sie nicht gerade unterernährt, aber nicht weit davon entfernt.
„Weiß nicht“, flüsterte sie schließlich.
„Bestimmt sucht er dich schon überall“, behauptete ich.
Sie war offensichtlich hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, nach Hause zu kommen, nach Schutz und Geborgenheit, und der Angst vor Gott weiß was. Vielleicht davor, ausgeschimpft zu werden, weil sie ausgerissen war? Bei Kindern dieses Alters überwog eigentlich früher oder später immer das Heimweh.
Ich richtete mich wieder zu voller Größe auf, wandte mich an die Kollegin und fragte so leise, dass das Mädchen es nicht verstehen konnte: „Irgendwelche Anzeichen von Gewaltanwendung?“
„Die Ärztin sagt, da ist alles in Ordnung. Auch sexuell, alles okay so weit. Da war nichts.“
Das Mädchen beobachtete uns jetzt wie ein Kaninchen, das Gefahr wittert, sich aber noch nicht zur Flucht entschließen kann. Doch auf einmal wieselte es los, wie der Blitz den Flur entlang. Die Kollegin stieß einen unterdrückten Fluch aus, versuchte noch, es festzuhalten, griff jedoch daneben. Im nächsten Augenblick war die Kleine schon um die nächste Ecke verschwunden.
„Festhalten!“, brüllte ich. „Das Kind in der orangefarbenen Jacke, festhalten!“
„Stopp!“, hörte ich eine sonore Männerstimme rufen. „Jetzt bleib doch stehen, Menschenskind!“ Und kurz darauf leiser: „Na also. Geht doch.“ Dann wieder lauter: „Aua, verdammich!“
Sekunden später war sie wieder bei uns. Sie hatte den reaktionsschnellen Kollegen in die Hand gebissen, der eine ärztliche Versorgung der Wunde jedoch für unnötig hielt.
Zu dritt gingen wir weiter. Frau Ilzhöfer schob das jetzt wieder lammfromme Mädchen in ein Büro.
„Mach’s dir hier erst mal bequem“, sagte sie mit mütterlicher Strenge. „Setz dich auf den Stuhl da, damit kannst du Karussell fahren. Hast du Hunger? Oder Durst?“
Gehorsam setzte sich das Mädchen auf den Schreibtischsessel. Das anfängliche Kopfschütteln ging übergangslos in heftiges Nicken über.
Polizeiobermeisterin Ilzhöfer schloss kurz die Tür, um mich zu verabschieden und mir mitzuteilen, dass bisher keine auf das Kind passende Vermisstenmeldung eingegangen war.
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