Am Himmel kein Licht - eBook-Ausgabe
Die lange Reise eines kleinen Jungen, der allein aus Afghanistan flieht
„Ein informatives Buch, das wahrhaftig zu Herzen geht und zum Nachdenken darüber anregt, wie echte Flüchtlingshilfe aussehen sollte.“ - Christ in der Gegenwart
Am Himmel kein Licht — Inhalt
Gulwali Passarlay wuchs in einer traditionellen afghanischen Paschtunen-Familie auf. Mit nur 12 Jahren schickt ihn seine Mutter Richtung Europa, um ihn vor dem blutigen Konflikt der Taliban mit den US-Soldaten zu retten, dem bereits sein Vater zum Opfer gefallen war. Seine Flucht ist eine atemberaubende Odyssee durch acht verschiedene Länder, die er als Junge alleine bewältigen muss: das vollständige Ausgeliefertsein an die Schlepper, gefährliche Grenzübertritte, Hunger und Erschöpfung, Gefängnisaufenthalte, eine Bootsfahrt übers Mittelmeer, die er nur haarscharf überlebt. Nach zahllosen Versuchen gelingt ihm schließlich die Einreise in England, wo er sich mit großem Bildungshunger ein neues Leben aufbaut. Die packend erzählte und emotional aufrüttelnde Geschichte eines Flüchtlingsjungen, der es geschafft hat, sich in der westlichen Welt zu behaupten.
Leseprobe zu „Am Himmel kein Licht“
Prolog
Bevor ich starb, stellte ich mir vor, wie es sich anfühlen würde zu ertrinken.
So würde ich also sterben. Weit weg von der Wärme meiner Mutter, dem Schutz meines Vaters und der Liebe meiner Familie. Die weißen Wellen würden ihren Rachen aufreißen und mich verschlingen, und mein junger Körper würde in den eisigen, finsteren Tiefen versinken.
„Morya, Morya!“ schrie ich und flehte meine Mutter an, ihren zwölfjährigen Sohn in die Arme zu nehmen und aus den Fluten zu retten.
Diese Reise sollte doch der Anfang meines Lebens sein und nicht das Ende.
Ich habe [...]
Prolog
Bevor ich starb, stellte ich mir vor, wie es sich anfühlen würde zu ertrinken.
So würde ich also sterben. Weit weg von der Wärme meiner Mutter, dem Schutz meines Vaters und der Liebe meiner Familie. Die weißen Wellen würden ihren Rachen aufreißen und mich verschlingen, und mein junger Körper würde in den eisigen, finsteren Tiefen versinken.
„Morya, Morya!“ schrie ich und flehte meine Mutter an, ihren zwölfjährigen Sohn in die Arme zu nehmen und aus den Fluten zu retten.
Diese Reise sollte doch der Anfang meines Lebens sein und nicht das Ende.
Ich habe einmal gehört, dass das Ertrinken ein friedlicher Tod sein soll. Aber wer das behauptet hat, der hat nicht miterlebt, wie sich erwachsene Männer vor Angst in die Hosen machen, während ihr überfülltes, ruderloses Boot auf dem Mittelmeer durch einen Sturm treibt.
Das bisschen Proviant, das der Kapitän an Bord gebracht hatte, war schon nach wenigen Stunden aufgezehrt. Das war vor fast zwei Tagen gewesen. Das Einzige, von dem wir noch reichlich hatten, waren Angst, Übelkeit und Kot. Die Hoffnung war während der endlosen Nacht im Meer versunken und hatte den Mut mit in die Tiefe gezogen. Die Verzweiflung füllte meine Taschen wie Steine.
Als wir in der Türkei in See gestochen waren, hatte uns der weißhaarige kurdische Schmuggler versprochen, dass wir in wenigen Stunden in Griechenland sein würden. Der Mann arbeitete für einen mächtigen Schlepper, einen jener schattenhaften Unternehmer, die den Strom der verzweifelten Migranten durch ihre Länder kontrollieren und besitzen. Über Kontaktleute und Mittelsmänner fließt Geld und werden Abmachungen getroffen. Ein mächtiger Schlepper hat seine Handlanger überall, er bezahlt Hunderte Schleuser, Fahrer und Führer und schmuggelt oft Hunderte und Tausende Migranten und Flüchtlinge gleichzeitig durch ein Land.
Doch trotz der Versprechungen des Kurden waren seit unserem Aufbruch inzwischen zwei Tage vergangen, und wir trieben noch immer auf dem Meer.
Am Morgen des zweiten Tages hatte der Kapitän die türkische Flagge gegen eine griechische getauscht. Das hätte ein gutes Zeichen sein sollen, doch irgendetwas stimmte nicht. Wenn wir in griechischen Gewässern waren, warum waren wir dann noch nicht an Land gegangen?
Alle ahnten, dass etwas schiefgelaufen war, und unter den Männern machte sich Panik breit. Viele waren unter Deck eingesperrt – diejenigen, die als Erste an Bord gegangen waren und die Schwächeren beiseitegestoßen hatten, um einen Platz zu ergattern. Als sie das Boot bestiegen hatten, hatte der Kapitän sie in den Kielraum geschickt. Woher hätten sie auch wissen sollen, dass sie hinter einer Eisentür eingesperrt werden? Sie hatten nicht damit gerechnet, in einem schwimmenden Sarg gefangen zu sein, und hatten die halbe Nacht hindurch verzweifelt geschrien, der Kapitän solle sie herauslassen. Ich dankte dem Schöpfer, dass ich nicht dort unten war.
Ich war als einer der Letzten an Bord gegangen und hatte befürchtet, dass ich keinen Platz mehr bekommen würde. Da der Kielraum bereits voll war, bekam ich einen Platz auf dem Deck – eine glückliche Fügung. Als einziges Kind an Bord hatte ich ohnehin schlechte Karten, aber auf dem offenen Oberdeck hatte ich zumindest eine kleine Chance.
Es gab keine Toilette an Bord. Viele Männer hatten ihre Kleidung beschmutzt, andere hatten in leere Wasserflaschen uriniert, und einige hoben sich die gelbe Flüssigkeit auf, um sie zu trinken. Verzweiflung setzt gewaltige Kräfte frei. Eine stinkende Mischung aus Meerwasser, Urin und Fäkalien schwappte um unsere Füße, und selbst an der frischen Luft war der Gestank unerträglich. Außerdem tat mir der Hintern weh, weil ich seit zwei Tagen auf der harten Holzbank saß, die um das Deck herumlief. Hier schlief ich auch, wobei es unmöglich war, mehr als ein paar Minuten am Stück zu dösen. Wir waren so eng zusammengepfercht, dass wir nur im Sitzen schlafen konnten.
Neben mir saß Hamid, ein junger Mann von Anfang zwanzig. Wir hatten uns sechs Tage zuvor kennengelernt, während wir versteckt im Wald auf unsere Überfahrt gewartet hatten. Abwechselnd legten wir den Kopf auf die Schulter des anderen. Mein einziger anderer Freund, Mehran, war einer der Unglücklichen, die im Kielraum eingesperrt waren. In den Nächten hörte ich ihn vor Angst schreien: „Allah, hilf uns, Allah!“
In der zweiten Nacht fanden wir ein wenig Erholung, weil der Kapitän mir und Hamid erlaubte, auf das Dach des Boots zu klettern. Ich weiß nicht, warum er ausgerechnet mich auswählte – vielleicht tat ich ihm leid, weil ich ein kleiner Junge und allein unterwegs war.
Das Boot schlingerte durch die hohen Wellen, doch oben auf dem Dach fühlte ich mich sicherer. Es war eine solche Erleichterung, die frische Luft zu atmen und die Arme und Beine ein wenig ausstrecken zu können, aber gleichzeitig war mir schrecklich bewusst, dass ich bei der kleinsten falschen Bewegung über Bord und in die Wogen stürzen würde. Ich konnte nicht schwimmen: Wenn ich ins Meer fiel, war ich tot. Ich nahm nicht an, dass mir jemand hinterherspringen würde, um mich zu retten.
Beim Anbruch des dritten Tages war unser Kapitän furchtbar nervös und brüllte dauernd auf Türkisch in sein Funkgerät. Vermutlich wusste er, dass wir es ohne Wasser nicht mehr lange machen würden.
Neben mir tuschelten zwei Passagiere, beide wie ich Afghanen, ob sie das Boot in ihre Gewalt bringen sollten.
„Komm, wir überwältigen und fesseln ihn“, flüsterte der eine.
Sein Freund schüttelte den Kopf. „Du spinnst. Wer soll uns denn dann nach Griechenland bringen?“
Der Zweite hatte recht.
Ob es uns gefiel oder nicht, wir waren dem Kapitän und dem Meer ausgeliefert.
Inzwischen war mir schwindelig vor Hunger und Durst, und ich hatte Halluzinationen. Mein Hals war so trocken, dass ich nicht mehr durch den Mund atmen konnte. Ich stellte mir vor, wie schön es in Griechenland sein würde – schon allein, dass ich mich waschen könnte und nicht mehr nach Pisse und Kotze stinken würde. Ich träumte von neuen Kleidern und davon, wie gut sie sich auf der sauberen Haut anfühlen würden.
Ich musste mich zu sehr auf das nackte Überleben konzentrieren, um allzu oft an meine Familie denken zu können, die ich zurückgelassen hatte. Die Erinnerung machte mich unsagbar traurig, vor allem der Gedanke an meinen dreizehnjährigen großen Bruder Hazrat. Mit ihm zusammen war ich aus Afghanistan geflohen, weil wir dort um unser Leben fürchten mussten, doch schon nach wenigen Tagen waren wir von den Schleppern auseinandergerissen worden.
Es gab mir Kraft, wenn ich mich an die Entschlossenheit meiner Mutter erinnerte und mir ihre Stimme vorstellte, mit der sie mir Mut zusprach: „Pass auf dich auf und komm nicht zurück.“ Das waren ihre Abschiedsworte gewesen, damit hatte sie mich und meinen Bruder auf den Weg geschickt, um in der Fremde Zuflucht zu suchen. Das alles, um uns zu retten und vor Männern in Sicherheit zu bringen, die uns nach dem Leben trachteten.
Wie oft hatte ich mir gewünscht, sie hätte es nicht getan.
Irgendwann am Nachmittag des dritten Tages begann der Motor zu stottern und zu spucken, dann setzte er schließlich ganz aus. Eine Weile tat der Kapitän noch so, als wäre alles in Ordnung. Doch während er versuchte, den alten Dieselmotor wieder anzuwerfen, wurde er immer wütender. Schließlich brüllte er wieder in sein Funkgerät, diesmal in einer Sprache, die ich nicht erkannte.
Nach einer besonders hitzigen Diskussion bat er einen Passagier, der Türkisch sprach, für uns alle zu übersetzen.
„Sie schicken ein neues Boot. Keine Sorge.“
Der Kapitän lächelte in die Runde und zeigte seine fauligen Zähne, doch seine Augen verrieten die Wahrheit. Ich bekam große Angst. Nicht alle von uns würden überleben, so viel war mir klar. Ich spürte, wie der Zorn in mir hochkochte über all die schmierigen Lügen, die er uns mit solcher Leichtigkeit erzählt hatte.
Meine Ängste bestätigten sich, als das Wetter umschlug. Der Wind heulte furchterregend und peitschte die Wellen auf.
„Morya, Morya! Ich will meine Morya!“ Ich schrie nach meiner Mutter im fernen Afghanistan. Ich war ein einsamer kleiner Junge, der bald in einem eisigen, fremden Meer seinen Tod finden sollte.
Als ich an Bord gegangen war, hatte ich zum ersten Mal im Leben das Meer gesehen. Bis dahin kannte ich es nur aus meinen Schulbüchern. Die Wirklichkeit übertraf meine wildesten Träume. In meinen Augen waren diese Wellen das Tor zur Hölle.
Ich schaffte es, ein wenig höher zu klettern, auf das Dach des Steuerhäuschens. Dort hatte ich Luft und Platz, aber nun wurde ich von jeder Welle hin- und hergeschleudert. Mit meinen kleinen Fingern klammerte ich mich an die Reling, bis meine Knöchel weiß und blutleer waren.
Nach einigen Stunden im Sturm leckte das Boot und begann, sich mit Wasser zu füllen. Die Männer schrien, und die Eingesperrten hämmerten verzweifelt mit Fäusten und Schuhen gegen die Tür.
„Wir ertrinken, lass uns raus! In Gottes Namen, lass uns raus! Wir werden sterben!“
Der Kapitän fuchtelte mit einer Pistole herum und schoss in die Luft, aber niemand schenkte ihm Beachtung. Es sah so aus, als müsste das Boot jeden Moment kentern.
Einen kurzen Moment lang war ich ruhig und ergab mich in mein Schicksal: „So wirst du also sterben, Gulwali.“ Ich stellte mir in allen Einzelheiten vor, wie ich ertrinken würde, und spürte, wie sich das kalte Wasser über mir schloss. Vor meinen Augen blitzten Bilder aus der Vergangenheit auf: die runzligen, weisen Gesichter meiner Großeltern; der Bergbach, neben dem ich als Vierjähriger Schafe gehütet hatte; das Arztmikroskop, das mein Vater unter dem Arm trug, während ich stolz neben ihm her über den Basar ging; die Weinreben, in deren Schatten ich mit meinen Brüdern Schutz vor der sengenden Sonne suchte; der Geruch des Bügeleisens, mit dem ich in der Schneiderei der Familie beim Bügeln geholfen hatte; das Summen meiner Mutter, die den Hof fegte.
Nein.
Ich wollte nicht aufgeben.
Ich war seit fast einem Jahr unterwegs. In dieser Zeit hatte ich jede kindliche Unschuld verloren. Ich hatte unaussprechliche Demütigungen und Gefahren erlitten, ich hatte zugesehen, wie Männer zusammengeschlagen wurden, war aus einem rasenden Zug gesprungen, war tagelang in glühend heiße Lastwagen eingesperrt gewesen, war zu Fuß über halsbrecherische Bergpfade gewandert, um Grenzen zu überqueren, hatte zweimal im Gefängnis gesessen und war von Soldaten beschossen worden. Kaum ein Tag war vergangen, an dem ich nicht erlebt hatte, wie unmenschlich Menschen einander behandeln.
Aber wenn ich so weit gekommen war, dann würde ich auch noch weiter kommen. Ein Überlebensinstinkt spornte mich an. Ich wollte nicht sterben, nicht hier, nicht so, nicht im Kampf mit den Wellen, nicht in den eisigen Tiefen des Meers. Wie sollte man hier meine Leiche finden?
Wieder sah ich das Gesicht meiner Mutter vor mir. „Du kannst nicht hierbleiben, Gulwali. Wenn ich dich wegschicke, dann ist das zu deinem eigenen Schutz.“
Was würde sie fühlen, wenn sie mich jetzt sehen könnte? Würde sie je erfahren, was mit mir passiert war?
Dieser Gedanke verlieh mir neue Kräfte. Ich wusste, dass uns der Kapitän ein weiteres Mal angelogen hatte. Es würde kein neues Boot kommen, und dieses hier sank rasch. Auf keinen Fall würde ich seinen Anordnungen folgen und mich unten verstecken.
Ich öffnete meinen Rucksack und zog ein rotes Hemd heraus, das ich in Istanbul gekauft hatte und das ich eigentlich zur Feier meiner Ankunft in Griechenland anziehen wollte. Ich winkte und schrie: „Hilfe! Hilfe! Helft uns!“
Ich hatte nicht bemerkt, dass der Kapitän hinter mir stand. Als ich mich umdrehte, trat er mir ins Gesicht, sodass ich hinunter aufs Deck stürzte und fast über Bord gefallen wäre. Taub vor Schmerz, klammerte ich mich an die Reling. Das Boot schlingerte, doch noch immer reckte ich mein Hemd, so hoch ich konnte, und schwenkte es hin und her. Wieder ging der Kapitän auf mich los. Ich glaube, er wollte mich über Bord stoßen, aber inzwischen waren andere meinem Beispiel gefolgt, schrien um Hilfe und winkten mit allem, was sie hatten, um Aufmerksamkeit zu erregen.
Das Boot machte einen Ruck, und der Bug versank in den Wellen. Alle schrien und versuchten, sich ins Heck zu retten. Ich war noch immer betäubt vom Tritt des Kapitäns und konnte nur versuchen, mich vor den trampelnden Füßen zu retten.
Das Boot war dem Untergang geweiht. Mit einem scheußlichen Zischen versank auch das Heck im Wasser.
Wir gingen unter.
Ich schloss die Augen und betete.
Kapitel 1
„Ich habe dich in einem Körbchen im Fluss gefunden.“
Ich blickte meine Großmutter argwöhnisch an.
Ihre braunen Augen funkelten schelmisch. Sie leuchteten aus einem Gesicht, das tief zerfurcht und gezeichnet war von einem Leben der Arbeit unter der gleißenden Sonne Afghanistans.
Ich war vier Jahre alt und hatte gerade die klassische Frage gestellt, wo ich herkäme. „Du machst dich lustig, Zhula Abhai.“
Wenn ich sie „alte Mutter“ nannte, musste sie immer lächeln.
„Warum sollte eine alte Frau lügen? Ich habe dich im Fluss gefunden und mit nach Hause genommen.“ Sie lachte mich zahnlos an und nahm mich in ihre starken Arme – der Ort, an dem ich mich so sicher, geliebt und glücklich fühlte wie sonst nirgends. Nach meinem älteren Bruder war ich das zweite Enkelkind meiner Großeltern. Aber ich wusste, dass ich ihr Liebling war und einen besonderen Platz in ihrem Herzen hatte.
Wir sind vom Stamm der Paschtunen, die als wild und aufrecht bekannt sind. Unsere Heimat war die ostafghanische Provinz Nangarhar, die bevölkerungsreichste Region des Landes, aber auch eine Gegend unwirtlicher Wüsten und zerklüfteter Berge. Hier sind uralte Traditionen lebendig, und die Gesellschaft wird nach feudalen Stammesgesetzen regiert.
Ich kam im Jahr 1994 zur Welt, zu der Zeit also, als die Taliban die Macht in Afghanistan übernahmen. Viele Afghanen, darunter auch meine Familie, begrüßten die ultrakonservativen Taliban. Man dachte, dass sie Frieden und Ordnung bringen würden, nachdem das Land über fünfzehn Jahre lang von der russischen Invasion und einem brutalen Bürgerkrieg zerrissen worden war.
Meine Großeltern hatten die meiste Zeit ihrer Ehe in einem Flüchtlingslager in Peschawar im Nordwesten Pakistans gelebt. Dort hatten sich auch meine Eltern kennengelernt und geheiratet. Als ich zur Welt kam, war der Krieg zu Ende, und das Land war unter der Herrschaft der Taliban ein wenig zur Ruhe gekommen.
In meiner frühesten Erinnerung sehe ich mich, wie ich als Vierjähriger hoch in den Bergen hinter den Schafen meines Großvaters herlaufe. Mein Großvater, oder Zoor aba („alter Vater“), wie ich ihn in meiner Muttersprache Paschtu nannte, war ein Nomade und Schafhirte. Er war kleinwüchsig, doch der traditionelle graue Turban, den er immer trug, ließ ihn größer erscheinen. Seine grünen Augen mit ihren haselbraunen Einsprengseln strahlten mit einer Energie, die ihn viel jünger wirken ließ.
Jedes Frühjahr trieben meine Großeltern ihre dickfelligen Schafe hoch in die Berge auf der Suche nach saftigen Weiden. Ihr Zuhause, ein traditionelles Zelt aus Holzpfählen und kunstvoll bestickten Tüchern, nahmen sie mit. Zwei Esel trugen das Zelt auf dem Rücken, dazu Fässer mit Speiseöl, Säcke mit Reis und das Mehl, das meine Großmutter brauchte, um Fladenbrot zu backen.
Fasziniert sah ich meiner Großmutter zu, wenn sie den klebrigen Teig knetete und auf einem flachen Stein ausbreitete, ehe sie ihn über der Glut des offenen Feuers backte. Zum Kochen hatte sie einen einzigen Blechtopf, den sie an ein paar Ästen über dem Feuer aufhängte. Mit großem Eifer half ich ihr beim Sammeln von wilden Nesseln, aus denen sie eine köstliche Suppe zubereitete. Ich weiß nicht, wie sie das anstellte, aber alles, was sie in diesem Topf kochte, schmeckte einem ewig hungrigen Jungen wie mir einfach himmlisch.
Jedes Jahr, wenn die Blätter bunt wurden und der Herbst anbrach, kehrten sie zurück ins Tal, ehe sie vom Schnee in den Bergen eingeschlossen wurden. Dort stießen sie zum Rest der Familie, ihren sechs Kindern und zahlreichen Enkelkindern, die zusammen in einem weitläufigen Haus lebten. Unser Haus war ein sehr einfaches, aber schönes einstöckiges Steinhaus am Ufer eines klaren Baches.
Da ich meinem Großvater nicht von der Seite wich, war ich begeistert, als sie mich im Alter von drei Jahren in die Berge mitnahmen. Ihre jüngste Tochter, meine Tante Khosala (ihr Name bedeutet „glücklich“), war auch dabei. Sie war damals fünfzehn und so etwas wie eine große Schwester für mich.
In den nächsten drei Sommern teilte ich das Nomadenleben meiner Großeltern. Nacht für Nacht schlief ich unter dem weiten, mit Sternen übersäten Berghimmel, wohlbehütet zwischen meinen beiden Großeltern.
Mein Großvater liebte seine Familie leidenschaftlich, und er lachte genauso gern und häufig wie meine Großmutter. Ich kann mich nicht erinnern, meinen Großvater je zornig gesehen zu haben. Einmal hätte ich ihm mit einer Steinschleuder fast das Auge herausgeschossen. Das Blut strömte seine Wange hinunter, wo ich ihn mit dem Geschoss unglücklich getroffen hatte. Es muss sehr weh getan haben, aber er bestrafte mich nicht. Stattdessen machte er mit seinem typischen Sinn für Humor einen Witz: „Guter Schuss, Gulwali!“
Meine Großmutter war kräftig und größer als mein Großvater. Sie führte das Kommando, aber ich konnte sehen, dass sie einander gern hatten. In Afghanistan spricht man nicht von Liebe. Familien arrangieren Ehen mit Gleichgestellten ihres Stammes, oder um Geschäftsbeziehungen zu pflegen; niemand heiratet aus Liebe, und das würde auch gar niemand erwarten. Man richtet sich nach den Wünschen der Eltern und tut sein Bestes, um eine gute Ehe zu führen – es bleibt einem auch kaum etwas anderes übrig, denn Frauen dürfen sich nicht scheiden lassen.
Mein Großvater erklärte mir einmal, Frauen seien zu wankelmütig, um zu verstehen, was eine Trennung bedeuten würde. Wer würde sich dann um sie kümmern? Männer haben das Recht, sich von ihren Frauen zu trennen, aber es wird nicht gern gesehen. Ich kannte nur eine einzige Frau, die von ihrem Mann verlassen worden war. Sie war von ihrem Bruder aufgenommen worden und war eine große Schande für ihre Familie. Sie hatte Glück, dass ihr Bruder sie zu sich genommen und ihr nicht die Tür gewiesen hatte.
Meine Großeltern hätten niemals auch nur daran gedacht, sich zu trennen, selbst wenn sie es gekonnt hätten. Bei ihrer Heirat war meine Großmutter fünfzehn und mein Großvater achtzehn Jahre alt gewesen. Wie dies bis heute noch oft der Fall ist, sahen sie sich zum ersten Mal am Tag ihrer Hochzeit. Aber jeder konnte sehen, dass in den vielen gemeinsamen Jahren ein besonderes Band zwischen beiden gewachsen war.
Als Fünfjähriger war ich bereits ein geübter Hirte und konnte ein Schaf schon ganz allein scheren. Ich erkannte jedes einzelne der Tiere und freute mich, dass sie auf den Klang meiner Pfeife hörten. Besonders gern sah ich den beiden Hütehunden meines Großvaters bei der Arbeit zu. Einer war ein großer Kerl mit einem dicken Kopf, der andere ein kleiner, drahtiger Terrier. Ständig umkreisten sie die Herde und hielten sie zusammen. Wenn der Tierarzt kam, der seine Kunden noch in den abgelegensten Bergregionen besuchte, träumte ich davon, später selbst Tierarzt zu werden. Ich bewunderte ihn und bestaunte seine vielen Instrumente.
Es war ein so einfaches und schönes Landleben, wie man es sich nur vorstellen kann.
Im Winter kam ich stolz neben meinem Großvater aus den Bergen zurück. Wir brachten unsere wertvollen Schätze mit: wilde Früchte, Honig und koch – eine dicke, nicht pasteurisierte Butter, die wir zum Frühstück dick auf unser frisch gebackenes Fladenbrot strichen. Großvater nahm mich immer auf den geschäftigen Basar mit, wo er seine Waren gegen Reis oder ein neues Ackergerät eintauschte. Wir waren reich.
Wenn wir aus den Bergen zurückkamen, sah ich auch meine Eltern und Geschwister wieder. So gern ich bei den Schafen war, so sehr vermisste ich doch meine Eltern. Und sie vermissten mich natürlich auch, weshalb sie mich nach meiner Rückkehr immer verwöhnten.
Wie es in meinem Stamm der Brauch ist, waren meine Eltern entfernte Verwandte. Meine Mutter war die Nichte meines Großvaters väterlicherseits, die Tochter seiner Schwester. Bei ihrer Hochzeit war meine Mutter fünfzehn und mein Vater zwanzig Jahre alt, die beiden heirateten in dem Lager, in das meine Großeltern nach dem Einmarsch der sowjetischen Truppen im Jahr 1979 geflohen waren. Während der gut fünfzehn Jahre der Besatzung und des Bürgerkriegs kamen vermutlich 1,5 Millionen Menschen ums Leben, ein Drittel der afghanischen Bevölkerung, und noch einmal 1,5 Millionen Menschen waren auf der Flucht.
Inmitten dieser Wirren war es meinem Großvater irgendwie gelungen, das Geld aufzutreiben, um seinem ältesten Sohn, meinem Vater, ein Medizinstudium zu ermöglichen. Damit war mein Vater der Erste in der Familie, der die Universität besuchte. Darauf war die ganze Familie stolz, und meine Großeltern wurden für uns alle zum Vorbild. Sie waren das Herz der Familie.
Auch den Brüdern meines Vaters, meinen beiden mittleren Onkeln, war das Schicksal hold. Sie waren Schneider und hatten ein großes, einträgliches Geschäft auf dem Basar. Der vierte und jüngste Bruder, mein Onkel Lala, war nicht oft zu Hause. Er hatte eine wichtige Position bei den Taliban. Wenn er zu Besuch kam, brachte er oft Talibankämpfer mit. Er beeindruckte mich, weil er Macht ausstrahlte. Ich wusste, dass er ein großes Tier war, aber ich verstand nicht, warum oder was genau er tat.
Die Eltern meiner Mutter waren in Pakistan geblieben, weshalb ich sie kaum kannte. Meine Mutter war eine von zwölf Töchtern. Ihr Vater war ein Religionsgelehrter, ein Mullah, und er hatte seinen Töchtern Unterricht gegeben, was damals bei den Paschtunen sehr ungewöhnlich war. Meine Mutter war die einzige Frau im ganzen Haushalt, die lesen und schreiben konnte.
Ich glaube, meine Eltern waren glücklich verheiratet – zumindest wirkten sie so. Aber in Afghanistan fragt man als Kind nicht nach. Es gibt bestimmte Grenzen, die man nicht überschreitet. Einmal fragte ich meine Großmutter, ob sie meinen Großvater lieb habe. Sie lachte nur und erwiderte: „Ich glaube, er hat mich lieb.“ So unschuldig das klingt, in unserer konservativen Gemeinschaft war das keine ungefährliche Aussage, selbst für eine alte Dame.
Meine Eltern hatten damals drei Söhne: mich, meinen Bruder Hazrat, der ein Jahr älter war als ich, und meinen Bruder Noor, der ein Jahr jünger war. Hazrat und Noor standen sich sehr nahe, und sie ärgerten mich gern ein wenig. Ich war ein bisschen neidisch auf ihre Welt der Anspielungen, aus der ich ausgeschlossen war, und darauf, dass sie sich ohne Worte verstanden. Ich war eher ein Einzelgänger, vielleicht weil ich mich schon früh an die Einsamkeit des Schäferdaseins gewöhnt hatte.
„Ein informatives Buch, das wahrhaftig zu Herzen geht und zum Nachdenken darüber anregt, wie echte Flüchtlingshilfe aussehen sollte.“
„Passarlay beschreibt seine Flucht jetzt in seinem aufrüttelndem Buch ›Am Himmel kein Licht‹.“
„Beinahe unvorstellbar klingen die Schilderungen Gulwali Passarlays. (...) Nur selten sind die Beschreibungen von Flüchtlingsschicksalen so eindringlich – und so so konkret wie die in ›Am Himmel kein Licht‹.“
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