Amsterdamer Novelle Amsterdamer Novelle - eBook-Ausgabe
„Diese ›Amsterdamer Novelle‹ ist mehr als das Kabinettstückchen eines virtuosen Erzählers.“ - Stuttgarter Nachrichten
Amsterdamer Novelle — Inhalt
Amsterdam, eine schicksalhafte Liebe und ein Foto, das es noch gar nicht gab
Ein literarisches Kleinod
Die „Amsterdamer Novelle“, knapp, pointiert und rasant, endet, wie sie beginnt, mit einem Foto: Es zeigt den Kölner Roy Paulsen, wo er nicht sein kann, in Amsterdam. Er ist nie dort gewesen, und doch sieht man, wie er mit dem Rad an einer Gracht entlangfährt. Paulsen könnte dieses Bild als kuriose Verwechslungsgeschichte abtun. Genau das aber tut er nicht – Paulsen fährt nach Amsterdam und macht sich auf die Suche nach dem Haus, das hinter dem Radfahrer zu sehen ist. Und gerät in eine tödliche Auseinandersetzung, die sein Leben in eine neue Richtung lenkt – genau auf den Moment des Fotos zu.
„Steinfest schreibt die amüsanteste und intelligenteste Literatur unserer Gegenwart.“ Denis Scheck
Leseprobe zu „Amsterdamer Novelle“
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Wenn gesagt wird, Fotos lügen, dann eigentlich nur, weil wir mit der Wahrheit, die in einem bestimmten Foto steckt, nicht einverstanden sind. Der empörte Protest „So sehe ich ja gar nicht aus!“ macht es sehr deutlich. Dieses Unbehagen angesichts der im Foto festgehaltenen Wahrheit des Augenblicks. Ein Augenblick, dem zu Ewigkeit, zumindest zu großer Dauer verholfen wird. Wenn wir längst unter der Erde sind und auch wenn sich niemand mehr an uns erinnert, werden wir noch im Foto fortbestehen.
Es ist nie das Foto, das uns zu täuschen versucht, sondern nur [...]
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Wenn gesagt wird, Fotos lügen, dann eigentlich nur, weil wir mit der Wahrheit, die in einem bestimmten Foto steckt, nicht einverstanden sind. Der empörte Protest „So sehe ich ja gar nicht aus!“ macht es sehr deutlich. Dieses Unbehagen angesichts der im Foto festgehaltenen Wahrheit des Augenblicks. Ein Augenblick, dem zu Ewigkeit, zumindest zu großer Dauer verholfen wird. Wenn wir längst unter der Erde sind und auch wenn sich niemand mehr an uns erinnert, werden wir noch im Foto fortbestehen.
Es ist nie das Foto, das uns zu täuschen versucht, sondern nur unsere willentliche oder unwillentliche Interpretation. Und eben nicht die ungünstige Perspektive, die aus einem dünnen Menschen einen dicken macht, aus einem Lachen einen hasserfüllten Aufschrei, aus einer freundlich winkenden Hand einen unfreundlichen Stinkefinger, aus einem Mann, der wie Brad Pitt aussieht, einen Mann, der Brad Pitt ist, beziehungsweise umgekehrt. Aus einem Angriff von Polizisten auf Demonstranten einen Angriff von Demonstranten auf Polizisten, beziehungsweise umgekehrt. Das Foto täuscht nicht, natürlich nicht. Sondern wir täuschen uns.
„Nein, so alt und unsympathisch sehe ich doch gar nicht aus.“
„O ja, so alt und unsympathisch siehst du eben manchmal aus. Und in diesem Moment sogar ganz sicher.“
Ein Foto, so verwaschen oder wackelig oder verblasst es auch sein mag, sagt uns auf eine gleichzeitig brutale wie liebevolle Art, wer wir sind, was wir machen, wie wir aussehen. Und was es in der Welt so gibt.
Jetzt wird man sagen, dass die vergangenen und erst recht die heutigen Möglichkeiten, ein Foto zu bearbeiten und zu verändern, enorm waren und sind. Aber ein solches Foto zeigt natürlich noch immer die Wahrheit einer Täuschung oder Lüge. Ein solches Foto offenbart den Betrug. Um das zu erkennen, braucht es kein technisches Instrument, sondern allein die Bereitschaft des Betrachters, die Qual des Fotos zu erkennen, das von einem verbrecherischen Geist verunstaltet wurde.
Und so leuchtet die Wahrheit praktisch durch die Lüge hindurch. Das gefälschte oder manipulierte oder mittels Text gefälschte oder manipulierte Foto stellt genau genommen die Verdoppelung der Wahrheit dar, indem es sowohl – wenn auch in Form einer Hintergrundstrahlung – die tatsächlichen Verhältnisse dokumentiert als auch den von Mensch und Maschine vorgenommenen Betrug, somit die Wahrheit einer Lüge.
Das Foto erzählt letztlich immer von dem, was wirklich geschah. Dies gilt es zu erkennen.
Zu erkennen, was wirklich geschah, machte sich Paulsen zur Aufgabe. Er konnte gar nicht anders. Sosehr er sich anfangs dagegen gewehrt hatte. Und sosehr er anfangs bemüht gewesen war, das, was er auf dem Foto sah, als ein Zusammenspiel von Faktoren anzusehen, die zu einer Täuschung führten.
Vor allem sagte er: „Ich bin noch nie auf einem Rad gesessen, wirklich!“
Das stimmte zwar nicht ganz, denn auch Paulsen – zwischenzeitlich sechsundfünfzig Jahre alt – war einmal jung gewesen, hatte das Fahrradfahren erlernt und war als Gymnasiast sogar einige Jahre lang täglich zur nahe gelegenen Schule geradelt. Doch bereits in seiner Studentenzeit hatte er trotz günstiger Lage seiner Wohnung aufgehört, sich auf ein Rad zu setzen. Obwohl nicht unsportlich, bevorzugte er den Komfort des öffentlichen Verkehrs, später dann auch den Komfort jener beweglichen Hülle, die wir Auto nennen.
Seit vielen Jahren arbeitete er fürs Fernsehen, was sich ein wenig unanständig anhört, aber so schlimm nicht ist. Er war dort als Visagist angestellt, traditionellerweise ein Frauenberuf. Und in der Tat hatte er sich nach einem abgebrochenen Wirtschaftsstudium zunächst einmal zum Tontechniker ausbilden lassen und war in diesem Bereich auch lange beschäftigt gewesen. Allerdings hatte er zusammen mit seiner zweiten Frau einen zweimonatigen Visagistenlehrgang besucht. Es war mehr etwas wie eine Wette gewesen, weil sich ihrerseits seine Frau bereit erklärt hatte, gemeinsam mit ihm den Taucherschein zu machen. Richtige Taucher waren dann aber beide nicht geworden, und Paulsens zweite Frau hatte auch nie als Visagistin gearbeitet, sondern war nach der Scheidung ins Fach der Geistheilerei gewechselt und dort erstaunlich erfolgreich geworden.
Paulsen hingegen verlor seinen Job als Toningenieur eines Werbefilmunternehmens und hatte sich – ohne ernsthaft an eine Chance zu glauben – um einen Visagistenjob beworben. Doch es gefiel einer leitenden Dame des öffentlich-rechtlichen Fernsehens, mal ausnahmsweise einen Mann in dieser Funktion anzustellen. Keine Visagistin, sondern einen Visagisten, noch dazu einen, dem die Ausbildung zum Maskenbildner fehlte, wie das eigentlich vorgeschrieben war. Aber es sollte eben so sein, dass das Schicksal in Form dieser mächtigen Dame vom Fernsehen den damals bereits vierzigjährigen Paulsen dorthin brachte, wo er dann vor allem im Bereich der Nachrichtensendungen und diverser Talk-Formate tätig wurde.
Die Ausbildung zum Maskenbildner holte er später nach, wechselte aber nicht etwa zum Theater oder in die Werbung, sondern blieb gut fünfzehn Jahre am gleichen Ort, um seine gesichtspflegerische Tätigkeit auszuüben und Tag für Tag Sprecherinnen und Sprechern, Moderatoren und Interviewgästen ihre Gesichter … zu verschönern?
War das wirklich das passende Wort?
Nun, die Leute wurden selten richtig schöner, Paulsen war schließlich kein plastischer Chirurg mit der Fähigkeit zur Sekundenkorrektur. Und eben auch nicht beauftragt, ein langweiliges Gesicht in ein heroisches zu verwandeln, ein altes in ein junges, sich also als „Verwandlungskünstler“ zu betätigen. Vielmehr bestand sein Job darin, Unebenheiten und Unreinheiten zu kaschieren, einer hohen nackten Stirn ein Zuviel an Glanz zu nehmen oder eine Falte, Rötung oder Narbe zu überdecken, von der sein Besitzer oder seine Besitzerin meinte, die müsse nicht auch noch im Fernsehen zu sehen sein.
Paulsen war kein Beauty-Artist, der einer Braut an ihrem schönsten Tag zu einem – vorsichtig ausgedrückt – unrealistischen Aussehen verhalf. Wenn er etwa für eine Literatursendung dem Schriftsteller Martin Walser ein klein wenig die dichten Augenbrauen zur Seite strich, damit man dessen weise Augen besser sehen konnte (ohne wiederum den Eindruck von der Weisheit der Augenbrauen zu schmälern oder gar den Autor zu verärgern), so ging es nicht darum, dass in der Folge jemand auf die Bühne trat, den die Zuseher eher für – sagen wir mal – Curd Jürgens oder Rutger Hauer gehalten hätten, abgesehen davon, dass die schon tot waren, sondern es sollte keinerlei Zweifel darüber bestehen, dass trotz gestalterischer Eingriffe hier soeben Martin Walser Platz genommen hatte.
Letztlich kann man sagen, dass Roy Paulsens Aufgabe also nicht in einer Verfälschung, sondern in deren Gegenteil bestand. Es sollte niemals ein Missverständnis darüber geben, dass die Personen, die vor die Kamera traten, sofort als die zu erkennen waren, als die man sie kannte. Gesichter, die den Zusehern mitunter seit Jahrzehnten vertraut waren, durchaus auch im Sinne von deren natürlicher Alterung, aber stets in einer bereinigten Form.
Ja, er war kein Verwandlungskünstler, sondern ein Reinigungskünstler.
Und dieser Roy Paulsen sagte, nachdem ihm sein erwachsener Sohn, der aus seiner zweiten Ehe stammte, ein Handyfoto vors Gesicht gehalten hatte: „Ich bin noch nie auf einem Rad gesessen, wirklich!“
„Trotzdem“, erwiderte Tom und lachte, „das bist du doch, oder? Also zumindest sieht der Typ auf dem Rad dir wirklich unglaublich ähnlich.“
„Nicht nur bin ich noch nie auf einem Rad gesessen“, erklärte Paulsen, „sondern ich war auch noch nie in Amsterdam.“
Wenn nun erstere Behauptung bloß mit Einschränkung galt, die zweite nicht. Roy Paulsen war tatsächlich noch nie in seinem Leben in Amsterdam oder auch nur in den Niederlanden gewesen. Einige Male in Belgien, in Brüssel, ja, mit einem Fernsehteam auch in Luxemburg, aber eben nie in Holland und nie in Hollands Hauptstadt, wohin Paulsens Sohn Tom kürzlich gezogen war, um für eine Computerspielfirma zu arbeiten (er war soeben dabei, ein Spiel zu entwickeln, in dem Rembrandt van Rijn als Zeitreisender auftritt, der – durch eines seiner eigenen Bilder fallend – ins 21. Jahrhundert gerät und verschiedene künstlerische wie anderweitige Versuche unternimmt, um zurück in seine Epoche zu gelangen, immerhin das sogenannte Goldene Zeitalter der Niederlande. Nun freilich in Kenntnis seiner ungemeinen Bedeutung für die spätere Kunstgeschichte, allerdings ebenso in Kenntnis der finanziellen Misere, die laut Geschichtsschreibung seine letzten Lebensjahre bestimmen sollte. – So war dieses Spiel auch der Frage nach der Veränderbarkeit der Geschichte gewidmet. Etwa die Vorstellung, dass der in seine Zeit zurückgekehrte Rembrandt zwar seine Zahlungsunfähigkeit zu verhindern wissen würde, allerdings kaum mehr in der Lage wäre, ein geniales Alterswerk zu schaffen. Nicht nur wegen der dann besseren Lebensverhältnisse, sondern weil er praktisch unfähig sein würde, sich selbst – denn natürlich hatte er im 21. Jahrhundert in Museen und Katalogen sein eigenes Werk studiert – zu kopieren. Sodass eine Aufgabe der Spieler darin bestand, einen Weg zu finden, um den Verlust eines wichtigen Teils des Rembrandt’schen Œuvres zu verhindern).
Tom hielt sich bereits seit einigen Wochen in Amsterdam auf und war nur kurz in seiner Heimat zu Besuch. Und hatte sich mit seinem Vater in Köln zum Abendessen getroffen.
Während man da also bei Weißwein und einem Spargelsalat mit Garnelen und Feta saß, hielt der Sohn dem Vater grinsend das Display seines Smartphones entgegen und verwies auf das Foto, das er in der ersten Woche seines Amsterdamaufenthalts irgendwo zwischen der Oude Kerk und dem Hortus Botanicus aufgenommen hatte. Er war da bereits durch Amsterdam marschiert auf der Suche nach Orten für jenes Computerspiel, das den Arbeitstitel Rijns Reise trug (es war wirklich geplant, das Spiel auf der ganzen Welt unter dem deutschsprachigen Namen zu vertreiben, denn das Deutsche, hieß es, passe einfach am besten zum Umstand der Zeitreise). Natürlich bevorzugte er die Gegend, in der das Museum Het Rembrandthuis steht, immerhin das ehemalige Wohnhaus des Künstlers, das nach dessen Bankrott versteigert worden war.
Und auf einer der ersten seiner Recherchewanderungen hatte Tom auch dieses eine Foto geschossen: drei dicht an dicht gesetzte Häuser einer Zeile. Bei den zwei Gebäuden auf der linken Seite und in der Mitte handelte es sich um historische Bauten mit den für Amsterdam so typischen weit nach oben reichenden, spitz zulaufenden Treppengiebeln, während nach rechts hin ein mit eng gesetzten Kunststofffenstern versehener dreistöckiger Klinkerbau stand, der wohl aus den 1960er-Jahren stammte und der eine recht englisch anmutende Trostlosigkeit verbreitete. Ganz im Gegensatz zu den beiden anderen, ebenfalls aus Ziegeln errichteten, aber ausgewogen ornamentierten alten Bauten. Wobei das Haus in der Mitte – wie im Bereich der Grachten üblich – extrem schmal war, sodass jeweils drei Fenster pro Stockwerk auf die Straße führten, während am Anfang der sich nach oben zügig verjüngenden Giebel nur noch ein einziges Fenster dazwischenpasste. Über diesem kragte waagrecht ein länglicher Balken aus, ganz in der Manier eines Sprungbretts.
Und das sagte Paulsen ja auch: „Sieht aus wie das Sprungbrett für einen lebensmüden Hausbewohner. Oder wie eine Startrampe für … Gibt es Albatrosse in Amsterdam?“
Das bezog sich auf einen internen Scherz zwischen den beiden, da Paulsens Sohn, als er noch Kind gewesen war, gefühlte tausend Mal die Albatrosszene aus Disneys Bernard und Bianca – Die Mäusepolizei gesehen hatte. Dem Kind war diese gewisse ungelenk-komische, extrem mühsame Weise des Startvorgangs, die aber dennoch zu einem erfolgreichen Flug führte – Miss Bianca: „Käpt’n, Sie fliegen fantastisch!“ –, als ein großer Trost angesichts einer von Vorgängen des Scheiterns bestimmten Welt erschienen. Sodass er und sein Vater den dadaistisch-philosophischen Satz geprägt hatten: „Das Leben ist gar nicht so schrecklich, es ist ein Albatros.“
„Es gibt sogar einen Amsterdam-Albatros“, sagte Tom jetzt. „Den findest du allerdings nur auf den Amsterdam-Inseln im Indischen Ozean.“
Während hingegen, erklärte Paulsens Sohn weiter, die hervorstehenden Balken, die an vielen alten Häusern Amsterdams zu finden seien, als Halterungen für Flaschenzüge dienten, um Waren nach oben und unten zu ziehen, aber ebenso größere Gegenstände, die über die engen Treppenhäuser ins Innere solcher Gebäude zu befördern schlichtweg unmöglich sei.
„Ein Klavier kriegst du aber durch keins der Fenster“, meinte Paulsen.
„Oh doch!“, antwortete sein Sohn, fügte aber gleich an: „Weich nicht aus!“
Dabei wies er mit dem Finger auf den Desktop, in die linke untere Ecke, auf die Stelle, wo ein Radfahrer zu sehen war, der soeben an dem äußeren Gebäude vorbeifuhr. Er trug eine kurze schwarze Hose und ein kurzärmeliges schwarzes Hemd.
„Okay, er sieht mir ähnlich“, sagte Roy Paulsen betont gelassen.
„Ähnlich ist gut“, fand Tom. „Das ist deine Kopfform, deine Glatze, dein Profil, das ist so unverkennbar deine Nase. Auch die Brille stimmt. Das sind sogar deine Beine.“
Konnte man das so sagen? Waren Beine denn nicht mehr oder weniger alle gleich, also zumindest gleich in der gleichen Kategorie dicker oder dünner, muskulöser oder knochiger Beine? Und wie oft hatte sein Sohn in den letzten Jahren seine Beine überhaupt gesehen? Seine Beine in kurzen Hosen, während er ja hier, in diesem Restaurant, selbstverständlich mit langen Hosen saß.
Nun, die Wahrheit war die, dass kaum ein Bein wie das andere war.
„Deine Beine, deine Arme“, wiederholte Tom.
Und es stimmte. Er, Paulsen, konnte es sehen. Das waren seine Beine, die einen recht schönen Schwung besaßen. Keine dicken Stampfer und keine dünnen Stecken, sondern muskulös, aber in dem Sinne, dass man die Muskulatur in einer anatomischen und nicht in einer manierierten Weise erkennen konnte, dazu leicht spitze Knie. Sosehr seine Beine etwas besaßen, das man heutzutage als definiert bezeichnete – was in seinem Fall nicht vom Radfahren kommen konnte, dafür vom Joggen und Bergwandern –, war ihnen doch das Alter anzusehen. Spätestens um die fünfzig zeigten selbst trainierte Körper einen Charme des Verfalls, eine gewisse Bettlägerigkeit, den Eindruck, selbst noch in Momenten höchster Aktivität eigentlich lieber in einem Bett liegen zu wollen.
Man sah den Beinen die Sehnsucht nach Erholung an.
Und das Gleiche galt für die Arme auf diesem Foto, diese gewisse anatomische Muskulösität bei gleichzeitiger Bettlägerigkeit.
Am frappantesten war freilich das Gesicht des Radfahrers. Und das musste ausgerechnet er, der Visagist, zugeben. Es war wirklich sein Profil, seine Nase mit der leichten Übergröße, sein nur leicht bebartetes breites Kinn, seine volle Wange, sein im Umfeld der Glatze und des sehr kurz geschorenen Haarkranzes äußerst prägnantes linkes Ohr: ein Ohr wie auf einer anschaulichen Zeichnung. Es war seine Brille, und soweit man das von der Seite her betrachtet sagen konnte, waren es seine Augen, mit diesem leichten und für seine Familie gänzlich untypischen Anflug ins Asiatische, möglicherweise die Erinnerung an eine lange vergangene Zeit. Ein Merkmal, das zig Generationen benötigt hatte, um nun einzig mittels der Lidränder eines Mannes unserer Tage die Liebe und Vereinigung zweier Menschen aus der Vergangenheit ins Jetzt zu holen.
Sein Schädel.
Dennoch meinte er nun zu seinem Sohn: „Weißt du, Tom, hättest du das Foto den Bruchteil einer Sekunde früher geschossen, wäre kaum irgendeine Ähnlichkeit festzustellen gewesen. Das ist wie mit diesen Gesichtern, die man auf Bildern von Mars- oder Mondlandschaften zu erkennen meint. Fotografier die gleiche Stelle zu einer anderen Tageszeit – du findest kein Gesicht mehr.“
„Ein Radfahrer“, sagte sein Sohn, „besteht nicht aus Mondgestein.“
„Hast du den Radfahrer überhaupt bewusst gesehen?“, fragte Paulsen.
„Nein, erst viel später, als ich die Fotos von diesem Tag durchging. Leider. Da erst sind mir die beiden aufgefallen: der Radfahrer und das Baby.“
„Baby? Was für ein Baby?“
„Na, schau doch“, sagte Tom. Dabei zeigte er erneut auf eine Stelle auf dem Foto, diesmal in der oberen Bildhälfte, auf ein Fenster im mittleren Gebäude, eine Etage unter der mit dem hervorstehenden Balken.
Wie zuvor im Falle des Radfahrers vergrößerte er den Bildausschnitt, indem er Daumen und Zeigefinger auf den kleinen Schirm legte und die beiden Fingerkuppen zweimal auseinanderzog. Woraus sich eine Vergrößerung dieser einen bestimmten Stelle des Fensters ergab, sodass sich mit einiger Deutlichkeit eine kleine Gestalt hinter der geschlossenen Scheibe ausmachen ließ. Allerdings nicht deutlich genug, um mit absoluter Sicherheit von einem Baby sprechen zu können. Es hätte auch ein sehr kleiner Erwachsener oder eine große Puppe sein können. Für ein Baby sprach freilich – jetzt erkannte auch Paulsen es – die aus weißen Stäben zusammengesetzte Konstruktion, auf die die Gestalt sich aufzustützen schien. Ein dicht hinter der Scheibe stehendes Gitterbett.
Gewiss, es gab auch Gitterbetten, die nicht für Babys gedacht waren.
„Schon ein bisschen gruselig, oder?“, meinte Paulsens Sohn.
„An einem Baby ist nichts Gruseliges“, entgegnete Paulsen.
„Also an dem schon“, sagte Tom. „Man hat wirklich den Eindruck, es würde einen direkt aus dem Bild heraus anschauen.“
„Einbildung“, erklärte der Vater trocken.
„Ich würde das Baby vielleicht weniger gruselig finden, würde nicht unten auf der Straße ein Mann vorbeiradeln, von dem ich schwören könnte, dass du das bist.“
Jetzt lachte er wieder, Paulsens Sohn. Dann tippte er auf ein Symbol auf dem Display, der das Bild verschwinden ließ, legte das Gerät behutsam zur Seite – so, wie vielleicht früher die Leute einen Hut, eine Haarnadel oder ein Medaillon zur Seite gelegt hatten – und griff nach seinem Glas Wein.
Vater und Sohn stießen an.
Waren Sie selbst schon einmal in Amsterdam – warum haben Sie diesen Ort als Schauplatz für Ihre Novelle gewählt?
Ich war noch nie in Amsterdam. Aber was soll ich machen, das Foto, welches diese Geschichte in Gang gesetzt hat, stammte nun mal aus Amsterdam. Somit war der Ort der Handlung festgelegt. Während wiederum die Umstände des Jahres 2020 eine Recherchereise verunmöglicht haben. Worüber ich aber nicht einmal unglücklich war.
Ich habe schon immer gerne über Orte geschrieben, an denen ich noch nie war (etwa die Insel Sankt Paul südlich der Île Amsterdam in „Die feine Nase der Lilli Steinbeck), so ganz auf die Kraft der Erfindung, Imagination und auf die Zuflüsterung hilfreicher Geister vertrauend. In diesem Fall also holländischer Geister.
Auch in der Amsterdamer Novelle spielen Zeit und Raum, Zeit-Raum-Kontinuum eine nicht unerhebliche Rolle. Was interessiert Sie an diesem Thema so, dass Sie sich ihm immer wieder aufs neue widmen?
Das Thema beschäftigt mich seit Kindertagen, der Traum vom Zeitreisen, die Vorstellung, sich vielleicht selbst zu begegnen und in der Vergangenheit eine Handlung zu setzen, die die eigene Geschichte oder die Geschichte der Welt verändern könnte, nicht zuletzt aber die Frage nach Wirklichkeit. Und wie sehr Beobachtung und Beschreibung das Aussehen von Realität bestimmen können. In der „Amsterdamer Novelle“ habe ich versucht, dieses Thema mit großer Einfachheit zu behandeln, ohne komplizierte Maschinen, ohne experimentelle Physik, sonder allein mittels eines Fotos, das auslöst, was sein wird.
Normalerweise leben Ihre Roman von der Abschweifung, von den thematischen und ideellen Exkursen, von der stilistischen Rephrasierung. Eine Novelle verlangt ein anderes Vorgehen. Was hat Sie nach so vielen Romanen an dieser Form gereizt?
In meinem dieses Jahr erscheinenden Roman „Die Möbel des Teufels“ (in dem Frau Wolf und Markus Cheng die Rollen tauschen, sie wird zur Detektivin, er zu ihrem Sekretär) spielt auch Thomas Manns „Der Tod in Venedig“ eine kleine Rolle.
Die Auseinandersetzung mit dieser Novelle – mit der Klarheit, Kompaktheit und Geschlossenheit ihrer Form – hat mich animiert, gerade nach den Anstrengungen meines umfangreichen „Möbel-Buchs“ eine „schlanke Geschichte“ zu verfassen, in der die verschiedenen Ebenen zu einer verschmelzen. Der Versuch, ein großes Thema in einer dichten Miniatur einzufangen.
„Alles, womit ich mich beschäftige, dient dem Schreiben. Alles ist Material für die Geschichten, an denen ich gerade arbeite. Was derzeit dazu führt, mich intensiv mit Gärtnerei auseinanderzusetzen beziehungsweise mit dem Entwerfen japanischer Gärten. Dazu kommt ein Interesse für die Stadt Hamburg, für die griechische Insel Euböa, die heilige Pelagia, für das Leben in Raumschiffen und das Leben in Sanatorien, sowie für Wolfshunde. Alle meine Interessen dienen der Materialbeschaffung.“ Heinrich Steinfest
„Ich verrate gar nichts, nur dass man mit großer Freude in eine völlig verrückte Geschichte eintaucht, die sowohl spannend als auch fantastisch ist, philosophisch und witzig.“
„Eine wunderbare Mischung aus Spannung und Reflexion. Denn Steinfest (…) lädt seine Geschichte in eleganten Sätzen mit Bedeutung auf “
„Eine mustergültige Prosagattung“
„›Amsterdamer Novelle‹ ist ein Vexierspiel mit Zeit, Raum und Kausalität, in dem die Feinsinnigkeit der Überlegungen von gleich mehreren Morden kontrapunktiert wird.“
„Heinrich Steinfest erlaubt sich einen literarisch reizvollen, elegant verspielten und verschachtelten Scherz mit uns. Eine Art literarische Zwischenmahlzeit für Menschen, die viel und gern lesen und etwas brauchen für die Zeit zwischen zwei vielleicht wuchtigeren Büchern.“
„Man spürt auf jeder Seite die Freude am Fabulieren und Erzählen. Ein echter/echtes Steinfest.“
„Fesselnd und vergnüglich.“
„Sein neuestes Werk ›Amsterdamer Novelle‹ ist ein unterhaltsames Vexierspiel mit Zeit, Raum und Kausalität, in dem die Feinsinnigkeit der Überlegungen von gleich mehreren Morden kontrapunktiert wird.“
„Heinrich Steinfest ist mit seiner nur 108 Seiten langen ›Amsterdamer Novelle‹ – im Kleist-Jahr übrigens geradezu klassisch im Kleistschen Sinne – eine Novelle gelungen, die auf engstem Raum alles, wirklich alles hat: Mysterium, kribbelnde Spannung, Überraschungen, starke Charaktere, Wendungen, ein offenes Ende. Meisterlich.“
„Diese ›Amsterdamer Novelle‹ ist mehr als das Kabinettstückchen eines virtuosen Erzählers.“
„Brilliant.“
„›Amsterdamer Novelle‹ ist also nicht nur inhaltlich reizvoll, sondern auch literarisch sauber durchkomponiert – ein weiteres Beispiel steinfestscher Kunstfertigkeit.“
„In der ›Amsterdamer Novelle‹ zu versinken fühlt sich ungefähr so an wie einen toll erzählten Film zu sehen.“
„Heinrich Steinfest (…) schreibt seit Jahren extravagante Bücher mit unverkennbarem Sound, viel Schmiss und noch mehr Witz. Seine frisch erschienene ›Amsterdamer Novelle‹, rund 100 Seiten kurz und als Hardcover und E-Book erhältlich, macht da keine Ausnahme. Viel mehr wirkt sie sogar wie der konzentrierte Steinfest, und das auch noch mit ein paar interessanten, fantastischen Extras.“
„Kurzweiliger Lesespaß, spannend, pointiert, fantasiereich und mit überraschenden Wendungen – eben ein echter Steinfest.“
„Zielstrebig treibt Heinrich Steinfest die Handlung voran, der man gerne folgt, weil sie spannungsgeladen ist und überdies nicht nur den Mord und seine Aufklärung beinhaltet, sondern auch eine empfindsame Liebesgeschichte.“
„Amüsant und intelligent“
„Originell, skurril und voller unerwarteter Wendungen – wie ein samstäglicher Besuch in Amsterdam.“
„Hoch spannend und auf leichtfüßige Weise philosophisch äußerst ambitioniert.“
„Ein großes Lesevergnügen. Sehr gut.“
„Fast jeder Satz bei Heinrich Steinfest ist ein lautmalerisches Fest.“
„Aberwitziges und kurzweiliges Buch“
„Spannend und in der wunderbaren Formulierkunst Steinfests geschrieben“
„Stilistisch und inhaltlich pointiertes und leider sehr kurzes Lesevergnügen“
„›Amsterdamer Novelle‹ ist ein virtuos erzähltes, literarisches Kleinod, viel mehr als ein Geschichtchen, schon gar kein Krimi – aber steinfestes Kunsthandwerk!“
„Spannend, mit einigen Überraschungen“
„Steinfest, der abermals eine Mischung aus aufwendig konstruiertem Plot und großer Sprachkunst präsentiert, hebt diesmal sogar die Zeit aus den Fugen. Und was ist das nun für ein Text? Ein bisschen Krimi. Etwas Mystery. Science-Fiction in Spurenelementen. Ein Quantum Liebesgeschichte. Aber unverkennbar Heinrich Steinfest.“
„In diesem Kabarettstück springt Steinfest, der zu den originellsten Gegenwartsautoren deutscher Sprache zählt, gewohnt leichtfüßig zwischen literarischen Gattungen (Krimi, Liebesroman, Science-Fiction) und den unterschiedlichsten Themen . und versprüht dabei, ganz beiläufig, philosophische Sentenzen. Ein skurriles, voltenreiches Vexierspiel mit Hang zum Übersinnlichen.“
„Eine Novelle muss kein ungelesenes Antiquariat sein. Vielmehr beweist Heinrich Steinfest, dass sie nach wie vor auf engstem Raum komplexen Fragen nachgehen und gleichzeitig eine verführerische Spannung erzeugen kann.“
„Es ist ein typischer Steinfest: hoch spannend und auf leichtfüßige Weise philosophisch äußerst ambitioniert.“
„Wirklich ein großartiges Buch“
„Ein Spiel mit der Zeit, mit der Wahrnehmung, mit Manipulation, Science Fiction und Martin Heideggers Hauptwerk veranstaltet Heinrich Steinfest in seiner kompakten Amsterdamer Novelle.“
„Amüsant und intelligent.“
„Steinfests pointiertes kleines Werk ist ein Literatur-Häppchen, das den Bogen spannt von Krimi zu Philosophie und Mystik.“
„Heinrich Steinfest hat mit der ›Amsterdamer Novelle‹ ein literarisches Kleinod vorgelegt, bei dem man sich wundert, wie viel Handlung, Gedanken, Stimmungen und Wendungen auf 100 Seiten Platz haben. Ein Buch, das man gelesen haben sollte.“
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