Anwalt der Bösen Anwalt der Bösen - eBook-Ausgabe
Lübckes Todesschütze und Erdoğan – warum ich Menschen vertrete, die keiner verteidigen will
— BiografieAnwalt der Bösen — Inhalt
Warum jeder das Recht auf einen Anwalt hat
Warum jeder das Recht auf einen Anwalt hat
Nachdem der Neonazi Stephan Ernst den Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke erschossen hatte, beauftragte er, der Ausländer und Zuwanderer abgrundtief verachtete, ausgerechnet den türkischstämmigen Anwalt Mustafa Kaplan mit seiner Verteidigung. In diesem Buch schildert Mustafa Kaplan das Prozessgeschehen hinter den Kulissen, gewährt überraschende Einblicke in die Gespräche mit seinem Mandanten, beschreibt die Schlüsselmomente in dem spektakulären Verfahren und die kriminalistische Spurensuche, die ein politisch motiviertes Attentat erst erklärt.
„Haben Sie schon mal neben einem Menschen gesessen, der für vieles steht, was Sie verabscheuen? Haben Sie schon mal einen Angeklagten vertreten, der alles ist, nur nicht sympathisch? Ich kann davon berichten. Mein Name ist Mustafa Kaplan. Ich bin Anwalt von Beruf. In diesem Buch beschreibe ich, wie es ist, einen Mann wie den Attentäter von Walter Lübcke zu verteidigen, der durch seine rassistische Weltanschauung alles mit Füßen trat, wofür ein Anwalt wie ich stehe: Weltoffenheit, die Willkommenskultur für Flüchtlinge, ein soziales Gewissen für die Verlierer im Kapitalismus, das Streiten gegen den Rechtsextremismus und auch das Recht eines jeden Menschen auf eine angemessene Vertretung vor Gericht.“
Mustafa Kaplan
Leseprobe zu „Anwalt der Bösen“
Verteidiger mit Leib und Seele
4. Februar 2020, elf Uhr. Anwaltsparkplatz des Landgerichts Köln. Auf dem Weg zu meinem Auto klingelt das Handy. Die Nummer ist mir nicht bekannt. Neugierig drücke ich auf den grünen Knopf und nehme das Gespräch an.
„Kaplan.“ Es dauert eine Weile, bis der Anrufer spricht.
„Rechtsanwalt Hannig aus Dresden“, stellt der Mann sich vor.
Er rufe im Namen von Stephan Ernst an, der seit Juni 2019 im Gefängnis in Kassel einsitze. Stephan Ernst – Rechtsanwalt Hannig – Kassel: Das sagt mir etwas, aber direkt klingelt’s noch nicht. Meine [...]
Verteidiger mit Leib und Seele
4. Februar 2020, elf Uhr. Anwaltsparkplatz des Landgerichts Köln. Auf dem Weg zu meinem Auto klingelt das Handy. Die Nummer ist mir nicht bekannt. Neugierig drücke ich auf den grünen Knopf und nehme das Gespräch an.
„Kaplan.“ Es dauert eine Weile, bis der Anrufer spricht.
„Rechtsanwalt Hannig aus Dresden“, stellt der Mann sich vor.
Er rufe im Namen von Stephan Ernst an, der seit Juni 2019 im Gefängnis in Kassel einsitze. Stephan Ernst – Rechtsanwalt Hannig – Kassel: Das sagt mir etwas, aber direkt klingelt’s noch nicht. Meine Stimme stockt kurz, bevor ich mich nach dem Anliegen meines Anrufers erkundige. Die Antwort erfolgt prompt.
„Es geht um den Regierungspräsidenten von Kassel, Walter Lübcke. Herr Ernst wird verdächtigt, ihn aus rechtsextremistischen Motiven erschossen zu haben.“
Bei dieser Nachricht macht es klick. Plötzlich tauchen all die Medienbeiträge über den Fall vor meinem inneren Auge auf. Anfang Juni 2019 starb Walter Lübcke auf der Terrasse seines Hauses in der Nähe von Kassel durch die Schüsse eines Neonazis. Der mutmaßliche Täter heißt Stephan Ernst.
„Ernst, sagen Sie? Ja, an den Fall kann ich mich erinnern.“
Meine Antwort klingt ein wenig hölzern. Und deshalb setze ich nach:
„Wie kann ich denn helfen?“
Hannig berichtet, dass er der Anwalt von Stephan Ernst sei.
„Der Angeklagte hat mich beauftragt, Ihnen mitzuteilen, dass er Sie als seinen zweiten Strafverteidiger haben will.“
Bis zu meinem Wagen sind es nur noch wenige Meter. Überrascht bleibe ich stehen – und erneut herrscht Stille. Der Anrufer hakt nach.
„Hallo? Sind Sie noch dran?“
Ich sammle mich und frage dann: „Sind Sie sicher, dass Sie die richtige Person angerufen haben?“
Prompt erwidert der Anwalt: „Spreche ich nicht mit dem Strafverteidiger Mustafa Kaplan aus Köln?“
Ich entgegne: „Doch, doch! Weiß denn Herr Ernst … weiß er, dass ich eine türkische Vita habe?“
Hannig entgegnet: „Ja, das weiß er.“
Erneut hake ich nach: „Weiß Herr Ernst, dass er und ich in politischer Hinsicht wahrscheinlich auf völlig unterschiedlichen Planeten unterwegs sind?“
Mein Gesprächspartner antwortet vage: „Mmhh … ich glaube schon.“
Während ich die Autotür öffne, bitte ich den Anrufer um Bedenkzeit und versichere ihm, dass ich ihn später von meinem Büro aus zurückrufen würde.
Nach der Ankunft in der Kanzlei lässt mir der Anruf keine Ruhe. Unentschlossen, ob ich überhaupt in die Justizvollzugsanstalt fahren und ein Anbahnungsgespräch mit Stephan Ernst führen soll, schießen mir gleichwohl schon die ersten Fragen durch den Kopf: Wie würde mein Gespräch mit Ernst verlaufen? Würde ich merken, dass er etwas gegen Ausländer hat? Würde er meine Beratung überhaupt annehmen? Könnte ich mit ihm zusammenarbeiten? Wäre es moralisch und ethisch vertretbar, dass ich als Anwalt der Opfer im Prozess zu den NSU-Morden nun einen Rechtsextremisten verteidige, der aus menschenverachtenden Motiven heraus einen Regierungspräsidenten getötet hat, weil dieser für eine liberale Flüchtlingspolitik votiert hatte? Geht es Ernst nur darum, die Öffentlichkeit zu täuschen, indem er einen türkischstämmigen Anwalt engagiert? Wäre eine solche Prozesstaktik legitim?
Nach längerem Nachdenken entscheide ich, mir die Sache näher anzuschauen. Meine Neugier ist geweckt. Und ich stelle bei der Bundesanwaltschaft den Antrag, mir eine Besuchserlaubnis zu erteilen. Ich habe schon viele Mörder, Vergewaltiger, Drogenhändler und Pädokriminelle verteidigt. Aber einen Neonazi, dem vorgeworfen wird, aus rechtsextremistischen Motiven einen hochrangigen Politiker getötet zu haben, das wäre auch für mich ein Novum.
Mein Name ist Mustafa Kaplan. Von Beruf bin ich Anwalt – ein Organ der Rechtspflege, wie es in der drögen Juristensprache so schön heißt. In diesem Buch beschreibe ich den wohl größtmöglichen Widerspruch, der sich in der Berufswelt ergeben kann – ein Paradoxon, das sich im realen Leben nur sehr selten ergibt: Ein türkischstämmiger Strafverteidiger vertritt vor Gericht Stephan Ernst, den Rechtsextremen, der das Attentat auf den Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke verübt hat. Der Fall sorgte bundesweit für Schlagzeilen. „Quotentürke“ haben mich manche Kritiker genannt und mir unterstellt, dass ich mich von einem Neonazi vor den Karren habe spannen lassen, um für den Lübcke-Todesschützen ein milderes Urteil zu erwirken.
Dabei bin ich ein Anwalt, der schon immer zwischen unterschiedlichen ideologischen Welten unterwegs war. Mal agierte ich als Nebenklägervertreter im Prozess um die Morde der NSU-Terrorgruppe, mal vertrat ich den türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan gegen den TV-Moderator Jan Böhmermann wegen verbaler Entgleisungen.
Kein Zweifel, ich bin stur – einer, der sich nicht vorschreiben lässt, wen er vertreten darf und wen nicht. Sei es den Junkie, sei es den Roma, der als Dieb aufgefallen ist, sei es einen deutschen Räuber, sei es einen islamistischen Terrorverdächtigen mit arabischen Wurzeln. „Für einen Anwalt gibt es keine Schubladen, sondern nur Mandanten, für die du der letzte Anker bist.“ Das Zitat, so heroisch es klingen mag, entspricht voll und ganz meinem Rechtsverständnis.
Der Satz beschreibt einmal mehr, dass ich als Anwalt auch unliebsame Eskalationen nicht scheue, weder mit Richtern noch mit Staatsanwälten oder Medien. Als Jurist eilt mir der Ruf voraus, mitunter auch gerne zu polarisieren. „Ich lasse mir von niemandem das Rückgrat verbiegen.“ Ein Credo, dem ich stets gefolgt bin.
Was wurde ich angefeindet, als ich den türkischen Staatspräsidenten Erdoğan vertrat! Noch schlimmer wurde es, als ich, der „Türken-Anwalt“, das Mandat des Neonazis Stephan Ernst übernahm. Davon will ich hier erzählen. Zum ersten Mal gewährt dieses Buch einen intimen Blick hinter die Kulissen des spektakulärsten Staatsschutzprozesses der letzten Jahre.
Darum aber geht es nicht allein: Es war ja nicht einfach, in Almanya Fuß zu fassen – in einem Deutschland, das mir anfangs so fremd war wie der Kölner Dom, den ich damals für eine außergewöhnliche, aber schöne Moschee hielt. Zu Beginn dieses Buches werde ich schildern, wie es mir als einem türkischen Zuwandererkind gelang, mich aus armen Verhältnissen hochzuboxen und Strafverteidiger zu werden. Nie habe ich es hingenommen, wenn deutsche Jugendliche mich „stinkender Türke“ nannten; ich habe gekämpft mit Fäusten und mit meinem Hirn – je nachdem, was gefragt war. Es war nicht immer einfach, aber ich habe es geschafft.
Obwohl ich kein Deutsch sprach, gelang es mir nach meiner Ankunft in Almanya schnell, im rechtsrheinischen Kölner Stadtteil Mülheim Kontakte zu knüpfen. Der Fußball verband, da war es egal, ob du deutsch oder türkisch gesprochen hast. Immer wieder bin ich rassistischen Ressentiments begegnet. Als streitbarer Geist habe ich mir nichts gefallen lassen und bin stets offensiv dagegen vorgegangen. Im Studium beschimpfte ich im überfüllten Vorlesungssaal mit 900 Studierenden meinen seinerzeit sehr renommierten Juraprofessor wegen einer fremdenfeindlichen Äußerung als „Nazischwein“.
Aus der Sicht anderer Menschen wirke ich vermutlich wie ein Mann voller Gegensätze, wie ein Protagonist zahlreicher Widersprüche. Für mich hingegen ergibt das, was ich mache, einen Sinn. Ich persönlich sehe den sprichwörtlichen roten Faden. Denn tatsächlich geht es mir einzig um „Recht und Gerechtigkeit“. So simpel das auch klingen mag.
Erzählen will ich über meine Gefühlswelt, meine Ängste, Vorbehalte, Zweifel und Gedankengänge, über meine Lebensstrategie bis hin zur Taktik im Gerichtssaal. Schließlich geht es um das schwierige Verhältnis zu einem Mann wie dem Lübcke-Killer, der durch seine rassistische Weltanschauung alles mit Füßen getreten hat, wofür ein Anwalt wie ich steht: Weltoffenheit, die Willkommenskultur für Flüchtlinge, ein soziales Gewissen für die Verlierer im Kapitalismus, das resolute Eintreten gegen den Rechtsextremismus und auch das Recht eines jeden Menschen auf eine engagierte und sachgerechte Verteidigung vor Gericht.
Mit dem schriftlichen Einverständnis meines Mandanten werde ich hier den ganzen Fall noch einmal in wichtigen Punkten aufrollen und beschreiben, wie die Gespräche mit Stephan Ernst im Gefängnis verliefen, wie ich meinen Mandanten beriet, wie es sich auswirkt, Gefühle zu teilen, auch wenn man ideologisch so weit auseinanderliegt wie die Erde und die Sonne.
Während des Verfahrens quälten mich häufig Zweifel; ich empfand auch öfter einen persönlichen Zwiespalt und fürchtete um mein Leben und das meiner Familie.
Darüber hinaus wird dieses Buch Gespräche mit dem Angeklagten enthüllen und das Verhältnis zwischen ihm und mir als Anwalt beleuchten, das nicht immer einfach war. Ich werde auch aufklären, warum Stephan Ernst nach etlichen falschen Geständnissen schließlich ein echtes ablegte. Nach langem Vor und Zurück hatte der Angeklagte letztlich reinen Tisch machen wollen. Zudem schildere ich die schwierigen Tage im Prozess und andererseits auch all die Anfeindungen aus meinem Bekanntenkreis. „Wie kannst du so einen Mann verteidigen? Wieso bist du immer wieder der Anwalt der Bösen?“ Diese Vorwürfe schlagen mir immer wieder entgegen. So mancher Freund und manche Freundin brachen den Kontakt zu mir ab. Ehemalige Kommilitonen sprechen nicht mehr mit mir.
„Anwalt der Bösen“ – was für eine Übersteigerung! Nun erwarte ich wirklich nicht, dass man mich für meine Fälle abfeiert. Aber muss man in Bezug auf meine Mandanten gleich so große Worte wie „Böse“ verwenden? Geht es nicht eine Nummer kleiner? Was genau bedeutet überhaupt „Böse“? Wer legt denn fest, wer „böse“ ist? Die berühmtesten Philosophen arbeiten sich seit Jahrhunderten erfolglos an diesem Begriff ab, ohne auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen. Es gibt viele unterschiedliche Meinungen und mindestens genauso viele Definitionsversuche. Und wenn selbst Philosophen es nicht schaffen, das Wort „böse“ zu erklären, wie soll es dann mir gelingen? Ganz im Ernst, hätte ich genügend Zeit, mich mit solchen Begrifflichkeiten zu beschäftigen, müsste ich mir ernsthaft Sorgen machen, ob ich als Strafverteidiger überhaupt genügend ausgelastet bin.
Die Realität sieht doch so aus: Es kommt ein Anruf, jemand wurde festgenommen. Vorwurf: schwere Straftat, vielleicht ein Verbrechen. Ich muss schnell zum Polizeipräsidium fahren. Hoffentlich hat er sich nicht um Kopf und Kragen geredet. Vielleicht kann ich es schaffen, ihn rauszuholen. Ich muss reagieren. Schnell. Jede Minute in der U-Haft ist eine zu viel. In der Ausnahmesituation beschäftige ich mich doch nicht mit der Frage, ob mein Mandant „böse“ ist oder ob ich der „Anwalt der Bösen“ bin. So wie mich auch nicht das Paarungsverhalten der grünen Meeresschildkröte, auch Chelonia mydas genannt, im Indischen Ozean umtreibt. Was ich damit sagen will: Für mich steht eine Auseinandersetzung mit Begriffen wie „böse“ überhaupt nicht auf meiner Agenda. Unabhängig davon würde es aber auch 1. den Rahmen dieses Buches sprengen, 2. bin ich nur ein Strafverteidiger, und 3. ist es mir tatsächlich völlig gleichgültig, was andere über mich und meine Fälle denken und sagen. Offensichtlich soll aber durch das Wort „böse“ die dem Angeklagten vorgeworfene Tat dramatisiert, als besonders verwerflich und monströs dargestellt werden. Dabei gilt doch für alle Bundesbürger eine einfache Formel: Jeder hat ein Recht auf einen Anwalt. Das deutsche Justizsystem sieht einen Anspruch auf angemessenen Rechtsschutz bei Gericht vor. Und das ist gut so. „Ich bin kein Robin Hood, ich mache nur meinen Job.“ Der Satz, den ich einer Reporterin der Süddeutschen Zeitung im Interview in den Notizblock diktiert habe, bringt meine berufliche Philosophie auf einen einfachen Nenner – ganz gleich, wie ich persönlich über meine Mandanten oder die jeweils zur Verhandlung stehende Tat denke. Jeder Klient darf mit meinem vollen Engagement rechnen.
Die Journalistin Lale Artun von der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung beschrieb mich als einen Strafverteidiger, „der sich nicht mit Befindlichkeiten aufhält, der nie die Distanz verliert und außer seinem Erfolg als Anwalt keine Agenda verfolgt“. Auch wenn es ein wenig nach Selbstbeweihräucherung klingt, aber ein schöneres Lob kann es für mich nicht geben.
Ich bin Verteidiger mit Leib und Seele. Seit meiner Jugend steige ich auch gerne in den Boxring. Da gibt es Parallelen: den Gegner beobachten – Ablenkungsmanöver starten – ausweichen – stets auf der Hut sein – die Verteidigung nie außer Acht lassen, im Gerichtssaal wie im Ring. Entscheidend ist, unerwartet in die Offensive zu gehen und niemals die Distanz zu verlieren – weder im Prozess noch beim Gegner!
Ich bin Strafverteidiger nicht aus reiner Menschenliebe, sondern weil es das Gesetz so vorsieht. Das ist der Grund, warum sich das deutsche Justizwesen wohltuend von dem vieler Unrechtsstaaten in der Welt abhebt. Auch wenn manches bei der deutschen Justiz im Argen liegen mag, so muss man doch konstatieren: Wenn Menschen Gesetze machen und Recht sprechen, bleibt vieles Stückwerk. Schließlich liegt es in der Natur der Sache. Ein unfehlbarer Justizapparat ist ebenso unwahrscheinlich wie Wasser in der Wüste. Und doch liefert dieser Rechtsstaat sicherlich die beste Performance aller fehlerbehafteten Justizsysteme auf Erden ab.
Am 12. Februar 2020 besuchte ich Stephan Ernst das erste Mal in der Justizvollzugsanstalt in Kassel. Wir unterhielten uns zwei, drei Stunden. Nach dem Gespräch mit dem Beschuldigten nahm ich den Auftrag an. Mir war bewusst, dass die Übernahme des Mandats zumindest für Irritationen sorgen würde. Aber die Wucht der Reaktionen überraschte mich dann doch. Die Anfeindungen nahmen kein Ende. Von Rechtsextremisten wurde ich ebenso beschimpft wie von Linksextremisten. Nationalistische Türken warfen mir „Verrat“ an den eigenen Landsleuten vor, und sogar ehemalige Anwälte von NSU-Opfern, die mich noch aus dem langwierigen Prozess in München gegen Beate Zschäpe und vier weitere Personen aus ihrem Umfeld kannten, rückten mich in Artikeln in die Nähe der AfD. Medialen Gegenwind hatte ich zuvor schon mehrmals erlebt, aber dieses Mal erhob sich ein Sturm.
Eine Woche nachdem ich das Mandat angenommen hatte, erschoss der 43-jährige Tobias R. in Hanau neun Menschen mit Migrationshintergrund sowie seine eigene Mutter. Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar, Kaloyan Velkov und Gabriele Rathjen sind die Namen der Opfer. Sie waren teilweise im Alter meines Sohnes. Die Zweifel, die zuvor schon an mir genagt hatten, meldeten sich erneut. Das Grübeln setzte erneut ein. Soll ich? Soll ich doch nicht?
Dann fiel mir aber die Geschichte von Claus Bastian wieder ein. Der angehende Rechtsanwalt und Künstler wurde am 9. März 1933 verhaftet und in das Konzentrationslager Dachau verbracht – registriert als Gefangener Nr. 1. Im September 1933 kam Bastian nach schwerer Haftzeit wieder frei. Nach Kriegsende arbeitete er als Rechtsanwalt und vertrat hauptsächlich Verfolgte des NS-Regimes. Im Jahr 1951 verteidigte das einstige NS-Opfer dann vor dem Münchener Schwurgericht Karl Friedrich Wicklmayr, einen ehemaligen SS-Mann, der in Dachau den Kommunisten Joseph Götz erschossen hatte. Bastian erreichte, dass der Angeklagte zu lediglich sechs Jahren Freiheitsstrafe verurteilt wurde.
Dass ausgerechnet der ehemalige KZ-Häftling Bastian den SS-Schergen Wicklmayr in einem Strafverfahren verteidigte, empfanden viele als irritierend. Auf die Frage, weshalb gerade er den einstigen NS-Wachmann vertrete, antwortete Bastian mit einer simplen Feststellung: „Weil ich Rechtsanwalt bin. Und dass ausgerechnet ich Wicklmayr zu verteidigen habe, stellt für mich den Sieg des Rechtsstaats dar!“
Der Mann hat mir aus der Seele gesprochen. Ich bin weit davon entfernt, meine Situation mit der meines schon lange verstorbenen Kollegen zu vergleichen. Aber seine wahre Geschichte führt uns vor Augen, in was für einem fantastischen Rechtsstaat wir leben. Es erinnert uns an einen der Grundpfeiler unserer Demokratie: Jeder Angeklagte, gleichgültig ob ihm kleinste Vergehen oder die allerschlimmsten Verbrechen vorgeworfen werden, hat Anspruch auf bestmögliche Verteidigung. Diesen Anspruch verliert der Angeklagte selbst dann nicht, wenn er den Rechtsstaat verachtet und ihn sogar bekämpft. Punkt.
Am Ende verhängte das Oberlandesgericht Frankfurt am Main über den Hauptangeklagten Stephan Ernst eine lebenslange Freiheitsstrafe mit der Feststellung der besonderen Schwere der Schuld. Die Sicherungsverwahrung tritt nur dann in Kraft, wenn der Verurteilte in der Haft nochmals straffällig werden sollte.
Seither besuche ich den einstigen „Nazikiller“, meinen Klienten, weiterhin im Gefängnis, um zu sehen, welche Fortschritte er macht. Bisher sieht es gut aus. Vor dem Hintergrund bin ich davon überzeugt, dass Stephan Ernst auf einem guten Weg ist, seine rechtsextreme Gesinnung abzulegen. Das wäre mal ein Erfolg, auch wenn seine furchtbare Tat nie in Vergessenheit geraten wird.
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