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Auf der Suche nach einer besseren WeltAuf der Suche nach einer besseren Welt

Auf der Suche nach einer besseren Welt Auf der Suche nach einer besseren Welt - eBook-Ausgabe

Karl R. Popper
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Vorträge und Aufsätze aus dreißig Jahren

„Popper galt lange als der Leit-Philosoph einer liberalen westlichen Demokratie. Höchste Zeit, ihn wieder zu lesen.“ - Stuttgarter Zeitung

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Auf der Suche nach einer besseren Welt — Inhalt

Karl R. Popper zählt zu den bedeutendsten Philosophen dieses Jahrhunderts. Sein 'kritischer Rationalismus' und seine 'offene Gesellschaft' haben nachhaltigen Einfluß auf die Philosophie, die Wirtschafts- und Sozialwissenschaften und auf die Politik der westlichen Welt ausgeübt. Der vorliegende Band versammelt zentrale Vorträge und Aufsätze Poppers aus dreißig Jahren. Die Texte faszinieren durch ihre lebendige und klare Sprache. Sie konfrontieren den Leser mit Poppers großen Themen und mit der Vielfalt seines Denkens.

€ 12,00 [D], € 12,40 [A]
Erschienen am 01.12.1987
288 Seiten, Broschur
EAN 978-3-492-20699-0
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€ 11,99 [D], € 11,99 [A]
Erschienen am 29.02.2024
288 Seiten
EAN 978-3-492-97070-9
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Leseprobe zu „Auf der Suche nach einer besseren Welt“

Eine Zusammenfassung als Vorwort

Alles Lebendige sucht nach einer besseren Welt.

Menschen, Tiere, Pflanzen, auch Einzeller, sind immer aktiv. Sie versuchen, ihre Lage zu verbessern oder zumindest eine Verschlechterung zu vermeiden. Sogar im Schlaf erhält der Organismus den Schlafzustand aktiv aufrecht: Die Tiefe (oder die Seichte) des Schlafes ist ein vom Organismus aktiv herbeigeführter Zustand, der den Schlaf verteidigt (oder den Organismus alarmbereit hält). Jeder Organismus ist dauernd damit beschäftigt, Probleme zu lösen. Und die Probleme entstehen [...]

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Eine Zusammenfassung als Vorwort

Alles Lebendige sucht nach einer besseren Welt.

Menschen, Tiere, Pflanzen, auch Einzeller, sind immer aktiv. Sie versuchen, ihre Lage zu verbessern oder zumindest eine Verschlechterung zu vermeiden. Sogar im Schlaf erhält der Organismus den Schlafzustand aktiv aufrecht: Die Tiefe (oder die Seichte) des Schlafes ist ein vom Organismus aktiv herbeigeführter Zustand, der den Schlaf verteidigt (oder den Organismus alarmbereit hält). Jeder Organismus ist dauernd damit beschäftigt, Probleme zu lösen. Und die Probleme entstehen aus Bewertungen seines Zustandes und seiner Umwelt, die er zu verbessern sucht.

Der Lösungsversuch stellt sich oft als irrig heraus, er führt zu einer Verschlechterung. Dann folgen weitere Lösungsversuche, weitere Probierbewegungen.

So kommt mit dem Leben – schon mit dem der Einzeller – etwas völlig Neues in die Welt, etwas, das es vorher nicht gab: Probleme und aktive Lösungsversuche; Bewertungen, Werte; Versuch und Irrtum.

Vermutlich unter dem Einfluß von Darwins natürlicher Auslese entwickeln sich vor allem die aktivsten Problemlöser, die Sucher und die Finder, die Entdecker neuer Welten und neuer Lebensformen.

Jeder Organismus arbeitet auch daran, seine inneren Lebensbedingungen und seine Individualität aufrechtzuerhalten – eine Aktivität, die die Biologen „Homöostase“ nennen. Aber auch das ist innere Unruhe, innere Aktivität: Tätigkeit, die die innere Unruhe in Schranken zu halten versucht, Rückkoppelung, Irrtumskorrektur. Die Homöostase muß unvollkommen sein. Sie muß sich selbst beschränken. Wäre sie vollkommen, so wäre das der Tod des Organismus oder zumindest die zeitweilige Aufhebung aller Lebensfunktionen. Die Aktivität, die Unruhe, die Suche ist wesentlich für das Leben, für die ewige Unruhe, die ewige Unvollkommenheit; für das ewige Suchen, Hoffen, Werten, Finden, Entdecken, Verbessern, Lernen und Schaffen von Werten; aber auch für das ewige Irren, das Schaffen von Unwerten.

Der Darwinismus lehrt, daß die Organismen durch die natürliche Auslese an die Umwelt angepaßt und dadurch umgestaltet werden. Und er sagt, daß sie dabei passiv sind. Aber es erscheint mir weit wichtiger, daß die Organismen, in ihrer Suche nach einer besseren Welt, neue Umwelten finden, erfinden und umgestalten. Sie bauen Nester, Dämme, Gebirge. Aber ihre folgenreichste Schöpfung ist wohl die Umschaffung der Lufthülle der Erde durch Anreicherung mit Sauerstoff; ihrerseits eine Folge der Entdeckung, daß das Sonnenlicht als Nahrung dienen kann. Die Entdeckung dieser unerschöpflichen Nahrungsquelle und der zahllosen Methoden, das Licht aufzufangen, erschuf das Pflanzenreich. Und die Bevorzugung der Pflanzen als Nahrungsquelle erschuf das Tierreich.

Wir selbst haben uns durch die Erfindung der spezifisch menschlichen Sprache erschaffen. Wie Darwin sagt (Die Abstammung des Menschen, 1. Teil, Kapitel III), der Gebrauch und die Entwicklung der menschlichen Sprache „wirkte auf den Geist zurück“ („reacted on the mind itself“). Ihre Sätze können einen Sachverhalt darstellen, sie können objektiv wahr oder falsch sein. So kommt es zur Suche nach der objektiven Wahrheit, zur menschlichen Erkenntnis. Die Wahrheitssuche, vor allem die der Naturwissenschaften, gehört wohl zum Besten und zum Größten, das das Leben in seiner Suche nach einer besseren Welt geschaffen hat.

Aber haben wir nicht mit unserer Naturwissenschaft die Umwelt zerstört? Nein! Wir haben große Fehler gemacht – alles Lebendige macht Fehler. Es ist ja unmöglich, alle die ungewollten Folgen unserer Handlungen vorauszusehen. Die Naturwissenschaft ist hier unsere größte Hoffnung: Ihre Methode ist die Fehlerkorrektur.

Ich will hier nicht enden, ohne etwas zu sagen über den Erfolg der Suche nach einer besseren Welt während der 87 Jahre meines Lebens, in einer Zeit von zwei unsinnigen Weltkriegen und von verbrecherischen Diktaturen. Trotz allem, und obwohl uns so viel mißlungen ist, leben wir, die Bürger der westlichen Demokratien, in einer Gesellschaftsordnung, die gerechter ist und besser (weil reformfreudiger) als irgendeine andere, von der wir geschichtlich Kenntnis haben. Weitere Verbesserungen sind von größter Dringlichkeit. (Aber Verbesserungen, die die Macht des Staates vergrößern, bringen leider oft das Umgekehrte von dem hervor, das wir suchen.)

Zwei Dinge, die wir verbessert haben, möchte ich kurz erwähnen.

Das allerwichtigste ist, daß das furchbare Massenelend, das es noch in meiner Kindheit und Jugend gab, bei uns verschwunden ist. (Leider nicht in Kalkutta.) Manche Leute entgegnen, daß es bei uns Menschen gibt, die zu reich sind. Aber was kümmert uns das, wenn genug da ist – auch der gute Wille – um gegen Armut und andere vermeidbare Leiden zu kämpfen?

Das zweite ist unsere Reform des Strafrechts. Zunächst hofften wir wohl, daß die Milderung der Strafen zu einer Milderung der Verbrechen führen werde. Als die Dinge aber nicht so kamen, haben wir dennoch die Wahl getroffen, daß wir selbst, auch in unserem Zusammenleben mit anderen, lieber leiden wollen – unter Verbrechen, unter Korruption, Mord, Spionage, Terrorismus – als den sehr fraglichen Versuch zu machen, diese Dinge durch Gewalt auszurotten und dabei Gefahr zu laufen, auch Unschuldige zu Opfern zu machen. (Leider ist es schwierig, das ganz zu vermeiden.)

Kritiker werfen unserer Gesellschaft vor, daß sie korrupt ist, obwohl sie zugeben, daß die Korruption manchmal bestraft wird (Watergate). Vielleicht sehen sie nicht, was die Alternative ist. Wir ziehen eine Ordnung vor, die auch üblen Verbrechern vollen Rechtsschutz gewährt, so daß sie im Zweifelsfalle nicht bestraft werden. Und wir ziehen diese Ordnung insbesondere einer anderen Ordnung vor, in der auch Nichtverbrecher keinen Rechtsschutz finden und auch dann bestraft werden, wenn ihre Unschuld nicht bestritten wird (Sacharow).

Vielleicht haben wir aber mit dieser Entscheidung auch noch andere Werte gewählt. Vielleicht haben wir, ganz unbewußt, die wunderbare Einsicht von Sokrates angewandt: „Es ist besser, Unrecht zu erleiden, als Unrecht zu tun.“

 

Kenley, im Frühjahr 1989

K. R. P.


1.  Erkenntnis und Gestaltung der Wirklichkeit: Die Suche nach einer besseren Welt[1]

Die erste Hälfte des Titels meines Vortrags wurde nicht von mir gewählt, sondern von den Organisatoren des Alpbacher Forums. Ihr Titel war: Erkenntnis und Gestaltung der Wirklichkeit.

Mein Vortrag besteht aus drei Teilen: Erkenntnis; Wirklichkeit; und Gestaltung der Wirklichkeit durch Erkenntnis. Der zweite Teil, über die Wirklichkeit, ist bei weitem der längste, denn er enthält schon viel, das den dritten Teil vorbereitet.

1. Erkenntnis

Zunächst über Erkenntnis. Wir leben in einer Zeit, in der wieder einmal der Irrationalismus Mode geworden ist. Ich will daher mit dem Bekenntnis beginnen, daß ich die naturwissenschaftliche Erkenntnis für die beste und wichtigste Erkenntnis halte, die wir haben – wenn auch bei weitem nicht für die einzige. Die Hauptpunkte der naturwissenschaftlichen Erkenntnis sind die folgenden:

1. Sie geht von Problemen aus, und zwar sowohl von praktischen als auch von theoretischen Problemen.

Ein Beispiel eines großen praktischen Problems ist der Kampf der Medizin gegen vermeidbares Leiden. Dieser Kampf hat bereits zu großen Erfolgen geführt, und die Bevölkerungsexplosion ist eine der ungewollten Folgen. Das bedeutet, daß ein anderes altes Problem eine neue Dringlichkeit bekommen hat: das Problem der Geburtenkontrolle. Es ist eine der wichtigsten Aufgaben der medizinischen Wissenschaft, eine wirklich befriedigende Lösung dieses Problems zu finden.

In ähnlicher Weise führen unsere größten Erfolge zu neuen Problemen.

Ein Beispiel eines großen theoretischen Problems in der Kosmologie ist die weitere Überprüfung der Gravitationstheorie und die weitere Erforschung der einheitlichen Feldtheorien. Ein ganz großes Problem, das sowohl theoretisch wie auch praktisch wichtig ist, ist die weitere Erforschung der Immunität. Allgemein gesprochen ist ein theoretisches Problem die Aufgabe, einen schwer erklärbaren Naturvorgang verständlich zu erklären und die erklärende Theorie durch Voraussagen zu überprüfen.

2. Erkenntnis ist Wahrheitssuche – die Suche nach objektiv wahren, erklärenden Theorien.

3. Sie ist nicht die Suche nach Gewißheit. Irren ist menschlich: Alle menschliche Erkenntnis ist fehlbar und daher ungewiß. Daraus folgt, daß wir Wahrheit und Gewißheit scharf unterscheiden müssen. Daß Irren menschlich ist, das bedeutet, daß wir immer wieder gegen den Irrtum kämpfen müssen, aber auch bei größter Sorgfalt nie ganz sicher sein können, daß wir nicht doch einen Fehler gemacht haben.

Ein Fehler, den wir machen – ein Irrtum – besteht in der Wissenschaft im wesentlichen darin, daß wir eine Theorie für wahr halten, die nicht wahr ist. (Viel seltener besteht er darin, daß wir eine Theorie für falsch halten, obwohl sie wahr ist.) Den Fehler, den Irrtum bekämpfen heißt also, nach objektiver Wahrheit suchen und alles zu tun, um Unwahrheiten zu entdecken und auszuschließen. Das ist die Aufgabe der wissenschaftlichen Tätigkeit. Man kann also sagen: Unser Ziel als Wissenschaftler ist die objektive Wahrheit; mehr Wahrheit, interessantere Wahrheit, besser verständliche Wahrheit. Gewißheit kann unser Ziel vernünftigerweise nicht sein. Wenn wir einsehen, daß die menschliche Erkenntnis fehlbar ist, dann sehen wir auch ein, daß wir nie ganz sicher sein können, ob wir nicht einen Fehler gemacht haben. Man könnte das auch so formulieren:

Es gibt ungewisse Wahrheiten – sogar wahre Sätze, die wir für falsch halten – aber keine ungewissen Gewißheiten.

Da wir nie ganz sicher wissen können, so steht es eben nicht dafür, nach Gewißheit zu suchen; aber es steht sehr dafür, nach Wahrheit zu suchen; und das tun wir hauptsächlich dadurch, daß wir nach Fehlern suchen, um sie zu korrigieren.

Die wissenschaftliche Erkenntnis, das wissenschaftliche Wissen ist also immer hypothetisch: Es ist Vermutungswissen. Und die Methode der wissenschaftlichen Erkenntnis ist die kritische Methode: die Methode der Fehlersuche und der Fehlerelimination im Dienste der Wahrheitssuche, im Dienste der Wahrheit.

Selbstverständlich wird mir jemand „die alte und berühmte Frage“, wie sie Kant nennt, stellen: „Was ist Wahrheit?“ Kant weigert sich in seinem Hauptwerk (884 Seiten), auf diese Frage mehr zu antworten, als daß Wahrheit „die Übereinstimmung der Erkenntnis mit ihrem Gegenstande“ ist (Kritik der reinen Vernunft, 2. Aufl., S. 82, 83). Ich würde ganz ähnlich sagen: Eine Theorie oder ein Satz ist wahr, wenn der von der Theorie beschriebene Sachverhalt mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Und ich möchte dazu noch drei Bemerkungen hinzufügen:

1. Jede unzweideutig formulierte Aussage ist entweder wahr oder falsch; und wenn sie falsch ist, dann ist ihre Negation wahr.

2. Es gibt also ebenso viel wahre wie falsche Aussagen.

3. Jede solche unzweideutige Aussage (auch wenn wir nicht mit Sicherheit wissen, ob sie wahr ist) ist entweder wahr, oder ihre Negation ist wahr. Auch daraus folgt, daß es verkehrt ist, die Wahrheit mit der sicheren oder gewissen Wahrheit gleichzusetzen. Wahrheit und Gewißheit müssen scharf unterschieden werden.

Wenn Sie als Zeuge vor Gericht gerufen werden, so werden Sie aufgefordert, die Wahrheit zu sagen. Und es wird, mit Recht, angenommen, daß Sie diese Aufforderung verstehen: Ihre Aussage soll mit den Tatsachen übereinstimmen; nicht von Ihren subjektiven Überzeugungen beeinflußt (oder von denen anderer Menschen). Wenn Ihre Aussage nicht mit den Tatsachen übereinstimmt, dann haben Sie entweder gelogen oder einen Fehler gemacht. Aber nur ein Philosoph – ein sogenannter Relativist – wird Ihnen zustimmen, wenn Sie sagen: „Nein; meine Aussage ist wahr, denn ich meine eben mit Wahrheit etwas anderes als Übereinstimmung mit den Tatsachen. Ich meine, nach dem Vorschlag des großen amerikanischen Philosophen William James, Nützlichkeit; oder ich sage, nach dem Vorschlag vieler deutscher und amerikanischer Sozialphilosophen: Wahrheit ist, was die Gesellschaft, oder die Majorität, oder meine Interessensgruppe, oder vielleicht das Fernsehen akzeptiert oder propagiert.“

Der philosophische Relativismus, der sich hinter der „alten und berühmten Frage ›Was ist Wahrheit?‹“ verbirgt, öffnet der lügnerischen Verhetzung der Menschen Tür und Tor. Das haben wohl die meisten derer, die den Relativismus vertreten, nicht gesehen. Aber sie hätten es sehen sollen und können. Bertrand Russell hat es gesehen, und ebenso Julien Benda, der Autor des Werkes „Der Verrat der Intellektuellen“ (La trahison des clerks).

Der Relativismus ist eines der vielen Verbrechen der Intellektuellen. Er ist ein Verrat an der Vernunft, und an der Menschheit. Ich vermute, daß der Wahrheitsrelativismus gewisser Philosophen eine Folge der Vermengung der Ideen der Wahrheit und der Gewißheit ist; denn mit der Gewißheit steht es in der Tat so, daß man sagen kann, daß es Grade von Gewißheit gibt; also mehr oder weniger Sicherheit. Die Gewißheit ist auch in dem Sinn relativ, daß es bei der Gewißheit immer darauf ankommt, was auf dem Spiel steht. Ich vermute also, daß hier eine Verwechslung zwischen Wahrheit und Gewißheit stattfindet; und in manchen Fällen läßt sich das auch nachweisen.

Das ist alles von großer Bedeutung für die Rechtslehre und die Rechtspraxis. Die Formel „im Zweifelsfall für den Angeklagten“ und die Idee des Geschworenengerichts zeigt das. Was die Geschworenen zu tun haben, das ist, zu beurteilen, ob der Fall, dem sie gegenüberstehen, noch ein Zweifelsfall ist oder nicht. Wer je ein Geschworener war, wird verstehen, daß die Wahrheit etwas Objektives ist, die Gewißheit etwas Subjektives. Das kommt in der Situation des Geschworenengerichts am allerdeutlichsten zum Ausdruck.

Wenn die Geschworenen zu einer Übereinstimmung kommen – zu einer „Konvention“ – so nennt man das den „Wahrspruch“. Die Konvention ist weit entfernt davon, willkürlich zu sein. Es ist die Pflicht jedes Geschworenen, zu versuchen, die objektive Wahrheit zu finden, nach bestem Wissen und Gewissen. Aber gleichzeitig soll er sich seiner Fehlbarkeit bewußt sein, seiner Ungewißheit. Und im Falle eines vernünftigen Zweifels an der Wahrheitsfindung soll er für den Angeklagten stimmen.

Die Aufgabe ist schwierig und verantwortungsvoll; und man sieht hier deutlich, daß der Übergang von der Wahrheitssuche zum sprachlich formulierten Wahrspruch Sache eines Beschlusses ist, einer Entscheidung. Und so ist es auch in der Wissenschaft.

Alles das, was ich bisher gesagt habe, wird mir zweifellos wieder einmal die Bezeichnung „Positivist“ und „Szientist“ einbringen. Es macht mir nichts, auch dann nicht, wenn diese Ausdrücke als Schimpfwörter verwendet werden. Aber es macht mir schon etwas, daß die, die sie verwenden, entweder nicht wissen, wovon sie reden, oder die Tatsachen verdrehen.

Trotz meiner Verehrung der Wissenschaft bin ich kein Szientist. Denn ein Szientist glaubt dogmatisch an die Autorität der Wissenschaft; während ich an keine Autorität glaube und den Dogmatismus immer bekämpft habe und noch überall bekämpfe, vor allem in der Wissenschaft. Ich bin gegen die These, daß der Wissenschaftler an seine Theorie glauben muß. Was mich betrifft, „I do not believe in belief“ (Ich glaube nicht an den Glauben), wie E. M. Forster sagt; und insbesondere nicht in der Wissenschaft. Ich glaube höchstens an den Glauben in der Ethik, und auch hier nur in wenigen Fällen. Ich glaube zum Beispiel daran, daß die objektive Wahrheit ein Wert ist; also ein ethischer Wert, vielleicht sogar der größte Wert; und daran, daß die Grausamkeit der größte Unwert ist.

Und ich bin auch deshalb kein Positivist, weil ich es für moralisch falsch halte, nicht an die Wirklichkeit und an die unendliche Wichtigkeit des menschlichen und tierischen Leidens zu glauben und an die Wirklichkeit und Wichtigkeit der menschlichen Hoffnung und der menschlichen Güte.

Eine andere Anklage, die häufig gemacht wird, muß anders beantwortet werden. Es ist die Anklage, daß ich ein Skeptiker bin und mir daher selbst widerspreche oder Unsinn rede (gemäß Wittgensteins Tractatus 6.51).

Nun ist es richtig, daß ich insofern als Skeptiker (im klassischen Sinn) bezeichnet werden kann, als ich die Möglichkeit eines allgemeinen Kriteriums der (nicht logisch-tautologischen) Wahrheit leugne. Aber das tut jeder vernünftige Denker, zum Beispiel Kant oder Wittgenstein oder Tarski. Und wie diese akzeptiere ich die klassische Logik (die ich als Organon der Kritik interpretiere; also nicht als Organon des Beweises, sondern als Organon der Widerlegung, des Elenchos). Aber ich unterscheide mich grundlegend von dem, was man heutzutage gewöhnlich einen Skeptiker nennt. Als Philosoph bin ich an Zweifel und Unsicherheit nicht interessiert, und zwar deshalb, weil das subjektive Zustände sind und weil ich die Suche nach subjektiver Sicherheit längst als überflüssig aufgegeben habe. Was mich interessiert, sind die objektiven kritischen Vernunftgründe, die dafür sprechen, daß eine Theorie einer anderen in der Suche nach der Wahrheit vorzuziehen ist. Und etwas Ähnliches hat sicher vor mir noch kein moderner Skeptiker gesagt.

Damit schließe ich für den Augenblick meine Bemerkungen zum Thema „Erkenntnis“; und ich komme jetzt als nächstes zum Thema „Wirklichkeit“, um dann am Schluß über die „Gestaltung der Wirklichkeit durch die Erkenntnis“ zu sprechen.


[1] Ein Vortrag, gehalten in Alpbach, August 1982. Der zweite Titel – „Die Suche nach einer besseren Welt“ – wurde von mir hinzugefügt.

Ich danke Ingeborg und Gerd Fleischmann für ihre unschätzbare und aufopfernde Mitarbeit und Ursula Weichart für ihre ausgezeichnete Hilfe mit der oft verbesserten Niederschrift.

Über Karl R. Popper

Biografie

Karl R. Popper, geboren am 28. Juli 1902 in Wien, gestorben am 17. September 1994 bei London. Er emigrierte 1937 nach Neuseeland, wo er am University College in Christchurch lehrte. Von 1946 bis 1969 war er Professor an der London School of Economics. 1965 wurde er von Königin Elizabeth II. geadelt....

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