Antrag auf ständige Ausreise - eBook-Ausgabe
und andere Mythen der DDR
Jakob Heins unglaubliche DDR-Geschichten sind natürlich komplett erfunden – aber so gut, als wären sie wahr. - Der Tagesspiegel
Antrag auf ständige Ausreise — Inhalt
Erich Honecker wollte seine sozialistische Heimat in Richtung Westen verlassen und soll dazu einen förmlichen Ausreiseantrag gestellt haben? Im legendären Transitabkommen hat es eine teuflische Geheimklausel gegeben, nach der die DDR westdeutsche Kinder bei Verlassen der Transitautobahn automatisch zur Adoption freigeben durfte? Die Geschichte der Deutschen Demokratischen Republik steckt voller unglaublicher Geschichten – die unerhörtesten versammelt der Schriftsteller Jakob Hein in diesem Buch!
Leseprobe zu „Antrag auf ständige Ausreise“
I
Die Mauer bei Queienfeld
Bei Queienfeld in Thüringen gab es eine Besonderheit der innerdeutschen Grenze: Aufgrund der bergigen Landschaft war es zu Unregelmäßigkeiten in der Statik der Grenzbefestigungsanlagen gekommen. Dies war beim eiligen Bau nicht bemerkt worden, erst ein Gefreiter namens Bilz vom 14. Regiment meldete bei der Wachübergabe an die Spätschicht des 15. Januar 1973 dem diensthabenden Feldwebel die Wahrnehmung verdächtiger Knirschgeräusche im Bereich der Verfugungen. Nachdem die Meldung ihren ordnungsgemäßen Weg durch die Befehlskette [...]
I
Die Mauer bei Queienfeld
Bei Queienfeld in Thüringen gab es eine Besonderheit der innerdeutschen Grenze: Aufgrund der bergigen Landschaft war es zu Unregelmäßigkeiten in der Statik der Grenzbefestigungsanlagen gekommen. Dies war beim eiligen Bau nicht bemerkt worden, erst ein Gefreiter namens Bilz vom 14. Regiment meldete bei der Wachübergabe an die Spätschicht des 15. Januar 1973 dem diensthabenden Feldwebel die Wahrnehmung verdächtiger Knirschgeräusche im Bereich der Verfugungen. Nachdem die Meldung ihren ordnungsgemäßen Weg durch die Befehlskette nach oben genommen hatte, ordnete Armeegeneral Karl-Heinz Hoffmann, der damalige Minister für Nationale Verteidigung der DDR, die Untersuchung durch die Bauakademie an. Das Urteil war niederschmetternd: Der gesamte als Abschnitt XII/17 bezeichnete Teil der Grenze drohte auf einer Länge von 1,2 Kilometern zu bersten. Zur Lösung des Problems unterbreiteten die Fachleute zwei Vorschläge. Der erste Vorschlag einer Holzverschalung auf gesamter Länge mit anschließendem Massivausguss durch Beton wurde aus Kostengründen und wegen der schwierigen geografischen Lage verworfen.
Daher entschloss man sich zur zweiten vorgeschlagenen Lösungsvariante: der täglichen Öffnung von XII/17 für fünfundachtzig Minuten. Zu diesem Zweck wurde eines der Betonsegmente entfernt und gegen eine Stahlwand auf Rollen ausgetauscht. Diese konnte nun täglich für den genannten Zeitraum aus der Konstruktion herausgerollt werden. Durch die entstandene Lücke konnten sich die Tag für Tag entstehenden Materialspannungen entladen. Der innovative Lösungsvorschlag war erfolgreich, Mauerabschnitt XII/17 stand bis zu seinem planmäßigen Abriss 1990 stabil. Da nach Empfehlung der Bauakademie eine unmittelbare Nähe von Grenztruppen in den fünfundachtzig Minuten der Öffnung wegen der Gefahr von Steinschlag zu riskant gewesen wäre, entstand aber ein nicht unerhebliches Sicherheitsproblem. Daher legte man die Öffnung in die Zeit zwischen 3 Uhr und 4.25 Uhr, um spontane oder versehentliche Grenzübertritte zu vermeiden. Dennoch kam es immer wieder zu unvermeidbaren Fluchten, die jedoch aus Furcht vor Nachahmern geheim gehalten wurden. Unter anderem entfernten sich zahlreiche Mitglieder der ostdeutschen Bauakademie sowie der Gefreite Bilz in das Staatsgebiet der BRD. Als Kuriosum sei genannt, dass Bilz kurz darauf bei Wiesbaden die Schwester des verantwortlichen Gutachters der Bauakademie ehelichte.
II
Der Tvättsten-Effekt
An der Geschichte der DDR und ihrem anschließenden Beitritt zur Bundesrepublik ließ sich erstmals die Richtigkeit eines nach dem schwedischen Soziologen Gösta Tvättsten benannten Effekts eindeutig beweisen. Der aus dem nordschwedischen Umeå stammende Tvättsten hatte in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts die Hypothese entwickelt, dass sich Art und Häufigkeit von Erkrankungen im Zusammenspiel mit den verfügbaren medizinischen und pharmakologischen Möglichkeiten entwickeln. Tvättstens Hypothesen waren seinerzeit auf einhellige Ablehnung gestoßen. Der namhafte Geologe Danderut, damals Präsident der Königlich-Schwedischen Akademie der Wissenschaften, wurde mit seinem Ausspruch berühmt: „Gösta [Tvättsten], ob du dir hier oder im Kongo ein Bein brichst, bleibt dasselbe.“ Tvättsten zog sich verbittert aus der Welt der Forschung zurück und starb vergessen 1938 auf den Skären vor Huddinge.
Als Schwäche von Tvättstens Thesen galt stets, dass sie sich auf ungenaue historische Angaben stützten und keine prospektiven Studienergebnisse anführen konnten. Doch 1952 schloss ein junger Wissenschaftler der Universität Umeå einen Kooperationsvertrag mit der Regierung der DDR. Asmus Berling erschien die DDR als besonders geeignetes Untersuchungsgebiet, da es ein zentralisiertes Gesundheitssystem und praktisch keine Möglichkeiten der Migration in andere Länder aufwies. Daraus ergab sich eine geschlossene, leicht zu erfassende Untersuchungspopulation. Im Austausch gegen einige Fahrzeuge der Marke Volvo für hohe Regierungsmitglieder wurde Berling Zugang zu allen Gesundheitsdaten gewährt. Seine Ergebnisse sollten seinen Landsmann und geistigen Vater Tvättsten mehr als rehabilitieren.
Berling konnte zeigen, dass von 1952 bis 1954 über 60 Prozent aller Kranken in der DDR an einem Katarrh litten. In der damaligen Phase befand sich eine eigene pharmazeutische Industrie gerade erst im Aufbau. Lediglich das Radebeuler Katarrhlytikum Anedon war frei verfügbar. Die anderen 40 Prozent hatten Knochenbrüche und offene Wunden. Gips und Verbandsmaterial waren als typische Artikel der Leichtindustrie bereits gut verfügbar. Von 1954 bis 1963 trat die Diagnose Katarrh zugunsten des häufigeren Ausflusses in den Hintergrund. In Jena hatte eine Medikamentenfabrik aufgemacht, die Lonedan, eine den Ausfluss hemmende Salbe, produzierte. Mit der weiteren Differenzierung der Produktpalette kam es auch zu einer weiteren Auffächerung der Diagnosen, sodass schon in den Siebzigerjahren Koliken, Spaltungsirresein, Schlaflosigkeit sowie Angina das Spektrum erweiterten. Sicher auch durch den Einfluss der Westmedien traten in den Achtzigerjahren Bronchitis, Bindehautentzündung, Gürtelrose sowie Krampfadern hinzu.
Doch erst nach der Wende breiteten sich Krankheiten wie Herpes, Neurodermitis und Allergien aus. Das Bahnbrechende an Berlings Forschung war nun, dass er diese Entwicklung vorhergesehen hatte und konkludent zeigen konnte, dass diese Erkrankungen noch Monate zuvor nicht im Blut nachweisbar gewesen waren und erst mit Verfügbarkeit der neuen Medikamente auftraten. Lediglich bei einem DDR-Bürger fanden sich Herpes-Viren im Blut, dabei handelte es sich jedoch um ein nicht näher genanntes Mitglied des Politbüros mit privilegiertem Zugang zu Westmedikamenten. Die gesundheitliche Anpassung an das Westniveau vollzog sich dementsprechend erst nach der Währungsunion 1990 und nicht etwa nach dem Mauerfall. In einer schönen Einzelstudie beschreibt Berling die Insel Hiddensee, deren Inselarzt noch bis 1995 ausschließlich Katarrhe diagnostizierte und behandelte. Postalisch ließ er sich mit Anedon direkt versorgen und stellte das Medikament seinen Patienten zur Verfügung. Seine Heilungs- und Todesraten entsprachen internationalen Durchschnittswerten. Erst mit Öffnung der ersten Apotheke auf der Insel, die mit aggressiven Werbemaßnahmen einherging, stellten sich auch bei den Inselbewohnern Herzrhythmusstörungen und Refluxkrankheit ein. Nachfolgend kam es zu vielen Komplikationen und auch Todesfällen, da der Inselarzt nach fünfzig Jahren Berufserfahrung mit Katarrhen nun mit der neuen Problematik überfordert war.
Asmus Berling ging übrigens 1997 nach Schweden zurück, nach mehr als fünfzig Jahren in der DDR konnte er mit dem neuen, sehr offenen System nichts anfangen, da es auch wissenschaftlich für ihn keine Perspektiven bot. Aber auch in Schweden fand Berling keinen Anschluss mehr. Er bewirkte allerdings noch die Benennung der Universität Umeå in Tvättsten-Universität, konzentrierte sich in seiner Arbeit aber nachfolgend ausschließlich auf die Produktion von Kartoffelschnaps sowie dessen Konsum.
Selbstverständlich hat sich Hein diese Geschichten ausgedacht. Mit so beträchtlichem Rechercheaufwand allerdings, mit so lebhaften Erinnerungen an die herrschende Realsatire und mit so aufrichtigem Staunen über die gegenwärtige, gelegentlich groteske Mythologisierung, dass sich keine der Geschichten nicht hätte ereignet haben können.
Die kleinen Geschichten sind immer ein bisschen möglich und gleichermaßen absurd.
Harmlos-vergnügliche Abrechnungen mit den Absurditäten des DDR-Alltags.
Eine Sammlung des alltäglichen Wahnsinns.
Ein heiterer und dazu intelligenter Rückblick auf die DDR mit ihren Besonderheiten, Widrigkeiten, Kauzigkeiten.
Jakob Heins unglaubliche DDR-Geschichten sind natürlich komplett erfunden – aber so gut, als wären sie wahr.
Das ist ein Schreiben, das auf der Achse Robert Gernhardt, Eckhard Henscheid, Max Goldt liegt.
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