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Armageddon (Der Armageddon-Zyklus 1)

Armageddon (Der Armageddon-Zyklus 1) - eBook-Ausgabe

Wolfgang Hohlbein
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Armageddon (Der Armageddon-Zyklus 1) — Inhalt

Auf dem Flug nach Tel Aviv begegnet Beka dem geheimnisvollen Seth, einem Mann, der ebenso faszinierend wie furchteinflößend ist. Doch bevor Beka herausfindet, was es mit Seth auf sich hat, zerreißt eine gewaltige Druckwelle das Flugzeug. Das Undenkbare ist geschehen: Eine Atombombenexplosion vernichtet weite Teile Israels und bringt unvorstellbares Grauen. Doch Beka und Seth überleben. Sie finden sich in einem unterirdischen, verlassenen Tempel wieder, der von geheimnisvollen Zeichen und Symbolen übersät ist. Sie erfahren, dass sie auserwählt wurden. Und alles deutet darauf hin, dass Armageddon begonnen hat – die letzte Schlacht ...

€ 9,99 [D], € 9,99 [A]
Erschienen am 02.10.2017
608 Seiten
EAN 978-3-492-97840-8
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Leseprobe zu „Armageddon (Der Armageddon-Zyklus 1)“

Prolog


Zuallererst: Sie haben keine Flügel. Zumindest diese beiden süßen kleinen Engelchen nicht, obwohl sie mit ihren schulterlangen, wippenden blonden Löckchen, den weißen Sommerkleidchen und den niedlichen Pauspäckchen und Stupsnäschen durchaus etwas von Rauschgoldengeln hatten, wie man sie früher auf Christbaumspitzen fand oder auch als niedliche kleine Putten auf Kaminsimsen oder zwischen elektrisch beleuchteten Plastiktulpen und auf geklöppelten Spitzendecken. Aber auch wenn sie ganz eindeutig keine Flügel hatten, standen ihre Chancen nicht [...]

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Prolog


Zuallererst: Sie haben keine Flügel. Zumindest diese beiden süßen kleinen Engelchen nicht, obwohl sie mit ihren schulterlangen, wippenden blonden Löckchen, den weißen Sommerkleidchen und den niedlichen Pauspäckchen und Stupsnäschen durchaus etwas von Rauschgoldengeln hatten, wie man sie früher auf Christbaumspitzen fand oder auch als niedliche kleine Putten auf Kaminsimsen oder zwischen elektrisch beleuchteten Plastiktulpen und auf geklöppelten Spitzendecken. Aber auch wenn sie ganz eindeutig keine Flügel hatten, standen ihre Chancen nicht schlecht, einen neuen Geschwindigkeitsrekord in der Luft aufzustellen. Seit gefühlten zwei Stunden jagten sie unentwegt durch den Gang der El-Al-Maschine, wobei sie die knapp neunhundert Stundenkilometer, mit denen diese in Flughöhe dahinraste, bei ihren Sprints in Richtung Bugspitze um ihre eigene Geschwindigkeit übertrafen.
An ihrem eigenen Vergleich gefiel Beka am besten das Wort Putten, wobei sie gerne noch das Ihre dazu getan hätte, um die Silbe Ka davorzusetzen. Vermutlich nicht als Einzige an Bord. Unter den knapp zweihundert Passagieren des Airbus gab es wahrscheinlich nur zwei, denen die beiden Bälger nicht gehörig auf die Nerven gingen, nämlich Mama Engel und Papa Engel, ein Pärchen mittleren Alters, das zwar weder Birkenstocksandalen noch Norwegerpullover oder John-Lennon-Brillen trug, trotzdem aber irgendwie danach aussah. Von den übrigen Passagieren warteten wohl insgeheim etliche nur darauf, dass eine der beiden kleinen Nervensägen über ihre eigenen Füße stolperte und auf die Fresse fiel.
Bisher waren der natürlichen Entfaltung der beiden herzallerliebsten Kleinen, die ihr gottgegebenes Recht in Anspruch nahmen, in zehntausend Metern Höhe ihre Grenzen auszutesten, mindestens zwei Essenstabletts, diverse Getränke und, als logische Konsequenz daraus, auch das eine oder andere Kleidungsstück zum Opfer gefallen sowie mindestens ein iPad, dessen Besitzer die Unverschämtheit gehabt hatte, sich nicht auf den Schoß seines Sitznachbarn zu retten, um dem doppelten blonden Wirbelsturm auszuweichen, der durch den Gang tobte.
Und um ein Haar auch Bekas Schneidezähne, denn obwohl sie nun am Fenster saß, prallte die erste Rotznase in vollem Galopp gegen ihre Schulter und eine Viertelsekunde später ihr Colabecher gegen ihre Zähne. Hätte sie statt eines hauchdünnen Plastikbechers ein Glas in der Hand gehabt, wäre wohl Blut geflossen. Und zwar ihres.
Ihre sündhaft teuren Designerjeans waren nicht ganz so glimpflich davongekommen. Was nicht auf den Sitz oder den Boden geklatscht war, das hatte sich über ihre Beine und in ihren Schoß ergossen. Gut, die Jeans waren schwarz, sodass sie beim Aussteigen wenigstens nicht so aussehen würde, als hätte sie einen besonders peinlichen Anfall akuter Flugangst erlitten. Aber das Zeug war eisig, und sie saß jetzt seit einer halben Stunde in einer Pfütze aus klebriger Cola, die auf dem billigen Plastiksitz auch in einem weiteren halben Tag nicht trocknen würde.
Die beiden blonden Sonnenscheinchen wirbelten schon wieder an ihr vorbei, und Beka konnte gerade noch dem Impuls widerstehen, nur einmal ganz kurz das Bein auszustrecken und dem grausamen Spiel auf diese Weise ein Ende zu bereiten. Eine verlockende Vorstellung, aber natürlich nicht machbar.
Stattdessen sah sie zum wahrscheinlich hundertsten Mal auf die Uhr und rechnete im Stillen nach, wie viele Minuten Flugzeit noch blieben, bis sie ihr Ziel erreichten und sie und die anderen hundertfünfundneunzig Unschuldigen erlöst wurden. Noch knappe zwanzig, also vielleicht acht oder zehn Runden, die die Terrorzwillinge drehten.
Das Gefühl, beobachtet zu werden, ließ sie aufsehen und den Kopf drehen, bis sie dem Blick eines jungen Mannes begegnete, der eine Reihe hinter ihr im Mittelgang saß. Er war ihr vorhin schon aufgefallen. Und das nicht nur, weil die Anarcho-Twins seinem iPad das Fliegen beigebracht hatten, sondern er auch eine ganz außergewöhnliche Erscheinung war.
Der Typ war vielleicht knapp zehn Jahre älter als sie und ganz in Schwarz gekleidet: Jeans, schwarze Sneakers und ein unifarbenes Polohemd, und er hatte ein wirklich gut aussehendes, sehr männliches Gesicht, das zugleich einen beinahe sanften Zug hatte. Obwohl sein Hemd eher locker saß, konnte sie erkennen, wie perfekt die Muskeln darunter austrainiert waren. Nur seine Frisur musste sich aus den Achtzigern in die Gegenwart gerettet haben: Das platinblonde Haar (es war zweifellos gefärbt) war in der Mitte gescheitelt und reichte bis zu den Ohrläppchen, im Nacken war es dafür umso länger. In der Stirn war es zu einem kurzen Pony geschnitten, als hätte jemand mit Erfolg versucht, die ohnehin hässliche Vokuhila-Persiflage noch einmal zu toppen. Beka war ein wenig erstaunt, dass eine solche Frisur heutzutage überhaupt noch erlaubt war.
Trotzdem sah er irgendwie … süß aus. Das Erstaunlichste an ihm waren seine Augen. Sie wirkten ebenso sanftmütig wie sein Gesicht stark, und es war Beka eindeutig nicht möglich, ihre Farbe zu bestimmen. Sie waren dunkel, aber das war auch schon alles, was sie sagen konnte, nicht ob sie schwarz, grün, blau oder braun waren oder vielleicht von einer Farbe, die sie überhaupt noch nie zuvor gesehen hatte.
In diesem Moment lächelten sie diese sonderbaren Augen mit ganz sachtem Spott an.
Beka senkte hastig den Blick und spürte zu ihrem eigenen Verdruss, wie ihr das Blut in Wangen und Ohren schoss. Der Anteil von Spott im Lächeln des Blondschopfs nahm noch einmal deutlich zu, und Beka sah hastig weg.
Über ihrem Kopf leuchtete mit einem hellen Ping das Anschnallzeichen auf. „Meine Damen und Herren“, erklang eine Lautsprecherstimme, „wir verlassen jetzt unsere Reiseflughöhe und beginnen mit unserem Landeanflug auf Tel Aviv. Bitte stellen Sie Ihre Sitze aufrecht, klappen Sie die Tische vor sich hoch und legen Sie die Sicherheitsgurte an.“
Die Durchsage wurde noch zweimal wiederholt – einmal auf Englisch, das zweite Mal in einer Sprache, die sie nicht verstand, aber nur Hebräisch sein konnte – während sich ein allgemeines Klappern und Rumoren in der Kabine breitzumachen begann.
Und ein an der Ultraschallgrenze scharrendes Kreischen, als die beiden Killerengel zu ihrer Finalrunde ansetzten. Beka war mit Sicherheit nicht die Einzige, die innerlich aufatmete. Auch der junge Mann in der mittleren Sitzreihe verdrehte demonstrativ die Augen – und sah dann fast schon ein bisschen entsetzt aus, als die beiden Rotzgören gar keine Anstalten machten, ebenfalls zum Landeanflug auf ihre Plätze anzusetzen, sondern ganz im Gegenteil noch einmal richtig Gas gaben, um den Gang endgültig in eine Schneise der Vernichtung zu verwandeln.
Jemand beschwerte sich lautstark, und Beka bemerkte aus den Augenwinkeln, wie die Stewardess ebenso tapfer wie erfolglos versuchte, wenigstens eines der beiden Höllenkinder einzufangen. Nachdem sie das dritte Mal vergeblich nach einem blonden Schopf gegriffen und einem Passagier beinahe die feuerrot lackierten Fingernägel ins Auge gestoßen hatte, änderte sie ihre Taktik und steuerte mit energischen Schritten die beiden hintereinanderliegenden Sitze an, auf denen Mama Engel und Papa Engel saßen und über das Treiben ihrer beiden Sprösslinge wachten.
Beka konnte nicht verstehen, was die Stewardess sagte. Mienenspiel und Köpersprache der Terrormutter nach zu urteilen kam es bei ihr nicht gut an, und zumindest die Lautstärke der Unterhaltung bewegte sich nun eindeutig in Richtung Streit. Bevor er jedoch eskalieren konnte, gesellte sich eine zweite Flugbegleiterin hinzu, und die beste Mutter aller Zeiten kapitulierte angesichts dieser Übermacht. Immerhin, dachte Beka, hatte sie so bei der nächsten Häkelyogagymnastikselbsthilfegruppe etwas, um sich gebührend aufzuregen.
„Thora-Marie!“, rief sie mit einer Stimme, die das Singen der Triebwerke und die allgemeinen Kabinengeräusche mühelos übertönte. „Jezabel-Ann! Kommt hierher und setzt euch, bevor euch am Ende noch Fesseln angelegt werden! Es gibt hier drinnen anscheinend ein paar Leute, die Kinder nicht mögen.“
Thora-Marie?, dachte Beka. Jezabel-Ann? In welchem falschen Film war sie denn hier gelandet?
Jemand lachte, und ein kleines Wunder geschah: Natürlich nicht sofort, aber nach einer weiteren Ermahnung ihrer Mutter dann eben doch, kehrten Thora-Marie und Jezabel-Ann (in spätestens zwei oder drei Jahren würden sie anfangen, ihre Eltern für ihre Namen zu hassen, da war Beka ganz sicher) zu ihren Sitzplätzen zurück und ließen sich widerstandslos anschnallen.
Beka kam zu dem Schluss, genug kostbare Lebenszeit an diese Rotzgören verschwendet zu haben. Stattdessen ertappte sie sich bei der mindestens genauso müßigen Frage, wie sie den süßen Typen im Mittelgang ansprechen könnte, ohne sich einen Korb zu holen oder sich gleich bis auf die Knochen zu blamieren.
Die frustrierende Antwort lautete: gar nicht. Und erst recht nicht während des Landeanflugs, wenn sie alle brav angeschnallt auf ihren Sitzen zu bleiben hatten.
Beka erteilte sich selbst einen Rüffel. Das war albern und ihrer nicht würdig. Sie war fast zwanzig, eine erwachsene Frau, keine pubertierende Dreizehnjährige, die zufällig mit Justin Bieber oder Bill Kaulitz im selben Flugzeug saß und alle Mühe hatte, sich nicht vor Aufregung ins Höschen zu machen.
Außerdem war sie ganz sicher, dass er vergeben war. Jemandem, der derart fantastisch aussah, liefen die Mädchen garantiert in Scharen hinterher. Oder auch der eine oder andere Mann, je nachdem.
Sie hatte immer noch das Gefühl, angestarrt zu werden, doch statt erneut über den Gang zu sehen, ließ sie sich ganz auf ihrem Sitz nach hinten sinken, zog ihren iPod aus der Jackentasche und musste eine Weile kramen, bis sie die dazugehörigen Bluetooth-Kopfhörer gefunden und eingesetzt hatte. Ihre Gothic-Phase war eigentlich schon seit guten zwei Jahren vorbei, aber auf der Festplatte befanden sich noch genug Artefakte von damals, und angesichts der Umstände erschien es ihr passend, Wenn Engel hassen von Subway to Sally zu wählen und die Lautstärke bis zum Anschlag aufzudrehen.
Das Ergebnis war mäßig, nicht was die Musik anging, sehr wohl aber die Lautstärke. Seit irgendwelche übereifrigen amerikanischen Gesundheitsfanatiker (und ein paar geldgierige Anwälte) herausgefunden hatten, dass man sich einen Hörschaden einhandeln konnte, wenn man ungefähr achtzig Jahre lang jeden Tag siebenundzwanzig Stunden zu laute Musik hörte, war es Apple-Usern nicht mehr möglich, sich freiwillig die Trommelfelle zu perforieren oder auch nur Musik in vernünftiger Lautstärke zu hören.
Das Flugzeug bebte sacht (war das normal?) und sie konnte spüren, wie rasch sie nun an Höhe verloren. Schatten und Licht und Wolkenfetzen huschten im Wechsel an den Fenstern vorbei, und hätte sie hinausgesehen, dann hätte sie wohl bereits die Küstenlinie tief unter sich erkannt.
Natürlich hütete sie sich, etwas so Dummes zu tun. Beka bewunderte sich fast ein bisschen selbst für ihren Mut, überhaupt in ein Flugzeug gestiegen zu sein, aber sie musste das Schicksal ja nicht auch noch herausfordern. Es fehlte noch, dass sie die Aufmerksamkeit des süßen Typen ausgerechnet dadurch erregte, dass sie vor seinen Augen einen hysterischen Anfall bekam.
Beinahe gegen ihren Willen sah sie nun doch nach links, und das gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie Thora-Marie (vielleicht war es auch Jezabel-Ann) die Gunst des Augenblicks nutzte und sich mehr oder weniger elegant in den Gang hinausbeamte. Nur einen Sekundenbruchteil später folgte ihr die andere Hälfte des Duo Infernale, und die wilde Jagd ging mit Triumphgeheul weiter. Diesmal, dachte sie schadenfroh, würde Mama Engel echten Ärger bekommen, und …
Etwas, das sich zumindest wie ein Hammerschlag anfühlte, traf ihre linke Schulter und warf sie so heftig nach vorne, dass einer ihrer In Ear Knobs herausflog und unter den blonden Tsunami geriet, der sie um ein Haar vom Sitz gefegt hätte. Er wäre auf Nimmerwiedersehen unter der Bank im Mittelgang verschwunden, hätte sich der Blonde nicht rasch vorgebeugt und ihn aus der Luft gefischt. Aus derselben Bewegung heraus warf er ihr den Ohrhörer zu, und Beka setzte ihn nicht nur wieder ein, sondern löste auch rasch den Gurt und glitt auf den Fensterplatz hinüber, um auf dem Rückweg nicht doch noch getroffen zu werden.
Allmählich reichte es ihr wirklich. Antiautoritäre Erziehung hin oder her, sie fand immer größeren Gefallen an der Vorstellung, nur einmal ganz kurz das Bein auszustrecken und mit sich selbst zu wetten, welches der beiden süßen Kleinen zuerst einen Abflug machte und wie weit es wohl flog. Der Gedanke war ebenso albern wie verlockend, und natürlich tat sie es nicht.
Aber der Blonde.
Es ging blitzschnell, nur ein kurze, harte Bewegung, mit der sein Bein vorschoss, so schnell wie der Flügelschlag eines Kolibris, aber mit katastrophalen Folgen. Engelchen Nummer eins stolperte über ein ausgestrecktes Bein, das es vermutlich nicht einmal sah, machte einen fast eleganten Hechtsprung nach vorne und schlitterte mit einem erschrockenen Quieken ein ganzes Stück durch den Gang, wobei es nicht nur mit den Handflächen bremste, sondern zu Bekas großem Entzücken auch mit dem Gesicht.
Ihre mit einem Hauch von schlechtem Gewissen gepaarte Schadenfreude hielt gerade so lange an, bis auch Engelchen Nummer zwei heran war und die Gefahr nicht nur im allerletzten Moment registrierte, sondern auch mit überraschender Reaktionsschnelligkeit auszuweichen versuchte. Aus seinem begeisterten Kreischen wurde ein entsetztes Quietschen, während es seinen letzten Schritt in einen unbeholfenen Hüpfer zu verwandeln versuchte, um über das Hindernis zu springen.
Es gelang ihm, aber das machte es nur schlimmer, denn statt über seine gestürzte Schwester stolperte es nun über seine eigenen Füße, woraufhin es eine fast komisch aussehende halbe Pirouette in der Luft vollführte. Sein Quietschen endete abrupt mit dem trockenen Knacken, mit dem sein Gesicht auf die heruntergeklappte Armlehne des Sitzes schlug, auf dem es vor einer Minute noch gesessen hatte. Blut spritzte, und Beka sah mindestens einen abgebrochenen Zahn fliegen, bevor der gefallene Engel schwer auf dem Boden aufschlug.
Chaos brach aus, sofort und absolut. Eine Frau kreischte, etwas zerbrach mit einem gewaltigen Klirren, und Papa Engel sprang so hastig von seinem Sitz in die Höhe, dass er sich ebenfalls in seine eigenen Gliedmaßen verwickelte und sich zu seinem missratenen Sprössling auf dem Boden gesellte. Unverzüglich stemmte er sich wieder hoch und hätte es wohl auch geschafft, wäre da nicht auch Mama Engel von ihrem Sitz in den Gang hinausgesprungen.
Spätestens jetzt bedauerte er vermutlich, dass sie keine Birkenstocksandalen trug, denn sie pflanzte den Pfennigabsatz ihres High-Heels zielsicher zwischen seine Schulterblätter.
Der Mann fiel mit einem schmerzlichen Grunzen zurück und begrub seine Tochter erneut unter sich. Der Absatz in seinem Rücken brach ab, woraufhin auch seine Frau einknickte und ihrem begonnenen Sturz mit heftig rudernden Armen gerade genug Schwung verlieh, um ihm mit dem Ellbogen die Nase blutig zu schlagen. Das Ganze dauerte kaum länger als einen weiteren Atemzug und hätte so komisch wie eine Szene aus einem albernen Slapstickfilm sein können, wäre da nicht das andere Mädchen gewesen, das noch immer mit dem Gesicht in einer erschreckend schnell größer werdenden Blutlache lag und sich nicht mehr rührte. Weitere Passagiere sprangen von ihren Sitzen hoch und taten ihr Möglichstes, um das Chaos noch zu vergrößern, und noch mehr Dinge zerbrachen. Aus beiden Richtungen eilten Fluggäste herbei, um zu helfen, und die Stewardess begann laut nach einem Arzt zu rufen.
Beka saß einfach wie gelähmt da und starrte den Blonden an, der sich wieder in seinen Sitz zurücklehnte, während ein leicht spöttisches Lächeln seine Lippen umspielte. Hatte er das wirklich getan?, dachte sie entsetzt. Natürlich hatte er das – sie hatte es schließlich gesehen! –, aber sie verstand nicht, warum. Sie hatte sich vorgestellt, dasselbe zu tun, so wie vermutlich jeder Zweite an Bord. Doch es war eine Sache, in kindischen Rachefantasien zu schwelgen, und eine ganz andere, sie wahr zu machen.



Aufregung und Lärm schlugen wie eine Woge über Beka zusammen und drohten sie mit sich zu reißen. Irgendwie mussten ihr ein paar Augenblicke verloren gegangen sein, denn das Lied in ihren Ohren hatte gewechselt, und die besten Eltern aller Zeiten hatten sich inzwischen entwirrt und kümmerten sich um die Kinder. Eines der Mädchen kreischte aus Leibeskräften und strampelte wild mit den Beinen, das andere lag wie tot in den Armen seiner Mutter.
Die bei Bewusstsein gebliebene Hälfte der Terror-Twins begann noch lauter zu plärren und so panisch um sich zu treten, dass gleich zwei Männer beherzt zugreifen mussten, um ihre Beine festzuhalten. Ein untersetzter Mann mit Halbglatze bahnte sich schnaubend seinen Weg durch den Gang; möglicherweise der Arzt, nach dem die Stewardess gerufen hatte. Er kniete neben dem kreischenden Mädchen und seinem allmählich ebenfalls hysterisch werdenden Vater nieder. So flüchtig, wie er die Kleine untersuchte, konnte er kaum mehr als einen Blick investiert haben, watschelte aber trotzdem in der Hocke zu dem anderen Mädchen hin, um es ebenfalls zu begutachten.
Bekas Blick suchte den des Blonden. Warum hatte er das getan? Sie konnte sich nicht vorstellen, dass er es gewollt hatte, aber sie erkannte auch nicht die geringste Spur von Mitleid oder auch nur Bedauern in seinem Gesicht. Und wieso hatte außer ihr niemand gesehen, was er getan hatte?
Als hätte sie die Worte laut ausgesprochen oder er ihren Blick gespürt, sah er erneut in ihre Richtung, und Beka wandte rasch den Kopf. Eindeutig ohne es zu wollen, sah sie nun doch aus dem Fenster und nahm die wie mit einem Lineal gezogene Küstenlinie tief unter sich wahr, aber auch etwas Winziges und silbrig Glänzendes, das viel zu schnell wieder verschwunden war, um es wirklich zu erkennen. Es hatte irgendwie … aggressiv gewirkt, dachte sie beunruhigt. Ein Flugzeug. Vielleicht ein Militärjet, von denen der Luftraum über dem gelobten Land seit ein paar Tagen ja nur so wimmelte. Sie sah ebenso rasch wieder weg.
Die meisten Passagiere – nicht alle – hatten sich inzwischen wieder gesetzt, und die Stewardessen taten ihr Bestes, um auch den Rest wieder zurückzuscheuchen.
Die beste Mutter aller Zeiten hatte ihr strampelndes Schätzchen mittlerweile über die beiden Sitze gelegt, auf denen sie beide vorhin gesessen hatten, während ihr Mann und der Arzt dabei waren, das bewusstlose Mädchen vorsichtig auf die beiden dahinterliegenden Sitze zu betten. Sein Gesicht war rot verschmiert, und seine Augen standen weit auf, waren aber starr und leer. Sein weißes Sommerkleid war nicht mehr weiß, weil es sich in seinem Schmerz eingenässt hatte, und wo sein Mund sein sollte, war nur eine rote rohe Fläche, und …
Beka registrierte eine Bewegung aus den Augenwinkeln, und ihr Herz machte einen erschrockenen Satz in ihrer Brust, als sie den Blonden nicht mehr auf seinem Platz fand. Er war aufgestanden, machte eine flatternde Geste, um dem Arzt seinen Platz hinter dem blutenden Mädchen anzubieten und kam dann mit zwei raschen Schritten über den Gang auf sie zu, um sich wie selbstverständlich in den Sitz fallen zu lassen, auf dem sie gerade noch gesessen hatte.
„Ich darf doch?“, fragte er – nachdem er sich gesetzt und den Gurt über dem Sixpack unter seinem Polohemd geschlossen hatte. Beka erriet die Worte mehr an seinen Lippenbewegungen – so leise waren die politisch korrekt heruntergeregelten Ohrhörer nun auch wieder nicht –, nahm den Knopf auf der ihm zugewandten Seite heraus, statt einfach die Lautstärke zu senken, und er fuhr mit einem bekräftigenden Nicken fort: „Ist ja nicht so, als könnte er viel für sie tun, aber der Doktor sollte doch besser in der Nähe der Kleinen sitzen, und sei es nur, um sie zu trösten. Es hat sie ziemlich schlimm erwischt.“
Es?, dachte Beka. Doch wohl eher er. Sie starrte ihn an, und ihr Herz schlug noch einmal schneller und schien jetzt wie mit Fäusten von innen gegen ihre Rippen zu hämmern. Ihre Kehle war wie zugeschnürt.
„Ich habe das kommen sehen, weißt du? Die beiden sind richtige kleine Wildfänge, was ja eigentlich völlig okay ist. Kinder müssen wild sein. Aber manche Eltern verwechseln immer noch Freiheit mit Sorglosigkeit.“
Beka starrte ihn weiter an. „Warum hast du das …?“ Getan? Was? Der Göre ein Bein gestellt, sodass sie gestürzt war und sich den Kiefer gebrochen hatte und möglicherweise sogar das Genick?
Aber die Worte wollten ihr nicht über die Lippen kommen. Tief am Grund seiner Augen war etwas, etwas Uraltes und Gewaltiges, das es ihr unmöglich machte, die Worte auszusprechen … und im nächsten Moment sogar, sie auch nur zu denken. Sie musste sich getäuscht haben, ganz sicher. Niemand würde ein Kind verletzen, nur weil es ein bisschen nervte. Und schon gar nicht er.
„Beruhige dich! Die Kleine wird es überleben.“
Was immer sie in seinen Augen gesehen zu haben glaubte, machte wieder gutmütigem Spott Platz, während er die Hand ausstreckte, wie um nach ihrer Rechten zu greifen. Dann nahm er stattdessen mit spitzen Fingern den Hörer, den sie herausgenommen hatte, setzte ihn sich selbst ein und lauschte eine Weile konzentriert. Beka registrierte fast beiläufig, dass Subway to Sally noch einmal eine Schippe draufgelegt hatten und aus dem Ohrstecker nun Falscher Heiland dröhnte. Eigentlich hatte sie sich diesen besonderen Track für das Wiedersehen mit ihrem Vater und Barbie aufgehoben. Sei’s drum.
Der junge Mann nahm den Ohrhörer wieder heraus und machte eine Kopfbewegung auf den iPod in ihrem Schoß. „Das ist kein sehr schönes Lied.“
„Verletzt es deine Gefühle?“, fragte sie spitz, nahm aber trotzdem auch den zweiten Hörer heraus und schaltete erst danach den iPod ab.
„Dazu gehört schon ein bisschen mehr“, antwortete er, „aber es greift zu kurz, wenn du mich fragst. Welchen Sinn hat es, den Verführten zu kritisieren statt den Verführer?“ Er machte eine Geste, deren Bedeutung ihr nicht ganz klar war, und streckte zum zweiten Mal die Hand aus. „Luke. Luke Morgenstern, um genau zu sein.“
„Luke?“ Bekas Anspannung entlud sich in einem albernen Grinsen. „So wie Luke Skywalker aus Star Wars?“
„Eigentlich eher wie Lukas“, antwortete er augenzwinkernd. „In meinem Fall inspiriert durch biblische Texte.“
Lukas Morgenstern … das klang nicht nur biblisch, sondern auch sehr seltsam. Beka ergriff seine ausgestreckte Hand, und sein Händedruck war ganz genauso, wie sie erwartet hatte: so fest, dass es gerade eben noch nicht wehtat, und auch noch von einer anderen Stärke erfüllt, die weit über rein körperliche Kraft hinausging. Seine Berührung war mehr als eine Berührung, aber es war ihr nicht möglich, das Gefühl genauer in Worte zu fassen. Es war erschreckend und sehr angenehm zugleich.
„Beka“, sagte sie. „Eigentlich Rebecca, und genau genommen sogar Rebecca Maria – aber so heißt heute niemand mehr. Meine Eltern hatten es auch mit biblischen Namen.“
Luke blinzelte eine halbe Sekunde lang, aber dann kehrte das Lachen nicht nur in seine Augen zurück, sondern kam fast zeitgleich über seine Lippen. Er hielt ihre Finger eindeutig länger fest als nötig. „Du bist witzig. Das gefällt mir. Aber was hast du gegen deinen Namen? Er ist sehr schön, finde ich. Sie sind beide sehr schön. Und beide sehr wichtig. Maria als die Mutter des Heilands, und Rivkah, Isaaks Weib.“
„Ach?“, machte Beka. Sie wusste selbst, wer Maria gewesen war – sogar beide Marias, um genau zu sein. Aber wer zum Teufel war Rivkah?
Sie war sehr sicher, die Frage nicht laut ausgesprochen zu haben, doch Luke schien sie nicht nur in ihrem verwirrten Blick zu lesen, er beantwortete sie auch. „Rivkah ist die ursprüngliche Form von Rebecca. Sie war Isaaks Weib und die Mutter Esaus und Jakobs.“
„Wie spannend.“
„Das ist es“, behauptete Luke. „Esau war der Stammvater der Edomiter. Gut, die muss man heute nicht mehr unbedingt kennen, das gebe ich zu, aber die Söhne Jakobs waren die Vorfahren der zwölf Stämme Israels … was Rebecca praktisch zur Mutter des jüdischen Volkes macht. Du solltest stolz auf den Namen sein, den dir deine Eltern gegeben haben.“
„Bist du stolz auf den, den dir deine Eltern gegeben haben?“
„Das haben sie nicht“, sagte Luke.
Beka sah ihn verwirrt an. „Bist du ein Priester oder ein Bibelforscher oder so was?“
„Ein Priester?“ Luke lachte. „Nein, bestimmt nicht. Wie kommst du darauf – nur weil ich weiß, wer Rivkah war?“
Beka deutete ein Schulterzucken an. „Wenn man bedenkt, wohin wir fliegen …“
„Nicht jeder, der nach Israel fliegt, ist deshalb auch gleich automatisch ein Geistlicher“, antwortete Luke schon wieder mit diesem gutmütig-stichelnden Spott, den sie ihm gerne übel genommen hätte, es aber einfach nicht konnte.
„Und warum fliegst du dann nach Israel?“
„Weil es zu lange dauern würde, zu Fuß zu gehen?“, schlug er vor, lachte ganz leise und fuhr dann nur ein wenig ernster fort: „Geschäfte. Ziemlich langweiliges Zeug.“
Beka blickte fragend. Er hatte ihre Hand endgültig losgelassen, und sie fragte sich, wie er wohl reagieren würde, wenn sie ihrerseits nach ihm griff.
„Alter Kram“, sagte er augenzwinkernd. „Ich handle ein bisschen mit Antiquitäten. Größtenteils Sakrales. Es gibt kaum ein anderes Land auf der Welt, in dem du mehr davon finden kannst. Das meiste ist gefälscht, aber es bleibt immer noch genug übrig.“
Beka zerbrach sich den Kopf nach einer Antwort, die wenigstens nicht völlig bescheuert klang, und wieder bewegte sich etwas vor dem Fenster. Sie hütete sich, auch nur in die entsprechende Richtung zu sehen. Der für Panik zuständige Teil ihres Denkens war anderer Meinung. Sie erkannte es nicht wirklich, kaum mehr als ein bedrohliches Flackern im Augenwinkel, aber in ihrem Kopf entstanden Bilder, die sie nicht sehen wollte.
Etwas davon musste sich wohl auf ihrem Gesicht widerspiegeln, denn Luke blickte plötzlich fragend, und er sah auch ein ganz kleines bisschen alarmiert aus. „Nichts“, antwortete sie, obwohl er gar keine Frage gestellt hatte. „Ich bin ein bisschen nervös, das ist alles.“
„Dafür gibt es gar keinen Grund“, behauptete Luke. „Das einzig wirklich Gefährliche beim Fliegen ist der Start. Wenn beim oder kurz nach dem Abheben etwas schiefgeht, hast du praktisch keine Chance. Aber einmal in der Luft bist du auf der sicheren Seite. Oben geblieben sind bisher nur wenige.“
Sollte sie das etwa beruhigen?, dachte sie, aber dann bemerkte sie auch das spöttische Funkeln in seinen Augen und war nicht ganz sicher, ob sie sich ärgern oder dumm vorkommen sollte. „Ja, wahrscheinlich hast du recht“, sagte sie übertrieben zerknirscht. „Ich hätte vorher keine Nachrichten sehen sollen.“
Jetzt war der fragende Ausdruck in seinen Augen echt, aber nur ganz kurz, dann beugte er sich vor und zur Seite, um an ihr vorbei aus dem Fenster zu sehen. So nahe, wie er ihr dabei kam, konnte sie spüren, wie gut er roch. Nicht nach Parfum oder Aftershave, sondern ganz natürlich und einfach nur nach ihm. Ihre Hand wollte sich selbstständig machen und nach ihm greifen, aber das konnte sie verhindern. So gerade noch.
Schließlich ließ er sich wieder zurücksinken. Sie war ein bisschen enttäuscht. „Du hast gute Augen“, sagte er anerkennend. „Das war eine Fulcrum. So nennen sie wenigstens die Amerikaner.“ Beka blickte fragend, und er fügte hinzu: „Eine MIG29.“
Sie brauchte eine volle Sekunde, um diesem Begriff auch ein Begreifen zuzuordnen. „Das ist ein … Kampfflugzeug“, sagte sie beunruhigt.
„Ein ziemlich altes Modell“, bestätigte er, „aber immer noch gut. Besser als alles, was die befreundeten Anrainerstaaten so aufzubieten haben. Wenn man damit umgehen kann. Und die israelischen Piloten zählen zu den besten der Welt.“
„Eine MIG ist ein russisches Flugzeug … oder?“
„Und Waffenhandel ein lukratives Geschäft.“ Luke nickte. „Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion haben die Russen alles verkauft, was nicht niet- und nagelfest war. Und Israel hatte schon immer großen Bedarf an modernen Waffensystemen.“ Er schien selbst zu merken, dass diese Worte nicht besonders gut bei ihr ankamen, denn er machte eine beruhigende Geste und bemühte sich um einen dazu passenden Gesichtsausdruck. Nicht ganz mit Erfolg.
„In den Nachrichten haben sie gesagt, die Lage sei so angespannt wie nie.“
„Sagen sie das nicht immer?“, erwiderte Luke. „Die Lage in diesem Land ist seit fünftausend Jahren angespannt, und das wird sie auch bleiben, solange es existiert.“
Das mochte stimmen, aber es beruhigte sie nicht. In der letzten Nachrichtensendung, die sie leichtsinnigerweise noch kurz vor ihrer Abreise geschaut hatte, war von massiven Truppenaufmärschen sowohl an der Grenze zum Libanon als auch zu Jordanien die Rede gewesen sowie einer zunehmenden Unruhe in der wiedererstarkten Neuen Islamischen Liga. Sie verstand nichts von Politik und interessierte sich auch nicht dafür, aber das alles war wirklich sehr bedrückend.
„Wir sind hier sicher, keine Angst“, sagte er noch einmal. „Der Luftraum über Israel gehört zu den sichersten der Welt. Hier schlägt nicht einmal ein Spatz mit den Flügeln, ohne dass er von mindestens drei Radarsystemen beobachtet wird.“
Und vermutlich von ebenso vielen Raketenbatterien anvisiert, fügte sie in Gedanken hinzu. Nein, das beruhigte sie auch nicht.
„Außerdem ist das hier Gottes eigenes Land“, schloss Luke mit einem Spott, der irgendwie keiner war. „Der Herr wird seine schützende Hand schon über die Heilige Stadt halten.“



Das Mädchen weinte inzwischen noch lauter. Es klang nicht nur wirklich jämmerlich, sie konnte heraushören, wie sehr das Kind litt. Aber es … berührte sie nicht wirklich. Sie konnte das Leiden dieses armen Dings durchaus nachempfinden, und sie hatte Mitleid, eindeutig. Zugleich schien sie dieses Gefühl nicht wirklich zu erreichen; wie etwas, das sie in einem Film sah. Sowohl der Arzt als auch die beiden Eltern kümmerten sich um das verletzte Mädchen, und auch eine der Stewardessen stand aufgeregt dabei. Beka konnte nicht erkennen, was sie tat, aber nach einer Weile gesellte sich auch noch ein männlicher Flugbegleiter hinzu.
Zusammen mit dem Arzt trugen sie das bewusstlose Mädchen nach vorne in den Bereich der ersten Klasse. Mama und Papa Engel und auch das zweite Terrorkind folgten ihnen, und der Vorhang wurde zugezogen. Eine ärgerliche Stimme wurde laut, und obwohl Beka die Worte nicht wirklich verstehen konnte war nicht schwer zu erraten, worum es ging. Kurz darauf trat ein silberhaariger Mann in einem teuren Designeranzug durch den Vorhang, gefolgt von einer allerhöchstens halb so alten, hoffnungslos aufgetakelten Tussi. Beiden stand die gerechte Empörung ins Gesicht geschrieben, ihr teuer bezahltes Erste-Klasse-Refugium in eine Krankenstation umfunktioniert zu sehen. Und das grimmige Versprechen, dass das Folgen haben würde.
Beka seufzte tief und wandte sich wieder Luke zu: „Und du behauptest, kein Bibelforscher zu sein? Bei all dem, was du von dir gibst?“
„Bibelforscher?“ Luke machte ein übertrieben verletztes Gesicht. „Das klingt ja furchtbar. Hast du was gegen die Bibel?“
Nein, unglücklicherweise nicht. Wenn, hätte sie es längst benutzt. Beka verzichtete darauf, den lahmen Kalauer laut auszusprechen und rettete sich in ein Achselzucken. „So war das nicht gemeint“, log sie. „Ich halte nichts davon, das ist alles. Pseudoesoterisches Brimborium, wenn du mich fragst.“ Und das schon eine Menge Schaden angerichtet hatte, auch bei ihr. Ganz besonders bei ihr.
„Pseudoesoterisches Brimborium.“ Der Begriff schien Luke zu gefallen. „Mag sein. Aber wenn du das ganze pseudoesoterische Brimborium weglässt, dann ist es immer noch ein wirklich interessantes Buch. Wenigstens der erste Teil.“
„Ach ja?“, fragte sie spitz. Sie wollte nicht über dieses Thema reden. Nicht jetzt und schon gar nicht mit ihm.
„O ja“, bestätigte Luke mit einem heftigen Nicken. „Es ist ein Buch über Menschen. Eigentlich das erste Geschichtsbuch, wenn man es genau nimmt.“
„Wie spannend.“
Ein Teil von Beka verfluchte sich dafür, das gesagt zu haben. Ganz egal, was er auch sonst noch sein mochte, sie wollte ihn, am besten gleich hier und jetzt. Gut, das würde vermutlich nicht nur bei der besten Mutter aller Zeiten nicht besonders gut ankommen. Aber was sprach dagegen, Interesse zu heucheln und die Heilige Jungfrau zu spielen – wenn er denn schon so großen Spaß an ihrem Namen hatte – und ein paar Pluspunkte zu sammeln?
War sie gerade im Begriff, sich Hals über Kopf in einen Wildfremden zu verlieben? Sie wusste es nicht, ganz einfach, weil sie noch nie wirklich verliebt gewesen war. Natürlich war sie nicht unbedarft und auch keine zwölf mehr. Wie es sich für ein Mädchen ihres Alters gehörte, war sie schon etliche Male verknallt gewesen – eigentlich auch das eine oder andere Mal zu oft, wenn sie ehrlich war – und hatte auch schon gewisse körperliche Erfahrungen gesammelt, auch wenn sie bisher noch nie bis zum Letzten gegangen war. Nicht aus Prüderie oder gar religiösen Gründen, sondern ganz einfach, weil sie den Richtigen noch nicht getroffen hatte.
Aber die große shakespearische Liebe, von der alle schwärmten, die in tausend Büchern verherrlicht und in einer Million Liedern besungen und in Filmen in opulente Bilder umgesetzt wurde? Sie konnte sich nicht erinnern, sie schon einmal erlebt zu haben, und sie war nicht einmal sicher, ob es so etwas wirklich gab. Wenn es das war, was sie gerade spürte, dann war sie nicht einmal sicher, ob sie es kennenlernen wollte.
„So … habe ich das noch gar nicht gesehen“, plapperte sie, kaum fähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Ihr Blick verlor sich in seinen sonderbaren Alien-Augen, und erneut meinte sie dahinter noch etwas anderes zu erkennen, etwas, dessen bloße Nähe schon ausreichte, um …
Luke machte eine Handbewegung, und das Gefühl entglitt ihr nicht nur, ihr wurde auch klar, wie unbeschreiblich dumm sie sich benahm. Bevor sie jedoch etwas sagen konnte, wies er erneut an ihr vorbei zum Fenster. Sie sah nicht hin.
„Aber genug von mir und fünftausend Jahre alten Reliquien und Politik. Wieso sitzt jemand, der an Flugangst leidet und nichts mit Religion am Hut hat, in einem Flieger nach Tel Aviv?“
„Wer hat hier Flugangst?“, fragte sie spitz.
„Ich würde sagen: jemand, der ziemlich blass ist, ein durchgeschwitztes T-Shirt trägt und sich seit dem Start an den Sitz geklammert hat, als hätte er Angst, dass sich der Boden auftut, um ihn zu verschlingen. O ja, und jemand, der am Gang sitzt, obwohl der Fensterplatz frei ist und die ganze Zeit über nicht einmal hinausgesehen hat, statt sich die Nase am Fenster platt zu drücken, wie es die meisten anderen tun.“
„Ich habe hinausgesehen“, protestierte sie schwächlich. „Fliegen ist langweilig. Ich weiß wirklich nicht, was die Leute daran finden.“
Wieder dieses ganz sacht spöttische Lachen, dem sie einfach nichts entgegenzusetzen hatte. „Und was tut ein aufgewecktes hübsches Mädchen ohne Flugangst in einem Airbus auf dem Weg in ein Land, in dem es nur alten Kram und Hightech gibt?“
Beka nahm zwei Attribute aus diesem Satz wohlwollend zur Kenntnis, aber dann umwölkte sich ihre Stirn. „Familienkram.“
„Über den du nicht sprechen willst“, vermutete Luke.
Beka deutete ein Nicken an. Eine Sekunde lang wurde sein Blick bohrend, und sie wusste einfach, dass er nur ein einziges weiteres Wort sagen musste, vielleicht nur ein auffordernder Blick oder ein Hochziehen der Augenbrauen, und sie würde ihm alles erzählen. Doch dann machte er nur eine neuerliche Kopfbewegung zum Fenster.
„Ich kenne mich ein bisschen mit der Fliegerei aus. Das Beste bei Flugangst ist, sich ihr zu stellen. Und du hast vollkommen recht: Fliegen ist eigentlich langweilig, wenigstens in einem Flugzeug. Das einzig wirklich Interessante sind Start und Landung.“
Er wiederholte seine auffordernde Geste, und beinahe hätte sie den Kopf gedreht und hinausgesehen. Aber eben nur beinahe. Es gelang ihr sogar fast, sich einzureden, dass es an der Tatsache lag, in einem Flugzeug zu sitzen, direkt am Fenster und zehntausend Metern Nichts dahinter, das mit der Stimme des Abgrundes nach ihr rief. Nicht daran, wer neben ihr saß.
„Der Landeanflug auf Ben Gurion ist sensationell“, fuhr er fort, als er keine Antwort bekam, „wenigstens, wenn sie eine Schleife drehen und von Land aus anfliegen. Man kann das Tote Meer sehen, und je nachdem, aus welcher Richtung wir landen, und mit ein bisschen Glück sogar Masada. Du weißt, was das ist?“
Nein, das wusste sie nicht, aber aus irgendeinem – völlig närrischen – Grund wäre es ihr peinlich gewesen, das zuzugeben. „Du kannst den Fensterplatz haben.“
Luke lachte. „Ich kann prinzipiell alles haben, was ich will.“ Auch dich.
Beka war nicht ganz sicher, ob er die beiden letzten Worte laut ausgesprochen hatte. Wahrscheinlich nicht, aber es spielte überhaupt keine Rolle. Sie las sie so deutlich in seinen Augen, als hätte er es getan, und spätestens jetzt sollte sie empört sein. Doch das wollte ihr einfach nicht gelingen. Ganz im Gegenteil ertappte sie sich bei dem Gedanken, ob es nicht ganz genau das war, was sie ebenfalls wollte – als wäre alles, was er tat, richtig, ganz einfach, weil er es tat. Ihr war sogar klar, dass sie manipuliert wurde, wenn auch nur auf einer intellektuellen Ebene, die sie nicht wirklich berührte. Etwas geschah mit ihr – etwas wurde mit ihr gemacht.
Es war ihr gleichgültig, solange nur er es war, der es tat.
Der Lautsprecher meldete sich erneut. „Unser Pilot hat vom Tower in Tel Aviv eine vorgezogene Landeerlaubnis erhalten. Bleiben Sie bitte angeschnallt. Vielen Dank für Ihr Verständnis!“
Das Flugzeug kippte bereits spürbar nach links, und das Triebwerksgeräusch änderte sich. Beka sah nun doch hinaus, wenn auch nur für einen einzigen Augenblick. Sie sah trotzdem mehr, als sie wollte.
Der Boden war bereits erschreckend nahe, sodass sie einzelne Straßen und sogar Häuser erkennen konnte, die aber so rasend schnell unter ihnen dahinjagten, dass sie ineinanderzufließen begannen, und von vorne und ebenfalls viel zu schnell schob sich die Landebahn ins Bild. Sie meinte das Flackern von blauen und roten Lichtern zu sehen, wahrscheinlich ein Krankenwagen oder auch die Feuerwehr, die ihnen entgegenkam. Dann war der Ausschnitt des Flughafens auch genauso schnell wieder verschwunden, und braunes und grünes und wie ein Kaleidoskop immer schneller unter ihnen dahinrasendes Land nahm seinen Platz ein. Ihre Hände schlossen sich so fest um die Armlehnen, dass es wehtat.
„Wir sind gleich unten“, sagte Luke. „Nicht erschrecken. Es könnte einen ziemlichen Ruck geben. Aber eine harte Landung ist im Prinzip sogar sicherer als eine weiche.“
„Aha.“ Beka umklammerte die Armlehne mit aller Kraft, und sie musste an sich halten, um nicht nach seiner Hand zu greifen.
Luke tat es an ihrer Stelle. Seine Hand war so groß, dass ihre Linke vollkommen darin verschwand, und seine Berührung war warm und stark (gut, vielleicht auch ein ganz kleines bisschen aufdringlich) und erfüllte sie mit einer Zuversicht, für die es nicht den mindesten Grund gab. Ihr Unbehagen blieb, aber sie betrachtete es, wie sie eine ganz besonders giftige Spinne hinter einer dicken Panzerglasscheibe begutachten würde, hinter der sie sicher vor ihrem Gift war. Der winzige verbliebene Rest ihrer eher prüden Erziehung wollte sie dazu bringen, die Hand zurückzuziehen, und als spürte er, was in ihr vorging, schien Lukes Hand eine Winzigkeit schwerer zu werden; gerade genug, um ihre Bedenken zu ersticken.
Sie vergaß auch, sie überhaupt gehabt zu haben.
„Keine Angst“, fuhr er fort. „Es passiert nichts, das weiß ich.“
„Das hoffst du.“
„Nein, glaub mir, ich weiß es“, versicherte Luke.
Sie glaubte ihm. Ein Gefühl großer Ruhe begann sich in ihr auszubreiten, an dem auch die Tatsache nichts änderte, dass der Flug zunehmend unruhiger wurde, als sie immer rascher sowohl an Geschwindigkeit als auch Höhe verloren. Die Wolken waren längst weit über ihnen, und Beka konnte gar nicht anders, als nun doch wieder aus dem Fenster zu sehen.
Schon im nächsten Moment wünschte sie sich fast, es nicht getan zu haben, denn sie musste feststellen, dass sie nicht mehr allein waren. So weit entfernt, dass sie gerade eben nicht ganz sicher sein konnte, ob sie es nun wirklich sah, folgte ihnen ein winziger dreieckiger Umriss.
„Wir haben Gesellschaft“, bestätigte Luke, dem ihr Blick nicht entgangen war. „Habe ich schon erwähnt, dass du eine gute Beobachterin bist? Die meisten anderen haben es nicht gemerkt.“
Vielleicht ein bisschen zu gut, dachte sie nervös. Manche Dinge wollte sie gar nicht so genau wissen.
„Der Pilot hat vermutlich durchgegeben, dass wir einen Notfall an Bord haben, also haben wir Geleitschutz bekommen.“
„Wegen eines verletzten Kindes?“, fragte sie zweifelnd.
Luke hob die Schultern. „So ist es hier nun mal. Wenn irgendetwas von der Normalität abweicht, reagiert das Militär sofort. Und zurzeit ganz besonders.“ Er machte eine Geste, die wohl beruhigend sein sollte, bei ihr aber eher das Gegenteil auslöste. „Keine Angst, ich passe schon auf dich auf.“
Und warum sollte das nötig sein, wenn doch angeblich überhaupt keine Gefahr bestand? Sie sah wieder aus dem Fenster. Die MIG war näher gekommen, nicht sehr viel, aber doch nahe genug, um die dreieckige Pfeilspitzen-Form zu erkennen und sich nicht mehr einreden zu können, es wäre nur Einbildung, oder ein Schatten. Hatte sich das Waffenradar des Jets schon auf sie aufgeschaltet? Wahrscheinlich.
Der Lautsprecher meldete sich erneut. „Meine Damen und Herren, wir werden in wenigen Minuten auf dem Ben-Gurion-Flughafen von Tel Aviv landen. Wir möchten Sie bitten …“
Sie erfuhren nie, um was die Stewardess sie bitten wollte, denn aus dem Lautsprecher drang eine Sekunde lang statisches Zischen, dann ging er ganz aus, und zugleich lief ein spürbares Rütteln durch den Boden. Das Triebwerksgeräusch änderte sich, und Beka spürte, dass das Flugzeug jäh wieder beschleunigte, statt weiter an Höhe und Tempo zu verlieren. Sie kämpfte ihr Unbehagen nieder und zwang sich, noch aufmerksamer aus dem Fenster zu sehen. Kam es ihr nur so vor, oder stiegen sie wieder?
„Der Pilot startet durch“, sagte Luke. „Ungewöhnlich.“
Auf das letzte Wort, dachte Beka, hätte er getrost verzichten können, und sie schien mit ihrer Empfindung auch nicht ganz allein zu sein. Eine allgemeine, aggressive Unruhe begann sich in der Kabine auszubreiten. Der grauhaarige Erste-Klasse-Passagier erhob sich mit grimmig entschlossener Miene von seinem Sitz und plumpste unbeholfen wieder zurück, als das Flugzeug einen kleinen Satz machte und sich in eine Rechtskurve zu drehen begann. Luke grinste schadenfroh.
„Was ist so komisch?“, fragte Beka.
„Mister Wichtig sitzt auf dem Platz, auf dem die Kleine vorher gelegen hat“, antwortete er.
„Ich weiß. Und?“
„War wohl alles ein bisschen viel für sie“, erklärte er. „Sie hat auf den Sitz gepinkelt.“
„Auf dem er jetzt sitzt?“
Luke nickte, und ein weiteres und noch heftigeres Rütteln ging durch das Flugzeug. Beka konnte selbst spüren, wie das Grinsen auf ihrem Gesicht gefror. „Und du bist sicher, dass alles in Ordnung ist?“, fragte sie nervös.
„Das habe ich nicht gesagt.“ Luke sah ebenfalls konzentriert aus dem Fenster, und der Ausdruck auf seinem Gesicht gefiel ihr gar nicht. „Ich habe gesagt, dass dir nichts passiert.“
Über solche Spitzfindigkeiten wollte sie jetzt gar nicht nachdenken. Sie staunte ein wenig über sich selbst, trotz allem zumindest äußerlich immer noch so ruhig bleiben zu können. Die Beka, als die sie sich selbst kannte, wäre angesichts der letzten beiden Minuten längst hysterisch geworden. Mindestens.
Unruhe und ein Chor immer lauter werdender Unmutsäußerungen nahmen noch weiter zu, und der Moment war abzusehen, in dem es nicht mehr bei bloßem Murren und bösen Blicken bleiben würde. Doch dann meldete sich der Lautsprecher wieder.
„Meine Damen und Herren, hier spricht Ihre Kabinenchefin. Wie Sie zweifellos gemerkt haben, haben wir unseren Landeanflug auf Tel Aviv abgebrochen und sind vom Tower in eine Warteschleife eingewiesen worden. Der Grund ist ein technisches Problem an unserem Zielflughafen, das unsere Sicherheit jedoch in keinster Weise beeinträchtigt. Es besteht kein Grund zur Beunruhigung. Wir müssen Sie lediglich noch um ein wenig Geduld bitten, bevor wir endgültig landen können.“
„Was für ein Unsinn“, knurrte Luke, wohlweislich aber so leise, dass außer ihr niemand die Worte verstand. Es reichte ja auch, dass sie sie hörte.
Die Anspannung war jetzt so intensiv, dass die Luft wie unter einer elektrischen Spannung zu knistern schien. Sie nahm weiter zu, während die Landschaft vor dem Fenster allmählich wechselte. Berge glitten ins Bild und verschwanden wieder. Ganz kurz war da ein türkisfarbenes Funkeln, als hätte sich das Meer auf die falsche Seite verirrt, und dann wieder kahler Fels und trostloses Braun. Zumindest aus dieser Höhe betrachtet sah das Gelobte Land alles andere als gelobt aus, sondern erinnerte eher an eine hoffnungslos zersiedelte Wüste, in der das wenige Grün seltsam fehl am Platze wirkte.
„Masada.“ Luke deutete mit einer Kopfbewegung aus dem Fenster und nach unten. „Siehst du?“
Unter ihnen glitt ein Berg mit einem großen Plateau hinweg, auf dem … irgendetwas … war. Sie konnte nicht erkennen, was, aber sie nickte trotzdem nervös.
Luke wirkte ein ganz kleines bisschen enttäuscht. Offensichtlich war sie keine sehr talentierte Lügnerin. Er setzte dazu an, etwas zu sagen, legte aber dann stattdessen die Stirn in Falten und sah aus dem Fenster und nach oben, und Beka folgte seinem Blick.
Es ging so schnell, dass sie es eigentlich gar nicht hätte sehen dürfen, und trotzdem tat sie es: Hinter und über der Fulcrum erschien ein winziger roter Punkt, wie ein bösartig glühendes Dämonenauge, das aus dem Nichts auftauchte und zu einem gleißend roten Blitz wurde, einem langsamen Laserstrahl direkt aus der Hölle gleich, der den Himmel spaltete und im Bruchteil einer Sekunde ins Heck des Kampfflugzeugs sprang.
Der Jet explodierte. Wo gerade noch der Stolz der israelischen Luftwaffe gewesen war, breitete sich eine brodelnde Flammenwolke aus, die Trümmer und schwarzen Rauch in alle Richtungen spie und rasend schnell größer wurde. Ein gewaltiger Donnerschlag erscholl und ging in einem zweihundertstimmigen Entsetzensschrei unter. Augenblicklich brach überall rings um sie herum Panik aus.
In ihr auch. Beka schrie gellend auf und versuchte von ihrem Sitz hochzuspringen, wurde aber von ihrem Gurt zurückgerissen. Luke ergriff blitzschnell ihre Handgelenke und hielt sie fest, als sie in ihrer Panik um sich zu schlagen begann. Überall zerbrachen Dinge. Schreie und Lärm hallten durch die Kabine. Das Flugzeug kippte so jäh über eine Tragfläche ab, dass etliche Gepäckfächer aufsprangen und die Passagiere darunter mit ihren eigenen Koffern und Taschen bombardierten.
Luke drückte sie gewaltsam in den Sitz zurück. „Beruhige dich!“, sagte er scharf. „Dir passiert nichts. Ich beschütze dich.“ Dann wurden seine Augen groß. „Oder auch nicht.“
Weiß.
Alles wurde weiß, so grell, so unerträglich peinigend hell weiß, dass es sich wie glühende Dolchklingen durch ihre zusammengepressten Lider tief in die Augen bohrte. Ein sonderbares Singen erklang, ein Laut wie ein glühender Draht, der durch ihren Kopf gezogen wurde, und sie meinte eine zweite und noch heftigere Erschütterung zu spüren, die weder durch das Flugzeug noch durch den Sitz oder sie selbst ging, sondern die gesamte Welt; als hätte Thor seinen Hammer geschwungen und die Wirklichkeit selbst damit bis in ihre Grundfesten erschüttert. Lärm schlug über ihr zusammen, und es stank nach schmelzendem Kunststoff und verschmorendem Haar. Schreie und das Dröhnen der überlasteten Motoren und anderer Lärm rasten wie ein akustischer Tsunami durch die Kabine. Weitere Gepäckfächer sprangen auf und spien Koffer und Taschen und Tüten, die zum Teil schwelten. Sauerstoffmasken fielen von der Decke, und etwas (jemand?) begann zu brennen.
Luke rief etwas, das sie nicht verstand, und als sie an ihm vorbeisah, erkannte sie, dass der Silberrücken und seine jugendliche Gespielin von ihren Sitzen geschleudert worden waren. Die junge Frau krümmte sich auf dem schwelenden Teppichboden, und der Mann hatte beide Hände vors Gesicht geschlagen und zuckte wie unter ununterbrochenen Stromschlägen. Der Kunststoffbezug des Sitzes, von dem er gefallen war, schwelte, und Beka schrie nun noch einmal und sogar noch gellender auf, als er die Hände herunternahm und sie sein Gesicht sehen konnte. Es war rot wie nach einem wirklich heftigen Sonnenbrand. Sein Haar war auf einer Seite angesengt, und seine Augen leere graue Flächen, die nie wieder etwas sehen würden.
So war es allen ergangen, die auf der anderen Seite des Ganges gesessen und dort hinausgesehen hatten.
Und vielleicht waren das die Glücklicheren, denn anders als sie konnte Beka sehen, was hinter den Fenstern auf der anderen Seite erschien, ein gigantischer brennender Pilz aus reinem gelbem und weißem und rotem Feuer, der die Landebahn und die Stadt und vielleicht sogar die ganze Welt verschlungen hatte und sich jetzt brüllend in den Himmel hinaufwälzte, um ihn ebenfalls zu verzehren. Ein Teil von ihr begriff ganz genau, was sie da sah, aber sie weigerte sich einfach, es zu akzeptieren. Nicht jetzt. Es war zu früh, viel zu früh! Noch nicht und nicht so!
Sie wusste auch, dass es nicht das Triebwerksgeräusch war, das sie hörte, denn die Motoren waren im gleichen Sekundenbruchteil ausgegangen, in dem der Atomblitz die Sonne ausgelöscht hatte, und das Flugzeug jagte auch schon längst nicht mehr in den Himmel hinauf, sondern befand sich im freien Fall zurück in Richtung der brennenden Erde.
Es erreichte sie nie, denn in der nächsten Sekunde traf die Druckwelle der Explosion das abstürzende Flugzeug wie ein gewaltiger Hammerschlag der Götter.

Wolfgang Hohlbein

Über Wolfgang Hohlbein

Biografie

Wolfgang Hohlbein, Jahrgang 1953, war Industriekaufmann, bevor er 1982 mit seinem Debüt „Märchenmond“ einen Autorenwettbewerb gewann. Seitdem schreibt er einen Erfolgsroman nach dem anderen und gilt als der Großmeister der deutschen Phantastik. Titel wie „Die Tochter der Himmelsscheibe“, »Das...

Medien zu „Armageddon (Der Armageddon-Zyklus 1)“


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