Am Ende schmeißen wir mit Gold - eBook-Ausgabe
Roman
„Man wäre ein Zyniker, könnte man den ausführlich geschilderten Zartheiten zwischen den jungen Figuren überhaupt nichts abgewinnen. Und irgendwie ist es auch beeindruckend, wie rückhaltlos emotional Hischmann seinen Max Flieger hier auftreten lässt: als empathiefähigen Sänftling, der gar nichts gemein hat mit den kaputten Sickstern und abgefuckten Wohlstands-Kids, die zuletzt die Belegschaft der deutschen Gegenwartsliteratur stellten.“ - Spiegel online
Am Ende schmeißen wir mit Gold — Inhalt
„Melancholisch, leicht und gefühlsecht - ein grandioser Roman zur Lage der Twentysomethings.“ Paul Jandl
Max ist seit kurzem Lehrer, aber das hat nichts daran geändert, dass er noch immer am liebsten lethargisch vor dem Fernseher herumhängt und Tierfilme schaut. Doch dann kommt der Anruf seiner Eltern: Er soll Haus und Hund hüten, während sie in Griechenland sind. Als er sich auf den Weg macht, ahnt er noch nicht, dass er von Süddeutschland weiter nach Kreta reisen wird, sich in New York den Geistern der Vergangenheit stellen muss und dass Jan und Maria wieder in sein Leben treten – zwischen den beiden konnte er sich schon vor 15 Jahren nicht entscheiden. „Ich sitze breitbeinig auf der Rückbank. Mein Vater steuert den Kombi, wie immer etwas zu schnell, die kurvige Straße hinauf zu unserem Haus. Es ist das letzte Gebäude im Ort, dann beginnt der Wald, in dem so viel passiert ist. Da habe ich zum ersten Mal geraucht, zum ersten Mal gefickt und einmal beinahe einen umgebracht.“
Leseprobe zu „Am Ende schmeißen wir mit Gold“
Erster Teil: Sommerferien
(...)
2
Ich ziehe alle Stecker, gebe den Pflanzen frisches Wasser und schließe zweimal ab.
In der Straßenbahn stinkt es nach Pisse, Bierflaschen rollen in den Kurven über den Gang, ein verdrecktes Trikot ist um eine Haltestange geknotet.
Am Sielwall funkeln Scherben auf dem Kopfsteinpflaster, ein Fahrradkurier fährt quer über die Gleise.
Es ist nicht Valentin.
Der Straßenbahnfahrer klingelt ihm verärgert hinterher.
Der ICE rollt über flaches Land. In Niedersachsen halten wir auf einer Brücke, Signalstörung, eine Gruppe Kanuten winkt [...]
Erster Teil: Sommerferien
(...)
2
Ich ziehe alle Stecker, gebe den Pflanzen frisches Wasser und schließe zweimal ab.
In der Straßenbahn stinkt es nach Pisse, Bierflaschen rollen in den Kurven über den Gang, ein verdrecktes Trikot ist um eine Haltestange geknotet.
Am Sielwall funkeln Scherben auf dem Kopfsteinpflaster, ein Fahrradkurier fährt quer über die Gleise.
Es ist nicht Valentin.
Der Straßenbahnfahrer klingelt ihm verärgert hinterher.
Der ICE rollt über flaches Land. In Niedersachsen halten wir auf einer Brücke, Signalstörung, eine Gruppe Kanuten winkt aus dem Strom nach oben.
Als ich zwischen Fulda und Hanau aus einem gekrümmten Schlaf erwache, schaue ich in die Augen eines popelnden Kindes. Es sitzt schräg gegenüber und isst den Schnodder. Sein Blick ist tief und böse.
Das Ende der Sommerferien macht mir Angst.
Frankfurt am Main und seine Hochhäuser rücken näher, ich schiebe die DVD in den Rechner: Jacques Cousteau steht am Bug der Calypso und blickt auf den Ozean.
Mit jedem Halt werden die Bahnhöfe kleiner, die Berge immer höher.
Der Schaffner kontrolliert mich. Er spricht den regionalen Dialekt und hat eine leichte Fahne. Vor den Fenstern wirbeln Pollen, fällt der dichte Nadelwald in Schluchten. Ich sehe Radfahrer auf steilen Straßen, die sich etwas beweisen wollen. Frisch geschorene Schafe dösen am Hang, die Sonne steht hoch und scheint auf meine nackten Beine. Kurz überlege ich mich einzucremen. Als würde ich in den Urlaub fahren.
Die Gleise verlaufen im letzten Streckenabschnitt parallel zu einem schmalen Quellfluss der Donau. Als ich ihm das letzte Mal beim Fließen zugesehen habe, war der Pegelstand sehr niedrig und die Algenpopulation gewaltig.
Vor noch viel längerer Zeit spielten Maria und ich vom Ufer aus „Wer weiter spucken kann“. Ich brachte ihr bei, wie man richtig rotzt.
Nach regelmäßigem Training versaute sie Stockenten mit nur einem Versuch das Gefieder.
Der Zug fährt in den Bahnhof ein. Mein Vater trägt einen Hut, meine Mutter ein Kleid. Ich kann mich nicht erinnern, dass sie je ein Kleid getragen hat. Es flattert im Wind.
Ich sitze breitbeinig auf der Rückbank. Mein Vater steuert den Kombi, wie immer etwas zu schnell, die kurvige Straße hinauf zu unserem Haus. Es ist das letzte Gebäude im Ort, dann beginnt der Wald, in dem so viel passiert ist. Da habe ich zum ersten Mal geraucht, zum ersten Mal gefickt und einmal fast einen umgebracht.
Die Nacken meiner Eltern sind braun. Der meines Vaters ist sauber ausrasiert, bei meiner Mutter erkenne ich zwei lange, schwarze Haare. Eines davon sprießt aus einem Leberfleck.
Dicht gewachsener Wein, nirgends schimmert die Wand durch. Hinter der Terrassentür steht der Hund, bellt und wedelt mit dem Schwanz, der mir viel länger vorkommt als sonst.
Lio springt an mir hoch und meine Mutter ruft: „Pfui, sei brav.“ Fiepend tappt er zwei Schritte rückwärts. „Schön, dass du da bist“, sagt sie und schaut mich an, streicht mir zärtlich über die Wange. Ihre Hand ist kalt und rau vom vielen Saubermachen. Eine Putzfrau kommt für sie nicht in Frage. Wenn man weiß, dass man den Dreck selbst wegmachen muss, bleibt man ein ordentlicher Mensch, davon ist sie überzeugt. Mein Vater öffnet die Terrassentür, und sofort summen ein paar Insekten ins Haus. Sonst ist es still. Es ist so still, dass man es mit der Angst zu tun bekommen könnte.
Barfuß stehe ich auf den warmen Holzplanken der Terrasse und luge auf mein Handy: Nur Notrufe.
Meine Mutter trägt Kaffee und Linzer Torte an den Tisch. „Ganz frisch“, sagt sie und schneidet sechs Dreiecke ins Rund. Sie hofft, dass ich mehrere Stücke esse. In ihren Augen bin ich immer zu dünn. Es macht sie glücklich, mich essen zu sehen. Lio streckt sich in der Sonne, seine Flanke hebt und senkt sich und ich gleiche meine Atmung seinem Rhythmus an. Bienen und Hummeln tauchen in den Blumenkelchen um uns herum, für Wespen ist es noch zu früh. „Schön, dass du da bist“, sagt meine Mutter noch einmal und schiebt sich eine Gabel in den Mund. „Wir fahren so gegen sieben“, informiert mich mein Vater. Ich nicke und leere die Kaffeetasse in einem Zug.
Peng!
In der Ferne knallt es. Lio hebt den Kopf, gähnt, lässt den Kopf wieder sinken. Vielleicht ist es sein letztes Jahr, immerhin ist er schon vierzehn. Als er drei war, gaben wir ihn mal für einen Urlaub ins Heim. Während wir im Ijsselmeer segelten, bekam er ein Magengeschwür.
Peng!
Erneut knallt es und dieses Mal zucke ich zusammen und Lio knurrt.
„Da jagt wohl einer“, sagt mein Vater.
Um halb acht sind meine Eltern immer noch nicht weg und diskutieren über Badetücher. Bald schon winkt mein Vater ab: „Ach Claudia, mach doch, was du willst.“
Mit dem Gong der Tagesschau schließe ich endlich die Tür hinter den beiden. Sie hupen im Wegfahren. Auf die Nachrichten folgt eine der Expeditionen ins Tierreich.
Gegen Mitternacht tippe ich eine Mail an Valentin, lade ihn ein, begreife, dass zwei Wochen eine lange Zeit sind. Anschließend hole ich mir Bier und Schokolade aus der Vorratskammer und werfe mich zurück auf die graue Ledercouch. Ich überlege, ein Vollmilchquadrat aus der Tafel zu knacken und es weit zwischen die Polster zu schieben, einen klebrigen Schatz zu verstecken, über den meine Mutter erschrecken und hinwegkommen wird.
Durch die Glastür sehe ich in den Flur. Lio liegt zusammengerollt im Körbchen. Ich denke daran, dass er bald sterben wird.
Als ich um 3 Uhr früh hochschrecke, muss ich mir Spucke vom Mund wischen, eine ganze Menge ist ins Kissen gelaufen. Ich fahre die feuchte Stelle mit den Fingern nach, rieche daran und erinnere mich dabei an Jan Kranig, der mir beim Räuber und Gendarm einmal volle Hacke ins Gesicht gespuckt hat, genau zwischen Oberlippe und Nase.
Im Fernsehen läuft die Wiederholung einer Talkshow. Eine schluchzende Frau ist an einen Lügendetektor angeschlossen.
Wenige Minuten später bin ich in den Bademantel meines Vaters geschlüpft und stehe mit einer Taschenlampe in unserer Garage. Es gibt auch ein Oberlicht hier drin, aber das würde mir jetzt die Stimmung, den Entdeckerdrang, verderben. An der Decke hängt Papas ausrangiertes Surfbrett, ein Relikt aus seiner Jugendzeit, von dem ich schon immer fand, dass es nicht zu ihm passt. Ich leuchte am Boden entlang in den hinteren Teil des Raums bis der Strahl mein BMX erfasst, und bin froh, dass es immer noch hier rumsteht. Claudia und Hans konservieren eher, statt zu konsumieren.
Zum Zwitschern früher Vögel schlafe ich im Doppelbett meiner Eltern erneut ein.
3
Ich wache auf. Die Uhr sagt Mittag. Im Zimmer ist es heiß und ich spüre ein leichtes Ziehen im Hals. Ich drücke auf den Schalter, und die Rollläden fahren nach oben. Der Himmel ist noch eine Nuance blauer als gestern.
Vor der Schlafzimmertür höre ich den Hund auf und ab tapsen. Es ist höchste Zeit für ihn.
Wir laufen zwischen Mais und Wald, unser Schritt ist zügig. Ein Specht hämmert, und in einiger Entfernung sind die Sägen von Waldarbeitern zu hören. Nach einer Viertelstunde erreichen wir die Bank, zwei dicke Fliegen hocken übereinander auf der abgenutzten Sitzfläche, flüchten, als mein Schatten das Holz trifft. Lio macht Platz und lässt zufrieden die Zunge baumeln. Ich überprüfe die Lehne:
M. M. J. K. H.
Unsere Initialen sind geblieben.
Wie alle richtigen Kinder hatten wir früher eine Bande. Wir, das waren Maria, ich und Jan, Konrad, der später mit seiner Mutter nach München zog, weil die es nicht aushielt, dass der Vater eine Andere geschwängert hatte, und Heike, die mit vierzehn plötzlich starb, ein Schlaganfall im Schlaf, ein später, plötzlicher Kindstod, hieß es, aber ich zweifelte immer daran, denn Kinder haben keinen Busen.
Täglich streunten wir durchs Dorf auf der Suche nach Hauptquartieren, untersuchten totgefahrene Eichhörnchen und Katzen mit angespitzten Stöcken, warfen Quitten von unserem Strauch auf vorbeifahrende Nachbarautos, stopften einmal mehrere davon in den Auspuff von Herrn Brückners BMW, der daraufhin nicht mehr anspringen wollte und auseinander gebaut werden musste. Seltsamerweise sagte er nie etwas deswegen.
In den Sommern leuchteten die Hügel dort, wo Getreide wuchs, im Abendlicht orange, die Wiesen waren grüner als irgendwo sonst. Im Winter bauten wir Sprungschanzen für Schlitten, Reifen, Tüten, und jedes Jahr brach sich einer was.
Wir waren die Kinder mit den strammen Waden, bezwangen auf dem Weg zur Schule die steilen Hänge mit den Rädern. Irgendwann begann ich Maria anders dabei anzusehen, spürte ein Kribbeln beim Anblick ihres festen Hinterns, während wir in den Pedalen stehend unserem letzten Kindersommer entgegen fuhren.
Eine Bremse beißt mich wieder ins Jetzt. Lio buddelt ein Stück weiter nach einem Tier. Ich pfeife und renne los und er rennt mit, und wir sind sofort außer Atem und werden trotzdem nicht langsamer.
Bevor ich duschen gehe, will ich das BMX putzen und den Sattel höher einstellen. Durch die Zähne pfeifend, schiebe ich das Rad aus der Garage. Ein Auto biegt in die Straße ein und hält schließlich vor mir. Auf den Lenker gestützt, erkenne ich die Person hinter der schmutzigen Windschutzscheibe und muss hektisch zwinkern vor Überforderung. Sie steigt aus, das Unterhemd, weiß und zu weit, unterstreicht die Bräune ihrer Arme, und ihre Haare fallen immer noch in dieser einen Strähne über die Augen.
„Hallo“, sage ich und verlagere noch mehr Gewicht auf den Lenker, der fast platte Reifen bläht sich an den Seiten.
„Hallo Max. Ich bring den Honig für deine Eltern.“
Die kleine silberne Eule um ihren Hals glitzert.
Ich habe sie ihr in Schweden gekauft.
In einem Café am Stadtrand von Göteborg aßen wir Schokoladenkuchen. Die Wirtin verkaufte neben Gebäck auch selbstgemachten Schmuck. Als Maria auf dem Klo war, kaufte ich den Anhänger. Auf dem Rückweg zum Auto legte ich ihr die Kette um.
„Eulen sind weise.“
„Denkst du, ich bin zu blöd?“
„Wie kommst du denn darauf? Ich fand sie einfach schön. Außerdem kann man nie weise genug sein.“
„Du denkst also nicht, dass ich nicht schlau genug bin.“
„Nee, Quatsch. Du bist klug.“
„Aber nicht klug genug?“
„Lass gut sein, Maria.“
„Aber Max –“
„Nein.“
„Doch.“
„Was?“
„Vielen Dank.“
Wir umarmten uns lange. So lange wie nie.
Ich lehne das Rad an den Zaun.
„Bist du auch zu Besuch?“, frage ich.
„Ich bin wieder ganz hier.“
„Echt? Wie lange schon?“
„Seit April. Ich wohne mit Freunden auf einem Hof weiter oben.“
Ihre Hand weist in den Himmel, und ich denke, dass ein Luftschloss gut zu ihr passt. Ich ziehe die Nase hoch, obwohl sie nicht läuft, und fingere am Kinn rum, obwohl da nichts wächst.
„Und du, Max? Was machst du in Königsburg?“
„Claudia und Hans sind auf Kreta, und ich hüte Lio.“
Schräg gegenüber rollt Frau Bender, die dickste Frau des Orts, ihre Mülltonne an die Straße. Maria und ich sehen ihr kurz zu, uns wieder an, und ich sage: „Ich denke oft an den Wal.“ Sie lächelt.
Wir liefen durch den Slottsskogen, unsere Turnschuhe färbten sich schwarz auf den matschigen Wegen. Auch die Kälte trieb uns bald ins Naturkundemuseum, wo wir nach hunderten Vögeln und Reptilien, schließlich in die „Walhalle“ gelangten. Dort steht dieses riesige Tier, eingerahmt von schwebenden kleineren Walen, die durch transparente Schnüre in der Luft gehalten werden. Ich ging auf die Empore, suchte das linke Auge des Wals, das mir im Verhältnis zum restlichen Körper so wahnsinnig klein vorkam. Ein Vater hob seinen Jungen an das pechschwarze Auge heran und der steckte seinen Finger hinein. Der Fotoapparat der Mutter blitzte mehrmals hintereinander. Maria kam zu mir, hakte sich unter. „Wahnsinn, oder?“, sagte sie, flüsternd, denn schließlich befanden wir uns auf einem Friedhof. „Früher konnte man sogar in sein Maul steigen, weißt du. Heute ist das nur noch an Wahltagen erlaubt, vor oder nach dem Stimmzettel.“
„Warum nur noch an diesen Tagen?“
„Irgendwann hat man ein Paar beim Sex im Wal erwischt und das fanden viele doch ein bisschen arg.“
„Das ist ja furchtbar“, erwiderte ich und wandte mich ein letztes Mal dem Tier zu.
Dann gingen wir zurück ins Wohnheim.
Marias Auto hat vorne links eine ziemliche Schramme.
„Hattest du einen Unfall?“
„Ein Reh, letzte Woche. Es war gleich tot.“
„Scheiße.“
„Zum Glück war mein Vater schnell da.“
Marias Vater ist Förster. Früher nahm er uns oft mit in den Wald, zeigte uns Bachen mit ihren Frischlingen, erläuterte den Unterschied zwischen Fuchs- und Dachsbau, trichterte uns die Namen aller Bäume ein. „Sollte man kennen“, sagte er immer.
„Immerhin weißt du es jetzt“, sage ich.
„Was weiß ich jetzt?“
„Dass du nicht einfach weiterfährst.“
Wir fuhren im Mietwagen an der schwedischen Küste entlang.
Wenn wir ausstiegen, um am Meer herumzustehen, dem Impuls folgend, den alle verspüren, die nicht mit der See vor der Haustür groß geworden sind, blies die böige Luft uns die Backen rot und die Lippen trocken. Maria legte sich in den Wind, und ich versuchte ihm den Rücken zuzudrehen, vergeblich, da auch er sich stetig drehte.
In einem der menschenleeren Feriendörfer, auf einer der menschenleeren Inseln, überfuhr Maria beinahe ein Mädchen, als es die Straßenseite wechselte. Wir ruckten nach vorne in unseren Sitzen und Maria starrte das Mädchen an und das Mädchen starrte Maria an und ich rauchte eine Zigarette, obwohl die auf dem Armaturenbrett rot umkringelt und dick durchgestrichen war. Das Mädchen lief davon, niemand folgte ihm und niemand wartete auf der anderen Seite. Maria stellte den Motor ab, nahm mir die Kippe aus den Fingern. Zittrig saugte sie am Filter, sagte leise: „Wäre ich allein gewesen und hätte sie übersehen, vielleicht wäre ich einfach davongefahren und nie mehr glücklich geworden. Keiner kann sagen, was er in so einer Situation tun würde. Das macht mir große Angst.“
Ich wollte ihr klarmachen, wie gut ich das nachvollziehen konnte, dass ich seit meinem Au-pair-Fiasko genau wusste, wovon sie sprach. Stattdessen schwieg ich weiter, hatten wir eine Stunde später sperrigen Sex auf dem Rücksitz. Ich war so zärtlich, wie ich konnte, im Radio lief Classic Rock. Danach wischte ich die beschlagenen Scheiben frei und entschied: „Ich fahre den Rest.“
Wir stehen stumm. Meine Beine jucken, kribbeln gegen die peinliche Stille an. Endlich startet einer der Nachbarn seine Kreissäge. Weil mir nichts Blöderes einfällt, rufe ich in den Lärm hinein: „Kaffee?“
Das Sägeblatt trifft auf Holz, der schrille Ton senkt sich ein wenig.
4
Valentin sagt, Erinnerungen sind beschissen.
5
Die Maschine mahlt Bohnen und füllt unsere Tassen bis zum Rand. Ich schweige wieder und auch Maria streichelt nur energisch Lios Kopf. Unnötigerweise frage ich dann doch: „Was ist
mit deinem Studium?“
Sie nimmt die Ohren des Hundes in die Hände, als möchte sie nicht, dass er hört, was jetzt kommt: „Hab abgebrochen. Ging nicht mehr.“
Zack, zack, spricht, spuckt sie das aus, als wäre es Schleim einer Erkältung, den man schnellstmöglich loswerden will, nachdem man ihn hochgezogen hat. Maria studierte Skandinavistik, wechselte nach der Zwischenprüfung, nach uns, von Bremen nach Freiburg. Sie beschäftigte sich mit dem Werk von Selma Lagerlöf, dem Nils Holgersson, und sagte oft, wie schade sie es finde, dass ich auch eines dieser Kinder gewesen sei, die die Trickserie geglotzt hatten, ohne jemals vom Buch gehört zu haben. In diesen, ihren elitären
Momenten, wünschte ich mir immer, ich würde in einem Gewässer treiben, die Ohren unter der Wasseroberfläche, erfüllt von nichts als einem dumpfen Rauschen.
Ich setze neu an: „Dieser Hof, auf dem du wohnst. Wie ist es
denn dazu gekommen?“
„Durch Jan.“
„Welcher Jan?“
Sie sieht mich unmissverständlich an.
„Jan Kranig?“
Sie nickt.
Ich werfe meinen Kopf in den Nacken, drehe mich einmal im Kreis auf einem der drei modernen Metallhocker, die meine Eltern neuerdings besitzen, schiebe die leere Tasse mit Schwung über die Anrichte. Erst ganz kurz vor der Kante kommt sie
zum Stehen.
Damals im Wald, denke ich.
„Bis morgen also“, sagte Maria und fuhr davon. Zuvor erzählte sie von sich und den anderen auf dem Hof und ich begriff es höchstens ansatzweise. Mehrmals fiel das Wort Autarkie und
wie gut es sei, für sich selbst verantwortlich zu sein. Sei still, sei bitte einfach still, dachte ich. Zu fünft leben sie dort, verarbeiten Honig, bauen Gemüse an, Hühner gibt es auch. „Ich
glaube, du wirst es mögen“, sagte sie und ich sagte nichts darauf, lachte nur blöd. Wenngleich ich gern geschrien hätte: „Auch ich hab mich verändert, auch ich hab mich weiterentwickelt.“
„Scheiß Hippies“ schmierte jemand vor Jahren an das einzige Bushäuschen im Ort.
Ich denke darüber nach, mir einen Edding zu schnappen und den Satz durch ein dickes Ausrufezeichen zu ergänzen.
6
Seit Stunden krame ich in Kisten, schaue Alben und Ordner durch. Nachdem ich mich an einem Foto meiner Großmutter geschnitten, ein wenig Blut auf ihre Schürze geschmiert habe, entdecke ich das Abschlussbild meiner Grundschulklasse. Maria steht zwischen mir und Jan und lächelt. Dort wo heute ihre blitzblanken Schneidezähne sind, ist auf dem Bild nur eine Lücke, durch die sie immer gerne Nudeln oder Strohhalme gesteckt
hat.
Eine Seite weiter im Album mit dem Titel 1987–1998: Fastnacht 96. Ich bin dreizehn und als Maus kostümiert, neben mir Maria als Vampir und neben ihr Jan als Zorro, mein Vater mit grimmigem Gesicht im Hintergrund, ohne Verkleidung. Ich weiß nicht mehr, warum mein Vater schlecht gelaunt war, dafür aber noch genau, dass ich mich ursprünglich als Indiana Jones verkleiden wollte, tags zuvor aber eine Wette verloren hatte. Und auch dieser bestimmte Nachmittag lag in diesem Jahr.
Maria und Jan waren Räuber, Konrad und ich Gendarmen. Heike war mit ihren Eltern in Finale Ligure, so wie immer in den großen Ferien. Es war ein besonders heißer Tag in einem besonders heißen, trockenen Sommer. Das Gehölz knackte nervös unter unseren Schritten. Wir suchten eine halbe Stunde, dann teilten Konrad und ich uns auf. Ich war flink und trotzdem unauffällig, im Raubkatzenmodus, da entdeckte ich Maria und Jan unter dem Hochstand. Und weil ich so erschrak, ging ich nicht, ich stürzte in Deckung. Beide hatten ihre Hosen heruntergezogen und streichelten sich und Jan hatte schon Haare am Sack, und ich hasste ihn von null auf hundert in einer Sekunde. Konrad pfiff in die Finger, gab Laut, dass er niemanden entdeckt hatte. Erst jetzt bemerkte ich die Ameisen, die über meinen Handrücken krabbelten, ich war nur wenige Meter neben ihrem Haufen gelandet. Der Pfiff war auch das Zeichen für Maria und Jan, sich die Hosen wieder überzustreifen und im Wald ein neues Versteck zu beziehen. Voller Angst, sie könnten da weitermachen, wo sie aufgehört hatten, sprang ich auf und preschte hinterher. Ich war rasend und zu jung, um zu wissen oder zuzugeben, dass die Eifersucht was mit Mädchen lieben, Jungs lieben zu tun haben könnte. Knurrend und schreiend holte ich auf, Maria knickte um, Jan wollte ihr helfen, und das war sein und mein Verhängnis. Ungebremst rammte ich ihn weg, er hatte Glück, ich hatte Glück, denn in dem Moment war mir vollkommen egal, dass kein Stein oder spitzer Ast dort lag, wo er mit dem Hinterkopf auf den Waldboden traf. Mein Schädel war ganz heiß, ich spürte die aufsteigenden Tränen kommen, pfefferte Jan eine harte Ohrfeige ins Gesicht. Er nannte mich „Hurensohn“, die schlimmste Beleidigung in diesen Zeiten, spuckte mich an, genau zwischen Oberlippe und Nase.
Wild entschlossen, vor allem aber wild, griff ich um seinen Hals, er versuchte sich loszuzappeln, doch ich saß optimal auf seinen Armen und Beinen, ließ ihm keinen Spielraum und drückte und drückte, er wurde ganz rot, ich gab nicht nach, und erst als Maria mir in den Oberarm biss und ein Büschel Haare ausrupfte, ließ ich von ihm ab und strauchelte zurück. Maria beugte sich über Jan und sah mich an wie einen Fremden. Schnell stand ich auf und rannte davon, am Hochstand begegnete mir Konrad, ich blieb nicht stehen und er rief: „Hast du sie gefangen, hast du das Gold?“
Das Gold waren vier Tannenzapfen, die Maria in einem Stoffbeutel am Gürtel trug, und mir scheißegal. Ich rannte weiter, mit der Absicht, nie mehr stehenzubleiben.
Viele Kinder sind irgendwann grausam, wenige sind nachtragend. Maria verzieh mir relativ schnell. Jan ging mir aus dem Weg oder ich ihm, wie das beschämte Gegner eben tun. Wir spielten nie mehr in dieser Konstellation.
Meine Handfläche, der Schnitt darin brennt. Ich drücke unterhalb der Wunde, bis Blut hervorquillt, und lutsche es weg. Ziemlich aufgewühlt beginne ich an mir herumzuspielen,
werde schnell hart. In meiner Vorstellung sind es ihre Hände.
„Eine beeindruckemde Achterbahnfahrt, die in beeindruckender Manier erzählt wird. Gerne mehr davon“
„Man wäre ein Zyniker, könnte man den ausführlich geschilderten Zartheiten zwischen den jungen Figuren überhaupt nichts abgewinnen. Und irgendwie ist es auch beeindruckend, wie rückhaltlos emotional Hischmann seinen Max Flieger hier auftreten lässt: als empathiefähigen Sänftling, der gar nichts gemein hat mit den kaputten Sickstern und abgefuckten Wohlstands-Kids, die zuletzt die Belegschaft der deutschen Gegenwartsliteratur stellten.“
„Bekanntlich ist in Romanen alles erlaubt, solange sie nicht langweilen. Und das wird dieser Debütroman, den man für seinen Mut loben muss, sich der Schönheit und Melancholie von Erinnerungen anzunehmen, nie.“
„Der 30-jährige Berliner Fabian Hischmann hat eine ganz unprätentiöse, unpathetische Sprache für den Ringkampf seines Helden mit sich selbst gefunden. [...]. Geschult in Hildesheim und am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig, hat sich Hischmann das seltene Gespür für ein packendes Maß an Plot und Atmosphäre bewahrt - und dafür, Empathie für seine Figuren zuzulassen. [...]. Fabian Hischmann selbst hat nicht bloß ein paar Bilder im Griff, sondern einen Seelentrip in voller Breitseite.“
„Der Debütroman von Fabian Hischmann tanzt sehr smart tausend Diskurse gleichzeitig an. [...]. "Am Ende schmeißen wir mit Gold" reizt bis aufs Blut. Gleichzeitig ist das Buch hoffnungslos melancholisch und erzählt einfach mal von Tierfilmen. Das Buch ist also alles andere als langweilig.“
„Sein Protagonist, seine Schilderungen, das ganze Buch sind so angenehm unaufgeregt. Der beste Nährboden für Intelligenz. Und manche Szenen, die muss man erstmal nachmachen. Zum Beispiel die, in der Max Flieger nach Kreta reist und im Kreis einer Gastfamilie, die seine Eltern zuletzt erlebt hat, ein Geburtstagsfrühstück kredenzt bekommt. Augen feucht.“
„"Am Ende schmeißen wir mit Gold" erzählt manchmal unentschlossen, aber sommerlich flirrend und angenehm melancholisch vom Sich-Finden und Erwachsenwerden.“
„Es ist nicht das schlechteste Zeichen, wenn die Fronten hart umkämpft werden. [...]. Mit "Bright Lights, Big City" ist man mittendrin im Diskurspogo dieses hochinteressanten Romans, der vom Weiten ganz harmlos wirkt, beim näheren Hinsehen aber eine wilde Anspielungsklaviatur herzeigt. [...]. Aber es ist Metaebenenliteratur, die sehr smart tausend Diskurse gleichzeitig antanzt, das Feuilleton reizt bis aufs Blut und hoffnungslos melancholisch ist. Das Gold, mit dem am Ende geschmissen wird, ist übrigens ein schnöder Tannenzapfen, der glänzt nicht einmal. Aber ist das Bild an sich nicht schön?“
„Eine wilde Road-Novelle kommt von da an in Schwung, mit viel Abenteuerlust und Sehnsucht, erzählt in einem dezent melancholischen Sound. [...]. "Am Ende schmeißen wir mit Gold" ist ein klassischer Bildungsroman, mit einem, der auf der Suche nach sich selbst, vielleicht auch nach dem Sinn des Lebens ist. Aber der Roman ist auch eine kühle Bestandsaufnahme dessen, was es bedeutet, in dieser Welt zu dieser Zeit in dieser Gesellschaft erwachsen zu werden. [...]. "Am Ende schmeißen wir mit Gold" ist das Ausleuchten einer unentschlossenen Generation, die sich schwertut, die Adoleszenz hinter sich zu lassen und aus einer Unverbindlichkeit eine Verbindlichkeit zu machen.“
„Schon der Anfang hätte gute Chancen auf einen Platz in der Hitliste der denkwürdigsten ersten Sätze: "Ich gebe Gas. Vor mir liegen meine blutigen Hände in vorschriftsmäßiger Zehn-vor-zwei-Stellung auf dem Lenkrad. Das Blut gehört Tim, einem Jungen aus dem Nachbarort." Hier wird mit wenigen Federstrichen ein Drama skizziert - und gleichzeitig ein Konflikt angelegt, zwischen dem Vorschriftsmäßigen und dem ganz und gar Regelwidrigen. [...].“
„Fabian Hischmann ist schon jetzt eines der Bücher des Jahres gelungen. [...]. Und so entsteht eine Geschichte, deren Wucht man sich kaum entziehen kann. Hischmann ist mit seinem Romandebüt etwas gelungen, das nur wenige schaffen: ein Werk, dessen Knall noch lange nachhallen wird.“
„Und plötzlich ist der Roman zu Ende, und man denkt: Von wegen x-ter Aufguss! Da ist feine Melancholie am Werk, die nicht jaulig daherkommt, sondern den Leser in einer zwar schlichten und doch rasanten Sprache mitreißt - in die Abgründe des Seins, auf die Gipfel der Freundschaft. Der 30-jährige Hischmann hat das 2011 erhaltene Bremer Autorenstipendium gut genutzt. Dieser Erstling hat es in sich.“
„Es ist vielleicht ein Buch, wie man es nur schreibt, wenn man jung und noch nicht abgeklärt ist. Max Flieger ist einer, der sucht, aber der sich auch verlieren kann. Der Autor hat diese Figur schön eingefangen.“
„In seinem Romandebüt "Am Ende schmeißen wir mit Gold" schreibt Fabian Hischmann über eine Generation, die schon alles hatte und überall war, bevor sie eigene Sehnsüchte entwickeln konnte. Das ist ein verdammt schweres Los, erfährt man in diesem schwebend leichten, lakonischen Text.“
„Ein sehr gelungenes und absolut lesenswertes Debüt.“
„Fabian Hischmann hat etwas zu erzählen, und er tut es auf erfreulich klare Weise und mit sprachlicher Sorgfalt.“
„[...] dem 31-jährigen Fabian Hischmann ist mit seinem Debütroman eine so wunderbare Geschichte gelungen, dass einfach nur Verzückung bleibt. Über die sanfte, melancholische Erzählweise. Über die so klare und doch so zurückhaltende Sprache. Über die Form, die auf ein paar wenige Knalleffekte setzt; genau so viele, dass sie die Spannung steigern ohne zu nerven.“
„Hischmanns Roman ist eine dieser Aufbruchgeschichten, diesmal mit dem jungen Lehrer Max. So etwas muss schnell und schelmisch sein, und wenn Hischmann jetzt bereits mit Herrndorfs "Tschick" verglichen wird, weiß man, dass dies mit seiner ersten Erzählung auch gelungen ist.“
„Fabian Hischmanns Romandebüt "Am Ende schmeißen wir mit Gold" ist eine Coming-of-Age Geschichte voller Wendungen. Erfrischend, trivial, poetisch.“
„Der ungewöhnliche Titel macht neugierig. Und der Inhalt enttäuscht nicht. [...]. Die Geschichte ist fast schon poetisch - aber nie abgehoben - geschrieben.“
„Wer Fabian Hischmanns subjektivistisch-symbolistischen Roman gelesen hat, ahnt, dass es gar nicht so leicht ist, es allzu leicht zu haben. Zwischen Wald und Großstadt - was hier Synonyme sind, die beide auf den Seelendschungel verweisen - sehen wir Max dabei zu, wie er sein Coming Out and of Age erfährt. Mit dreißig, scheint's, hat man es zwar längst nicht geschafft. Aber aus dem Gröbsten ist man raus, vielleicht.“
„Man verlässt den späten Helden [...] schließlich mit dem guten Gefühl, einer insgesamt recht authentischen Expedition zu sich selbst beigewohnt zu haben. Und man hat große Lust, die Entwicklung dieses neuen Popliteraten, aber auch seines Protagonisten Max, weiterzuverfolgen.“
„Ein wirklich bemerkenswertes Buch [...]. Am besten du liest selbst mal rein in dieses melancholisch-leichte Debüt eines neuen literarischen Talents, von dem wir in den kommenden Jahren hoffentlich noch ein paar weitere Werke dieser Güteklasse vor den Latz geknallt bekommen.“
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