Aqua (Mondvogel-Saga 2) - eBook-Ausgabe
Im Zeichen des Meeres
„Mit ›Aqua – Im Zeichen des Meeres‹ hat Anne Buchberger einen tollen und vor allem spannenden zweiten Teil der Reihe geschaffen, der mit zauberhaften Charakteren, einer unvorhersehbaren Umsetzung und vielen tollen und interessanten Bereichen überzeugen kann.“ - ruby-celtic-testet.blogspot.com
Aqua (Mondvogel-Saga 2) — Inhalt
Mit „Aqua – Im Zeichen des Meeres“ wird die zauberhafte Fantasyreihe um Prinzessin Analina und ihr magisches Erbe fortgesetzt. Analina ist nach einer gefährlichen Reise endlich auf der berühmten Akademie des Meeres angekommen. Dort, fernab der Heimat, soll Analina in Magie ausgebildet werden, doch es fällt ihr schwer, ihre Rolle an dem Eliteinternat zu finden – zumal sie ihre wahre Identität als Prinzessin von Arden vor ihren Mitschülern verbergen muss. Während sie sich mit alten und neuen Freunden und Feinden, Lehrern, Prüfungen sowie dem Druck zu hoher Erwartungen herumschlägt, zieht sich das Netz der Schwarzmagiern Gwenda immer enger um Analinas Königreich. Bald wird klar: Der Krieg um Hyianda wird nicht mehr lange auf sich warten lassen ...
Leseprobe zu „Aqua (Mondvogel-Saga 2)“
Dichter Nebel waberte über den schlammigen Boden des Sumpfgebiets. Wo trübes Wasser zwischen faulen Wurzeln hervorquoll wie Wundsekret, kämpften krumme Büsche um Platz, Nährstoffe und Licht, aber es war zwecklos. Man konnte nicht übersehen, dass das Gebiet im Sterben lag. Dabei hatten vor noch gar nicht langer Zeit Händler diese Gegend bereist. Es hatte Straßen und Ortschaften gegeben, Flüsse und Felder. Doch dann waren Überschwemmungen gekommen und mit ihnen die Ernteausfälle. Nach und nach hatten Hunger und Armut die Bevölkerung Richtung Süden [...]
Dichter Nebel waberte über den schlammigen Boden des Sumpfgebiets. Wo trübes Wasser zwischen faulen Wurzeln hervorquoll wie Wundsekret, kämpften krumme Büsche um Platz, Nährstoffe und Licht, aber es war zwecklos. Man konnte nicht übersehen, dass das Gebiet im Sterben lag. Dabei hatten vor noch gar nicht langer Zeit Händler diese Gegend bereist. Es hatte Straßen und Ortschaften gegeben, Flüsse und Felder. Doch dann waren Überschwemmungen gekommen und mit ihnen die Ernteausfälle. Nach und nach hatten Hunger und Armut die Bevölkerung Richtung Süden getrieben, in die Städte oder den Ardenwald. Innerhalb weniger Jahre hatte das Land nördlich der ardischen Hochebenen fast all seine Einwohner verloren. Inzwischen wirkte die Landschaft völlig ausgestorben, und für gewöhnlich war sie das auch, aber nicht in dieser Nacht.
Nicht ganz.
Die Gestalt, die der Nebel nur widerwillig preiszugeben schien, war allein. Eigentlich hätte sie verloren aussehen müssen, doch die Leichtfüßigkeit, mit der sie sich vorwärtsbewegte, verriet, wie zielstrebig sie war. Flinke Füße fanden wie von selbst sichere Wege, wo andere längst abgerutscht und ertrunken wären. Fast schien es, als fände der Reisende sich blind zurecht, denn die Kapuze hing ihm tief ins Gesicht. Sie war feucht vom modrigen Atem des Sumpfes.
Das Tor tauchte unvermittelt auf, als hätte sich ein Vorhang gelüftet. Losgelöst von seiner Umgebung ragte es aus dem Morast, keine Mauern, kein Gebäude – nur das Tor. Der Vermummte setzte seinen Lauf ohne Stocken fort und erreichte den Steinbogen mit wenigen Sprüngen. Glutrote Flammen schienen in den Tiefen des schwarzen Steins zu tanzen, doch er warf kaum einen Blick darauf. Er kannte Feuerstein und er kannte die Strafe, die ihm drohte, wenn er seine Herrin mit Unpünktlichkeit verärgerte. Der Weg hinter dem Tor war mit bloßem Auge zu erkennen und das ließ den Reisenden noch etwas schneller werden. Leise keuchend stürzte er über schwarze Steinplatten, die immer größer und zahlreicher wurden, je näher er seinem Ziel kam. Mehr Tore tauchten auf, wie dunkle und stumme Vorboten der Schwarzen Festung. Sie waren unbewacht, das waren sie immer. Es war kein Geheimnis, dass die Herrin der Sümpfe sich nicht vor Angreifern fürchtete. Ein letztes Tor schälte sich aus dem Nebel und dahinter thronte, vor einem schwefelgelben Himmel, Nygerarx.
Es war schwer zu sagen, ob die Festung schrecklich war oder schön. Auf jeden Fall war sie eindrucksvoll. Das hohe Portal, das Schmuckstück der Fassade, war kunstvoll verziert. Gemeißelte Steinrosen blitzten und flackerten, als stünden sie in Brand. Sie umkränzten den Leitspruch, einen Satz, der alle Anhänger Gwendas verpflichtete, für ihre Königin zu leben, zu kämpfen und zu sterben: Wahrhaft königlich ist, wer durch das Volk lebt. Dieser Ausspruch war keine höfliche Geste zur Ehrerweisung mehr. Er bedeutete Treue und Gehorsam bis in den Tod.
Der Bote hielt inne, ganz kurz nur. Dann blitzte etwas auf und das Portal öffnete sich ohne einen Laut. Fackelschein flutete über die Schwelle, die Herrin wartete. Es galt, eine Botschaft zu überbringen.
Im Schwarzen Saal auf Nygerarx herrschte Stille. Dunkle, intensive, formvollendete Stille. Die Frau, die auf dem Thron hinter der polierten Tischplatte saß, schloss die Augen und horchte ihr nach. Sie mochte die Stille. Hatte gelernt, sie zu mögen. Sie hatte immer gedacht, zu herrschen würde bedeuten, mitten im Licht zu stehen, immer in Bewegung zu sein, mit der ganzen Welt zu tanzen. Doch so war es nicht, denn sie regierte in Stille. In Stille und in Dunkelheit.
Das Lächeln zuckte über ihre Lippen wie die Flammen der Fackeln an den Wänden. Ihr Thron war schwarz. Auch ihr Kleid war schwarz. Schwarz war alles, was sie umgab. Sie hatte sich diese Farbe eigentlich nicht ausgesucht. Feuerstein war nun einmal schwarz und fast alles im Sumpfgebiet bestand aus Feuerstein. Doch mit der Zeit hatte sie die Wirkung der Dunkelheit zu schätzen gelernt. Schwarz war dramatisch und Dramatik verschaffte Respekt.
Abgesehen davon sah sie in schwarzer Seide fantastisch aus.
Der Bote trat ein, ohne zu klopfen. Gwenda Melania scherte es nicht. Sie blieb reglos, während sich die Schritte näherten, wartete, bis sie langsamer wurden und erstarben, andächtig, wie sie es gewohnt war.
Gwenda wusste, wie sie aussah. Sie vergaß nie, wie schön sie war, weil es ein Fehler wäre, diese Tatsache nicht zu nutzen. Und auch diesmal wartete sie einen Moment lang, bevor sie die Augen aufschlug und ihren kühlen Farbton wirken ließ.
„Du bist spät.“
Ihre Stimme war ebenso kalt wie ihr Blick.
Der junge Mann neigte kurz den Kopf. Er zeigte keine Angst. „Verzeiht mir, Majestät. Ich bin aufgehalten worden.“
„Das interessiert mich nicht.“ Sie musterte ihn ungerührt. „Du hast Neuigkeiten.“
Es war keine Frage.
„Ja, meine Herrin. Die Prinzessin von Funkelstein …“
Sie hob eine Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen. „Spar dir die Mühe. Ich weiß Bescheid. Sie ist angekommen.“
Der Junge blinzelte. „Ja, Euer Majestät.“
Er fügte nichts hinzu, doch sein Gesichtsausdruck sprach Bände.
Gwenda versah den Schwung ihrer Lippen mit einer sorgfältig dosierten Spur von Spott. „Nicht nur meine Schwester geht zu offen mit ihren Gedanken um, mein Lieber.“
Schweigend nahm er die Warnung entgegen.
Sie hob die Brauen. „War das alles?“
„Nicht ganz.“ Der Junge räusperte sich kurz. „Verzeiht, Majestät, aber ich verstehe Euer Vorgehen nicht. Jetzt, da die Prinzessin die Akademie erreicht hat, ist sie praktisch nicht mehr zu fassen. Sie ist genauso sicher, wie sie es auf Funkelstein war. Ihre Reise wäre unsere Gelegenheit gewesen, sie zu beseitigen …“
Die Herrin der Sümpfe lachte auf. „Du hast recht. Du verstehst mein Vorgehen nicht.“
Er wartete.
„Du kannst gehen.“
Sein kurzes Zögern überraschte sie. Er schien besser mitzudenken, als sie erwartet hatte. Schließlich nickte er. „Wie Ihr wünscht.“
„Aber sei bereit“, fügte sie hinzu.
„Natürlich, Euer Majestät.“
„Gut. Geh.“
Der Junge verschwand und Gwenda schloss die Augen.
Stille trat ein.
„Bereit machen zur Landung!“
Mühelos übertönte Lars’ Stimme das gleichmäßige Brausen der silbernen Schwingen. In den letzten Tagen hatte Analina ihn als guten Drachenreiter kennengelernt und auch jetzt zeigte er keine Unsicherheit, als er die Höhenleine straffte, die Beine in die Halskuhlen des Tieres drückte und zu einer weiten Schleife ansetzte. Die Akademie des Meeres, gerade noch ein perlmuttfarbener Klecks vor stahlgrauen Klippen, verschwand hinter dem Horizont und Islas Griff an Anas Seite verstärkte sich.
„Eine Frage“, flüsterte Isla mit dünner Stimme. „Wird das hier so schlimm wie der Start oder …“
Der Rest des Satzes wurde von ihrem Aufschrei verschluckt, als sie urplötzlich zur Seite kippten. Analina holte tief Luft und schmeckte Zimt und Regen, während der Silberne seinen schuppigen Hals neigte und der Erdboden immer näher kam.
„Lass los“, rief sie über die Schulter. „Das ist der beste Teil!“ Ohne Zögern löste sie die klammen Finger vom Sattel, streckte die Arme aus und genoss das Gefühl des freien Falls. Islas Finger gruben sich tief in Anas Fleisch, dann ließ auch sie los und stieß einen Laut aus, der ein Begeisterungsruf sein konnte oder ein Wimmern.
„Das ist …“
„Mund zu!“, rief Lars von vorne und Ana gehorchte. Im nächsten Moment setzten sie hart auf der Erde auf und Islas halb unterdrückter Fluch verriet, dass sie sich auf die Zunge gebissen hatte. Ein paar Sekunden wurden sie heftig durchgeschüttelt, dann kam der Drache zur Ruhe und faltete die Flügel ein.
Analina löste den Hüftgurt, der sie die letzten Stunden und Tage fast ununterbrochen gesichert hatte. Obwohl der Silberne sich dicht an den Erdboden drückte, waren sie in ihren Sätteln immer noch über drei Meter von dort entfernt. Vor ihnen sprang die nubische Besatzung furchtlos ab, aber Ana löste lieber die am Sattel aufgerollte Strickleiter und entschied sich für den langsamen Weg. Die Erleichterung war Isla deutlich anzusehen, als sie ihr auf der Leiter nach unten folgte.
„Fliegen ist gut“, verkündete sie, sobald sie wieder festen Boden unter den Füßen hatte. „Aber schwimmen ist besser.“
Analina verzog das Gesicht. „Ich mag Luft. Luft kann man atmen.“ Sie ignorierte Islas verdrehte Augen und richtete ihre Aufmerksamkeit nach vorne. Lars war ebenfalls abgesprungen und kam mit großen Schritten auf sie zu. Nach der langen Zeit im Sattel fühlten sich Analinas Beine wie labbrige Algen an, der nubische Kronprinz aber bewegte sich genauso elegant wie immer. Bruder, dachte Ana nachdrücklich. Er ist mein Bruder.
„Tja“, machte Lars und blieb vor ihr stehen. „Da wären wir.“
„Tja“, sagte Analina und sah sich um. Sie standen auf einer Lichtung zwischen knorrigen Laubbäumen, die an einer Seite von einer hohen Steilwand begrenzt wurde. Das Meer war nirgends zu sehen, aber sie hörte Wellen und Möwen und unter dem Zimtduft der Drachen roch sie das Salzwasser auch.
„Wir wären wo?“, fragte Isla unbeeindruckt.
Lars hob die Brauen und offene Belustigung blitzte in seinen blauen Augen auf. „Geduld ist nicht deine Stärke, was?“
„Nachdem ich schon Wochen unter freiem Himmel verbracht habe und jeden einzelnen Knochen spüre? Nein, nicht so sehr.“
„Das hier ist einer der wenigen Landzugänge zu den Anlagen der Akademie. Sie haben uns kommen sehen. Jeden Moment sollte jemand hier sein, um euch abzuholen.“
„Und ihr?“, fragte Analina.
„Wir fliegen zurück. Auf der Wolkenfestung gibt es für mich mehr als genug zu tun, vor allem nach den jüngsten Entwicklungen.“
Ana schauderte, als sie an ihre Begegnung mit Gwendas Nachtmahren zurückdachte. „Wird … wird es Krieg geben? Einen offenen, meine ich?“
Ihre Blicke begegneten sich. Kurz schien Lars zu zögern.
„Ich weiß es nicht“, sagte er schließlich.
„Und was glaubst du?“
Stille. Dann: „Ich glaube schon.“
Sie nickte. „Ich auch.“
Keiner von ihnen schien zu wissen, was man darauf sagen sollte. Nach einer kurzen Pause nahm Lars den Helm ab und sein blonder Zopf rutschte ihm über die Schulter. „Lothian hat mit dir geredet, oder? Über …“
„Unsere Eltern“, sagte Analina.
„Ah. Ja. Damit … wäre das geklärt.“ Er lächelte. „Du weißt, dass du es für dich behalten solltest?“
„Ich hatte es mir gedacht.“ Sie hielt kurz inne. „Wie lange weißt du schon, dass …“
„Die Hoheiten, nehme ich an.“
Die Stimme ließ sie zusammenzucken. Ana fuhr herum und bemerkte jetzt erst die Gestalt, die im Schatten der Felswand aufgetaucht war. Das musste jemand von der Akademie sein, der sie abholen sollte. Dann trat die Person einen Schritt vor und Ana konnte eine hagere Frau mit kräftigen Schultern erkennen. Ihr Gesicht und die sehnigen Arme waren bedeckt von unzähligen Sommersprossen und das rote Haar hatte sie achtlos am Hinterkopf zusammengebunden. Sie bedachte Lars mit einem kurzen Blick und einem knappen Nicken, das er mit einem breiten Lächeln erwiderte. Dann blieben ihre Augen an Ana hängen und gaben ihr sofort das Gefühl, irgendeinen peinlichen Fehler gemacht zu haben.
„Analina Nelia von Funkelstein.“ Es war keine Frage. Ana nickte trotzdem und trat auf sie zu.
„Du bist unauffällig“, stellte die Frau fest. „Das ist gut, damit bist du leichter zu schützen. Du stichst nicht besonders ins Auge.“
„Danke“, sagte Analina.
Die kritische Miene der Frau veränderte sich kaum wahrnehmbar. „Man sieht es“, sagte sie langsam, während ihre Augen noch einmal über Anas Gesicht wanderten. „Wenn man es weiß. Da ist etwas in deinem Blick … du ähnelst ihr.“
Das hatte Lothian auch gesagt. Bevor Analina antworten konnte, ergriff die Frau ihre Hand. Ihr Händedruck war fest, die Haut rau und voller Schwielen. „Mein Name ist Sienna Morianne. Streng genommen müsstest du mich Mentorin Morianne nennen, aber das tut niemand. Sienna reicht aus. Ich werde dich vermutlich in Schwertkampf und Lanze unterrichten, dich und deine Freundin.“
Analina warf Isla einen Blick zu. Sie wirkte ungewohnt zurückhaltend, und Ana rief sich in Erinnerung, dass Isla mit ihrer lückenhaften Ausbildung viel mehr Grund hatte als sie, nervös zu sein.
„Vielen Dank, dass Ihr uns abholt“, brachte Ana hervor und räusperte sich, um den unsicheren Unterton loszuwerden.
Sienna zuckte nur mit den Schultern. „Jemand muss es ja machen. Ach, und ihr werdet alle Mentoren auf der Akademie mit ›Sie‹ ansprechen. Auf der Akademie spielen Adelstitel keine Rolle, nicht wie bei Hof, deshalb genügt diese einfache Anrede. Wir halten einige Dinge anders, als ihr sie kennt, aber ihr wirkt nicht überdurchschnittlich begriffsstutzig. Ihr solltet euch bald zurechtfinden.“
Ana starrte sie an. „Gut zu wissen.“
„Ja. Nun, ich bin keine Freundin sentimentaler Szenen, also haltet es kurz. Ich warte.“
Erst nach ein paar Sekunden verstand Analina, dass das eine Aufforderung gewesen war, sich zu verabschieden. Peinlich berührt wandte sie sich ab und trat mit Isla auf Lars zu.
„Ah, Sienna“, sagte er vergnügt. „Immer wieder eine Freude.“
„Du kennst sie?“
„Klar, sie unterrichtet schon lange. Hasst es angeblich, aber dafür hält sie schon eine ganze Weile durch.“
„Wie kommt sie darauf, dass es sentimental werden könnte?“, hakte Isla stirnrunzelnd nach.
Ana stockte, aber Lars zuckte nicht einmal mit der Wimper. „Ach, für Sienna ist schon ein freundliches Lächeln sentimental. Also gut, halten wir es kurz.“
Er umarmte erst Isla, dann legte er eine Hand auf Analinas Schulter und murmelte: „Sienna ist eine Schulfreundin von Lothian. Wenn es Probleme gibt, sprich mit ihr.“
„In Ordnung.“
„Pass auf dich auf. Und hab Spaß. Es wird dir gefallen.“ Er zwinkerte und trat zurück. „Na dann. Man sieht sich, Kleine.“
„Ich bin nicht klein.“ Sie warf ihm einen herausfordernden Blick zu, dann nahm sie ihr Gepäck von einem der Reiter entgegen und wandte sich wieder Sienna zu.
„Fertig?“, fragte diese knapp. „Dann los, wir sollten keine Zeit verlieren.“
Ana zog den Gurt ihrer Tasche straff und verkniff sich ein Stöhnen, als ihre Armmuskeln schmerzhaft protestierten. Siennas Reaktion auf Gejammer konnte sie sich nur zu gut vorstellen.
Bisher war Analina nicht klar gewesen, woher Sienna so plötzlich aufgetaucht war. Als sie jedoch in den Schatten der Steilwand traten, erkannte Ana eine schmiedeeiserne Tür, die mit verschiedenen Ketten und Schlössern gesichert war. Ohne auf ihre verdutzten Gesichter zu achten, hantierte Sienna eine Weile mit mehreren Schlüsseln verschiedener Größe, bevor sie zusätzlich einen Funken türkisblauer Magie auf die letzte Kette überspringen ließ. Ein lautes Klicken ertönte und die Tür schwang nach innen auf.
„Mir nach.“ Sienna betrat den steinernen Gang im Fels, den die Tür verborgen hatte. Er war niedrig und eng und führte nach und nach immer stärker bergauf, was Analina nach ein paar Minuten Weg unangenehm zu spüren bekam. Ihre Waden begannen zu brennen, und sie musste sich darauf konzentrieren, gleichmäßig zu atmen. Bald wusste sie nicht mehr, wie lange sie schon schweigend hinter Siennas im Dämmerlicht leuchtendem Haarschopf herliefen. Es gab keine Fenster und die einzigen Lichtquellen waren einzelne, schwach leuchtende Magiekugeln, die an den Wänden schwebten und verzerrte Schatten über den Stein ziehen ließen.
Irgendwann wurde der Weg flacher und hinter Ana atmete Isla kaum hörbar auf. Doch die Erleichterung war voreilig gewesen. Sie hatten den Fuß einer steilen Treppe erreicht, die scheinbar endlos nach oben in die Klippe führte. Ana konnte ein leises Stöhnen nicht unterdrücken, hätte sich aber gleich darauf ohrfeigen können. Sienna drehte sich um und warf den beiden Mädchen einen spöttischen Blick zu.
„Doch nicht so zäh, wie Céleste behauptet hat?“, fragte sie trocken.
Ana brauchte eine Sekunde, um zu begreifen, dass mit Céleste ihre Mutter gemeint war, und in dieser Zeit hatte Sienna sich schon wieder umgedreht und war weitergelaufen. Verärgert über ihre eigene Unbedachtheit tauschte Analina einen Blick mit Isla. Die hob nur die Schultern und schenkte ihr ein schicksalsergebenes Lächeln.
Viele Treppenstufen und erschöpfte Atemzüge später erreichten sie schließlich eine Tür, die ebenfalls mitten im Fels saß und dadurch genauso fehl am Platz wirkte wie die erste. Ana wusste längst nicht mehr, wie hoch sie gestiegen oder wie lange sie schon unterwegs waren. Schweiß brannte in ihren Augen und ihre Schultern und Arme pochten höllisch. Müde wischte sie sich die feuchten Haarsträhnen aus dem Gesicht, doch sobald Sienna sich umdrehte, straffte sie den Rücken, biss die Zähne zusammen und gab sich alle Mühe, gleichmäßig zu atmen. Sie würde dieser Frau keine weitere Gelegenheit geben, an ihrer Ausdauer herumzumäkeln.
Sienna musterte sie und Isla mit leicht verzogenen Mundwinkeln. „Da sind wir“, sagte sie dann, griff, ohne hinzusehen, nach der Klinke und öffnete die Tür.
Als Erstes schmeckte Ana Salz. Kaum war sie durch die Tür getreten, schlug ihr die klare Meeresluft entgegen, die sie inzwischen so gut kannte. Wind verfing sich in ihren Haaren und sie blinzelte, während ihre Augen sich nach der dämmrigen Beleuchtung des Ganges wieder an das helle Licht gewöhnten. Erst nach einigen Atemzügen konnte sie ihre Umgebung ausmachen.
Sie stand in einer kleinen Kammer mitten im Fels. Die Wände waren teilweise verkleidet, mit einem grünblau schimmernden Material, das sie nicht kannte. In der Mitte des Raumes stand ein flaches Wasserbecken, das leicht zu glimmen schien. Nach einigen Sekunden fragte sich Ana, wie sie den Wind und die frische Luft hatte spüren können – wenn sie sich doch in einem geschlossenen Raum befand. Aber bevor sie sich irritiert an Sienna wenden konnte, entdeckte sie eine schmale Steintreppe, die sich an einer der Wände hinaufzog und an einer weiteren Felsentür endete, die allerdings offen stand. Wieder fuhr ein Luftzug durch die Öffnung und brachte ihr Haar durcheinander.
„Wo sind wir?“, fragte Ana. Sienna antwortete nicht, sondern ging auf das Becken in der Mitte der Höhle zu. Sie beugte sich darüber und berührte mit den Fingerspitzen ganz leicht die Wasseroberfläche. Nach ein paar Sekunden blitzte ein türkisfarbener Funke auf und Sienna hob den Kopf.
„In Ordnung. Wir können hoch“, sagte sie knapp und nickte in Richtung der Steintreppe.
Ana spürte Islas verwirrten Blick, doch sie folgten Sienna wortlos die wenigen Stufen nach oben und hinaus ins Freie. Analina machte einen Schritt ans Tageslicht und blieb wie angewurzelt stehen. Sie sah Wellen brechen, Wasser gurgeln und schillernde Schaumkronen an schwarzen Felsen zerbersten. Das Wasser war tief, tief unter ihr, aber sie spürte den Sog und den Wind und sah sich taumeln, sah sich fallen. Sie spürt eiskaltes Wasser über ihrem Kopf zusammenschlagen, spürt das Wasser in ihrem Mund, in ihren Lungen. Da ist Wasser unter ihr, Stein über ihr und kein Platz, keine Kraft, keine Luft zum Atmen …
Mit rasendem Herzen drückte Ana den Rücken gegen die Felswand. Unkontrolliert wirbelten Bilder durch ihren Kopf. Wie durch Watte hörte sie Siennas Stimme, verstand die Worte aber nicht. Dann sah sie, wie Isla sich umdrehte, ein Lächeln auf den Lippen. Wie es gefror und ihre Augen sich weiteten.
„Ana, was ist los mit dir? Du bist ja kreidebleich!“ Islas Blick wanderte von Analinas Gesicht zum Rand des Felsvorsprungs, auf dem sie standen. In dem Moment kehrte Ana in die Realität zurück: Da war kein Wasser um sie herum, nicht zwischen ihren Fingern, nicht in ihrem Mund. Sie befanden sich in beträchtlicher Höhe über dem Meeresspiegel und die Wellen brachen so weit unter ihnen, dass sie kein Spritzer erreichte. Ana schloss kurz die Augen und atmete tief durch.
„Nichts“, hörte sie sich selbst sagen, und sie hörte auch, wie hoch und dünn ihre Stimme klang. „Alles in Ordnung.“
Islas Finger berührten vorsichtig ihren Arm. Bist du sicher?
Diesmal erklang ihre Stimme direkt in Anas Kopf.
Analina zuckte die Schultern. „Ich weiß nicht.“ Sie wagte erneut einen Blick die Klippe hinunter. Die Panik blieb diesmal aus.
„Höhenangst“, stellte Sienna nüchtern fest. „Célestes Tochter hat Höhenangst.“
Ana gefiel der Tonfall, den sie gebrauchte, ganz und gar nicht und auch nicht ihr abschätziger Blick.
„Es ist keine Höhenangst“, widersprach sie gereizt. „Ich habe kein Problem mit Höhen. Wir sind auf einem Drachen hergekommen, oder nicht? Mir war nur … schwindelig.“
Siennas rote Augenbrauen zuckten. „Ein Schwindelanfall beim Anblick von großer Höhe, aber keine Höhenangst. Mir kannst du das nicht weismachen, aber rede dir ruhig ein, was du willst.“
Analina presste die Lippen zusammen und schwieg. Sie wusste, dass es nicht die Höhe war. Es war …
Das Wasser, schallte Islas Stimme durch ihr Bewusstsein. Ist es das Wasser?
Ana gab keine Antwort.
„Nelia“, sagte Sienna.
Ana zuckte leicht zusammen, als sie ihren Stammnamen hörte. „Ja?“
Sienna streckte ihr wortlos einen Beutel entgegen und schüttelte ihn leicht. „Nimm eine. Ich habe nicht ewig Zeit.“
Stirnrunzelnd gehorchte Ana. Das Innere des Beutels war rau und stellenweise abgewetzt. Ihre Finger suchten kurz, dann stieß sie auf eine harte Scheibe etwa in der Größe ihres Handtellers. Sie zog sie heraus und senkte den Blick. Was auch immer sie da ans Tageslicht befördert hatte, schillerte in tiefen Blau- und Grautönen. An den Rändern war die Scheibe gezackt und Ana erkannte mehrere Schichten, die kurz hintereinander ausliefen. Tiefe Kratzer zogen sich über die spiegelnde Oberfläche. Stirnrunzelnd betrachtete Ana die Furchen.
„Ist das …“
„Eine Schuppe!“, platzte Isla heraus. „Das ist eine Drachenschuppe.“
Ana hob ungläubig den Kopf. „Eine … und was hat sie beschädigt?“
Sienna warf einen flüchtigen Blick auf die Kratzer. „Meerjungfrauen. Es gibt einen Pakt mit der Akademie, aber die jüngeren werden hin und wieder übermütig.“
„Hier gibt es Meerjungfrauen?“, stieß Isla entsetzt hervor.
„Hunderte“, bestätigte Sienna beiläufig.
„Aber … aber das sind Bestien! Ich habe Geschichten gehört … Sie töten mit ihren Schwanzflossen und trinken das blutige Wasser … Sie jagen Haie!“
„Und Feinde der Akademie, zumindest die Küstenschwärme.“ Sienna schien nicht vorzuhaben, sich länger mit ihnen über die Vor- und Nachteile blutrünstiger Ungeheuer an der Schulküste zu unterhalten. Stattdessen warf sie Analina einen auffordernden Blick zu. „Bitte.“
Ana blinzelte. „Bitte was?“
„Du liebe Güte, ihr habt euch ja bestens vorbereitet. Passt auf: Die Akademie des Meeres liegt so gut wie unerreichbar oben auf den Klippen, vom Festland aus ebenso schwer zugänglich wie vom Meer. Das heißt natürlich nicht, dass es für uns nicht trotzdem einen Weg hinauf und hinunter gibt. Das ist der hier, und er kann ausschließlich von Schülern und Mentoren der Akademie benutzt werden. Schaut gut zu, irgendwann werdet ihr alleine nach oben kommen müssen.“
Und mit diesen Worten nahm sie Ana die Schuppe aus der Hand und berührte sie mit einem Finger. Wieder flackerte ein türkisfarbener Funke auf und versank in der matten Oberfläche der harten Drachenschuppe. Die erglühte kurz und blieb dann dunkel und unschuldig auf Siennas Handfläche liegen. Sienna holte aus und warf sie mit einer flüssigen Bewegung über den Felsvorsprung. An Islas Seite beugte Ana sich vor und sah gerade noch, wie die Schuppe spritzend die Wasseroberfläche durchschnitt.
„Weg da!“, fuhr Sienna die beiden an und schob sie unsanft zurück. Im nächsten Moment brach etwas Gewaltiges aus dem Meer empor. Eine Art schuppiger Turm schraubte sich vor ihnen in die Höhe, verdeckte die Sonne und besprühte sie alle mit Gischt. Hustend und prustend stolperte Analina gegen die Felswand und lachte zittrig auf, als ihr klar wurde, weshalb ihr die Situation so vertraut vorkam. Wie schon am Drachenspiegel starrte sie hinauf in das stachelbewehrte Gesicht eines Wasserdrachen.
Doch der Drache am See war nichts gewesen im Vergleich zu diesem hier. Dieser war gigantisch. Obwohl ihr die Klippen unglaublich hoch erschienen waren, streckte der Drache mühelos seinen gewaltigen Kopf darüber, während sein Körper unten im Wasser überhaupt nicht ganz zum Vorschein gekommen war. Er hatte zwei baumdicke Hörner auf seiner Stirn und seine Zähne waren größer als Analina. Doch das Furchteinflößendste an ihm waren seine Augen. Sie glänzten silbern wie Spiegel, waren von zwei geschlitzten Pupillen durchzogen, und als Ana dem gleißenden Blick begegnete, fühlte sie sich kleiner und dümmer als je zuvor. „Was … wer ist das?“
Sienna war nicht zurückgewichen, doch der beißende Spott war aus ihrem Tonfall verschwunden. „Darf ich vorstellen: Excubytor, einer unserer Wächterdrachen. Tagsüber wacht er, nachts Vygilia. Ruft die beiden mit ihrer Schuppe und einem Funken Magie und sie kommen, um euch nach oben zu bringen. Fantastische Geschöpfe“, fügte sie hinzu. Ohne ein Zeichen von Furcht trat sie auf den riesigen Drachen zu und hob ihm die Hände entgegen. Excubytor schnaubte kurz und versprühte noch mehr Wasser. Dann neigte er ganz langsam den Kopf, so behutsam, als wüsste er, dass diese kleinen Geschöpfe vor ihm viel zerbrechlicher waren als er selbst. Sienna blieb reglos, bis die riesige Schnauze des Drachen ihre Handflächen berührte. Kurz fuhren ihre Finger unter sein Kinn, und als sie die Hand wieder hervorzog, lag eine neue Schuppe darin.
„Vergesst nie, euch eine neue Schuppe zu holen. Am Unterkiefer gibt es eine Hautfalte, in der sie sehr lose sitzen“, erklärte Sienna. Sie sprach ruhig, den Blick auf die Spiegelaugen gerichtet. Excubytor gab ein leises Brummen von sich, als wollte er zustimmen. „Gut. Kommt jetzt.“
Ana brauchte ein paar Sekunden, um zu begreifen, doch als sie es tat, überschlug sich ihr Magen vor Schreck. An Excubytors Hals, direkt unter seinem Kopf, war mit baumdicken Lederriemen ein merkwürdiges Gerüst befestigt. Ein sehr breiter Ledergurt lief um seinen Hals und daran hingen zwei Reihen robuster Schlaufen, die Ana an Steigbügel erinnerten.
Steigbügel.
„Bei allen Göttern …“ Isla keuchte auf, als Sienna einen kurzen Sprung machte und sich hochzog. Mühelos schob sie ihre Hände und Füße in die angebrachten Schlaufen, bevor sie nach einem Gurt auf Hüfthöhe tastete und sich mit zwei geübten Bewegungen festschnallte.
Mit funkelnden Augen wandte sie sich an Ana und Isla. „Worauf wartet ihr?“
Zwei todesmutige Sprünge später hatten sie es geschafft. Anas Arme zitterten vor Anstrengung. Sie klammerte sich so fest an die Schlaufen, dass ihre Knöchel weiß hervortraten, während sie sich alle Mühe gab, das gurgelnde Wasser unter sich zu ignorieren. Neben sich hörte sie Isla leise fluchen.
„In Ordnung, jetzt haltet euch gut fest!“, ertönte erneut Siennas Stimme. Ana gehorchte und presste die Augen zusammen. Sie war schon oft geflogen. Wie groß konnte der Unterschied sein?
Dann schoss Excubytors Hals in die Höhe und Anas Schrei zerriss die Luft. Fünf Meter, zehn Meter, schneller, als sie denken konnte, rasten sie aufwärts. Weit, weit unter sich sah sie, dass die Vorderkrallen des Drachen aus dem Wasser aufgetaucht waren: Excubytor stellte sich auf die Hinterbeine. Analina presste sich an das nasse Leder und flehte stumm, dass ihr die Tasche nicht von der Schulter rutschen würde. Dann ging ein heftiger Ruck durch ihre Arme und der rasante Aufstieg brach ab. Anas Magen protestierte, als Excubytors gewaltiger Kopf sanft pendelnd zur Ruhe kam. Seine Schnauze ragte nun über eine Felskante, die mehrere Hundert Meter über ihrem Startpunkt lag. Analina öffnete eilig ihren Hüftgurt und ließ sich an Land fallen.
Islas begeisterte Stimme ertönte, kaum dass Ana wieder festen Grund unter den Füßen spürte: „Wahnsinn! Oh Mann, das war unglaublich. Dürfen wir das öfter machen?“
„Mit ›Aqua – Im Zeichen des Meeres‹ hat Anne Buchberger einen tollen und vor allem spannenden zweiten Teil der Reihe geschaffen, der mit zauberhaften Charakteren, einer unvorhersehbaren Umsetzung und vielen tollen und interessanten Bereichen überzeugen kann.“
„Anne Buchberger hat mit ihrer Reihe rund um Analina eine wirklich zauberhafte, lebendige Geschichte zu Papier gebracht, die durch charmante Figuren und die märchenhafte Kulisse Hyiandas einen Hauch von Märchen mit sich bringt.“
„Man taucht ab in ein Leben voller Magie.“
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