Auch unter Kühen gibt es Zicken - eBook-Ausgabe
Das wahre Leben auf der Alm
„Karin Michalkes Buch ist vor allem eines: ehrlich. Große Gefühle ohne große Worte. Beim Lesen rennt man mit ihr den Kühen hinterher, man riecht den Stallgeruch, man schmunzelt über die Menschen, die ihre Wege kreuzen. Man verzweifelt mit ihr, man lacht mit ihr – und man will selbst auch die Alm-Prüfung antreten. Erfahren wie stark man wirklich ist.“ - Dachauer Nachrichten
Auch unter Kühen gibt es Zicken — Inhalt
Eine Großstädterin taucht ins Landleben ein
Als Karin Michalke zum ersten Mal als Teilzeit-Sennerin auf einer Alm anheuert, hat sie wenig mehr vorzuweisen als einen Crashkurs im Melken bei ihrer Tante und ihre Liebe zum Fleckvieh. Doch schon bei der ersten Begegnung mit ihren Schutzbefohlenen merkt sie, dass Liebe allein nicht ausreicht, um eine 700-Kilo-Kuh in den Stall zu treiben, und die Hektik nicht nur im Arbeitsleben, sondern auch in ihr selbst steckt. Vor ihr liegt ein langer Weg, der nach vielen Sommern schließlich zum Glück führt …
Leseprobe zu „Auch unter Kühen gibt es Zicken“
Liebe, Sehnsucht,
oder wo ist dann die alm?
Teil 1
Die Alm und das Leben
Ich hatte keine Ahnung, worauf ich mich einlasse.
Ich hab gedacht, was man halt so denkt, über die Alm. Blumenwiese, Bergluft, Milchkaffee am Hausbankerl, Glockenbimbam über sanften Sonnenhängen, weite Touren über wilde Grate, Vollmond überm Gipfelkreuz.
Große Freiheit, großes Glück.
Ich hab nicht an so viel Regen gedacht. Nicht an ein zweites Paar Bergschuhe, wenn das erste aufgeweicht ist. Und auch nicht ans tausendste Mal, dass mich einer fragt: »Sagt do dei Freind nix, wennst’ so [...]
Liebe, Sehnsucht,
oder wo ist dann die alm?
Teil 1
Die Alm und das Leben
Ich hatte keine Ahnung, worauf ich mich einlasse.
Ich hab gedacht, was man halt so denkt, über die Alm. Blumenwiese, Bergluft, Milchkaffee am Hausbankerl, Glockenbimbam über sanften Sonnenhängen, weite Touren über wilde Grate, Vollmond überm Gipfelkreuz.
Große Freiheit, großes Glück.
Ich hab nicht an so viel Regen gedacht. Nicht an ein zweites Paar Bergschuhe, wenn das erste aufgeweicht ist. Und auch nicht ans tausendste Mal, dass mich einer fragt: „Sagt do dei Freind nix, wennst’ so alloa auf da Alm bist? Ha? Hähä.“
Doch, sagt er schon. Er ist mein Exfreund mittlerweile.
Mein Glück hab ich dann schon noch gefunden. Aber ganz woanders, als wo ich’s gesucht habe.
Man kommt halt nicht mehr so runter ins Tal, wie man hinaufgegangen ist auf die Alm.
Wir waren ein Traumpaar. Faust auf dem Auge. Zündschnur am Dynamitfass. Wäre bei unserer ersten Begegnung nicht ein zirbelvertäfelter Mauersturz zwischen ihm und mir gewesen, ich hätte ihm möglicherweise da schon ein Glas auf den Kopf gedroschen.
Dabei war ich damals der Sonnenschein auf der Alpenvereinshütte. Ein Übernachtungshaus für Bergtouristen auf 1900 Metern. Mein Arbeitsplatz war der Quadratmeter hinter der schummrig beleuchteten Bierschankanlage.
Und er war einer von 180 Mountainbiker-Übernachtungsgästen auf dem Weg zum Gardasee.
„Ja, bittschön?“, habe ich ihn gefragt. Lächelnd, hell und strahlend wie immer.
„A Woaz’n.“ Das bedeutet Weißbier in meiner Heimat, dem oberbayrisch-schwäbischen Grenzland.
Alles hätte er sagen können. Ganz egal. Er hätte so viele Weißbiere von mir haben können, wie er trinken kann. Aber nicht in diesem Dialekt. Ein Wort, und schon tut sich vor mir das ganze weite, öde Nichts auf, das ich so mühsam hinter mir gelassen habe.
„A Woaz’n.“
Ich hab den Zapfhahn losgelassen, anstatt ihm einfach sein Weißbier einzuschenken, für das er sich bedankt, es an seinen Platz getragen und getrunken hätte, und danach vielleicht noch eins, und am nächsten Morgen wäre er eh davongeradelt, nach Italien rüber, und fertig. Hätte ich machen können. Aber ich hab ihn aus glühenden Augenschlitzen fixiert, unter dem Zirbelmauersturz durch. Und habe ihn gefragt:
„Wo kommst’n du her?“
„Des wer’sch du ’ed kenna.“ Er hat gegrinst, breitbeinig dastehend wie ein Top-Fußballer auf dem Mannschaftsfoto.
„Täusch dich nicht“, hab ich gesagt. Scheinbar sanft. Scheinbar ein Kätzchen.
„Aus Ampfling.“ Das Grinsen eines Siegers nach dem Spiel.
„Ha, kenn ich!“ Ab hier hab ich ihn wohl eher angefaucht, als mit ihm geredet. „Ampfling hinterm Botzberg.“
Der Botzberg ist die Landkreisgrenze, wo Oberbayern aufhört und Schwaben anfängt. Der äußere Rand der zivilisierten Welt. Und alles, was hinterm Botzberg ist – Verdammnis.
Ich komme aus Tandern. Ein Dorf, auch am Rand der Welt. Auch ein Nichts. Aber ich liebe es, und es liegt vorm Botzberg. Ampfling dagegen – ganz finster. Was er nicht wahrhaben wollte. Ich hätte es ihm beinah nicht eingeschenkt, sein Weißbier.
Im Frühling waren wir ein Paar. Das Schicksal hat es uns aufgezwungen. Eine gemeinsame Skitour, und er hat mir den kompletten Lempersberg entlang vom Scheitern seiner Ehe erzählt. Bis zum Rotwand-Gipfel hab ich’s ausgehalten. Aber dann war meine Wut so groß, dass ich, ohne eine Millisekunde zu zögern, über die große Schneewechte in die Nordrinne runtergesprungen bin und eine Spur in den Schnee gelegt habe wie noch nie in meinem Leben. Eine Spur wie eine Legende. Und dann hab ich hinaufgebrüllt zu der Schneewechte und zu ihm: „Zum Scheitern eines Lebensmodells gehören immer zwei! Aber auf dich gehen mindestens 70 Prozent!“
Trotzdem ist er über Nacht geblieben, und um mich war’s für die nächsten zwei Jahre geschehen.
Für ihn war’s nur logisch, dass ich bei ihm einziehe, in das Haus, das er mit seinen eigenen Händen gebaut hat. Und dass ich sein Leben mitlebe. Es „teile“. War ja alles da. Große Küche. Waschkeller. Gepflegter Garten. Drei zu füllende Kinderzimmer, zwei Bäder, zwei Balkone. Schlafzimmer mit Schreiner-Einbauehebett und Ahornparkett auf den kompletten 300 Quadratmetern. Keine normale Frau kann zu so was Nein sagen. Es kann also nur ein Ja infrage kommen. Ja zu Fußballfreunden und Spielerfrauen. Zum Dorffriedhofsbild an Allerheiligen. Zu den Kindergartenmüttern mit ihren immer aktuellen Frisuren. Und ihren Luxuseinbauküchen mit all ihren Top-Elektrogeräten, mit denen sie ihre Männer versorgen.
Aber ich war keine normale Frau. Ich wollte Musik um mich haben. Und verrückte Gestalten in verrauchten Kneipen. Ich war gerade mit der Filmhochschule fertig und wollte die Wahrheit über das Leben und die Liebe herausfinden. Kein Tag war wie der andere. Und dann war da noch mein „depressives Syndrom“. Johanniskrauttabletten haben nicht wirklich geholfen. Schon eher Berge. Die waren gut. Ich hab meinem Freund also einen Deal vorgeschlagen: Noch einen Sommer Berg. Auf einer Alm. Und dann, im Herbst, werd ich’s versuchen. Anfangen, dein Leben zu teilen …
Ich war voller Euphorie und wäre doch am ersten Hindernis schon fast gescheitert: Wie eine Alm für einen Sommer finden?
Am einfachsten wär’s gewesen, wenn ich jemanden gekannt hätte, der eine Alm hat. Hab ich natürlich nicht. Also hab ich mich beworben, beim Almwirtschaftlichen Verein in Miesbach, Oberbayern. Dort steht der Bürostuhl von Maria Haller. Und der ist Dreh- und Angelpunkt im Almgeschäft. Bei der Maria melden sich alle: die Almbauern, die noch Senner suchen, und die potenziellen Senner, die eine Alm suchen. Maria macht’s möglich.
Ich hab gezittert, als ich ihre Nummer gewählt habe.
„Hallo, äh, Grüß Gott, ich such eine Alm …“
„Mhmmmm …“, hat sie gesagt und in Zetteln geblättert. „A bissl spät bist’ hoid dro.“
Almjobs werden im Januar und Februar vergeben. Zu Lichtmess, dem traditionellen Dienstbotentag am 40. Tag nach Weihnachten, muss der ganze Wer-was-wann-wohin-Zirkus über die Bühne sein. Auch im 21. Jahrhundert.
Jetzt ist Ende März ... Das wird also schwierig. Außer es springt kurzfristig jemand ab. Das mögen sie gar nicht, die Bauern. „So was tuat ma einfach ned. Zefix.“
Schaut nicht gut aus mit meinem Ausweg aus dem Siedlungsneubau.
Doch eine Woche später hat Maria gleich zwei Telefonnummern für mich:
Zweimal Juni bis September.
„Host’ so lang Zeit?“, fragt sie.
Ich nicke entschlossen ins Telefon.
„Oiso: Viecher hüten, melken, Milch verarbeiten und ausschenken, wenn a Ausschank dabei is. Is scho vui Arbeit.“
Wieder nicke ich.
„Packst’ des?“ Maria wartet einen Atemzug lang auf eine ehrliche Antwort.
Rindviecher und Touristen, denke ich. Und leise sag ich: „Gäste kann ich im Schlaf.“
„Na, schau. Dann wer’ma doch was finden für dich.“
Also hab ich angerufen.
Almbauern fragen nicht viel. Kein Warum und Woher, und was erwartest du von deinem ersten Almsommer, und bist du glücklich in deinem Leben. Es ist alles viel einfacher. Viel klarer. Zwei Anrufe. Vier Fragen, acht Antworten.
Erster Anruf:
„Warst’ scho moi auf ana Oim?“
„Nein.“
„Und mit de Viecher konnst’as? Meycha, kaasen, buttern?“
„Äh, nein, leider.“
Absage Nummer eins.
Zweiter Anruf:
„Warst scho moi auf ana Oim?“
„Nein, aber ich lern schnell.“
„Und mit de Viecher konnst’as? Braucha scho hiat’n, is a weit’s Gebiet.“
„Äh, ja, das krieg ich schon hin, glaub ich ...“
Absage Nummer zwei.
Wer hätte das gedacht.
Vielleicht haben sie recht. Ich bin noch nie auf einer Alm gewesen. Kann weder melken, noch habe ich mich jemals in meinem Leben mit der Herstellung von Butter, Joghurt oder Quark befasst. Außer vorm Kühlregal. Ich kenne keine Giftpflanzen und keine Heilkräuter. Ich habe keinen blassen Schimmer, wie man eine Kuh besamt. Für den Fall, dass das auch zu den Aufgaben einer Sennerin gehören sollte … Was ich nicht hoffe.
Vielleicht war das eine Schnapsidee mit dem Sommer auf der Alm.
Mitte April hatte ich schon alle Hoffnungen in den Wind geschrieben. Bis zu dem Anruf von Matthias Maier.
„Jaaaa, Grüß Gott, is des no aktuell bei eahna mit da Oim?“
„Ja“, krächzt es aus meinem Hals.
„Jaaa, bei mir aaaa.“
„Ja, sehr gut, dann ...“ Dann was? Dann lieber doch nicht? Juni, Juli, August, September in einer Hütte hocken und Viecher hüten? Kein Strand, kein Meer, kein Open-Air-Konzert, kein Public Viewing während der Fußball-WM.
„Ich weiß nicht … bin mir nicht sicher, ob ich ...“, stottere ich. Und dann zähl ich auf: „Okay, ich glaube, ich bin mutig genug, nachts allein zu sein, mit den leisen Geräuschen, die eine einsame Almhütte macht. Aber ich kann nicht garantieren, dass ich jeden Tag um halb sechs aufwache. Und dass ich’s bis September aushalte, nur mit mir allein. Hab ich auf der Alm ein Handynetz – kann ich meine Therapeutin anrufen? Was mach ich in der Zeit mit meiner Katze? Ich frag mich, ob mich jemand besuchen kommt. Was ist mit Heimweh? Ein Sommer ist lang.“
Das alles plappere ich in den Hörer. Es ist ein Wunder, dass Matthias Maier am anderen Ende nicht kopfschüttelnd vor Unglauben den Hörer auflegt und seufzt: „Ah, ah, ah, ah, ah, ah, wie weit is’n kemma mit die Weiber?!“
Als ich aufhöre zu plappern, herrscht Stille im Telefonhörer. Und die Stille fragt mich: Was willst’n – was willst’n wirklich?
Als kleines Mädchen bin ich an der Hand meines Opas vor einer schwarz geräucherten Almhütte im Zillertal gestanden. Mit großen Augen hab ich die Kühe in den Stall gehen sehen. Ein runzliger Mann mit silbernen Augen hat sie gemolken. In dem Stall war’s stockfinster. Aber die Milch war wie ein leuchtend weißes Schaumbad in dem Holzeimer. Ich hab dem Opa Löcher in den Bauch gefragt. Warum sind das graue Kühe und bei uns daheim sind sie fleckig? Hat der Mann keine Melkmaschine? Gehen die Kühe dann wieder raus? Dürfen die nicht im Stall schlafen? Beim Opa haben die Kühe immer im Stall geschlafen.
Mein Opa hat seine Landwirtschaft aufgegeben, als ich vier war. Ein Drama. Sein Kuhstall ist heute eine Garage. Und aus meiner ganzen Familie hat nur meine Tante Sophie einen Bauern geheiratet.
Mit 19 hab ich meine Leidenschaft für Kühe vergessen. Ich bin ein Bergfex geworden. Im Winter skilehrern und im Sommer bedienen auf der Berghütte. Jeden Tag um halb sechs in der Früh, wenn ich mit geschwollenen Augen und Wollmütze auf dem Kopf Wursträdchen auf 150 Bergsteiger-Frühstücksteller verteilt habe, hat der brasilianische Kuhhirte von der Alm nebenan seine Kühe an meinem Küchenfenster vorbeigetrieben. Jeden Tag im Trikot von „Zico“, Weltfußballer des Jahres 1983. Jeden Tag hab ich ans Fenster geklopft und ihm ein Wurstbrot rausgereicht.
„Oi, Zico!“
„Obrigado, Lucy-in-the-sky.“
„De nada.“
Zico hat mich nach einem Schlager benannt, weil er sich den leichter merken kann als meinen Namen. Er ist anders als alle Menschen, die ich bisher getroffen habe.
In Zicos Augen hab ich’s gesehen. Das höchste Leben. Kristallklar. Über Almwiesen laufen. In abgeschnittenen Jeans und Zico-Trikot den ganzen Tag. Die Sonne und den Bergwind auf der Haut, die davon faltig wird und bronzebraun. Und seitdem weiß ich’s: So will ich leben. So hoch droben auf dem Berg.
„Ja, sehr gut, dann ...“, sage ich in das stille Telefon.
„Oiso, mir waarn dahoam.“ Matthias Maier ist noch dran.
„Jetz’ gleich?“
„Ja freile.“
Also fahre ich hin. Ein kleines Dorf, gleich neben der A8, und dann ein Stück den Berg rauf. Man sieht den Chiemsee von hier.
Ein wunderschönes altes Bauernhaus schaut mir entgegen. Links daneben ein nicht ganz fertiges neues. Hausnummer 1 und 2. Zwei Kühe und ein Pony grasen auf der Wiese, und direkt auf der Zufahrt pickt der komplette Hühnerstall Delikatessen aus dem Kies. Ich fahre Schlangenlinien durch die Hühner, bis eine Katze sich vor mein Auto setzt. Selbstbewusst wie ein Löwe. Keinen Millimeter rühr ich mich da weg, sagt sie. Also lasse ich den Passat stehen, wo er steht, steige aus, gehe um die Katze herum zur Haustür, und da kommt er mir schon entgegen, in Schnittschutzhose und Hut.
„Aaaahh“, zwirbelt er unter seinem Schnurrbart heraus, wischt sich die Hände an seinem graugrünen Arbeitshemd ab. Er marschiert mit ausgestreckter Hand auf mich zu, kratzt dann aber seinen Hinterkopf, hin- und hergerissen, und verschwindet durch den engen Spalt von zwei großen Schiebetoren in seine Werkstatt. Ich sehe seine kräftige Gestalt zur Werkbank huschen, etwas suchen. Mit einem Fotoalbum und einem massiven Schlüsselbund in der Hand kommt er schließlich zurück.
„Ich bin die … Äh, ich hab angerufen“, japse ich eilig, denn irgendwie rechne ich damit, dass er schnurgerade an mir vorbeiläuft, auf seinen Traktor springt und rausfährt ins Holz, um noch die paar Baumstämme rauszuschleifen, zu denen er gestern nicht mehr gekommen ist. Doch er gibt mir die Hand. „Maier Matthias. Aber do hoit’ ma uns ned auf mit Sie und so weider. I bin da Hias.“
Ich schüttle seine Holzfällerhand. „Soll ich woanders parken? Die Katze ...“
„Naaa, naaa, mir roas’n eh glei.“ Hias eilt voraus zur Haustür. Ich hinterher. Mit einem der vielen Schlüssel sperrt er auf.
„Amiiiii!“, schreit er die Treppe hinauf. „’etz waar’ ma do!“
Ami ist seine Frau Amalia. Sie hat Kaffee gekocht, Kuchen gebacken und den Tisch in der „scheena Stu’m“ gedeckt. Ihr Hochzeitsfoto hängt am besten Platz an der Wand. In Tracht haben sie geheiratet, wunderschön. Ihre Haare ein geflochtener Kranz um ihr strahlendes Gesicht.
Sie haben drei Mädel und einen Buben. Wir quetschen uns alle nebeneinander auf die Eckbank. Denn dort auf dem Tisch liegt das Fotoalbum. Die Alm, fotografiert in allen Jahreszeiten. Amalias Zeigefinger zeigt auf Nachbarn, Sennerinnen, Jäger, Kühe, Schweine, Puten und Hirsche. Alle Augen folgen ihrem Zeigefinger, alle lauschen ihren Erzählungen. Ab und zu gackert eins der Mädel dazwischen. Und so versinken sie vor meinen Augen in einer anderen Welt. Eine, von der ich keine Ahnung habe. Eine Welt aus Almsommern. Irgendwie versinke ich sogar mit. Ich kann mir zwar nicht merken, wer wer ist, wer noch lebt oder wer schon tot ist. Und doch sind mir die Gesichter auf den Fotos nicht fremd. Als würde ich sie schon lange, lange Zeit kennen. Alle gehören zur Almgeschichte. Und ich stecke mittendrin.
„Host’ Schi dabei?“, fragt der Hias, nachdem niemand mehr auch nur ein Brösel Käsekuchen mit Zebramuster essen kann.
„Ja.“ Ski hab ich dabei. Durch Zufall, weil ich gestern eine Skitour gegangen bin und zu faul war, mein Auto auszuräumen.
„Na werst d’ Hütt’n scho o’schaun wolln.“
„Ja, wenn das geht?“
„Geh, die is doch no zuag’schniem“, sagt Amalia.
Aber Hias winkt ab. Hütt’n o’schaun ist wichtig.
Auf zwei Meter langen hölzernen Langlauflatten latscht Hias mir voraus durch den Wald. Knietief schlängelt sich seine Spur durch den nachmittagsweichen Sulzschnee. Es ist nicht steil, aber finster. Ich folge ihm schnaufend zwischen den Bäumen durch. Flupp-flupp-flupp federn seine Schritte, wie aufgezogen. Wie macht er das nur, auf solchen Brettern? Ich seh’s schon kommen, beim Runterfahren, wie Hias elegante Telemarkbögen in den Bruchharsch zeichnet und sein Jägerrucksack die Schneebatzen von den Fichtenzweigen bolzt, während ich hinter irgendeinem Baumstamm meine Hightech-Atomics ausgrabe. Bergmensch. Hat er keine vernünftigen Ski oder braucht er keine?
„Die Tourenski hob i verhoaz’n miass’n“, brummt er mir, rückwärts schauend, zu. Und dann nuschelt er: „Z’ g’fährlich, hot’s g’sogt, d’Frau. Wennst’ Kinder host, werd ois anders ...“
Dann rutscht er mit einem kräftigen Stockschub unter ein paar dunklen Fichten durch, hinaus auf eine offene, weiß glitzernde Wiese.
Wow, denke ich, was ist denn das? Ich atme tief ein. Das ganze Licht, dieses Schneeleuchten, der eisblaue Himmel – kann das echt sein?
„’s Paradies“, brummt Hias.
„Ah“, sage ich. „Schön.“
„Do“, – ich blinzle, wohin sein ausgestreckter Bambus-Skistecken zeigt – „Lauber-Hütte.“
Ein Stück unterhalb, im Waldschatten seh ich den rauchenden Kamin. Die weiß-blaue Fahne, ein Snowmobil und 15 Schlitten vor der Tür. Die Lauber-Hütte muss für Hias ein extrem vermeidenswerter Ort sein. Er zieht einen Eimer voll Luft durch seine Nase und senkt den Blick auf seine Holzski. „Naaa, i sog’s da“, und wir schlagen einen leichten Bogen um das Gasthaus und schieben uns leise über den sanften weißen Hügel vor uns.
Auf der anderen Seite ist es still. Wir stehen in einem sanften Kessel. Eine kleine Senke, in den Berg gestreichelt. Man sieht, wo unter dem Schnee der Weg verläuft, zwei Kurven an einer Kuppe entlang und dann um ein kleines Fichtenholz herum. Meine Augen saugen das alles auf. Und ohne dass ich etwas gemacht hätte, laufen meine Ski dort hinunter.
Dann stehen wir vor der Hütte. Eher ein Schneehaufen mit einer weißen Giebelspitze. Eigentlich sieht man nur das Stallgebäude daneben. Als hätte ich das schon hundertmal so gemacht, schnalle ich meine Ski ab und geh auf den zugewehten Türstock zu.
„So, kennst’ di scho aus“, brummt Hias.
Er hat Lawinenschaufeln dabei und zwei Flaschen Bier. Wir graben die Tür aus. Und wo wir gleich dabei sind, schrauben wir auch die Wintertür ab. „A so vui werd’s ’etz nimmer schneim.“
Drinnen ist es dunkel. Vor den Fenstern die meterdicke Schneewechte.
Ich trete in den Raum voll abgestandener Winterluft, als wäre ich nach langen Jahren endlich zurückgekehrt. Diese Alm, das ist seltsam, erkenne ich von irgendwoher wieder. Aber ich war noch nie hier. Bestimmt nicht. Früher, hör ich einen Gedanken.
Früher.
„Griaß di, Hütt’n“, flüstere ich. Manchmal trifft man jemanden zum ersten Mal und denkt: Ach, da bist du!
Man kennt sich, als hätte man schon ein ganzes Leben miteinander verbracht. Nur vielleicht woanders.
Es stinkt bestialisch nach Ziegenbock.
„Pilatus“, stellt der Hias vor. Pilatus hängt an der Wand. Ausgestopft. Mit beeindruckenden Hörnern.
Hias holt eine massive Taschenlampe unter der Spüle heraus. Die macht Baustrahlerlicht. Eine nagelneue Spüle, bemerke ich. Edelstahl. Und eine Granitplatte, 1,50 Meter mal 2,80 Meter, trennt den Ausschankbereich vom Gastraum. Da wird jeder schön auf seiner Seite bleiben. Bauer dahinter, Gast davor. Klare Sache.
„I hob’n gern mög’n“, brummt der Hias. Gespenstisch fällt der gleißende Lichtkegel auf Pilatus’ Antlitz. Seine Augen glimmen fast lebendig zu uns herunter.
„Aber dann hot’a die Ami o’packt, mei’ Frau. Und des ...“ Zwischen Hias und Pilatus entsteht ein magnetisches Flimmern. Das bestimmt auch vom Batteriescheinwerfer und dem Winterstaub in der Luft kommen kann. Trotzdem merke ich, wie ich den Atem anhalte.
Hias geht bedächtig, fast lautlos, weiter in die Stube. Dort ist es finster wie in einem rußigen Kamin. Man sieht nur den Lichtkegel über die Wand geistern. Dunkel gebeizte Holzwand. Rundrum eine Bank. Drei schmale, lange Holztische, rechts ein fast deckenhoher Ofen, moosgrün gekachelt. Und links im Eck ein grob geschnitzter Jesus am Kreuz. „Den hot’ ma der Haus’n Sepp g’schnitzt“, murmelt Hias, und eine stille Sekunde vergeht, bevor der Lichtkegel weiterschwirrt.
„Do – unsere Ahnen.“
Spot auf ein Schwarz-Weiß-Foto an der Wand. Das erste in einer ganzen Reihe zum geschnitzten Jesus hin.
„Ludwig der Erste.“ Ein Jäger mit weißem Bart und sein Hund. Stolz hebt sich ihrer beider Blick über den toten Hirschen, der quer vor ihnen liegt. Das Geweih ist höher als der Hund.
Spot auf das Foto links von Ludwig. „Leopold.“ Ein stämmiger Patriarch mit Hut. Auch schwarz-weiß. Man ahnt die Flinte über seiner Schulter.
Noch eins weiter. „Ludwig der Zweite.“ Ein kleiner, weich aussehender Mann. Ich glaube, er hätte lieber den erlegten Riesenhirschen gestreichelt und wieder lebendig gemacht, als den Fuß draufgestellt, fürs Foto.
„Alle scho tot“, raunt Hias. Nachdenklich leuchtet er seinen Jesus an. Leben und Tod, Himmel und Hölle und der Sinn von allem flattern in einem Augenblick durch die Stube.
Es folgen Leopold der Dritte, Korbinian und ein leerer Fleck an der Wand:
„Bolko.“
Ich schlucke. Wer ist Bolko?
„Abkürzung für Bogislaw.“
Bogislaw?
„Der jetzige Baron.“
Kein Foto?
„Der lebt no.“
O Gott. Kriegt der erst ein Foto, wenn er tot ist?
„Hob i dahoam, muass i no aufhänga.“
Puh.
„Mogst’ a Bier?“
Ja.
Hias nickt den Baronen zum Abschied, macht die Tür zur Stube zu, und im Vorbeigehen tätschelt er Pilatus’ Wange. „So, Oida, sama wieder da.“
Draußen im Schnee macht er zwei Halbe auf. Skeptisch schielt er mich an. Weit draußen hinter Rosenheim hängt die glutgelbe Sonne. Der Schnee ist ein Parabolspiegel.
Es ist so weit. Ja oder nein.
„Also, ich würd’ gern kommen, im Sommer.“
„So, so“, sagt er.
Ich warte. Ein kleiner Schneeklecks fällt vom Rosenstock neben der Tür in das Schneeloch, das wir als Eingang geschaufelt haben.
Er nickt.
Ich nicke.
Und jetzt trinken wir unser Bier. Jeder für sich, die Flasche kurz angehoben, zu sagen ist sowieso nichts mehr.
Der Goldschnee um uns herum färbt sich rosarot und dann zu einer nächtlichen Version von Blau, die ich noch nie gesehen habe. In der Hütte wachen langsam die Ahnen auf, der Hias räumt noch zusammen, was er zusammenräumen will, und ich sag leise: „Pfiadi derweil.“
Wir packen’s. Zuerst über den kleinen Hügel wieder rüber und oberhalb der Lauber-Hütte vorbei, übers Paradies und hinein in den Wald. Ich sehe nichts mehr. Der Wald schluckt das nachtblaue Licht. Wie erwartet ist Hias auf seinen Zaunlatten weit voraus, und ich höre, wie sein Jägerrucksack Schnee von den Bäumen bolzt. Und wie erwartet grabe ich mich ein. Klassischer Fahrfehler. Meine superbreiten Powderlatten stecken unter dem angefrorenen Schneedeckel, mein Hintern in einem Loch, und ich ahne, dass das, worin ich hocke, im Sommer ein Froschteich ist.
Es dauert ein bisschen, bis ich mich ausgegraben habe. Der Hias ist längst außer Sichtweite, und ich bin mir nicht sicher, ob ich durch den dusteren Wald überhaupt noch einer Spur folge. Und gerade, bevor mich eiskalt von hinten ein Gedanke anspringen kann, mit dem ich nicht gerechnet hätte, hör ich ihn pfeifen.
„Ich bin schon daaaa!“, schreie ich und sause im Schuss auf ihn zu. Der Gedanke war: Scheißalm.
Drunten in der Stube hat Amalia Brotzeit für zwölf Mann hergerichtet.
„Und, was habt’s ausg’macht?“
Hias verschwindet, Worte oder einzelne Silben murmelnd, irgendwohin. Unter die Dusche wahrscheinlich.
Amalia stellt einen Teller vor mich hin.
„G’fallt dir d’Hütt’n?“
„Ja. Wir haben die Tür ausg’schaufelt.“
„Na, sog! War no so vui Schnee?“
„Ja, schön is.“
„Mhm, ja, schee is scho auf da Oim, gell.“
Wir essen. Zwei Brote mit Frischkäse und Essiggurken, eins mit Tomate.
Bis der Hias zurückkommt, eilig, frisch geduscht und entschlossen zu reden.
„Oiso, für di waar de Sach ... in Ordnung, sagst.“
Ich nicke. Mit meinem ganzen Herzen.
Er sollte Fragen stellen. Nach meinen nicht vorhandenen Qualifikationen.
„Ich mag Tiere“, sage ich vorauseilend.
Das bringt mir einen skeptischen Blick vom Hias ein. Nicht, weil er ein Bauer ist und Bauern grundsätzlich keine Tiere mögen. Das ist ein Vorurteil. Natürlich mögen sie ihre Tiere. Es ist vielleicht eher ein mögen auf geschäftlicher Basis. Kühe und Bauern sind füreinander Lebensgrundlage. Existenzsichernd. Keine herzerfrischenden Freizeitgefährten oder Familienmitglieder, Freunde, Lebenspartner. Hund statt Kind, Hund statt Mann. Und deswegen kann ich mir vorstellen, dass so mancher Bauer schon schlechte Erfahrungen gemacht hat mit jungen Frauen, die „Tiere mögen“ oder, noch schlimmer, „Tiere lieben“. Weil wir Tierliebhaberinnen das Prinzip Landwirtschaft nicht verstehen und wie viel das alles mit Tradition und dem Selbstbild ganzer Generationen zu tun hat.
„Melken lern ich noch, und ich ... wir haben Pferde daheim“, erkläre ich weiter.
„Jaaa ...“
Und mein Opa hat einen Bauernhof gehabt, bis ich vier Jahre alt war. Und ich weiß nicht mehr, was ich sonst noch sagen soll. Es gibt kein logisches Argument für mich.
„Dann pack’ ma o mitanand“, nuschelt Hias.
Okay.
„Anfang Juni trei’m ma auf.“
Aha.
„Almauftrieb“, sagt er, bewusst langsam und deutlich, in meine großen leeren Augen hinein.
„Ah, ja“, stammle ich.
„Konnst aber vorher aa scho kemma.“
Gut.
Sehr gut.
Ich geh auf die Alm.
„Karin Michalkes Buch ist vor allem eines: ehrlich. Große Gefühle ohne große Worte. Beim Lesen rennt man mit ihr den Kühen hinterher, man riecht den Stallgeruch, man schmunzelt über die Menschen, die ihre Wege kreuzen. Man verzweifelt mit ihr, man lacht mit ihr – und man will selbst auch die Alm-Prüfung antreten. Erfahren wie stark man wirklich ist.“
„Sympathisch berichtet sie über ihre Erlebnisse mit den Tieren und ihre Suche nach dem ganz persönlichen Glück.“
„Michalke ist ein ganz und gar wunderbares Buch gelungen. Ein bisschen Biografie, ein bisschen die Geschichte etlicher Sommer auf der Alm. So leicht und schwer zugleich, so fröhlich wie nachdenklich. Vor allem aber so nachvollziehbar, dass es auf der letzten Seite ein wenig schmerzt, sich von dieser erstaunlichen Frau und ihrer kleinen großen Welt auf der Alm wieder trennen zu müssen.“
„Ein bisschen ›boarisch‹ sollten Leser/innen verstehen. Am besten geht es, wenn man die wörtlichen Zitate laut vorliest, was für einen Extra-Spaß sorgt. 16 Fotoseiten machen die amüsante Geschichte anschaulich.“
„Michalkes Erzählungen sind gespickt mit dem richtigen Schuss Selbstironie – mit fröhlichen und traurigen Tränen, traditionellen Rezepten und bayerischer Mundart. Es ist eine lange Suche, bei der sie eine Liebe verliert, aber eine viel wichtigere gewinnt: die zu sich selbst.“
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