

Auf der Kippe Auf der Kippe - eBook-Ausgabe
Roman
— „Ein mitreißender Adrenalinkick, der es auch noch schafft, richtig witzig zu sein.“ NYTAuf der Kippe — Inhalt
„Wenn ich jetzt mit dem Bereuen anfrage, höre ich nicht wieder auf.“
Als die Erde bebt, irrt Annie hochschwanger durch den IKEA von Portland. Wie durch ein Wunder überlebt sie das große Beben und kämpft sich zurück in die Stadt. Aber will sie auch zurück in ihr altes Leben?
Mit unbestechlichem Witz und großer emotionaler Kraft erzählt Emma Pattee in ihrem Debütroman von aufgeschobenen Träumen, von Mutterschaft, zarter Liebe und dem, was uns am Ende weitergehen lässt.
„Mit Auf der Kippe kündet sich eine starke literarische Stimme an.“ Vogue
„Ein schnell getaktetes, perfekt abgestimmtes Debüt! Annies eindringliche Stimme klingt reumütig, zart und doch immer entschlossener.“ The Guardian
„Auf der Kippe glänzt durch Witz, Eleganz und das Aufblitzen von Menschlichkeit im Angesicht einer Katastrophe. Mit dieser Autorin wird noch zu rechnen sein!“ Literary Hub
„Pattees Darstellung von Portland nach dem Erdbeben wirkt erfrischend realistisch, ihre ungeschönten Beschreibungen von Ehe und vom Mutterwerden treffen ins Mark. Schockierend und voller Wärme, dieser Roman hinterlässt einen bleibenden Eindruck.“ Publishers Weekly
„Jede dieser wunderbaren Zeilen pulsiert vor Humor, Liebe, Leid und dem Schrecken, den Menschen einander antun können, wenn das Unvorstellbare geschieht. Emma Patte hat ein umwerfendes Debüt geschrieben!“ Jessica Knoll
Leseprobe zu „Auf der Kippe“
Später Vormittag
IKEA, NE Portland
Da sind wir also, in der siebenunddreißigsten Schwangerschaftswoche bei IKEA.
Stell dir vor, Krümel, falls du dir da drinnen überhaupt irgendwas vorstellen kannst: Mein Bauch ist nach vorn gewölbt, als wäre darin ein Luftschiff gefangen. Ich gehe steif und staksig wie ein Storch. Halte mich an Treppengeländern fest. Muss alle paar Minuten die Hände ans Kreuz legen, damit mir kein Wirbel herausspringt.
Ich sehe so besorgniserregend aus, dass ich die anderen hier nervös mache; sie beobachten aus dem Augenwinkel, was ich als [...]
Später Vormittag
IKEA, NE Portland
Da sind wir also, in der siebenunddreißigsten Schwangerschaftswoche bei IKEA.
Stell dir vor, Krümel, falls du dir da drinnen überhaupt irgendwas vorstellen kannst: Mein Bauch ist nach vorn gewölbt, als wäre darin ein Luftschiff gefangen. Ich gehe steif und staksig wie ein Storch. Halte mich an Treppengeländern fest. Muss alle paar Minuten die Hände ans Kreuz legen, damit mir kein Wirbel herausspringt.
Ich sehe so besorgniserregend aus, dass ich die anderen hier nervös mache; sie beobachten aus dem Augenwinkel, was ich als Nächstes tue. Sie sprechen mich an, sagen Dinge wie: Na, Ihnen reicht’s jetzt sicher auch. Oder: Sie platzen ja gleich!
Und IKEA. An einem Wochentag. Mein Gott. Spätestens jetzt weiß ich wieder, dass ich offiziell unwichtig bin. Nur Rentnerinnen, Studenten und Barkeeper sehen sich montags nach Möbeln um. Und andere Schwangere natürlich. Belagern wie hungrige Alligatoren die Kinderwelt.
Ich trage eine lavendelblaue kurze Latzhose aus Leinen, ein T-Shirt und Birkenstocks. Hätte ich auf Instagram irgendeine Schwangere in so einem Aufzug gesehen, hätte ich gedacht, nur über meine Leiche. Ein Outfit, das sämtliche Erotik zunichtemacht, das quasi sagt: Ich habe kein Interesse mehr an Sex, ich werde jetzt Mutter. Bitte nur im Säuselton ansprechen. Aber dann wurde mir klar, dass Umstandsmode genauso viel kostet wie richtige Klamotten. Und wir haben noch nicht mal die Rechnung für den letzten Ultraschall bezahlt, die mir die Klinik geschickt hat. Ich trage jetzt also praktisch alles, was ich an gebrauchten Schwangerschaftssachen auf Buy Nothing oder in Secondhandläden finde. Heute: die lavendelblaue Leinenlatzhose.
Ich stehe schon mindestens eine Stunde bei den Kinderzimmermöbeln und versuche, mich zwischen verschiedenen Matratzen für Babybetten zu entscheiden, weil bei einem Babybett natürlich keine Matratze dabei ist. Wie hatte ich mir das vorgestellt? Dass du direkt auf dem Lattenrost schläfst? Ich google jetzt also, was der Unterschied zwischen einer Taschenfederkernmatratze und einer Kaltschaummatratze ist, und Google gibt zu bedenken, dass sich die Ausgabe für eine teurere Bio-Babymatratze lohnen kann, weil Toxine womöglich Krebs verursachen, und dass man beim Kauf einer Kaltschaummatratze zumindest Polyurethan meiden soll, aber natürlich gibt IKEA auf seiner Website nicht an, aus was für einem Schaum die Kindermatratzen hergestellt sind, oder falls doch, finde ich die Angabe nicht, und so halte ich Hilfe suchend nach jemandem in einem gelben T-Shirt Ausschau, aber sie sind alle verschwunden.
Dein Vater und ich schlafen auf einer Matratze, die wir auf Craigslist gefunden und zusammen durch den schmuddeligen Flur eines abgeranzten Wohnblocks in North Portland gezogen haben, nachdem wir irgendeinem nicht ganz koscheren Typen achtzig Dollar in bar in die Hand gedrückt hatten. „Ein Queensize-Bett für meine Queen“, hat dein Vater gesagt, nachdem wir das Ding endlich hinten ins Auto gequetscht hatten.
Es ist nicht nur unsere schäbige Matratze, Krümel. Es ist alles. Dom, dein Vater, ist achtunddreißig und versucht immer noch, die große Rolle zu ergattern und den Durchbruch zu schaffen. Stellt sich immer noch mit Dutzenden anderen bei Vorsprechen in die Schlange. Schickt immer noch Porträtfotos an Casting-Agenturen. Arbeitet immer noch in dem Café wie damals, als wir uns kennengelernt haben.
Deine Mutter – Annie, ich bin’s – hielt sich mal für den nächsten Tennessee Williams, den Beckett dieses Jahrtausends, und vergeudete viele Stunden damit, ihre tiefe Verbeugung für später im Scheinwerferlicht des Broadways zu üben. Und jetzt, mit fünfunddreißig, sitzt sie im zweiundzwanzigsten Stockwerk eines verglasten Gebäudes am Computer, starrt Tag für Tag auf Kalkulationstabellen und tippt auf ihrer Tastatur herum. Soweit ich weiß, haben dein Vater und ich 836 Dollar auf einem Girokonto bei Wells Fargo, einen Subaru mit 160 000 Meilen auf dem Tacho und eine Dreizimmerwohnung in der Nähe von Mount Tabor, aber die können wir uns auch nur leisten, weil der Vermieter es nicht übers Herz bringt, die Miete zu erhöhen oder uns rauszuschmeißen. Und hier bin ich also, in der siebenunddreißigsten Woche schwanger, bei IKEA. An einem Montag. Mit einer Kreditkarte, die ich bis zu meinem Tod wahrscheinlich nicht werde abbezahlen können.
Was ich damit sagen will: Nichts, aber auch gar nichts an deinem ersten Lebensjahr wird so aussehen wie die Jahre, die danach kommen. Also genieß deine schadstofffreie Matratze, solange du kannst.
Ich entscheide mich für das teuerste Babybett. Regel Nummer eins, Krümel: Das Teuerste ist immer das Beste. Ich will gerade noch einen Bettbezug mit genderneutralen Pinguinen nehmen, da kommt ein kleiner Junge um die Ecke gesaust und rennt mir geradewegs in den Bauch.
„Spencer!“, zischt seine Mutter, und dann zu mir: „Tut mir echt leid.“ Doch ihre dunklen Augen zeigen keinerlei Regung. Der Junge streicht sich den Pony aus den Augen und starrt mir auf den Bauch, als wollte er Blickkontakt zu dir aufnehmen. Ihm tut es offenbar auch kein bisschen leid. „Spencer“, zischt ihn seine Mutter noch einmal an. Aber Spencer ist schon in einer anderen Welt, er wirkt wie weggetreten. Er streckt seine kleine Hand aus und legt sie auf meinen Bauch.
„Da ist ein Baby drin“, sagt Spencer in diesem typischen tiefgründigen Ton, in dem Kinder alles Mögliche sagen. Seine Mom hat uns erreicht und reißt ihn zur Seite wie ein Laken an der Wäscheleine. Sorry, formt sie lautlos mit den Lippen. Als wäre ihr Bedauern ein Geheimnis unter Müttern.
Na, Sie haben ja vielleicht ein schräges Kind, würde ich am liebsten zu ihr sagen. Aber ich zwinge mich, nur lächelnd den Kopf zu schütteln, als wäre ich ganz verrückt nach ihrem kleinen Spencer, denn ich werde eindeutig BALD MUTTER SEIN, deshalb muss ich KINDER LIEBEN. Ich meine, was weiß ich schon? Vielleicht wirst du auch ein schräges Kind, und dann muss ich müde und mit Augenringen durch Geschäfte rennen, um dich einzufangen, und zu allen, denen wir begegnen, lautlos Sorry! sagen.
Das Bettchen ist natürlich nicht da. Regal 8, Fach 31. Ein leeres Fach. Kein Bettchen. Deswegen stehe ich jetzt am Servicepoint und sehe flehend die gleichgültige junge Frau in dem gelben Shirt an, die mir schon mehrfach erklärt hat, dass von den Bettchen noch drei auf Lager sein müssten.
„Aber das Fach ist leer“, sage ich.
„Sind Sie sich sicher, dass es Fach einunddreißig war?“
Ich nicke. „Ich habe extra noch mal nachgesehen.“
„Regal acht?“ Sie schaut mich an, als wäre ich so ungefähr der dümmste Mensch, dem sie je begegnet ist. Auf einer Seite hat sie einen eleganten Bob, so blond, dass er schon fast weiß aussieht, die andere Seite ihres Kopfs ist rasiert. Sie hat lange Acrylnägel mit pinkfarbenem Leopardenmuster und tippt damit immer wieder auf den Tresen.
„Regal acht.“
„Also, laut System müssten noch drei Stück da sein. Hat dann wahrscheinlich schon jemand im Wagen.“ Schulterzuckend dreht sie sich um und lässt mich stehen. Hej!, steht in großen blauen Buchstaben auf ihrem gelben Shirt.
Natürlich. War ja klar, dass dein Bettchen schon im Wagen einer anderen liegt. Da schaffe ich es ein Mal, eine Entscheidung zu treffen, tue einmal das Richtige, fahre hier raus und schleppe mich die Treppen hoch und wieder runter, aber dann steht trotzdem kein neu aufgebautes Bettchen in deinem Kinderzimmer, wenn dein Vater vom Café nach Hause kommt, nein, es ist und bleibt ein leerer Raum.
„Wann kriegen Sie denn die nächste Lieferung?“
„In ein paar Wochen erst“, sagt die junge Frau. „Die kommen aus China oder so.“ Als ob mir das nicht klar wäre. Als ob ich geglaubt hätte, irgendein sozial gesinnter Schwede mittleren Alters würde in seiner Werkstatt sitzen und mit Sandpapier mein Scheißbabybettchen abschleifen.
„Aber so viel Zeit habe ich nicht mehr.“ Mir ist klar, dass das jetzt der Moment ist, in dem ich nicken, mich bedanken und abziehen sollte. Ich bin ja nicht blöd.
„Deshalb empfehlen wir, das Bettchen und alle anderen Babymöbel so früh wie möglich zu kaufen, denn solche Lieferengpässe können vorkommen.“ Sie trägt eine dicke Schicht Foundation mit einem leichten Orangestich, und wenn man genau hinsieht, erkennt man sogar noch die Spuren des Schwämmchens auf ihren Wangen.
Jetzt aber mal halblang. Als hätte ich die letzten neun Monate nur rumgelegen, mir Croissants reingeschoben und Babynamen überlegt.
„Wir haben andere Modelle, die gerade noch auf Lager sind.“ Und ich schwöre, sie grinst mich blöd an. Wie alt ist sie? Zweiundzwanzig?
„Können Sie nicht irgendjemanden anrufen? Ihren Chef oder Ihre Chefin? Jemanden, mit dem ich mal reden kann und der noch mal ganz genau guckt?“ Ich brauche dieses Bettchen. Du musst genau dieses Bettchen haben.
Sie seufzt. „Na gut, ähm, wie wär’s, wenn ich selbst noch einmal nachsehe“, sagt sie. „Zur Sicherheit.“
„Das aus Birke …“ Meine Handflächen liegen nassgeschwitzt auf dem Tresen des Servicepoints. Ich muss mich gut festhalten, sonst rutsche ich vielleicht ab und falle um. Liege auf dem Boden und stehe nie wieder auf.
„Ich weiß, welches Sie meinen.“
„Das mit den Gitterstäben.“
„Ja, natürlich“, sagt sie mehr als schnippisch. „Warten Sie einfach hier.“
Und damit geht sie und lässt mich dort am Servicepoint stehen, leicht schwankend. Bloß keine Eile!, würde ich ihrem gelben Rücken am liebsten hinterherrufen.
Wart’s ab, damit beginnt praktisch jeder Rat, den man als Schwangere bekommt.
Du bist müde? Wart’s ab.
Du bist nervös und machst dir Sorgen? Wart’s ab.
Du glaubst, du hast schon einmal Liebe empfunden? Wart’s ab.
Als hätte ich eine andere Wahl.
Jetzt bearbeitest du mich wie eine Trommel, und mein Hunger sticht mir kleine Messer in den Bauch. Ich habe Heißhunger, nicht einfach auf irgendwas, sondern auf eine IKEA-Zimtschnecke für 1,50 Dollar. Wenn ich dein Bettchen endlich habe, kaufe ich mir zur Belohnung eine. Oder vielleicht auch gleich vier. Dieser dicke, pseudoknackige Zuckerguss obendrauf … Ich werde nicht mal warten, bis ich zu Hause bin, werde einfach im Auto sitzen und alle vier essen. Mir den Zuckerguss von den Fingern lecken.
Meine Füße beginnen zu pochen, das ist immer ein schlechtes Zeichen. Sie sind in den letzten Monaten angeschwollen, sind Nacht für Nacht ein wenig dicker geworden, ganz langsam. Ich habe die Riemen meiner Birkenstocks ein Loch weiter geschnallt und dann noch eins, und jetzt bin ich beim letzten angelangt, aber meine Füße quellen immer noch wie Pudding zwischen den Riemen hervor.
Was will ich eigentlich hier, Krümel? Meine Mutter hat mir erzählt, dass ich als Baby in einem Wäschekorb neben ihrem Bett geschlafen habe. Wenn sie die Finger durch die Löcher im Plastikgeflecht gesteckt hat, habe ich danach gegriffen.
Ich bin auf einmal so müde. Und einsam. Ich will nach Hause.
Zu Hause, das ist da, wo ich den Kühlschrank aufmache und mich alles darin anödet, wo ich ihn wieder zumache und an der Tür einen Zettel oder vielmehr die Rückseite eines aufgerissenen Briefumschlags sehe, mit einer Liste – VOR DER GEBURT –, auf der noch nichts abgehakt ist. Wo ich mich aufs Sofa legen werde, letztlich doch nicht schlafen kann und dann stundenlang Reality-TV gucke, und wo ich am Gästezimmer vorbeigehe, das jetzt ein Kinderzimmer sein soll, aber eigentlich bloß ein leerer Raum ist mit einer originalverpackten Babyschale fürs Auto darin.
Ich hole das Handy raus, um deinem Vater zu schreiben, weiß dann aber nicht, was ich sagen soll.
Seit gestern Abend, seit unserem Streit, habe ich nicht mehr mit ihm gesprochen.
Worum es ging?
Um alles, Krümel. Um nichts.
Weil es bei einem Streit im Großen und Ganzen immer um nichts geht, dann aber wieder alle Streitereien zusammengenommen ein großes Ganzes ergeben. Als wäre jeder Streit ein Stern am Himmel und als könnte ich jetzt, wo ich ein Jahrzehnt oder so mit deinem Vater zusammen bin, hochsehen und in all unseren Auseinandersetzungen ein Sternbild erkennen. Was für eins, Krümel? Das weiß ich nicht. Will ich nicht wissen. Ich schaue lieber wieder weg.
Unser Streit jedenfalls: Dein Vater hat gerade ein Last-minute-Angebot für die Zweitbesetzung einer Rolle in einem Theaterstück bekommen und wollte wegen der Probe heute nicht zur Arbeit gehen. Und ich habe ihm gesagt, er soll die Rolle ablehnen und stattdessen ins Café gehen. Weil wir das Geld brauchen. Und jetzt steht er wahrscheinlich gerade hinterm Tresen und wünscht, er wäre bei der Probe. Wünscht, er wäre in L. A. Wäre berühmt. Wünscht, er wäre noch mal zweiundzwanzig und hätte das ganze Leben noch vor sich.
Doch wenn er heimkommt und im Kinderzimmer das Bettchen sieht, nagelneu und gerade fertig aufgebaut, freut er sich bestimmt. Es sei denn, ich bin einfach zu müde zum Aufbauen, was ich leider gerade für ziemlich wahrscheinlich halte. Dann zerre ich den Karton nur bis in die Wohnung, schiebe ihn durch den Flur und lehne ihn an die Wand – oder, noch wahrscheinlicher, er liegt noch im Auto, wenn dein Vater nach Hause kommt, und ich auf dem Sofa, die Beine hochgelegt, und dann wird er schimpfen, dass ich das ganz allein gemacht habe, dass ich mich übernommen habe, was ich nicht tun soll, und dass ich ihn gar nicht gefragt habe, seine Meinung zu einem Babybettchen nicht einmal hören wollte. Er wird im Wohnzimmer stehen, zu mir auf dem Sofa heruntersehen und fragen: Echt jetzt? Ohne mich?
Tja, scheiße.
Ich trete von einem Fuß auf den anderen und wiege mich sanft nach links und nach rechts.
Und dann entdecke ich die junge Frau mit dem gelben Shirt. Ganz hinten, auf der anderen Seite des Möbellagers. Sie spricht mit irgendeiner älteren Kundin, die mehrere künstliche Topfpflanzen im Arm hat. Dich und mich und unser Bettchen hat sie total vergessen.
Will die mich verarschen? Diese Trulla mit ihren Plastikfingernägeln und diesem gruseligen weißen Halb-Bob. Und ich stehe hier wie bestellt und nicht abgeholt, aufgedunsen und leicht schrumpelig wie ein vergessener Luftballon nach einer Geburtstagsparty. Ich spüre einen dicken Kloß im Hals, und mein Mund beginnt zu pochen. Ich male mir aus, wie ich ihr Strähne für Strähne ihre blöden Haare ausreiße. Jetzt brennen meine Augen. Als ich mir auf die Lippe beiße, damit es aufhört, wird es nur noch schlimmer. Wenn ich hier weiter stehen muss, breche ich in Tränen aus, und es gibt nichts Erbärmlicheres als eine schluchzende Schwangere.
Tief Luft holen, höre ich meine Mutter sagen, aber es ist zu spät. Jetzt stehe ich direkt hinter der Frau im gelben Shirt. Hej!, schreit mich ihr Rücken an.
„Wo. Ist. Mein. Bett?“ Das ist gar nicht meine Stimme. Dieses Fauchen.
Die junge Frau dreht sich überrascht um. Die andere Kundin zieht ihre Töpfe noch fester an sich.
„Bitte?“ Statt Augenbrauen hat die junge Frau zwei starre Bleistiftstriche auf der Stirn.
„Mein Babybett?!“
Ich sehe genau, wie es ihr wieder einfällt – sie kneift kurz die Augen zusammen und hebt dann einen einzelnen Leopardenfinger. „Bin gleich wieder bei Ihnen. Bitte beruhigen Sie sich.“ Sie wendet sich ab.
Beruhigen Sie sich. Ich wüsste nichts, was mich weniger beruhigen würde als dieser Spruch.
Mein Gesicht glüht, meine Augen pochen. Plötzlich ist meine Hand an ihrem gelben Ärmel und zieht daran. Was hat meine Hand da zu suchen? Die Frau will sich aus meinem Griff befreien, aber ich packe noch fester zu. Dann plötzlich ein Ratschen.
Oh shit.
Wir drei stehen da wie versteinert. Habe ich ihr wirklich gerade das Shirt zerrissen?
Die Frau blickt hinunter auf ihren Ärmel. Die Schulternaht hat einen kleinen Riss, und sie begutachtet ihn und steckt einen ihrer langen Fingernägel hinein.
„Meine Güte“, sagt sie, aber ihre Miene verrät auch eine gewisse Genugtuung.
„Ich will mein Bett.“ Ich bin schon zu weit gegangen, um jetzt noch einen Rückzieher zu machen.
„Bin sofort wieder bei Ihnen“, sagt sie mit einem gekünstelten Lächeln und lässt ihre langen Wimpern flattern. Der Zorn schnürt mir förmlich die Kehle zu. Diese blöde Tussi behandelt mich wie ein Nichts, wie eine Witzfigur, so nach dem Motto: Die Schwangere da kann ja warten, bis sie schwarz wird. Aber ich habe genug gewartet. Ich beuge mich vor und sehe auf ihr Namensschild.
„Ich möchte Ihren Vorgesetzten sprechen.“
Sie reißt die Augen auf. Ja, gut so. Dämlich grinsen kannst du auch auf dem Heimweg noch, wenn sie dich gefeuert haben.
„Ernsthaft?“, sagt sie. „Ich war gerade auf dem Weg und wollte nach Ihrem Bettchen sehen.“
Ich lache, ein trockenes Ha.
„Kommen Sie“, sagt sie mit einer Armbewegung. „Hier entlang, bitte.“
Die Kundin mit den Kunstpflanzen steht immer noch kopfschüttelnd neben uns und murmelt irgendwas vor sich hin.
Die junge Frau geht absichtlich so schnell, dass ich kaum hinterherkomme. Ich spüre, wie sich die Haut an meinem Bauch weiter dehnt, und meine Hüften knirschen wie ein schlecht geöltes Getriebe. Sie erwartet, dass ich irgendwas sage, die Wogen wieder glätte, das sehe ich genau. Und, Krümel, ich weiß auch, dass ich mich entschuldigen sollte. Aber ich kann gerade nicht, auch wenn mir klar ist, dass ich zu weit gegangen bin. Wenn ich jetzt mit dem Bereuen anfange, höre ich nicht wieder auf.
Wir gehen an Regal 8 entlang bis zu Fach 31.
Und da liegen die Bettchen, alle drei. Das war ja klar. Ich schwöre dir, Krümel, vor zwanzig Minuten war das Fach noch leer.
„Na, so ein Zufall“, sagt sie, schnurrt es regelrecht. Betont sorgfältig fährt sie mit dem Fingernagel unter dem Produktnamen entlang. „Jepp, das ist es. Genau das, wonach Sie gesucht haben.“ Sie nimmt einen leeren Einkaufswagen, den jemand im Gang stehen gelassen hat, und schiebt ihn eine Spur zu aggressiv neben das Fach. „Soll ich Ihnen beim Einladen helfen?“
Ich schüttele den Kopf. Sämtliche Streitlust ist aus mir gewichen, ich fühle mich einfach nur kraftlos, müde und allein. Ich hätte nie hierherkommen sollen, hätte einfach zu Hause bleiben und ein Bettchen bei Amazon bestellen sollen. Nachdem ich meine Handtasche in den Wagen gelegt habe, versuche ich, den Karton aus dem Regal zu ziehen. Meine Arme sind zu kurz, um ihn zu umfassen.
„Brauchen Sie wirklich keine Hilfe?“ Die junge Frau steht da und beobachtet mich. Als wäre ich ihr nicht scheißegal.
„Geht schon.“ Ich zerre einmal kräftig an dem Karton und ramme ihn mir dabei in den Bauch.
„Ich wollte bloß helfen.“ Sie hebt die Hände, als würde ich ihr mit der Waffe drohen.
„Nicht … nötig.“ Die Riemen meiner Sandalen schneiden mir so tief ins Fleisch, dass es jeden Moment aufplatzt und Blut fließt, ich schwöre es.
„Okay, woho“, sagt sie und greift schnell nach dem Karton, der jetzt auf der Regalkante steht und abzurutschen droht. Ihre albernen Fingernägel schrappen über die Pappe.
„Lassen Sie los“, zische ich. „Das geht schon!“
Ich versuche, den Karton ein wenig zu kippen und nach und nach auf den Wagen zu bugsieren. Zerfließe dabei förmlich, zerfließe und ersticke hier in dieser Halle, unter den ganzen grellen Leuchtstoffröhren. Eine Ecke des Kartons stößt immer wieder in meinen Bauch, in dich hinein, aber ich kann jetzt nicht aufhören, ich habe keine Zeit, auf mich aufzupassen, ich muss nach Hause, ich muss diese Sache hier hinter mich …
Und dann plötzlich eine Erschütterung.
Für einen Sekundenbruchteil herrscht auf beiden Seiten meiner Haut Aufruhr – du verpasst mir einen kräftigen Tritt, und um mich herum beginnt alles zu vibrieren. Im nächsten Moment hört es auf.
Ich sehe hinunter auf meinen Bauch. Was war das?
Die Frau im gelben Shirt bekommt es mit der Angst zu tun.
„Was, zum Teufel …?“, sagt sie. Am Ende des Ganges, in der Mitte des Möbellagers, sind die Menschen hinter ihren Einkaufswagen erstarrt. Ein Mann lässt einen zusammengerollten Teppich fallen und rennt zum Ausgang. Ein älteres Paar sieht zur Decke. Angst, animalische Angst überträgt sich von Körper zu Körper, von Zelle zu Zelle. Wir alle halten gemeinsam den Atem an.
Dann beginnt das Beben.
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