Bildung als Provokation
Bildung als Provokation — Inhalt
Bildung ist das beste Mittel gegen Populismus
Alle reden von Bildung. Sie wurde zur Lösung aller Probleme – von der Bekämpfung der Armut bis zur Integration von Migranten, vom Klimawandel bis zum Kampf gegen den Terror. Während „Bildung“ als Schlagwort in unserer Gesellschaft omnipräsent geworden ist, ist jeder ernsthafte Bildungsanspruch zur Provokation geworden. Die Gründe dafür nennt Konrad Paul Liessmann in seinem neuen Buch. Dafür begibt er sich sowohl in die Niederungen der Parteienlandschaft als auch in die Untiefen der sozialen Netzwerke. Und er denkt darüber nach, warum es so unangenehm ist, gebildeten Menschen zu begegnen.
„Liessmann schreibt mit intellektueller Schärfe und stilistischer Energie.“Süddeutsche Zeitung
Leseprobe zu „Bildung als Provokation“
VORWORT
Warum es so unangenehm ist, gebildeten Menschen zu begegnen
Wer den aktuellen Bildungsdiskurs verfolgt, kann eine inter- essante Beobachtung machen. Die Karriere des Begriffs „Bil- dung“ ist atemberaubend. „Bildung“ ersetzt mittlerweile nicht nur Konzepte wie Pädagogik, Erziehung oder Unterricht, „Bil- dung“ beschreibt nicht nur den Umgang mit Menschen von der Beschallung des Ungeborenen im Mutterleib über die Inte- gration von Migranten bis zur Einweisung von Senioren in den Gebrauch des Internets, sondern „Bildung“ kann mittlerweile als [...]
VORWORT
Warum es so unangenehm ist, gebildeten Menschen zu begegnen
Wer den aktuellen Bildungsdiskurs verfolgt, kann eine inter- essante Beobachtung machen. Die Karriere des Begriffs „Bil- dung“ ist atemberaubend. „Bildung“ ersetzt mittlerweile nicht nur Konzepte wie Pädagogik, Erziehung oder Unterricht, „Bil- dung“ beschreibt nicht nur den Umgang mit Menschen von der Beschallung des Ungeborenen im Mutterleib über die Inte- gration von Migranten bis zur Einweisung von Senioren in den Gebrauch des Internets, sondern „Bildung“ kann mittlerweile als wohlfeiler Joker überall dort eingesetzt werden, wo andere Institutionen oder Praktiken versagen. Wer Bildung sagt, hat immer recht.
Während „Bildung“ als universelles Problemlösungsversprechen omnipräsent geworden ist, ist der Gebildete, den wir ja eigentlich als Ziel all dieser Bildungsanstrengungen ver- muten müssten, aus dem Wortschatz nahezu verschwunden. Nicht einmal mehr am Horizont der Bildungsplanung und der Bildungsbiografien, die nun untersucht und beschrieben wer- den, taucht der Gebildete auf, und wir wüssten auch nicht, an welcher Stelle der offiziellen Bildungskarrieren er in Erschei- nung treten sollte. Die Absolvierung der Schulpflicht, eine mo- derne kompetenzorientierte Reifeprüfung, ein abgeschlossenes
Bachelorstudium nach dem Bologna-Modell – nichts davon enthält den Gebildeten als Ziel- oder Leitvorstellung. Weder sollen sich Menschen bilden, noch sollen sie gebildet werden, gefordert ist heute der Erwerb von „Kompetenzen“ wie Team- fähigkeit, Kommunikationsbereitschaft, Innovationsfreude und digitale Fitness.
Niemand wird bezweifeln, dass sich Menschen für unterschiedliche Tätigkeiten qualifizieren, dass sie vielfältige Fähig- keiten aufweisen und dass sie die aktuellen Kulturtechniken beherrschen sollen. Aber keine dieser Beschreibungen erfasst das, was man einmal mit Bildung gemeint hatte. Gesetzt den Fall, dass uns der in einem klassischen Sinne Gebildete tatsäch- lich noch einmal begegnete, wären wir wahrscheinlich ziem- lich irritiert. Der Gebildete verkörperte all das, was der aktuelle Bildungsdiskurs gerade nicht mehr unter Bildung verstehen will. Dazu gehörten ein fundiertes Wissen, das es erlaubt, auch ohne Zensurbehörde die Fakten von den Fiktionen zu trennen, ästhetische und literarische Kenntnisse und Erfahrungen, ein differenziertes historisches und sprachliches Bewusstsein, ein kritisches Verhältnis zu sich selbst, eine auf all dem gründende abwägende Urteilskraft und eine gesteigerte Sensibilität gegen- über den Lügen, Übertreibungen, Hypes, Phrasen, Moralisie- rungen und Plattitüden der Gegenwart. Allerdings ließe sich nichts von dem vorschnell der Forderung nach Nützlichkeit, Anwendbarkeit und schneller Verwertbarkeit unterordnen.
Der Gebildete wäre heute eine eigentümliche Erscheinung – wie aus der Zeit gefallen. Weltfremd wäre der Gebil- dete aber nicht. Bildung stellte auch eine Form der Welthaltig- keit dar, die sich jedoch nicht nur aus den Blasen der sozialen Netzwerke, sondern auch aus anderen Quellen speist, zu de- nen nicht zuletzt jene Bücher gehören, deren Lektüre wir nie-
mandem mehr zumuten wollen. Begegnete man solch einem Menschen, wir wären wahrscheinlich unangenehm berührt, vielleicht von Neid erfüllt, unter Umständen sogar ein wenig beschämt, weil er unser aktuelles Bildungsweltbild in Frage stellte.
Bildung, ernst gemeint, wäre heute eine Provokation. Ob die grassierende Kompetenzorientierungskompetenz wirklich die zeitgemäße Antwort auf diese Provokation darstellt, darf allerdings bezweifelt werden. Bildung, das macht ihren Sta- chel aus, lässt sich nicht auf formale Fähigkeiten und Anwen- dungsorientierungen reduzieren. Bildung hat immer auch mit konkreten Inhalten und – horribile dictu – abstraktem Wis- sen zu tun, damit auch mit Einsichten und Haltungen, die ih- ren Wert vorab in sich tragen und es den Menschen erlauben, zu sich und der Welt in einer Weise Stellung zu beziehen, die nicht nur dem Diktat der Zeit und ihrer Moden gehorcht.
Bei aller Kritik an den bildungsfeindlichen Bildungsreformen unserer Tage gibt es keinen Grund zu verzweifeln. Gerade die Schnelllebigkeit und Beliebigkeit der aktuellen Medien- kultur lässt die Sehnsucht nach fundiertem Wissen, kritischer Reflexion, nach Begegnungen mit der eigenen Tradition und mit fremden Kulturen und nach einer geschärften Urteilskraft wachsen. Bildung hat auch mit dem Einüben einer Gelassen- heit zu tun, die sich von überbordender Affirmation des Zeit- geistes ebenso frei halten möchte wie von einer wohlfeilen Empörung über medial hochgespielte Nichtigkeiten.
Bildung ist untrennbar mit der Einsicht in die eigene Unzulänglichkeit verbunden, mit dem Wissen des Nichtwissens. Diese Bescheidenheit macht sie erst zu jener Aufgabe und Haltung, die sich offen dem Anderen und seinen vielfältigen Erscheinungsformen zuwenden kann: ohne falsche und über-
zogene Ansprüche, aber auch ohne den Gestus einer moralischen oder intellektuellen Überlegenheit und ohne den Dün- kel eines selbstgefälligen Elitenbewusstseins, das mittlerweile selbst zu einem Signum der Unbildung geworden ist.
Wien, im Mai 2017
Konrad Paul Liessmann
ZUR SACHE DER BILDUNG
BELESENHEIT
Literarische Bildung als Provokation
Anfang des Jahres 2015 sorgte die Twitter-Nachricht einer Gymnasiastin in Deutschland bundesweit für Aufregung, so- gar die Bundesbildungsministerin Johanna Wanka sah sich zu einer zustimmenden Stellungnahme genötigt. Was hatte die junge Frau unter dem Decknamen Naina geschrieben: „Ich bin fast 18 und hab keine Ahnung von Steuern, Miete oder Versicherungen. Aber ich kann ’ne Gedichtsanalyse schreiben. In 4 Sprachen.“1 Die Debatten über die Sinnhaftigkeit klassischer und humanistischer Bildung angesichts der Notwendigkeiten des Lebens in einer modernen Gesellschaft flackern seitdem immer wieder auf. Dass an Schulen nicht das gelernt wird, was man zum Leben so braucht, ist allerdings ein Vorwurf, der pädagogische Einrichtungen seit der Antike begleitet. Nur lernen, was man auch sofort anwenden kann? Nur lernen, was nützt? Nur lernen, was der eigenen Situation und Bedürfnislage entspricht? Ist es das, was wir unter Bildung verstehen wollen? Und liegt das Problem nicht darin, dass Bildung ohnehin seit langem eher an den Erfordernissen der Märkte und den Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen als an vermeintlich antiquierten Inhalten und angeblich unbrauchbaren Kenntnissen gemessen wird? Trug Naina mit ihrem Tweet nicht Eulen
nach Athen? (Hoffentlich kennt sie diese Wendung und ihre Geschichte noch.)
Nutzloses Wissen. Ja, dieses kennzeichnet den Gebildeten, und dieses ist von Übel. Dass Schüler Gedichte interpretie- ren können, aber beim Ausfüllen der Steuererklärung versagen – das ist offenbar der Albtraum jeder modernen Bildungsministerin. In der Schule darf es deshalb keine kontextfreien Wissensfragen mehr geben, „Faktenwissen“ ist zu einem – übrigens verräterischen – Unwort geworden, so, als sollten lieber Meinungen und Ideologien vermittelt werden. Situations- und intentionsadäquat müssen etwa die kompetenzorientierten Fragestellungen der Reifeprüfung sein, Kenntnisse, die nicht zur Lösung eines Problems beitragen, gelten als unangemessen und verzichtbar. Dass solch eine Entwertung des Wissens in ei- nem Zusammenhang steht mit dem seit einiger Zeit gerne beklagten postfaktischen Zeitalter, fällt denjenigen, die bislang alles für eine soziale Konstruktion hielten und nun die empirische Wahrheit neu für sich entdecken, gar nicht mehr auf.
Aber auch kulturelle und ästhetische Traditionen dürfen nicht mehr gelehrt werden; jeder Kanon steht im Verdacht, die postulierte Gleichwertigkeit aller kulturellen Erzeugnisse in Frage zu stellen, die Lust an alten Sprachen und an der Schön- heit der Mathematik wird durch Praxisorientierung gehörig sabotiert, und die Lektüre von Texten, die nicht dem Erwerb problemlösungsorientierter Kompetenzen untergeordnet wer- den können, ist verpönt.
Literarische Bildung, die einst im Zentrum der Curricula der höheren Schulen stand, ist – nicht nur dort – zu einem Fremdwort geworden. Dass aber nahezu jede Form vor allem ästhetischer, literarischer oder sprachlich-historischer Kennt- nisse gerne als bildungsbürgerlich denunziert wird, gilt nicht
nur der Kritik an einem sozialen Habitus, sondern auch einer bestimmten Idee von Bildung. Sofern sich diese – wenn auch nicht ausschließlich, so doch zentral – an kanonischen litera- rischen Texten orientierte, gilt sie als obsolet. Die schöne Lite- ratur, wie avanciert auch immer, führt nur noch ein Schatten- dasein in den Curricula, in den Bildungsdiskursen, in denen es von Kompetenzen nur so wimmelt, spielt sie keine Rolle mehr. Die Fraglichkeit literarischer Bildung im klassischen Sinn hatte allerdings schon die Debatten im Zuge der Lehrplanreformen der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts be- stimmt. Die Eliminierung der alten Sprachen aus den Curricula der Gymnasien wurde etwa damit begründet, dass diese zwar eine Quelle individueller Bereicherung sein können, dass daraus aber keine allgemeine bildungspolitische Funktion mehr abgeleitet werden kann: „Wer wollte bestreiten, daß das Studium der geistigen Quellen der Antike ebenso wie das ihrer sprachlichen Grundstrukturen lohnend und beglückend sein kann? Dies gilt nicht nur für den Gelehrten, sondern für einen jeden, der hier Inspiration zu suchen vermag. Eine zentrale Position im Curriculum der allgemeinbildenden Schule ist für diese Welt damit nicht nachgewiesen.“2 Was der Lehrplan- reformer Saul B. Robinsohn hier in Hinblick auf Altgriechisch und Latein behauptet hatte, lässt sich mittlerweile für den Umgang mit Literatur überhaupt sagen. Fast niemand bestreitet, dass diese für denjenigen, der in ihr eine Inspiration zu sehen vermag, eine beglückende Erfahrung sein kann. Aber eine allgemeine und verbindliche Bedeutung wagt daraus schon lange kein Bildungsexperte mehr zu folgern. Und das hat weniger damit zu tun, dass der einstige Kanon längst mehrfach de- montiert und fragwürdig geworden ist, sondern mit der neuen kompetenzorientierten Lernkultur, die prinzipiell die Auseinandersetzung mit Werken der Kunst und Literatur als ausreichende Zielvorstellung nicht mehr kennen darf.
Kompetenz zielt immer auf ein Können, eine Anwendung, die Lösung eines Problems. Was immer dazu auch eingesetzt wird, an welchen Inhalten dieses Können erworben wird – alles wird in Bezug auf dieses Können notwendigerweise als Mittel zu interpretieren sein, das durch andere, ähnlich funktionale Mittel auch substituiert werden kann. Die literaturbezogenen Kompetenzen des Deutschunterrichts etwa wie Textverständ- nis, Analysefähigkeiten, historisch-systematische Kontextualisierungen, Vergleich unterschiedlicher Schreibstrategien erscheinen als Ziele und Praktiken, die im Umgang mit mehr oder weniger beliebigen Texten erreicht und geübt werden können, und nicht als methodisches Rüstzeug, um jene Texte, die wir für unverzichtbar halten, zu lesen und zu verstehen. Die Frage, welche Bedeutung unter diesen Bedingungen eine literarische Bildung überhaupt noch spielen kann, stellt sich damit in verschärfter Weise.
Literarische Bildung war immer schon umstritten. Die Reduktion auf eine Literaturgeschichte, die sich damit begnügte, Epochen zu konstruieren und ihnen Autoren und Werke beizuordnen, vermochte ebenso wenig zu befriedigen wie das Ler- nen der Inhaltsangaben, wie sie sich in diversen Literaturlexika fanden. Andererseits war der literarisch versierte Mensch nicht nur einer, der in einem bestimmten Segment kultureller Produktion exzellente Kenntnisse aufwies, sondern er galt auch in einem exemplarischen Sinn als gebildet. Belesenheit war ein- mal nahezu ein Synonym für einen avancierten Bildungsanspruch, und dieser wiederum forderte geradezu ein Nahver- hältnis zu ganz bestimmten Büchern und Texten. Belesenheit erschöpfte sich gerade nicht in einer wie immer ausgereiften
und artikulierten Texterschließungskompetenz, sondern verblüffte immer wieder damit, was alles gelesen worden war.
Belesenheit war und ist deshalb eine Provokation. Sie verweist auf ein Privileg: dass es Menschen gibt, die die Zeit ha- ben, sich intensiv mit literarischen Texten zu beschäftigen, ohne dass sie dadurch im Alltag oder in ihrem beruflichen Umfeld wesentlich gewönnen. Den Fall des Literaturwissen- schaftlers, der Lesen zu seiner Profession gemacht hat, wollen wir dabei einmal ausklammern. Jenseits der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Literatur aber besteht die Herausforderung der Belesenheit auch im Anspruch einer bestimmten Quantität. Nach der Lektüre von fünf Romanen und drei Kurzgeschichten ist noch niemand belesen. Natürlich wäre es müßig, darüber zu streiten, ab welcher Anzahl gelesener Bücher jemand als belesen gelten könnte, aber dass es nicht nur einige sind, steht ebenso fest wie die stillschweigende Annahme, dass es nicht beliebige, sondern bestimmte Texte sein müssen. Auch wer alle Romane von Karl May oder Joanne K. Rowling gelesen hat, wird nicht als belesen gelten, auch wenn Belesenheit die Lektüre dieser Autoren nicht ausschließt. Wer es versteht, Winnetou mit Hegel zu verbinden oder Harry Potter mit Martin Heidegger in eine kritische Beziehung zu setzen, kommt der Idee von Belesenheit vielleicht schon näher. Diese selbst aber zehrt von dem Gedanken, dass es Bücher gibt, ohne die die Welt und damit die auf ihr lebenden Menschen in jeder Hinsicht ärmer wären.
Eine Überlegung des Berliner Philosophen Peter Bieri, der unter dem Pseudonym Pascal Mercier auch einige erfolgrei- che Romane wie „Nachtzug nach Lissabon“ geschrieben hat, mag dies verdeutlichen. „Der Gebildete ist ein Leser. Doch es reicht nicht, ein Bücherwurm und Vielwisser zu sein. Es gibt – so paradox es klingt – den ungebildeten Gelehrten. Der Unterschied: Der Gebildete weiß Bücher so zu lesen, dass sie ihn verändern.“3 Lesen vermag deshalb zu einer konstitutiven und nicht nur möglichen Voraussetzung von Bildung zu werden, da die persönlichkeitsformende Kraft von Texten hier unter- stellt wird. Und es geht dabei nicht nur um das Machen jener berühmten Erfahrungen, von denen auch manch kompetenzorientierter Lehrplan spricht; es geht darum, die Erfahrung zu machen, wie man Erfahrungen macht. Noch einmal Bieri:
„Der Leser von Literatur lernt noch etwas anderes: Wie man über das Denken, Wollen und Fühlen von Menschen sprechen kann. Er lernt die Sprache der Seele. Er lernt, dass man der- selben Sache gegenüber anders empfinden kann, als er es ge- wohnt ist. Andere Liebe, anderer Hass. Er lernt neue Wörter und neue Metaphern für seelisches Geschehen. Er kann, weil sein Wortschatz, sein begriffliches Repertoire, größer gewor- den ist, nun nuancierter über sein Erleben reden, und das wiederum ermöglicht ihm, differenzierter zu empfinden.“4 Das Wissen der Literatur enthält, so könnte man sagen, den Umschlag in bestimmte Kompetenzen schon in sich bereit. Frag- lich aber, ob dieses Einfühlen in eine fremde Welt als operationalisierbarer Vorgang gefasst und exakt definiert werden kann. Die Aufforderung mancher Lehrpläne, dass Schüler angesichts der Texte, die sie lesen, ihre Gefühle zeigen sollen, ist vielleicht gut gemeint, verkennt aber, dass ästhetische Bildung über- haupt von Unwägbarkeiten lebt.
In dem Maße, in dem es nicht mehr darum geht, sich durch Literatur zu verändern, sondern Literatur nur als Vorwand zu benutzen, um Kompetenzen zu schulen, ist der literarisch ge- bildete Mensch ein Ärgernis. Er verweist uns immer darauf, was wir nicht gelesen haben, und er lässt uns, ohne dass er dies
wollte, spüren, dass wir mit unseren Kompetenzen nicht weit kommen. Wer über menschliche Gefühle, über Liebe, Hass und Eifersucht differenzierter und nuancierter sprechen kann, weil er Fontane, Flaubert und Proust gelesen hat, widerlegt das Mantra der Kompetenzorientierung in actu. Man kann, hat man diese Bücher nicht gelesen, sich davon nicht dispensie- ren, dass man darauf verweist, problemorientiert Gebrauchs- texte zum Thema Eifersucht – etwa von der Ratgeberseite einer Boulevardzeitung – analysiert und situationsspezifisch ange- wandt zu haben. Das, was an literarischer Bildung provoziert, ist die Tatsache, dass es dabei nicht darum geht, irgendwelche Kompetenzen an relativ beliebigen Texten geschult, sondern genau dieses Buch und kein anderes gelesen zu haben.
Einen Aspekt von Belesenheit unterschlägt Bieri allerdings: dass der literarisch Gebildete nicht nur genauer über Gefühle und Erfahrungen, sondern vor allem auch über das, was er ge- lesen hat, sprechen kann. Man untergräbt den Sinn von Litera- tur, wenn man nicht auch deren Eigensinn bedenkt. Man kann Bücher lesen wollen, weil man sie gelesen haben will. Ob und welche Wirkung diese Lektüren haben, ob und inwieweit man sich dabei verändert, muss letztlich dahingestellt bleiben. Jeder Kanon verwies auch implizit auf diesen Eigenwert eines literarischen Textes. Allein seine Gestalt, seine Besonderheit, seine ästhetische Qualität rechtfertigt seine Lektüre – dazu bedarf es weder der Aktualisierung noch bestimmter Einordnungs- und Verwertungsstrategien, noch der Perspektive, dass man nach dessen Lektüre sich und die Welt besser verstehen werde.
Das Werk – und dies gilt für ästhetische Objekte von Rang schlechthin – stellt durch seine pure Existenz den Grund für seine Rezeption dar. Dass man Goethes „Faust“, Musils „Mann ohne Eigenschaften“ oder Thomas Manns „Zauberberg“ ge-
lesen haben muss, bedarf keiner weiteren Begründung mehr in Hinblick auf deren Funktionalität und Brauchbarkeit. Der verächtliche Hinweis, dass man sich solche Lektüren erspa- ren kann, handelt es sich dabei doch um leeres und totes Bildungsgut, verrät mehr über die Idee von Bildung, als deren Verächtern lieb sein kann. Wohl erschöpft sich diese nicht in der Hingabe an eine Sache um deren selbst willen, aber ohne eine solche Hingabe und der Fähigkeit dazu gäbe es keine Bildung. Keine Schule kann solch eine Hingabe erzwingen. Aber eine Schule, die deren Möglichkeit bestreitet und rigide blockiert, indem sie jedes Stück Literatur, das in ihr noch vor- kommt, auf seine kompetenzstrategische Verwertbarkeit befragt, ist barbarisch.
Literarische Bildung lebt von der Fiktion, dass es Bücher gibt, deren Lektüre uns verändern kann, und dass dies nicht nur an uns, unserer Disposition und unserer Situation liegt, sondern auch an genau diesen Büchern. Nur solch ein Denken legitimiert einen Kanon, und nur ein Kanon, wie um- stritten und veränderbar er auch immer sein mag, gibt eine Orientierung für das, was wir literarische Bildung nennen kön- nen. Allerdings gehört auch zu dieser Bildung: Je mehr ich gelesen habe, desto klarer wird das Wissen und Bewusstsein da- von, was ich alles nicht gelesen habe und was ich vielleicht nie lesen werde. Der Habitus des Belesenen widerspricht so prinzipiell der Arroganz des vermeintlichen Bildungsbürgers, der mit aus den Zusammenhängen gerissenen Zitaten hausieren ging, ebenso wie dem auftrumpfenden Gebaren digitaler Omnipotenzphantasien, die suggerieren, alles im Griff zu haben und überall Bescheid zu wissen, weil ein Smartphone in der Nähe ist.
Die Provokation literarischer Bildung besteht nicht zuletzt
in der persönlichkeitsverändernden Kraft der Literatur, die unmerklich vonstattengeht, keinen Zielvorstellungen folgt, nicht operationalisierbar und deshalb auch nicht kontrollierbar und prüfbar ist. Dass es eine Form der Bildung gibt, die sich dem Zugriff der qualitätssichernden Behörden entzieht, weil sie sich aus einer informellen Beziehung zwischen Schüler und Lehrer entspinnen mag, kratzt an all jenen Quantifizierungs- und Messbarkeitschimären, ohne die die gegenwärtige Bildungsforschung ebenso wenig auszukommen glaubt wie die Bildungsorganisation.
Der Anspruch literarischer Bildung ist auch aus einem an- deren Grund eine Provokation: Er widerspricht einem Prinzip von Chancengerechtigkeit, das auf Erfolgsgleichheit abzielt. Literarische Erfahrungen können, wie jede authentische Form von Bildung, von Bildungseinrichtungen zwar ermöglicht und erleichtert, aber nicht erzwungen und auch nicht überprüft werden. Lesen ist ein einsames Geschäft, und welche formenden Auswirkungen eine Lektüre auf den Entwicklungs- und Bildungsprozess eines Menschen hat, welches Interesse da- durch angestachelt, welches vielleicht sabotiert werden kann, lässt sich weder planen noch prognostizieren. Literarische Bil- dung widerspricht auch deshalb dem pädagogischen Zeit- geist, weil der Anspruch, sie in Unterrichtsprozessen zu gestalten, stets klarmacht: Dieser Unterricht kann letztlich nur für Einzelne stattfinden. Man kann die Auseinandersetzung mit und die Aneignung von Literatur nicht erzwingen, man kann nur den Boden dafür bereiten. Allein die Verkaufszahlen von Büchern zeigen, dass Lesen, in all seinen Varianten, das geblie- ben ist, was es immer war: ein Minderheitenprogramm. Wie jede Minderheit verdiente aber auch die der Lesenden einen besonderen Schutz. Die Zeiten und die Milieus, in denen man
durch das Aufzählen von Autorennamen und Buchtiteln einen sozialen Distinktionsgewinn verbuchen konnte, sind längst vorbei.
Tatsächlich aber vollzieht sich in der aktuellen Bildungs- reform jene Tendenz, die Heinz-Joachim Heydorn schon vor Jahrzehnten einem reformorientierten Bildungsbegriff, der auf die Beseitigung sozialer Bildungsprivilegien abzielte, zum Vorwurf gemacht hatte: „So setzt sich diese Bildung auch von der Literatur ab, der Tradition folgend, daß die literarische Bildung bei den Massen nichts zu suchen hat; jetzt sind nur noch Mas- sen übrig. War diese Bildung früher den herrschenden Klassen allein überlassen, so wird sie nunmehr zurückgewiesen, weil es sich bei ihr um die Bildung der früheren Oberklasse handelt, weil sie eine ›schichtenspezifisch beschränkte Auswahl der In- halte‹ bietet. Ein demokratischer Vorgang; was früher nur die oberen Zehntausend lesen durften, darf jetzt niemand mehr lesen. Ungleichheit für alle.“5 Im Gegensatz zu einem Glau- benssatz aktueller Bildungspolitik, dass Bildung soziale Diffe- renzen ausgleichen und damit verbundene Nachteile kompen- sieren sollte, verweist das Konzept der literarischen Bildung darauf, dass dies, wenn überhaupt, nicht als soziales Projekt, sondern nur als individueller Akt möglich ist. Dem zu entgehen, indem man die Literatur aus den Lehrplänen streicht, zeugt nicht nur von Unbildung, sondern zeigt auch, dass diese unmittelbar eine Konsequenz von Gerechtigkeitsvorstellungen sein kann, die bei aller verbalen Glorifizierung der Individuali- sierung des Unterrichts das Individuum und seinen Eigensinn am liebsten durchstreichen möchten.
Literatur aber hat eine Gestalt. Sie erscheint in der Form des Buches. Lesen als avancierte kulturelle Praxis ist ohne das Buch nicht denkbar. Die aktuell forciert betriebene Digitalisierung von Schulen und Universitäten, die sich alles Heil von Geräten und nicht von Ideen erwartet, verhindert in gro- ßem Maßstab die Entwicklung jedes Interesses für die Lite- ratur. Denn um dieses zu wecken, bedarf es keiner digitalen Endgeräte, keiner Apps und schon gar keiner Programmierkenntnisse. Die Auseinandersetzung mit einem Buch lässt sich auch nicht durch eine rasche Internet-Recherche substituieren. Belesenheit ist auch deshalb eine Provokation, weil sie, letztlich als Summe vielfältiger Lektüreerfahrungen, die ihre Spuren im Leben eines Menschen hinterlassen haben, quer steht zur Ideologie der raschen Verfügbarkeit aller Informationen. Das Inter- esse für Literatur wird geweckt, wenn man im richtigen Moment das richtige Buch in die Hand gedrückt bekommt und sich dadurch die Chance eröffnet, zu einem Leser zu werden.
Solche Momente und solche Bücher böten durchaus Chan- cen für die Weiterentwicklung unserer Gesellschaft. Ein „Zurück zur Literatur“ kann sich nicht in Nostalgie, Kulturpessi- mismus und Verlustanzeigen erschöpfen.6 Es gibt Bücher, die es sich zu lesen lohnt, weil sie, aus welcher Zeit sie auch stam- men, wesentlich mit unserem Leben und unseren aktuellen politischen Fragen zu tun haben. So könnte man die These riskieren, dass eine fundierte literarische Bildung mehr zu einem europäischen Bewusstsein und zu einer europäischen Perspektive beitragen könnte als der Bologna-Prozess und seine überbordende Bürokratie. Europa war der Kontinent der großen Erzählungen, und nach dem Ende dieser Erzählun- gen ist Europa selbst zum letzten dieser Narrative geworden. Was spräche dagegen, einen Kanon der europäischen Litera- tur zu skizzieren und dessen Lektüre allen höheren Schulen in Europa zu empfehlen?
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