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Bis ans Ende der Welt und zu mir selbstBis ans Ende der Welt und zu mir selbst

Bis ans Ende der Welt und zu mir selbst Bis ans Ende der Welt und zu mir selbst - eBook-Ausgabe

Robby Clemens
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Zu Fuß vom Nordpol Richtung Südpol

„Man kann das Buch als Abenteuergeschichte lesen, aber auch als eine Geschichte, wie man sich selbst verwirklicht.“ - Freie Presse

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Bis ans Ende der Welt und zu mir selbst — Inhalt

Die halbe Welt in den Beinen

Der „deutsche Forrest Gump“ (FOCUS online) auf seinem größten Abenteuer

Ein Traum wird wahr: 23000 Kilometer, 611 Tage, 15 Länder. Der passionierte Läufer Robby Clemens bricht im April 2017 bei minus 45 Grad vom Nordpol Richtung Südpol auf. Seine Route führt ihn durch die Wildnis Kanadas über die Wüsten Mexikos und das peruanische Hochland bis nach Patagonien. Und am Tor zur Antarktis muss er sich entscheiden, ob er sein Ziel um jeden Preis erreichen will … Denn nicht die Jagd nach Rekorden, sondern die Begegnungen mit den Menschen treiben ihn an. Er möchte ihnen zeigen, warum Laufen die beste Art der Fortbewegung ist – und davon berichten, wie es ihn gerettet hat, als er alkoholabhängig und völlig bankrott am Abgrund stand. Ein hoch emotionales Abenteuer, das zeigt, wie Laufen das Leben verändern kann.

€ 20,00 [D], € 20,60 [A]
Erschienen am 04.11.2019
Mitautor: Nils Straatmann
272 Seiten, Klappenbroschur
EAN 978-3-89029-529-9
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€ 9,99 [D], € 9,99 [A]
Erschienen am 04.11.2019
Mitautor: Nils Straatmann
272 Seiten
EAN 978-3-492-99522-1
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Leseprobe zu „Bis ans Ende der Welt und zu mir selbst“

Prolog
Ich sitze in einer Bar am Ende der Welt. Es ist kalt draußen, obwohl Frühling herrscht, Wind pfeift durch die Gassen. Mit etwas Anlauf könnte ich von hier in die Magellanstraße springen, die das südamerikanische Festland begrenzt.
Ein Sonnenstrahl fällt durchs Fenster herein und trifft auf die raue Haut meiner Hände. Es ist noch hell, obwohl es spät ist, ein Zeichen für den kommenden Sommer. Die Pinguine sollen bereits auf die Inseln zurückgekehrt sein. Als ich vorhin im Bad war, fiel mir auf, wie lang mein Haar geworden ist. Wie zerzaust. Graue [...]

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Prolog
Ich sitze in einer Bar am Ende der Welt. Es ist kalt draußen, obwohl Frühling herrscht, Wind pfeift durch die Gassen. Mit etwas Anlauf könnte ich von hier in die Magellanstraße springen, die das südamerikanische Festland begrenzt.
Ein Sonnenstrahl fällt durchs Fenster herein und trifft auf die raue Haut meiner Hände. Es ist noch hell, obwohl es spät ist, ein Zeichen für den kommenden Sommer. Die Pinguine sollen bereits auf die Inseln zurückgekehrt sein. Als ich vorhin im Bad war, fiel mir auf, wie lang mein Haar geworden ist. Wie zerzaust. Graue Strähnen verstecken sich darin. Mein Bart sieht ähnlich aus. Wenn ich die Beine unter dem Tisch ausstrecke, höre ich ein Knacken im linken Knie. Eigentlich ist es unvorstellbar, dass ich hier sitze. Hier, am Ende der Welt.
Fast zwei Jahre lang bin ich gelaufen. Über 23 000 Kilometer, vom Nordpol immer gen Süden. Und nun bin ich hier, an der Schwelle zur Antarktis. Ich habe 15 Länder durchquert. Wüsten, Dschungel und Gebirge. Ich habe Erfahrungen gemacht, die du nur machst, wenn du zu Fuß unterwegs bist, bin Menschen begegnet, die du nur triffst, wo kein Auto mehr fährt. Keine Ahnung, wie viele Blasen ich mir gelaufen habe. Keine Ahnung, wie viele Paar Schuhe ich verschlissen habe. Es war ein weiter Weg bis hierher. Und damit meine ich nicht nur die Kilometer, die ich zurückgelegt habe.
Vor ein paar Jahren habe ich noch gesoffen. Es gibt dieses Sprichwort, Saufen sei eine Kunst, aber das ist Mist. Saufen ist eine Suche. Es ist verrückt, was du am Grund eines Bierglases finden kannst. Ich habe mich wirklich damit beschäftigt, ganz tief hineingeschaut, jahrelang. Ich war Mitte dreißig damals. Ich rauchte drei bis vier Packungen Zigaretten am Tag, ich wog 125 Kilo, und ich fand alles im Glas. Alles, außer Auswege. Das war ich früher.
Das Problem ist: Wenn du ein Glas ausgetrunken hast, kannst du für gewöhnlich hindurchsehen. Aber du erkennst nichts, weil alles verschwommen ist. Deshalb braucht es andere Menschen, die dir sagen, was sich hinter dem Glas befindet. Bei mir war es ein Freund, der mich darauf aufmerksam machte. Er stellte mich vor die Wahl: aufstehen oder draufgehen. Er zeigte mir ein Paar Laufschuhe. Die haben mich gerettet.
Für alles braucht es einen ersten Schritt. In meinem Fall folgten glücklicherweise viele weitere.


1 Nordpol
Schinken und erfrorene Finger

Auszug aus meinen Notizen, 7. April 2017, Barneo, Polarkreis
Das Abenteuer meines Lebens – vom Nordpol zum Südpol zu Fuß! Endlich geht es los, ich könnte heulen vor Glück!
Es ist unglaublich, wie viel gute und herzliche Wünsche mich in den letzten Tagen erreicht haben. Ich freue mich, solch tolle und liebe Menschen zu kennen. Ich weiß, was für ein Privileg das ist, das alles hier.
Nach meinem tiefen Fall vor zwanzig Jahren begann ich mit dem Joggen. Ich schaffte damals kaum 200 Meter. Und nun verwirkliche ich mir diesen grandiosen Traum: 15 Länder, 14 Grenzen – und auch für mich jeden Tag eine neue.
Ich kann mit Worten überhaupt nicht ausdrücken, welch Dankbarkeit ich gegenüber meiner Familie empfinde. Die all das toleriert und mich gleichzeitig mit größter Freude unterstützt. Auch weil ich mich kenne und weiß, dass ich alles, wirklich alles einsetzen werde, um mein Ziel zu erreichen.
Denn ich laufe nicht nur für mich. Ich laufe für all jene, die schon mal gefallen sind. Ich möchte Hoffnung geben, so wie mir das Laufen Hoffnung gab. Ich sitze hier an einem kleinen Schreibtisch vor einem beschlagenen Fenster und schaue ins Nichts. Ich habe Gänsehaut und Tränen in den Augen. Morgen geht es los …

Am 8. April 2017 startete ich meine Reise mit der Teilnahme am 15. Nordpol-Marathon: 42,195 Kilometer, minus 43 Grad Celsius, auf einer Eisscholle. Wahnsinn. Das Rennen war um die Jahrtausendwende von einem verrückten Iren namens Richard Donovan ins Leben gerufen worden. Damals lief er noch allein. In diesem Jahr waren 55 Teilnehmer am Start. Läuferinnen und Läufer aus zwanzig verschiedenen Ländern von überall auf dem Globus. Mich hatte es aus Sachsen-Anhalt hierherverschlagen. Für viele war dieser Marathon der krönende Abschluss eines langen Wegs, die Verwirklichung eines Traums. Für mich sollte es der Beginn des wohl wundersamsten Abenteuers sein, auf das ich mich je begeben würde.
Die Idee zu diesem Lauf kam mir vor ungefähr elf Jahren. Es gibt ja dieses Lied von Frank Schöbel: „Ich geh vom Nordpol zum Südpol zu Fuß“. Ich saß gerade in unserem silbernen Opel Zafira, auf der Landstraße zwischen Halle und Großkorbetha, und hing meinen Gedanken nach. Ein paar Monate vorher hatte ich ein anderes großes Laufprojekt abgeschlossen, und nun befand ich mich in einem psychischen Tief, weil ich mich nicht darauf vorbereitet hatte, was geschehen würde, nachdem ich diesen Lauf beendet hatte. „Laufen ist einfach“, hat irgendwer mal gesagt. „Nur das Ankommen ist schwer.“ Ich passierte just die blinkenden Türme der Chemiewerke von Leuna, als plötzlich Frank Schöbels Stimme an mein Ohr drang: „Wenn mich kein Flugzeug fliegt, wenn mich kein Zug mehr fährt, dann werde ich laufen, du bist den Weg schon wert. … Ich geh vom Nordpol zum Südpol zu Fuß für einen Kuss von dir.“ Und das war’s. Meine Krise war vorbei, stattdessen saß da ein Floh in meinem Ohr. Ich wusste, worauf ich in den nächsten Jahren hinarbeiten wollte. Die ganze Kuss-Sache war mir egal. Aber die Strecke, die ließ mich nicht mehr los.

Wenn ich an die ersten Kilometer der Nordpol-Marathons zurückdenke, bin ich noch immer zutiefst beeindruckt von der Szenerie. Man sagt ja, dass weißes Licht alle Farben beinhaltet. Als ich bei meiner Ankunft aus dem Flugzeug stieg, konnte ich rein gar nichts erkennen. Ich war schlichtweg geblendet. Aber nachdem ich mich akklimatisiert, ein paar Runden auf der Strecke gedreht hatte, kam es mir so vor, als wüsste ich, was das mit dem Licht bedeutete. Ich hatte das Gefühl, als sähe ich jede einzelne Schattierung im Schnee, all die verschiedenen Farbtöne, die reflektiert wurden. Ich meinte die kleinsten Nuancen im Weiß zu erkennen, ganze Regenbögen in einer einzelnen Schneeflocke. Dazu nichts als der Wind in den Ohren und das ewige Knirschen meiner Schritte. Eine tiefere Meditation, ein tieferes Zu-sich-Kommen konnte ich mir nicht vorstellen. Von den anderen Läufern bekam ich nicht viel mit. Mal überholte ich jemanden, mal wurde ich überholt, aber mehr als ein paar vom Wind verschluckte Worte wurden nicht gewechselt. Zu sehr war jeder mit sich selbst beschäftigt.
Knapp zehn Stunden brachte ich auf der Strecke zu. Hin und wieder zwickte etwas im Knöchel, ein Stechen im Knie, ein gesteigertes Pochen in den Oberschenkeln – doch in den meisten Phasen hatte ich das Gefühl, als liefe mein Körper von allein. Die Füße bewegten sich selbstständig vorwärts, die Arme schwangen im Rhythmus, nur der Kopf war ganz woanders. Ich konnte noch mal alles durchgehen, was in den nächsten Monaten auf mich zukommen würde. Hatte ich an alles gedacht? Waren alle Visa bestätigt, hatte ich genügend Socken, genügend Laufschuhe dabei? Zwei Jahre lang würde ich zwei Kontinente durchlaufen. Über die endlosen Straßen der USA, durch die feuchte Hitze Nicaraguas, entlang der trockenen Wüsten im Norden Chiles. Ich musste unweigerlich schmunzeln. An Wüsten zu denken, hier, mitten in der Arktis! Der Nordpol-Marathon, das wusste ich jetzt schon, würde beileibe nicht der anstrengendste, nicht der gefährlichste Teil meiner Reise sein. Auf der Strecke war alles abgesichert: Es gab eine medizinische Notfallversorgung, Streckenposten, Personal, das uns mit Essen und Getränken versorgte, und für den schlimmsten Fall stand immer ein Hubschrauber bereit. In den kommenden Monaten würde mein Luxus- und Sicherheitsniveau deutlich sinken. Bereits in ein paar Tagen, wenn ich von Kangerlussuaq an der Westküste Grönlands auf die Ostseite der Insel wandern wollte, Hunderte Kilometer durchs ewige Eis, würde ich mir vermutlich jeden einzelnen Streckenposten der Welt wünschen.
Allein schon den Nordpol-Marathon überstanden nicht alle von uns unbeschadet. Einige Läufer hatten sich ziemlich schlimme Erfrierungen zugezogen, schwarze Zehen, blaue Finger und so weiter. Im Eis bemerkt man so etwas nicht, alles ist gleichzeitig taub und tut weh. Bei mir hatte es zum Glück nur die Nase erwischt. Ein bisschen rot und ziemlich schmerzhaft. Nichts, was ewig bleiben würde.
Ich weiß nicht mehr, ob ich weinte, als ich die Ziellinie überquerte. Durchaus vorstellbar. Auf jeden Fall wischte ich mir einen dicken Eiszapfen von der Nase. Ich war so glücklich! Ich riss die Arme in die Höhe und schrie, so laut ich konnte. Alle Schmerzen waren wie vergessen, alle Ängste sowieso, es gab nur noch die Freude über diesen ersten großen Erfolg.

Meinen ersten Marathon lief ich fast zwanzig Jahre früher. 1998, zwei Runden um den Hohenmölsener Sportplatz, 800 Meter. Es war nicht ganz die volle Marathondistanz – aber in Hinblick auf Erschöpfung und Glücksmoment war es dasselbe Gefühl. Tagelang hatte ich an der magischen 800-Meter-Marke gekratzt, hatte alle Energie in den Lauf gelegt, aber jedes Mal wieder vollkommen erschöpft kurz vor dem Ziel aufgeben müssen. Doch schließlich, in einem für mich damals übermenschlichen Kraftakt im siebten oder achten Anlauf, überquerte ich die selbst gemalte Ziellinie. Ich ließ einen Jubelruf ertönen, der voller Inbrunst war und doch viel leiser, als ich es mir gewünscht hatte. Ich sank auf die Knie. Meine Beine würden mich nie wieder tragen können, da war ich mir sicher. Und gleichzeitig fühlte ich mich wie elektrisiert. Ein breites Grinsen zierte mein Gesicht. Mein Brustkorb hob und senkte sich, ich hörte ein Klacken, in einem der umliegenden Häuserblöcke wurde ein Fenster geöffnet. Ein älterer Herr streckte den Kopf heraus. „Lauf, Robby, lauf!“, rief er mir zu – und applaudierte.

Nachdem alle Läufer am Nordpol das Ziel erreicht hatten, kehrten wir nach Barneo zurück, wo sich unsere Unterkünfte befanden. Barneo ist eine russische Forschungsstation, die auf einer riesigen Eisscholle um den Nordpol treibt. Sie wird nur temporär, für gewöhnlich nur einmal im Jahr zwischen April und Mai aufgebaut. Davor ist es zu kalt und dunkel in der Region, um ein Leben und Arbeiten zu ermöglich – während schon kurz danach mit starker Sonneneinstrahlung und damit verbundenem Schmelzwasser gerechnet werden muss, die das Camp und die Arbeiter gefährden. Daher werden im jährlichen Rhythmus immer wieder Planierraupen und Zelte per Fallschirm aufs Eis abgeworfen, Labore errichtet und bezogen, nur um sie dann pünktlich ein paar Wochen später wieder abzubauen und zu verstauen.
Barneo wirkte auf mich wie eine beheizte Stoffsiedlung für Forscher und Verrückte. Nach der Einsamkeit am Nordpol kam es mir hier vor wie in New York. Im Hauptzelt hatte man ein Festmahl aus Dosenfutter für uns hergerichtet, auch getrunken wurde nicht schlecht. Ich hielt mich natürlich zurück. Nicht nur wegen meiner ehemaligen Sucht, auch weil ich den Gang zu den Toiletten fürchtete: einfache, schlecht isolierte Container, 20 Meter von den Zelten entfernt. Mich trieb die Angst um, dass mir dort nicht nur die Finger absterben würden. Oder dass der Strahl auf dem Weg ins Becken gefror. Haben wir doch alle schon gesehen, so vereiste Wasserfälle.

Ein paar Tage später saß ich bereits im Flugzeug nach Kangerlussuaq, wo meine eigentliche Reise beginnen sollte. Das kleine Holz-und-Wellblech-Dorf auf Grönland war 1941 als US-Armeestützpunkt errichtet worden, zudem waren von hier aus Ende der Vierzigerjahre die Rosinenbomber während der Berlin-Blockade Richtung Tegel gestartet. Noch immer konnte man zwischen den alten Steinen Reminiszenzen an den Zweiten Weltkrieg und den anschließenden Kalten Krieg entdecken. An jeder zweiten Ecke lagen Granaten herum. Entschärft natürlich, ohne Zündstoff, aber martialisch anzusehen.
Befestigte Straßen gab es in Kangerlussuaq kaum. Immerhin existierte eine Hundeschlittenstrecke in den nächsten Ort, der 170 Kilometer entfernt lag. VW hatte hier eine Zeit lang seine Autos getestet. Fernab von allen Spionen und in direkter Nähe zum ewigen Eis. Perfekte Bedingungen.
Von Kangerlussuaq aus wollte ich gemeinsam mit zwei Guides und ein paar abenteuerlustigen Mitstreitern das Inlandeis durchqueren: 600 Kilometer von West nach Ost bis nach Isortoq, eine kleine Fischersiedlung an der Ostküste. Von dort hatte ich vor, nach Montreal zu fliegen, um meinen Weg fortzusetzen. Anders war die Route leider nicht möglich, denn die Labradorsee zwischen Grönland und Neufundland oder die legendäre Nordwestpassage konnte ich nicht durchschwimmen. Sie war neben dem Darién Gap zwischen Kolumbien und Panama und der Drake-Passage zwischen Südamerika und der Antarktis einer der drei Abschnitte auf meiner Reise, die ich nicht zu Fuß bewältigen konnte.
Ich nutzte die wenigen Tage, bevor wir aufbrechen wollten, um mich fit zu halten. Allein war die Strecke unmöglich zu schaffen, aber auch mit unseren Guides würde es kein Spaziergang werden. Zudem musste ich meine Ausrüstung planen. Für mehrere Wochen würde ich hinter einer weißen Wand verschwinden, angewiesen einzig auf meine Skier und den Inhalt zweier Polarschlitten, Pulkas genannt, die jeder von uns hinter sich herziehen musste. Während am Nordpol noch eine Piste für uns planiert worden war, auf der wir mit Spikes gejoggt waren, könnten wir uns hier nicht ohne Hilfsmittel fortbewegen. Die Schlitten würden unser Zuhause auf Kufen sein: Nahrung, Schlafzelt, Kocher, Klamotten, alles musste darin verstaut werden. Auch Sebastian und Bard, unsere Guides, verlangten, einen Blick auf unser Gepäck zu werfen. Sie kontrollierten nicht nur, was uns an Ausrüstung fehlte, sondern vor allem, was verzichtbar war. Jedes Schlittenpaar würde insgesamt um die 100 Kilo wiegen. Jedes Gramm zu viel würden wir bereuen.
Als wir uns drei Tage später zum Start versammelten, waren wir außerordentlich nervös. Alle liefen aufgeregt hin und her, alberten herum, lachten wie am ersten Schultag. Auch mit entsprechend Pipi in der Hose. Wir wussten, dass der Verlauf der kommenden Wochen unvorhersehbar war, selbst für Sebastian und Bard. Der unsicherste Faktor würde das Wetter sein. Dazu kamen versteckte Anhöhen, Gletscherspalten, Schmelzwasserseen, wilde Tiere. Unser Team bestand aus den verschiedensten Typen von Abenteurern: Bergsteigern, Nordlichtern, Skiguides. Acht Männer, eine Frau aus sechs verschiedenen Nationen.
Da waren Kieran und Ginny aus England, zwei langjährige Freunde auf der Suche nach sportlichen Herausforderungen. Vor Ginny hatte ich Riesenrespekt: nicht nur wegen der Anstrengungen der Reise, auch aufgrund der Intimität, der sie sich uns Männern gegenüber aussetzen musste. Auf so einer Tour gibt es ja keine Privatsphäre. Weder beim allmorgendlichen „Duschen“ noch beim großen oder kleinen Geschäft.
José aus Portugal war Skilehrer. Ein Casanova, wie er im Buche steht. Er war unser Kameramann; sobald es etwas zu filmen gab, hielt er drauf. Er teilte sich das Zelt mit Rob, einem Iren, den wir nur den „Bullen“ nannten. Wann immer wir schwierige Stücke zu bewältigen hatten, wann immer es etwas zu pullen gab, war er zur Stelle. Er schnaufte dann und dampfte und zog mit der unbändigen Kraft eines Hochlandrinds.
Piotr aus Polen hatte die Seven Summits, die jeweils höchsten Berge der sieben Kontinente, bestiegen. Und irgendwie hatte er es auch geschafft, einen Schinken in sein Gepäck zu schmuggeln. Als Sebastian und Bard davon Wind bekamen, fluchten sie wild und bauten sich vor Piotr auf. „Was ist denn mit dir los?“, rief Sebastian. „Du findest das vielleicht witzig, dir schmeckt dieser Schinken sicher klasse, aber wir sind hier auf keiner Gourmet-Tour! Eigentlich müssten wir dich und deinen Schinken direkt zurückschicken! Du kannst von mir aus essen, was du willst, aber wenn du schlappmachst, gefährdest du die ganze Tour. Wir sind hier alle verdammt noch mal aufeinander angewiesen!“ Wir anderen schauten nur betreten zu Boden. Genau wie Piotr. Der Arme, ich hatte Mitleid mit ihm, er hatte es doch nicht böse gemeint. Schließlich ließen wir den Schinken auch nicht zurück. Ich glaube, es ging den Guides weniger um das unnötige Gewicht als um das gebrochene Vertrauen. Die Moral der Truppe stand für sie an höchster Stelle. Sie dachten sich individuelle Spitznamen für uns aus, um kleine Running Gags landen zu können – mich nannten sie Forrest, nachdem sie von meinem Vorhaben gehört hatten –, und wann immer es etwas zu feiern gab, wenn wir zum Beispiel eine runde Zahl auf dem Kilometerzähler hatten oder unser GPS-Sender einen neuen Längengrad anzeigte, machte Bard für uns Flickflacks im Eis. Selbst Sebastian applaudierte dann freundlich und grinste, obwohl er es wahrscheinlich schon Hunderte Male gesehen hatte. Und wenn wir dann abends an unseren Kochern saßen und Piotr seinen Schinken hervorholte, griffen auch sie dankbar zu. „Wir müssen ja irgendwie das Gewicht vernichten!“, redete Sebastian sich heraus.
Streng waren sie nur, sobald es um unsere Verlässlichkeit ging. Zum Ende einer jeden Pause zählten sie die Sekunden herunter: Eine halbe Minute vor der ausgemachten Abmarschzeit gaben sie uns ein Zeichen, ab zehn Sekunden zählten sie rückwärts mit. Und wer bei null nicht auf seinem Platz war, konnte sich auf etwas gefasst machen. Die Kameradschaft hier funktionierte nur über Disziplin: Ohne Disziplin konnte es schnell zu Unzufriedenheit kommen und so zu Streit. War jemand ein paar Sekunden oder gar Minuten zu spät an seinem Platz, mussten die anderen in dieser Zeit frieren. Das war ungerecht. Daher durfte es nicht vorkommen.
Ich selbst teilte mir mein Zelt mit André: einem Deutschen, der seit zwölf Jahren in Norwegen lebte und wie ich Installateur gelernt hatte. Es mag blöd klingen, sich mitten in einer weißen Einöde über Gas- und Wasseranschlüsse auszutauschen, aber für uns war es der beste Weg, um einander näherzukommen.
Als ich gleich am zweiten Tag an einem steilen Hang Probleme mit meinen Pulkas bekam, sprang André mir kurzerhand zur Seite: „Heute helf ich dir, morgen hilfst du mir!“, knurrte er knapp und warf sich entschlossen neben mir ins Seil. Wir pullten gemeinsam, Seite an Seite, und binnen kürzester Zeit hatten wir den Schlitten über die Anhöhe gehievt. Ich wollte mich bei ihm für die Hilfe bedanken, doch bevor ich ansetzen konnte, nickte er nur mit festem Blick und wandte sich zum Rest der Gruppe, um zu ihr aufzuschließen.
Diese Situation bringt ziemlich genau auf den Punkt, welche Stimmung unter uns herrschte. Beim Marathon läufst du immer gegeneinander. Doch auf dieser Tour spürte ich vom ersten Moment an ein Zusammengehörigkeitsgefühl, das ich in dieser Intensität noch nie erlebt hatte. Als wollten wir alle beweisen, dass man die schwierigsten Situationen über Nationengrenzen hinweg meistern kann. Es war ganz egal, woher wir kamen, denn wir hatten das gleiche Ziel. Dort, wo es keine Grenzen gab, waren keine Grenzen wichtig.

Während bereits die ersten Tage unserer Grönland-Durchquerung jeden von uns mindestens einmal an seine physischen und psychischen Grenzen gebracht hatten, hatten wir uns nach etwa einer Woche an die Belastung gewöhnt. Die vom Geschirr der Schlitten aufgeriebenen Schultern spürten wir fast nicht mehr, der Rhythmus der Tage war immer derselbe, lediglich das Wetter und versteckte Anstiege brachten uns in Verlegenheit.
Ein einziges Mal kamen wir an einem Zeugnis der Zivilisation vorbei: einer ehemaligen Funkstation der USA, ebenfalls ein Relikt des Kalten Krieges, seit fast dreißig Jahren verlassen. Drinnen fanden wir alte Magazine, Comics und Illustrierte aus den 80ern, selbst Bier und Trockenfleisch lagen noch im Kühlschrank. Als hätte man den Ort damals Hals über Kopf verlassen. Die Sendemasten draußen waren mit Schneewehen und Eiszapfen verziert. Ich hätte gerne ein paar davon abgerissen und sie Rob als Hörner aufgesetzt.
Eines Tages, wir waren sicher schon zwei Wochen unterwegs, blieb Ginny an der Spitze unseres Zuges jäh stehen. Wir teilten uns stets die Führung der Gruppe, jeder hatte mal vorne zu laufen, damit die erhöhte Anstrengung möglichst gleichmäßig auf alle Beine verteilt wurde.
„Halt!“, rief sie auf Englisch. „Hier ist etwas.“ Ich schaute mich verwundert um. Wir waren mitten im Nirgendwo, was sollte hier schon sein?
„Eine Fährte!“, fügte Ginny aufgeregt hinzu. Schon schoss Sebastian an uns vorbei zu ihr. Er brauchte sich nicht niederzuknien, um die Abdrücke im Schnee zu erkennen. Walnussgroße Pfoten mit kirschgroßen Ballen, vier Zehen, die Krallen gut zu erkennen.
„Ein Polarfuchs!“, rief Sebastian mit leichtem Grinsen. „Er läuft uns schon mal voraus!“
Plötzlich waren wir alle total aufgeregt. Ein Polarfuchs war kein besonders ungewöhnliches Tier in dieser Gegend, er war nicht gefährlich für uns und wahrscheinlich schon über alle Berge, aber es war eben das erste Anzeichen eines Lebewesens seit gut einer Woche. Wir fragten uns, wo er hier lebte. Wovon er hier lebte. Wie er hier leben konnte. Für die nächsten Stunden sprachen wir kaum über etwas anderes.
Tags darauf verwandelte sich die Aufregung allerdings schnell in ein mulmiges Gefühl, denn Piotr entdeckte eine Eisbärenspur. Die Abdrücke waren viel grobschlächtiger als die des Fuchses, richtige Pranken, das mächtige Gewicht des Tieres an der Tiefe der Spuren zu erahnen. Wo uns gestern noch ein Hochgefühl getragen hatte, fuhr uns jetzt ein Schreck in die Knochen. Wir alle brannten darauf, ein so erhabenes Tier in freier Wildbahn zu sehen – und gleichzeitig wollten wir liebend gern darauf verzichten. Weniger aus Sorge um uns selbst, denn unsere Guides waren für solche Situationen entsprechend geschult und ausgerüstet, als vielmehr, weil niemand von uns seine Hand gegen diese majestätischen Jäger erheben wollte. Bard übernahm kurzerhand die Führung der Gruppe. Sebastian bildete den Schluss. So liefen wir mit geschärften Sinnen dahin und hofften, dass jeder von uns, er und wir, still und schweigend seiner Wege gehen würde.

Außer uns wussten wir von zwei Expeditionen, die zeitgleich in Richtung Isortoq unterwegs waren. Fast täglich hörten wir nun Hubschrauber, mit denen Abenteurer ausgeflogen wurden, die es kräftemäßig oder nervlich nicht mehr ausgehalten hatten. Für uns war es Beruhigung und Warnung zugleich, denn keiner war bereit, sich eine Niederlage einzugestehen. Abends saßen wir an unseren Kochern und waren froh, wieder einen neuen Tag gemeistert zu haben. Unsere Nahrung bestand neben speziellen Suppen und Nahrungsergänzungsmitteln überwiegend aus Chips und Schokolade. Eigentlich die perfekte Kombination für einen Samstagabend auf der Couch, für uns aber vor allem zuverlässige Lieferanten von schnell zu verarbeitenden Kohlenhydraten und reichlich Kalorien. Jeden Tag aufs Neue stopften wir uns damit voll – und trotzdem war nicht zu übersehen, dass wir jeden Tag ein paar Gramm abnahmen.
Es hört sich vielleicht merkwürdig an, aber was mich in dieser Zeit am meisten schlauchte, waren genau jene Erholungsphasen. Tag für Tag schmolzen sie auf ein Minimum zusammen. Kaum hatte ich mich entspannt, da hörte ich schon wieder Sebastians Stimme: „Achtung: dreißig Sekunden!“ Jeden Abend, wenn wir vollkommen erschöpft den Tag ausklingen lassen wollten, mussten wir zunächst unser Lager aufbauen, uns auf engstem Raum umziehen, Schnee schmelzen, die Kocher bemühen. Das dauerte in der Regel etwa eine Stunde. Und am folgenden Morgen war es das Gleiche. Auf mich wirkte das, als würde ich mich den ganzen Tag auf ein Candle-Light-Dinner mit meiner Liebsten freuen, nur um dann zu erfahren, dass wir das Restaurant, in dem wir reserviert hatten, erst noch bauen mussten. Selbst der Toilettengang wurde hier zum Problem. Bis man sich seiner Scham entsprechend weit genug von der Gruppe entfernt hatte, seine verschiedenen Schichten an Kleidung heruntergezogen und sich unter höchstem Einsatz von Geschicklichkeit in das zuvor gegrabene Loch im Schnee gehockt hatte, waren die Finger und der Hintern schon halb erfroren. Ich musste an die Toiletten von Barneo denken – ein unvorstellbarer Luxus dagegen.

All dies waren Dinge, auf die ich mich in Deutschland nicht hatte vorbereiten können. Die Kälte, die Unbequemlichkeit, die zunehmende mentale Erschöpfung, das alles waren Umstände, die nicht zu imitieren gewesen waren. Ungefähr sechs Jahre vor Beginn meiner Reise hatte ich angefangen, mich auch körperlich auf die Tour einzustellen. Es ging erst mal nicht darum, meine Leistung zu steigern, sondern vor allem darum, den richtigen Laufstil zu finden, die optimale Länge der Schritte, den passenden Rhythmus für solch lange Distanzen. Diesen Stil musste ich mir über Wochen und Monate, na ja, über Jahre hinweg einprägen.
Etwa zwei Jahre vor dem Start begann ich mit intensiven Trainingsläufen. Neben dem regelmäßigen Programm – zwei Stunden vormittags, zwei Stunden nachmittags und gelegentlich noch eine Einheit dazwischen – startete ich ab Winter 2014 mit dem Langlauftraining in Oberhof. Die Belastung auf Skiern würde ja eine ganze andere sein als die auf Asphalt. Zur Entspannung schwamm ich oder fuhr Rad. Im letzten Winter vor dem Start ging ich dann dazu über, mir ein Seil mit Autoreifen um die Hüfte zu binden, um die Pulkas zu simulieren. Das muss schon etwas bescheuert ausgesehen haben: ein älterer Herr mit Bart und Kappe, der wie ein Irrer einen Stapel Allwetterreifen hinter sich durch den Schnee zog, als müsste er jetzt ganz schnell zum Rübezahl, um dort einen Reifenwechsel durchzuführen. „Zum Lausitzring geht’s aber da lang!“, riefen mir die Leute hinterher, oder: „Junger Mann, ich möchte Sie ja nicht aufhalten, aber Ihrem Auto fehlt der Blinker!“
Zusätzlich besuchte ich nun regelmäßig die Heichelheimer Kloßmanufaktur in Thüringen. Ich hatte im Internet recherchiert, wo es mir im mitteldeutschen Raum eventuell möglich sein könnte, ein Kältetraining zu absolvieren, und war dabei auf den Betrieb gestoßen. Herr Hahn, der Geschäftsführer, war ein paarmal neben mir beim Rennsteiglauf gelaufen und willigte auf meine Anfrage hin sofort ein. Jedes Wochenende, von Samstagmittag bis Sonntagmittag, wenn die Maschinen stillstanden, ließ ich mich in die Kühlhalle einsperren und absolvierte dort meine Einheiten. Wie Rocky, nur mit Klößen statt Schweinehälften um mich herum. Abends, nach getaner Arbeit, baute ich mein Zelt auf, holte meinen Gaskocher hervor und machte mir eine Suppe. Dann schlief ich, und am nächsten Morgen rannte ich weiter. Immer im Kreis, immer um die Regale herum. Auch das Aushalten von Langeweile ließ sich trainieren.
Im Übrigen machte ich zwischen Kartoffelpuffern und Wickelklößen eine entscheidende Entdeckung: Meine Pflegecreme, die ich für gewöhnlich im Schritt benutzte, um mich nicht wund zu reiben, würde am Nordpol nicht funktionieren. Schon nach ein paar Stunden in der Kühlhalle begann sie zu bröckeln. Über Nacht gefror sie komplett ein. Sie enthielt schlicht zu viel Wasser. Mir grauste es bei dieser Erkenntnis. Mit Blasen und Muskelkater hatte ich umzugehen gelernt, aber wunde Schenkel, das war ein Schmerz, der mit jedem Schritt schlimmer wurde und nicht länger als ein paar Tage physisch und psychisch auszuhalten war. Die Erkenntnis bereitete mir über Wochen hinweg Kopfzerbrechen. Doch dann bekam ich einen unverhofften Anruf: „Guten Tag, hier ist die Firma Pjur, wir sind ein international agierender Produktanbieter in der Erotikbranche – spreche ich mit Robby Clemens?“
„Ähm, ja?“ Ich runzelte die Stirn.
„Wie schön! Wissen Sie, wir sind bekannt als führender Hersteller im Bereich Gleitcreme, und wir würden Sie gerne als Testimonial gewinnen!“
„Wie bitte?“ Ich musste mich verhört haben. Ich war mir meiner hocherotischen Ausstrahlung durchaus bewusst, aber ich dachte immer, ich würde dieses Wissen ausschließlich mit meiner Frau teilen!
Auf meine Nachfrage hin stellte sich allerdings heraus, dass das Unternehmen weniger an mir als Erotikmodel, sondern vielmehr als Sportler interessiert war. Die Firma hatte just eine spezielle Gleitgelreihe für Ausdauersportler herausgebracht und suchte nach Möglichkeiten, sie unter das laufende Volk zu bringen. Irgendjemand hatte ihnen von meiner Reise erzählt, und nun wollten sie mich unterstützen. Na ja, was soll ich sagen? Ich habe in meinem Leben nie ein besseres Gleitgel benutzt.
Im Eis war es tatsächlich ein wichtiger Faktor. Es vollbrachte keine Wunder, aber es hielt meine Schenkel geschmeidig und eliminierte eine Sorge, die schnell zu einem großen Problem hätte werden können. Psychisch war das enorm wichtig. Alle Störgeräusche mussten kleingehalten werden. Natürlich war es unmöglich gewesen, mich perfekt für die Grönland-Tour zu wappnen. Vor dem Start hatte ich nicht mehr als eine grobe Ahnung gehabt, wo mein Weg mich hinführen würde, und auch jetzt wusste ich nie, was der nächste Tag bringen würde. Rückblickend sollte ich froh darüber sein. Hätte ich genau gewusst, was ich durchmachen würde, hätte es mich vielleicht abgeschreckt, dann hätte ich vielleicht Angst oder Zweifel bekommen und so das ganze Unternehmen in Gefahr gebracht. Eine gesunde Naivität war durchaus wichtig gewesen.
Am Ende bestand meine Leistung zu 80 Prozent aus Willen. Wir machten im Schnitt 26 Kilometer pro Tag, stiegen bis auf 2500 Meter über dem Meeresspiegel. Das war körperlich zwar aushaltbar, doch der Kopf wurde zum Problem. Natürlich hatte ich trainiert, natürlich hatte ich mich vor dem Start fit und vorbereitet gefühlt, und trotzdem stand ich immer öfter inmitten eines unermesslich großen Schneefeldes und konnte mich kaum bewegen. Denn ich wusste: Egal, in welche Richtung ich mich auch wendete, die Belastung würde schlimm werden. Und das nicht nur für Stunden, sondern für Tage oder Wochen.
In diesen Situationen dachte ich häufig daran, was ich bis dahin schon durchgemacht hatte. An die Menschen, die mich unterstützten. Ich sog die Kraft aus meinen Erinnerungen. Vor allem an meine Familie. Was sie zu Hause wohl machten? Meine Frau Bärbel, mein Sohn Oliver, meine Tochter Maria, die mir kurz vor der Abreise offenbart hatte, dass sie schwanger war. Sie habe mich nicht überfordern wollen, hatte sie gesagt, mir mit ihrer Familienplanung meine Pläne nicht durchkreuzen wollen, deshalb hatte sie so lange geschwiegen. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Wenn ich wiederkäme, würde mein Enkelkind wohl schon bald reden können, „Mama“, „Papa“, vielleicht auch „Oma“ sagen. Seinen Opa hätte es bis dahin noch nicht gesehen. Es würde an die Haustür flitzen und sich wundern, wer der fremde Mann dort war, der auch noch so tat, als würde er es kennen. Immerhin, es würde schon laufen und mich vielleicht bei meinem nächsten Abenteuer einfach begleiten können. So schmunzelte ich in mich hinein. Es war noch keine vier Wochen her, dass ich ihnen allen Lebewohl gesagt hatte. Doch Zeit bemisst sich nicht in Stunden oder Tagen, sondern in Erlebnissen. Und was hatte ich nicht alles schon erlebt?
Vor Beginn meiner Reise hatte ich viele Mails bekommen: Freunde, Bekannte, mitunter auch Fremde, die mir Glück und Zuspruch sandten. In den letzten Jahren hatte ich unzählige Vorträge gehalten. Reise- und Laufvorträge, aber auch Motivationscoachings für chronisch kranke Menschen oder ehemalige Alkoholiker. Einige hatten den Kontakt zu mir gesucht, als sie von meiner neuen Reise gehört hatten. Da war zum Beispiel ein Krebskranker, der mich einst bei einem Vortrag in Halle gesehen hatte und mir nun schrieb, dass er kämpfen wolle, so wie ich es täte. Und dass wir meine Rückkehr nach Deutschland gemeinsam erleben würden. Er wünschte mir Kraft. Ein krebskranker Mann, der mir Kraft wünschte. Ich brauchte nur daran zu denken, und schon bekam ich feuchte Augen.
Solche Nachrichten halfen mir in den Phasen, in denen es nicht so lief. Wenn der Wind eiskalt von vorne kam. Wenn Schneeflocken die Sicht verwischten, sodass nichts anderes zu erkennen war als die Füße des Vordermanns. Wenn mir plötzlich klar wurde, dass wir einsam und allein durch eine Wüste aus Eis trieben. Natürlich dachte ich daran aufzugeben, das tat jeder von uns. Aber gab es diese Möglichkeit überhaupt? Ich hatte mir dieses Abenteuer freiwillig ausgesucht, während andere täglich mit ihrem Schicksal kämpften. Wenn ich diesen Menschen eine Hoffnung sein konnte, war Aufgeben für mich keine Option. Und wenn ich eines auf dieser Wanderung bereits gelernt hatte, dann war es, zu wie viel mehr wir in der Lage sind, als wir uns zutrauen.
An guten Tagen hatte ich dagegen das Gefühl, als liefen wir über einen weißen Teppich voller Diamanten. Die Skier glitten dahin, wir mussten nichts weiter tun, als der Spur zu folgen, die vor uns im Schnee lag. Jeden Morgen waren wir wie ein Rudel Polarhäschen, die Sonne wie eine Möhre vor der Nase. An den Abenden konnten wir dann mit dem Fernglas verfolgen, welche Strecke wir über den Tag zurückgelegt hatten. Wie ein weißer Faden lag unsere Fährte in der Landschaft. Ein kilometerlanger Fingerabdruck in einer unberührten Welt. Die Chancen standen gut, dass wir Gebiete durchzogen hatten, an denen vor uns noch nie ein Mensch gewesen war.
Bis zum nächsten Schneesturm würden unsere Fußstapfen noch zu sehen sein. Danach würde niemand mehr erkennen können, dass wir jemals dort gewesen waren.

Nach ungefähr zweieinhalb Wochen im Nichts lag der zermürbendste Teil unserer Expedition hinter uns. Achtzehn Tage lang waren wir gestiegen, eine einzige weiße Wand vor Augen, dazu Schneestürme und täglich mindestens zwanzig Grad minus. Die Inuit mögen hundert verschiedene Wörter für Schnee haben, ich hatte in dieser Zeit mindestens hundert verschiedene Flüche dafür entwickelt. Ohne Ziel vor Augen waren wir nach oben gestapft, einzig die Zahlen auf den GPS-Geräten der Guides verhießen uns Zuversicht. Niemand wusste, wann wir den Gipfel erreichen würden, der Berg unter uns hatte ja nicht mal einen Namen. Den Scheitelpunkt spürten wir lediglich an einer wunderbaren Entlastung der Beine.
Doch als es dann endlich bergab ging, konnten wir uns immer noch kaum erholen. Wir sehnten uns nach Entspannung, aber unsere Schlitten drohten uns an den Abhängen zu überholen und umzureißen. So mussten wir die Pulkas an Seile binden und Stück für Stück vor uns hinuntergleiten lassen, bevor wir selbst, von aller Last befreit, hinterherfahren konnten.
Als schließlich die letzten 100 Kilometer unserer Reise anbrachen, begannen wir jeden Tag mit größter Euphorie. Unsere Schritte gewannen wieder an Kraft, alles, was uns vorher eine Qual gewesen war, war plötzlich reiner Genuss. Uns allen war klar: Es würden die letzten Meter einer Reise sein, die wir nie wieder erleben würden. Selbst die Schneestürme wurden zur Wohltat. Die feinen Nadelstiche der Kristalle auf der Haut, der ständige Kampf gegen den Wind. Ich jauchzte in die Böen hinein, denn ich wusste, ich würde den Kampf gewinnen.
Erst an unserem letzten Tag wurde es noch einmal brenzlig. Wir waren nur noch ein paar Kilometer von Isortoq entfernt, doch der Weg vor uns entpuppte sich als unerwartet schwierig. Es hatte getaut. Das Eis, auf dem wir liefen, war dünner, als unsere Guides erwartet hatten. Es hatten sich Seen gebildet, die in den letzten Jahren noch nicht vorhanden gewesen waren. Klimawandel zum Anfassen. Knietief mussten wir durch eiskaltes Wasser waten. Irgendwann konnte ich die Skier nicht mehr heben. Ich brachte es gerade noch fertig, einen Schrei von mir zu geben, bevor ich den Halt verlor. Ehe ich mich’s versah, lag ich bis zum Hals im Wasser. Ich wollte lachen, doch dann wurde mir der Ernst der Lage bewusst. Ich konnte mich nicht erheben, der Gurt der Pulkas behinderte mich. Ich spürte, wie die Kälte unter meine Kleidung kroch. Wie der Stoff sich vollsog, das Wasser in meinen Kragen rann.
„Hey!“, rief ich. Ich musste das Kinn recken, um keine Flüssigkeit in den Mund zu bekommen.
Sebastian schmiss sofort alles Equipment von sich und stürzte zu mir. Blind langte er unter Wasser und löste die Riemen meiner Skier. Dann machte er sich am Gurt der Pulkas zu schaffen. Mit einem Ruck richtete ich meinen Oberkörper auf. Doch wir benötigten die Hilfe von Rob, um mich aus dem Wasser zu hieven, so klitschnass und schwer war ich. Die ganze Aktion dauerte wahrscheinlich nicht mehr als eine Minute. Kaum Zeit, um auszukühlen, doch das Problem war, dass es in diesem Umfeld keine Möglichkeit gab, mich umzuziehen. Solange wir unterwegs waren, würde die Feuchtigkeit nicht schlimm sein, das Laufen heizte den Körper auf, doch sobald wir länger als 30 Sekunden standen, kroch die Kälte unaufhaltbar in meine Glieder.
Kurz vor Isortoq wurde uns der Weg von einem Fjord versperrt. Die Eisdecke hatte sich komplett aufgelöst, ein Weiterkommen auf Skiern war unmöglich. Sebastian und Bard funkten per Satellitentelefon nach einem Boot, das uns auf die andere Seite bringen konnte. Mich wickelten sie in einen Schlafsack und schickten mich in die Nähe des Motors, der ein wenig Abwärme spendete, damit ich nicht komplett gefror. Die anderen stießen an. Rob hatte irgendwoher einen Whisky gezaubert. Aus Angst vor den Guides brachte er ihn erst jetzt zum Vorschein. Ich lag unten im Heck, zitterte und lauschte dem monotonen Stampfen der Zylinder. Ich realisierte es kaum, aber unser Abenteuer war gemeistert. Am 5. Juni 2017, nach fast vier Wochen in Schnee und Eis, erreichten wir unser Ziel.

Die Einwohner von Isortoq begrüßten uns unerwartet routiniert, als wir die kleine Ansammlung von Hütten betraten. Für sie waren wir keine Besonderheit. Regelmäßig trafen hier Expeditionsgruppen ein oder starteten ihre Reise. Nur die Kinder kamen aufgeregt herbeigelaufen, als sie uns erblickten. Von vorangegangenen Touren wussten sie über die Unmengen an Schokolade Bescheid, die die Expeditionen mit sich führten – und es sollte doch mit dem Teufel zugehen, wenn wir nicht auch noch ein paar Reste davon übrig hatten!
Mich führte man direkt unter eine warme Dusche und reichte mir Handtücher, um mich trocken und warm zu rubbeln. Die erste Dusche seit fast einem Monat! Bis dahin war es lediglich Schnee gewesen, den wir uns allmorgendlich unter die Achseln und ins Gesicht gerieben hatten.
„Bist du gesund durch Eis und Schnee gekommen?“, fragte mich eine Freundin per E-Mail, als ich mich zum ersten Mal wieder vor meinen Laptop setzte.
„Jein“, schrieb ich zurück. Ich war glücklich, körperlich ging es mir gut, der Sturz in den See hatte glücklicherweise keine Folgen gehabt. Doch über den letzten Monat hatte ich auch gut 14 Kilo abgenommen – und ich war mir unsicher, ob ich es mit dieser Art von Diät in die Brigitte schaffen würde.
Zudem hatte ich mir durch eine Unachtsamkeit eine fiese Erfrierung an der linken Hand geholt. Sie äußerte sich in einem absonderlichen Kribbeln in den Fingern. Nichts mit ernsthaften Folgen, aber doch ein Souvenir, das mich mit Sicherheit für einige Zeit begleiten würde. Noch heute habe ich das Gefühl, als führe ein kleiner Stromschlag durch die Kuppe meines Ringfingers, wenn ich die linke Hand bewege. Nicht viel mehr als ein Kitzeln, und doch genug, um mich daran zu erinnern, was ich erlebt habe. Und wie viel Glück ich dabei gehabt habe.

Ich erholte mich ein paar Tage an der Ostküste Grönlands, bevor ich weiter nach Montreal fliegen wollte. Ich legte die Beine hoch, machte kleine Spaziergänge und schlief so viel ich konnte. Unbeschreiblich der Genuss, mal wieder in einem richtigen Bett zu liegen, mit einem anständigen Dach über dem Kopf. Ich versuchte, all die Eindrücke der letzten Wochen in meinem Gedächtnis zu verankern: meine tapferen Gefährten, die bald schon wieder ihren geregelten Jobs nachgehen würden; das Geräusch meiner Skier in der ewigen Stille; die Farben und Formen der Wolken, von denen so viel auf unserer Reise abgehangen hatte; die Gemeinschaft, zu der wir geworden waren – und natürlich das Eis! Das Eis, das blau und weiß sein konnte. Das bisweilen scharf in die Augen stach und sich zur Abendstunde rot färbte. Das bei Sturm fauchte, aber auch leise flüsterte, wenn der Wind die Schneeflocken darüberblies. Das Freud und Leid zugleich war, stiller Zuhörer unserer Gedanken. Ein Fremder und ein Freund. Unvorstellbar, dass diese Masse an gefrorenem Wasser tatsächlich tauen soll. Über immer längere Zeiträume kommt es mittlerweile vor, dass der Nordpol im Sommer unter Wasser steht. Ich konnte nicht begreifen, dass all das hier in ein paar Jahrzehnten vielleicht nicht mehr da sein wird. Diese verdammte menschengemachte Erderwärmung.
Ich schaute zurück in das Nichts, aus dem wir gekommen waren, und dachte: Nichts, was der Mensch schafft, kann so schön sein wie die Natur.
Ich würde es auf dieser Reise noch häufiger denken.


2 Hohenmölsen I
Badewannen und Zigarettenstummel

Bis zu meinem dreißigsten Lebensjahr hatte ich noch nicht viel von der Welt gesehen. Als Jugendlicher war ich mit der Familie hin und wieder am Balaton gewesen, ansonsten war meine Landkarte weiß. Ich bin im Osten Sachsen-Anhalts aufgewachsen: Hohenmölsen, das Herz der DDR. Zumindest für mich damals.
Flankiert wurde die Stadt von den großen Tagebaugruben Profen und Pirkau, die umliegenden Ortschaften hatten Namen wie Groitzsch, Neukieritzsch oder Großkorbetha. Im Sommer roch die Luft nach Stroh, im Winter nach Kohle. Tiefste sachsen-anhaltinische Provinz.
Meine Mutter war in Karlsbad, Böhmen, geboren. Doch nach dem Krieg hatte man sie und ihre Familie vertrieben. Gemeinsam mit einigen anderen Deutschen wurden sie in einen Viehwagen gesperrt und fortgeschafft. Nächster Halt: Hohenmölsen. Familie Clemens, die Linie meines Vaters, war dagegen urhohenmölsisch. Generationen von Schmieden und Braunkohlekumpeln. Mutter und Vater trafen sich zum ersten Mal beim Tanzen: im Gasthof Lubert. Der Eintritt betrug damals ein paar Barren Brikett, um den Saal zu beheizen, doch die beiden entfachten ein ganz anderes Feuer. Elf Jahre später zeugten sie mich.
Ich besuchte die Hohenmölsener Krippe, den Hohenmölsener Kindergarten, die Unter- und Oberstufe der Polytechnischen Oberschule Hohenmölsen, ein Leben auf 75 Quadratkilometern. Nachdem ich meinen Schulabschluss erlangt hatte, machte ich eine Lehre zum Installateur; Gas, Wasser, Heizung. Die Ausbildung absolvierte ich bei der Produktionsgenossenschaft der Handwerker, mein oberster Chef war mein eigener Vater. Die Arbeit lag mir. Ich hatte Spaß am Lernen, vor allem aber liebte ich die Hausbesuche. Wenn man damals als Handwerker in einen Familienhaushalt kam, ließ die Arbeit für gewöhnlich erst mal auf sich warten. Zunächst wurde gefrühstückt. Und ich meine ein richtiges, zünftiges Mahl, keinen lauwarmen Kaffee, der einem hastig im Badezimmer auf den Rand des Waschbeckens gestellt wurde. Man kam ins Gespräch, tauschte sich über Gott und die Welt aus. Wenn ich beim Fleischer einen Abfluss zu wechseln hatte, bekam ich einen Rucksack voller Würste mit nach Hause. Eine der Kehrseiten der Arbeit war zwar, dass wir häufig am Wochenende ausrücken mussten, doch ich wusste, je mehr ich arbeitete, desto mehr Geld würde ich verdienen – und das war nicht unbedingt üblich in der DDR.
1986, sechs Jahre nach der abgeschlossenen Lehre, übernahm ich einen eigenen Betrieb. Bald hatte ich zwei Angestellte, dazu einen Lehrling, und kümmerte mich fast nur noch um die An- und Verkäufe. Das Geschäft bestand damals noch zum größten Teil aus Handeln und Feilschen, „Kompensationsgeschäfte“ nannte man das. Frühmorgens fuhr ich mit einem großen Stück Schinken auf dem Beifahrersitz meines Ladas los, und abends kam ich mit einem Auto voller Badewannen, Armaturen, Heizkörper und Waschbecken zurück. Den Schinken bekam ich hin und wieder von meinem Schwager, der Fleischer war, und gleich auf meiner ersten Station, Reichenbach im Vogtland, konnte ich einen beträchtlichen Teil davon gegen einige Kisten Wernesgrüner Bier eintauschen. Wernesgrüner war flüssiges Gold damals, fast so schwer zu bekommen wie Radeberger. Mit dem erhandelten Bier fuhr ich nun nach Wallhausen, wo ich es gegen farbige Wasch- oder Klobecken tauschte. Anschließend fuhr ich nach Eisenberg, um mit der erhaltenen Ware verchromte Armaturen zu erhandeln. Schließlich ging es nach Boizenburg an der westdeutschen Grenze für ein paar Fliesen – und dann gelegentlich noch nach Thale in den Harz, um ein oder zwei Heizkessel zu besorgen.
Natürlich konnte man nicht jeden Handel einzig und allein per Tauschgeschäft abschließen, selbstverständlich wurde auch mit Geld nachgeholfen – aber das war nur die Ergänzung, die Basis war die Ware. Zur Wende hatte ich mir bereits einen Namen in meinem Geschäftszweig gemacht. Heute würde man mich wahrscheinlich als „Networker“ bezeichnen, aber damals war ich einfach bekannt wie ein bunter Hund. Und irgendwie ist es genau das, was mich noch immer auf die Straße treibt: die Begegnungen mit den Menschen unterwegs.

Als kurz nach der Wende der große Aufbau Ost losging, war ich dick im Geschäft. Das Tor zum Westen stand offen, den Verlockungen des Kapitalismus versperrte nichts mehr den Weg. Alles sollte raus, alles sollte neu gemacht werden. Weg mit den alten Kohleöfen, her mit Zentralheizungen! Viele Altbauten im Osten konnten zwar noch mit Stuck und hohen Decken beeindrucken, doch die meisten verfügten eben auch noch über gemeinschaftliche Etagentoiletten, die außerhalb der Wohnung lagen und das Leben ungemein umständlich machten. Aber das war jetzt vorbei! Honecker war Geschichte, Schabowski hatte sich verplappert, das Volk lechzte nach Privatbädern. Und es waren nicht nur die Privathaushalte: Schulen, Büros, öffentliche Gebäude, alles sollte modernisiert werden. War in der DDR noch die gesamte Sanitäreinrichtung in dezentem Weiß gehalten, so war die Farbpalette nun beinahe unerschöpflich. Die Farben explodierten. Der Renner war damals „Bahama-Beige“, eine Farbe, deren Namen wir kaum aussprechen konnten, die ich aber sicher Hunderte, wenn nicht Tausende Male montierte. Es war eine goldene Zeit. Innerhalb von vier Jahren wurde ich zum Millionär. Und dann kam der Crash.
Ich will nicht groß drum herumreden: Ich allein trage die Schuld am Konkurs meiner Firma. Ich habe das Unternehmen geführt, ich habe die falschen Entscheidungen getroffen, den falschen Menschen vertraut. Es gab sicherlich Umstände, die es mir nicht leicht gemacht haben, das Unternehmen zu retten, aber was im Leben ist schon leicht? Der prominenteste Partner, dem ich fälschlicherweise vertraut habe, war Utz Jürgen Schneider.
Jürgen Schneider war Bauunternehmer, Immobilienmogul und Betrüger. Er rühmte sich damals als der große Erneuerer der Nation. Anfang der Neunzigerjahre vergab er unzählige Aufträge: Frankfurt, München, Leipzig, Berlin, überall restaurierte er baufällige, ehemals prunkvolle Gebäude und ließ sie in ihrem alten Glanz erstrahlen. Allein in Leipzig war er an über siebzig Großprojekten beteiligt. Die heutige Fassade der Stadt, die zu einem großen Teil das Aushängeschild der Region ist, geht überwiegend auf Schneider zurück. Leider war aber auch er selbst nicht viel mehr als eine einzige große Fassade.
Viele Projekte, die Schneider anging, warfen am Ende weniger Gewinn ab, als er einkalkuliert hatte. Das brachte ihn in die Bredouille, denn er war auf diese Gewinne – und auf seinen guten Ruf – angewiesen, um weiter zu investieren. Um dennoch das nötige Geld für seine Investitionen von den Banken zu bekommen, kalkulierte er insgeheim mit dem Verlust. Er überzog bewusst die Mietflächen seiner Objekte, um die zu erwartenden Einnahmen vor den Banken zu schönen und so die nötigen Kredite zu erlangen. Aus 9000 Quadratmetern wurden 22 000 Quadratmeter – und aus irgendeinem Grund stellte niemand diese Zahlen infrage. Er erfand Mieter, die es nicht gab, imaginierte ganze Stockwerke auf dem Papier. Kredite in Milliardenhöhe konnte er sich so erschleichen. Und die Banken ließen ihn, ob bewusst oder unbewusst, gewähren.
Schneider residierte in einem prunkvollen Schloss im Taunus. Dorthin ließ er seine Geschäftskunden kommen, um ihnen die Köpfe zu verdrehen. Das Schloss, so erklärte er später in verschiedenen Interviews, benötigte er für den schönen Schein. Wer über solch faszinierende Turmzimmer verfügte, der musste ein ehrbarer Mann sein, dem konnte man doch nichts abschlagen! So häufte er innerhalb kürzester Zeit einen Schuldenberg von rund sechs Milliarden D-Mark an.
1994 flog er auf. Ein Zeitungsartikel deckte die falschen Zahlen auf, sein Lügengebäude stand vor dem Einsturz. Als die Blase platzte, riss er Hunderte Unternehmer mit sich in den Ruin. Unter anderem mich.
Hilmar Kopper, der Chef der Deutschen Bank, die eine der Hauptgeldgeberinnen Schneiders gewesen war, versicherte damals noch großspurig, sein Unternehmen wolle alle von Schneider offengelassenen Handwerkerrechnungen begleichen. Das seien doch weit weniger als 50 Millionen Mark, für sein Kreditinstitut nicht mehr als „Peanuts“. Die Wirklichkeit sah allerdings anders aus. Von einem Tag auf den anderen hatte man die Baustellen, auf denen wir noch bis eben aktiv gewesen waren, in Tatorte verwandelt. Zäune schirmten die Gelände ab, Sicherheitsfirmen bewachten sie. Wir konnten nicht mal unsere Werkzeuge bergen, die wir auf den Baustellen gelagert hatten.
Ich erhielt einen Anruf von der Deutschen Bank und hatte mich in der Hauptgeschäftsstelle am Wilhelm-Leuschner-Platz in Leipzig einzufinden. Ein dunkler, altehrwürdiger Bau aus grob behauenem Stein, der einer Ritterburg gleicht. Rund zehn Schlips- und Anzugträger saßen im Innern um einen dunklen Tisch und starrten mich an.
„Herr Clemens, wie wir sehen, haben wir noch offene Rechnungen bei Ihnen. Wir möchten das gerne begleichen! Aber Sie verstehen sicherlich, dass wir Ihnen in der aktuellen prekären Lage nicht die gesamte Summe auszahlen können. Wir denken, das ist einleuchtend.“
„Was können Sie denn zahlen?“ Ich gab mir Mühe, dass meine Stimme fest klang. Sie sollte selbstbewusst und fordernd wirken, doch ich fühlte mich klein. Der ganze Aufzug schüchterte mich ein.
„Nun, wir denken, Sie freuen sich zu hören, dass es uns möglich wäre, Ihnen etwa 300 000 Mark auszuzahlen. Das ist leider wirklich das Äußerste. Na ja, und Sie müssten natürlich Ihre Arbeit beenden.“
„Aber das ist ja nicht mal die Hälfte der besprochenen Summe!“, rief ich schockiert. „Das reicht kaum aus, um meine Leute zu bezahlen, geschweige denn das Material! Das Geld ist fest eingeplant in unserem Budget …“
„Herr Clemens, wir versichern Ihnen, wir würden Ihnen wirklich gerne helfen. Aber verstehen Sie doch bitte auch unsere Lage.“
Ich verstand ihre Lage nicht. Aber ich musste so tun, als würde ich sie verstehen. Ich war naiv. Und meine Gegenüber waren skrupellos.
„Und was, wenn ich Ihr Angebot nicht annehme?“, hakte ich zögerlich nach.
„Wir denken, das wäre sehr bedauerlich für Sie. Selbstverständlich auch für uns. Wir müssten uns bemühen, andere Handwerker zu finden, die unser Angebot und die damit verbundene Chance wahrnehmen würden.“
Der Besuch bei der Deutschen Bank war der Anfang vom Ende. Plötzlich war ich es, der in Zahlungsnot steckte. Ich rutschte in den gleichen gierigen Strudel, in den vor mir schon Jürgen Schneider geraten war: Ich lieh mir Geld, wo ich konnte, ich akquirierte neue Projekte, schönte Zahlen – wenn nicht auf dem Papier, so in meinem Kopf – und wurde getrieben von der unerschütterlichen und blinden Hoffnung, dass es irgendwie besser werden würde.
Aber es wurde nicht besser. So schnell, wie ich zum Millionär geworden war, stand ich jetzt vor einem Schuldenberg von rund zwei Millionen Mark. 1996, ein Jahr nachdem Jürgen Schneider auf seiner Flucht in Miami geschnappt worden war, im gleichen Jahr, in dem Oliver Bierhoff das wiedervereinigte Deutschland zum Europameistertitel köpfte, ging die „Robby Clemens Bad & Heizung“ in Konkurs.
Die Pleite trieb mich nicht nur finanziell in den Ruin. Die Firma war ein Familienunternehmen gewesen. Ich musste meine Schwester und meinen Schwager entlassen, meine Eltern und meine Frau Bärbel hatten für mich gebürgt. Auch sie standen nun vor dem Nichts. Vierzig Jahre ihrer Arbeit waren vernichtet, einzig weil ihr Sohn ein Versager war. An diesem Punkt fing ich mit dem Saufen an. Ich hielt den Frust nicht aus, all die Schuld, die ich mir aufgeladen hatte. Ich wollte keinen klaren Gedanken mehr fassen, weil jeder klare Gedanke schmerzte.
Man sah mich nun immer häufiger mit den Trinkern vor der Kaufhalle. Pavlas, Weilandt und die anderen. Nirgendwo sonst fühlte ich mich zugehörig, nur hier wurde ich verstanden. Mein Umfeld sprach mich gerade in der ersten Zeit immer wieder auf meinen Alkoholkonsum an, stellte mir unangenehme Fragen. Ob es mir gut gehe? Ob man mir helfen könne? Fragen, die ich nicht hören wollte. Vor der Kaufhalle fühlte ich mich sicher. Denn dort galt: Die, die trinken, fragen nicht.
„Robby, du auch hier?“
Ich nickte.
Die anderen nickten.
„Prost.“
Wir hockten tagaus, tagein auf dem Kantstein vorm Kaufland, und so, wie ich einst mitleidig und ein Stück weit verständnislos auf die anderen Trinker herabgeschaut hatte, wurde nun auch ich beäugt. Noch immer war ich stadtbekannt. Das machte die Sache nicht besser.

Darüber hinaus war ich fett geworden, 125 Kilo Spitzengewicht. Der Reichtum hatte das mit mir gemacht, oder ich mit dem Reichtum. Ich selbst war in der goldenen Zeit kaum noch auf der Baustelle gewesen. Über hundert Mitarbeiter hatten das Tagewerk verrichtet, mein eigenes Leben bestand fast nur noch aus Geschäftsessen. Ich trank teuren Whisky, rauchte teure Zigarren, fuhr ein teures Auto, machte teuren Urlaub. Zwar ließ ich andere immer gern an meinem Reichtum teilhaben, aber ich prasste und prasste und prasste.
Nach der Pleite rauchte ich natürlich noch immer wie ein Schlot. Ich konnte mir keine Zigarren mehr leisten, aber ich hatte mir eine Pfeife besorgt. Da mir das Geld für den Tabak fehlte, suchte ich die Aschenbecher und Pflastersteine vor den Bushaltestellen nach Zigarettenresten ab. Die hastig weggeschmissenen Kippen sammelte ich auf und klopfte sie über meiner Pfeife aus. So hatte ich schnell eine ansehnliche Menge an Tabak zusammen. Weder schämte ich mich wegen dieses billigen Tricks noch war ich stolz auf die grandiose Idee. In meinem Kopf gab es kein Gut oder Schlecht mehr. Es gab nur noch die Befriedigung der Sucht.

Robby Clemens

Über Robby Clemens

Biografie

Robby Clemens, geboren 1961, ist Extremsportler und Motivationscoach. Vor über zwanzig Jahren gelang ihm mithilfe des Laufens der Ausweg aus einer schweren Alkohol- und Nikotinsucht. Nach seinem ersten Marathon im Jahr 2000 folgten zahlreiche Benefizläufe für krebskranke und kriegsgeschädigte...

Pressestimmen
Freie Presse

„Man kann das Buch als Abenteuergeschichte lesen, aber auch als eine Geschichte, wie man sich selbst verwirklicht.“

tz

„Ein hoch emotionales Abenteuer, das zeigt, wie Laufen das Leben verändern kann.“

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