Call of Crows – Enthüllt (Call of Crows 3) — Inhalt
Stieg Engstrom ist der grimmigste Wikinger, den die Welt je gesehen hat, und er hat ein Problem: Sein Klan steht kurz vor der Vernichtung – genauso wie der Rest der Menschheit – und die einzige Hilfe, auf die er bauen kann, ist ausgerechnet eine supernervige Crow. Zugegebenermaßen findet Stieg alle Leute irgendwie nervig, aber diese Frau kann er kaum aushalten. Wenn die Lage nicht so ernst wäre, würde er ihr glatt das unverschämte Grinsen aus dem Gesicht küssen … Erin Amsel liebt ihr Leben als Crow. Warum auch nicht, wo doch die anderen Klans (vor allem die Wikinger) so lächerlich arrogant und humorlos sind? Für dieses Leben wird sie kämpfen! Allerdings hätte sie nicht damit gerechnet, dass ihr dabei Stieg zur Seite steht. Immerhin ist der wunderbar einfach auf die Palme zu bringen – und zudem irgendwie süß.
Leseprobe zu „Call of Crows – Enthüllt (Call of Crows 3)“
Prolog
„Steh auf. Sofort.“
Harvold war schlagartig wach, als er die Worte seiner Mutter hörte. Sie hielt bereits das Baby im Arm – seine Schwester, die gerade erst laufen konnte. Und seinen jüngeren Bruder weckte sie mit den gleichen Worten.
Sie führte seinen Bruder und ihn zu dem geheimen Ausgang hinten im Haus. Er diente zur Flucht bei einem Überfall. Es war mitten im Winter. Wer würde sie jetzt überfallen?
„Geht“, befahl sie und drückte ihm seine Schwester in die Arme. „Geht und schaut nicht zurück.“
„Aber …“
„Stell keine Fragen!“ Darüber beschwerte sie [...]
Prolog
„Steh auf. Sofort.“
Harvold war schlagartig wach, als er die Worte seiner Mutter hörte. Sie hielt bereits das Baby im Arm – seine Schwester, die gerade erst laufen konnte. Und seinen jüngeren Bruder weckte sie mit den gleichen Worten.
Sie führte seinen Bruder und ihn zu dem geheimen Ausgang hinten im Haus. Er diente zur Flucht bei einem Überfall. Es war mitten im Winter. Wer würde sie jetzt überfallen?
„Geht“, befahl sie und drückte ihm seine Schwester in die Arme. „Geht und schaut nicht zurück.“
„Aber …“
„Stell keine Fragen!“ Darüber beschwerte sie sich bei ihm immer am meisten. Er stellte zu viele Fragen. Er wollte „zu viel“ wissen.
Aber er war fast dreizehn Jahre alt. Er war beinahe ein Mann. Es war Zeit, dass er Antworten bekam.
„Geh einfach.“ Sie umarmte ihn plötzlich fest, seine Schwester zwischen ihnen gefangen.
Es war eine innige, furchterfüllte Umarmung. Dann umarmte sie seinen Bruder genauso.
„Geh, Harvold. Beschütz deinen Bruder und deine Schwester. Und schau nicht zurück.“
Der Riegel wurde angehoben, und Harvold und sein Bruder schlüpften aus dem Haus und liefen durch den Wald und den Hügel hinauf, ihre Schwester in Harvolds Armen. Aber Harvold blieb stehen. Er würde zurückschauen. Er schaute immer zurück.
„Harvold!“, flüsterte sein Bruder.
Harvold ignorierte das verzweifelte Flehen und suchte stattdessen nach einem Platz, an dem er seine Geschwister sicher verstecken konnte. Ein großer Felsbrocken würde den Zweck erfüllen, und er verfrachtete sie dorthin.
Das Versteck war perfekt. Groß genug, dass man sie nicht sah, aber so gelegen, dass er eine gute Sicht auf das Dorf hatte.
Nachdem er ihre Schwester an seinen jüngeren Bruder weitergereicht hatte, schob Harvold sich um den Felsbrocken herum und blickte auf das Dorf hinab, das sein Zuhause gewesen war, das Zuhause seines Vaters und das des Vaters seines Vaters und zahlloser Generationen vor ihnen.
Die Menschen, die er sein Leben lang gekannt hatte, wurden grob zur Mitte des Dorfplatzes getrieben, die Ältesten und Krieger zu Boden gestoßen, von Männern, die er noch nie zuvor gesehen hatte. Es waren massige Männer. Harvold hatte nie zuvor so große Menschen gesehen. Die Frauen und Kinder wurden daran gehindert, fortzugehen, und die riesigen, Furcht einflößenden Männer hatten das ganze Dorf umstellt.
Einer dieser Furcht einflößenden Männer trat vor und blickte auf Eindride den Geduldigen hinab. Der Fremde hatte langes Haar und einen üppigen Bart, sodass Harvold selbst aus dieser sicheren Entfernung nur seine grimmigen Augen sehen konnte.
„Sag es mir“, knurrte der riesige Mann. Seine Worte wurden, obwohl er sie leise gesprochen hatte, von dem frischen winterlichen Wind fortgetragen, sodass es so klang, als würde Harvold neben ihnen stehen. „Wo ist es?“
„Ich habe es dir bereits gesagt … wir wissen nicht, wovon du redest!“
Der massige Mann ging vor Eindride in die Hocke, einen Arm auf sein Knie gelegt. „Weißt du, wer ich bin?“, fragte er.
Eindride schaute zornig zu dem Mann auf, denn selbst in der Hocke überragte er ihn immer noch. „Du bist Holfi Rundstöm.“
Bei dem Namen keuchte Harvolds Bruder und Harvold hielt dem Jungen schnell mit einer Hand den Mund zu.
Obwohl sein Bruder erst neun Jahre alt war, hatte er von den Rundstöms gehört. Alle hatten von ihnen gehört. Ihr Ruf reichte Generationen zurück und man fürchtete sie aus gutem Grund.
„Ja, ich bin Holfi Rundstöm.“ Der große Mann stand auf, hob seine Klinge und ließ sie in einem brutalen Winkel niedersausen. Nicht auf Eindride, sondern auf den Hals seiner ältesten Tochter.
Der arme Eindride schrie vor Zorn auf. Er hatte sieben Töchter und er liebte sie alle. Rundstöm musste das gewusst haben. Harvold vermutete, dass es kein Versehen war, dass er Eindrides Älteste getötet hatte.
Rundstöm packte das Nächstälteste von Eindrides Mädchen und presste ihm seine blutverschmierte Klinge an die Kehle. „Ich frage noch ein letztes Mal, alter Mann“, knurrte er. „Sag mir, wo – Auuuuu!“
Der Hammer schien aus dem Nichts gekommen zu sein, traf Rundstöms riesigen Kopf und zwang ihn, Eindrides Tochter loszulassen und mehrere Schritte rückwärtszutaumeln.
Es erschreckte Harvold, dass Rundstöm nicht tot zu Boden fiel. Denn das war kein normaler Kriegshammer. Sein Kopf war tausendmal größer als alles, was Harvold je zuvor bei irgendeinem Schmied gesehen hatte. Wer hatte so viel Eisen zur Verfügung und benutzte es für eine einzige Waffe?
Rundstöms Männer, die unbewaffnet zu sein schienen, schnappten sich Waffen aus der Schmiede des Dorfes und klaubten alles auf, das zur Verfügung stand. Wie zum Beispiel eine Fällaxt.
„Du wagst es, hierherzukommen, Holfi Rundstöm?“, verlangte ein barbrüstiger Mann zu wissen, als er aus dem Wald trat. Er trug Fellhosen und Stiefel, aber kein Hemd. Das Abbild des großen Hammers, den er schwang, war auf seine Brust gebrannt, und er trug einen goldenen Reif um seinen massigen Hals. „Dieses Dorf steht unter dem Schutz meines Gottes.“
„Scheiß auf deinen Gott“, knurrte Rundstöm. „Scheiß auf dich.“
Jemand warf dem Anführer einen weiteren Hammer zu und er schwang ihn beim Gehen einige Male herum. Der Kopf der Waffe war so riesig, dass Harvold keine Ahnung hatte, wie er es schaffte, ihn sich nicht aus Versehen selbst ins Gesicht zu schlagen.
Während die Gestalten mit den Hämmern sich näherten, rissen Rundstöm und seine Männer die Schultern zurück, und schwarze Flügel explodierten aus ihren Rücken. Wie die Flügel von Odins Raben, Hugin und Munin, nur viel größer.
„Es ist wahr“, flüsterte Harvold über die panischen Schreie seiner Nachbarn. „Es ist alles wahr.“
„Was ist wahr?“, fragte sein Bruder. „Was geschieht dort?“
Harvold bedeutete seinem Bruder zu bleiben, wo er war, während er selbst weiter zuschaute.
Er hatte die alten Frauen seines Dorfes darüber reden hören, aber kaum jemand hatte ihnen geglaubt. Die Geschichten von Kriegern, die von einem bestimmten Gott dazu auserwählt worden waren, ihn oder sie in dieser Welt zu vertreten. Seinen oder ihren Willen zu tun. Seine Eltern huldigten jedem Gott, den sie gerade brauchten, aber diese Männer hörten nur auf einen einzigen Gott, dessen Befehle sie befolgten und dessen Macht sie anbeteten.
Jene mit den Hämmern mussten zu Thor gehören. Und die Männer mit den Flügeln … ihr Gott musste Odin sein.
Harvold spürte mit einem Mal eine Kälte bis in die Knochen. Odin. Der Gott wurde so sehr gefürchtet, dass Harvolds Eltern ihn nur selten für irgendetwas anriefen, außer zu Zeiten eines Krieges. Und irgendetwas sagte Harvold, dass die Männer, die Odin dafür auswählte, seine Flügel zu tragen, nicht besser sein würden. Vernunft und Reden würden denen, die die blutbesudelten Füße Odins anbeteten, nichts bedeuten.
„Lasst eure Waffen stecken, ihr lächerlichen Männer“, rief eine Frau. Sie trug lange Roben und eine Kapuze verdeckte ihr Gesicht. Es waren noch andere bei ihr, allesamt Frauen, dachte Harvold, nach der Art zu schließen, wie sie sich bewegten. Sie kamen von Osten. Sie hatten, soweit er sehen konnte, keine eigenen Waffen, aber sie zeigten auch keine Furcht, als sie auf die männlichen Krieger zuschritten.
„Holde Maiden“, knurrte der Hammerschwinger. „Was macht ihr abscheulichen Miststücke hier?“
„Hüte deine Zunge, Riesentöter, sonst reiße ich sie dir mit meinen Zähnen aus dem Mund.“
„Er hat recht, Alvilda“, warf Rundstöm ein. „Warum bist du hier?“
Die Frau mit der Kapuze hielt inne und schaute an den Männern vorbei zum See des Dorfes. „Vielleicht ist das eine Frage, die wir uns alle stellen sollten“, bemerkte sie und wedelte mit der Hand in Richtung des Wassers.
Aus den kalten Tiefen des Sees tauchten sie auf, nackt und wunderschön. Männer und Frauen, und sie alle hielten Schwerter bereit.
Eine Frau führte sie an, ihr Haar zu dicken Zöpfen geflochten, die ihr über den Rücken fielen. Sie betrachtete die verschiedenen Gruppen und blinzelte dabei langsam mit ihren großen blauen Augen. Obwohl sie nackt und tropfnass war, mit Schnee unter den Füßen, schien sie nicht im Mindesten zu frieren.
„Was geht hier vor?“, fragte die nackte Frau.
Zwei männliche Anführer begannen zu sprechen, aber die Frau mit der Kapuze schnitt ihnen mit einer schnellen Bewegung beider Arme das Wort ab. „Warum bist du hier, Eerika?“, fragte sie.
„Uns ist zu Ohren gekommen, dass ihr und die Ravens einen Angriff auf den Tempel unseres Gottes plant, nicht allzu weit von hier entfernt.“
„Warum sollten wir uns jemals die Mühe machen, den fischbedeckten Tempel eures Gottes anzugreifen?“
Von Norden stürmte von dem nahen Berg eine weitere Gruppe heran. Diese Gruppe bestand ebenfalls nur aus Frauen. Sie pflügten mühelos durch den Schnee, da sie lange Stöcke an ihren Füßen befestigt hatten, und sich mit langen Stangen in den Händen vorwärtsschoben.
Sie sprangen allesamt von einem hohen Felsvorsprung, und einige von ihnen machten eine Rolle mitten in der Luft, bevor sie in der Nähe der anderen Gruppen landeten.
Dann sprang aus dem Wald im Norden noch ein Rudel weißer Wölfe herbei. Sie knurrten und fletschten die Zähne und bissen einander, bis sie in der Nähe der anderen stehen blieben und sich von Tieren in Menschen verwandelten. Ganz einfach, mit lediglich einem Gedanken.
Die sechs Gruppen sahen einander für mehrere lange Augenblicke an.
„Ich verstehe nicht“, sagte Holfi Rundstöm zu ihnen. „Warum sind wir alle hier? Zur gleichen Zeit?“
„Man hat uns hierhergelockt, du Idiot“, blaffte die Holde Maid unter ihrer Kapuze hervor.
„Wer würde so etwas tun?“
„Die Stillen sind nicht hier“, kam es von einem der geflügelten Krieger.
Holfi lachte höhnisch. „Das würden sie nicht wagen.“
„Und Lokis Wölfe gehören nicht mehr zu den Neun“, bemerkte eine der Maiden.
„Aber das sollten wir“, warf ein Mann, der ein Wolf gewesen war, lachend ein.
„Aber ihr tut es nicht.“
Die Anführerin der Maiden hob die Hände, um alle zum Schweigen zu bringen, und brüllte dann: „Warum sind wir dann hier?“
Harvold fragte sich das Gleiche, als eine andere Frau – eine ganz andere Frau – lautlos auf dem Felsbrocken landete, hinter dem er und seine Geschwister sich versteckten.
Er schaute zu ihr auf und wusste sofort, dass sie nicht in dieser Gegend geboren worden war. Ihre Haut war braun, als wäre sie tausend Jahre lang in der Sonne gewesen, ihre Augen fast schwarz. Sie trug noch immer das Brandmal ihres Herrn auf dem Arm. Harvold erinnerte sich an sie. Ihr Herr hatte sie an einem Baum gehenkt, weil sie versucht hatte zu fliehen. Sie war eine Sklavin gewesen. Sie hatte noch immer die Narben dort, wo ihr Herr sie geschlagen hatte. Er hatte ihren noch blutenden Leichnam in dem Baum in der Nähe seiner Halle hängen lassen, aber dann war der Leichnam plötzlich verschwunden gewesen.
Die meisten Dorfbewohner hatten angenommen, dass ein Nekromant sie für seine dunklen Machenschaften mitgenommen hatte. Aber wenn ein Nekromant sie nun zurückgeholt hätte, wäre sie ein Leichnam gewesen, der immer weiter verwest wäre, während er durch die Gegend wanderte.
Doch die Frau, die vor ihm und seinen Geschwistern stand … sie war jung, gesund und gut bewaffnet.
Sie war lebendig.
Sie sah auf Harvold hinab und betrachtete ihn eingehend. Sie taxierte ihn, beurteilte, ob er eine Bedrohung für sie darstellte. Zu seiner großen Erleichterung hob sie schließlich einen Finger und drückte ihn sich auf die Lippen. „Scht.“
Harvold wich zurück und nickte.
Lächelnd hob sie ihren Bogen, spannte einen Pfeil und zielte. Nach einigen Sekunden schoss sie den Pfeil ab. Er durchbohrte Rundstöms Hals, und der riesige Mann sah schockiert aus, bevor er zu Boden fiel.
Weitere Pfeile flogen von den Bäumen und Felsen rund um Harvolds Dorf und durchbohrten Krieger und Dörfler gleichermaßen. Sobald der Hagel der Pfeile versiegte, warf die Frau auf dem Felsbrocken den Kopf in den Nacken und stieß einen Kriegsschrei aus, der über das Land hallte.
„Crows!“, brüllte einer der Krieger der Götter warnend, und die Sklavinnen schienen von überall her aufzutauchen. Frauen, die nicht in diesen Ländern geboren waren, die zum Teil noch die Brandmale ihrer Herren auf den Armen oder den Gesichtern trugen, stürmten zwischen den Bäumen hervor, sprangen von Felsvorsprüngen oder ließen sich einfach mitten ins Dorf fallen.
Frauen mit großen schwarzen Flügeln und einer Rune, die auf ihren Hals oder die rechte Seite ihres Gesichts gebrannt worden war.
Harvold erkannte diese Rune. Sie repräsentierte Skuld, eine der Nornen, von denen seine Großmutter in letzter Zeit gesprochen hatte.
„Behandle deine Sklavinnen gut, mein kleiner Harvold“, sagte seine Großmutter oft, „denn wenn sie von deiner Hand einen schlimmen Tod sterben, könnte Skuld sie zurückschicken, um dich in Stücke zu reißen.“
Er hatte gedacht, sie hätte von etwas gesprochen, das aus dem Grab auferstand. Etwas Verwestem und Verzweifeltem, das Rache suchte, bevor es wieder von dem Loch geschluckt wurde, aus dem es herausgesprungen war.
Aber er hatte sich geirrt.
Diese blühenden, zornigen fremden Frauen griffen ohne Zögern an. Einige schlugen mit langen, dünnen Klingen um sich, die sie in Hälse, Oberschenkel und Wirbelsäulen stachen. Andere kämpften mit Schwertern und Schilden und verteilten lähmende Hiebe, um zu enthaupten und zu zerstückeln. Sie kämpften gegen jeden, der ihre Herausforderung annahm.
Viele der Dorfbewohner wurden niedergestreckt, als sie zu fliehen versuchten, außerstande, der Schlacht auszuweichen, die um sie herum explodiert war.
Es war eine brutale Angelegenheit und niemand wurde verschont. Selbst die geflügelten Frauen erlitten schwere Verluste. Aber jene, die noch atmeten, kannten kein Mitleid. Sie gingen zwischen den Leibern umher und töteten diejenigen – ob Gotteskrieger oder unschuldige Dorfbewohner –, von denen sie das Gefühl hatten, sie würden vielleicht überleben, und schlitzten mit ihren dünnen Waffen deren Kehlen auf.
Eine große dunkelbraune, geflügelte Frau packte einen von Odins Kriegern am Nacken und zog ihn hoch, sodass er sich ein wenig aufrichtete. Er hatte während der Schlacht einen seiner Flügel und ein Bein unterhalb des Knies verloren, aber er atmete noch.
„Warum?“, fragte er die Frau. „Warum habt ihr das getan?“
„Hast du gedacht, die Crows würden jemals vergessen, was du und die anderen getan habt? Dass ihr unsere Schwestern getötet habt? Ihr habt sie im Schlaf niedergemetzelt. Ihr habt alle gleichzeitig angegriffen.“
„Das war …“
„Vor zehn Wintern. Ja. Und wir haben es nicht vergessen, Raven.“ Sie beugte sich vor. „Wir vergessen niemals.“
Sie rammte dem Krieger ihre dünne, aber scharfkantige Waffe ins Auge, bohrte es tief hinein und brüllte über seinen Schrei hinweg: „Und jetzt kannst du so sein wie dein Gott!“
Als die Schreie des Mannes erstarben, hoben die Sklavinnen ihre blutbefleckten Waffen und brüllten ihren Triumph heraus.
Harvold war sich nicht bewusst, dass er weinte, bis er gezwungen war, sich das Gesicht abzuwischen. Das ganze Dorf war fort … auch seine Eltern.
Sein Bruder saß mit ihm auf dem Felsbrocken und schaute zu. Weinte ebenfalls. Harvold zwang ihn nicht, wegzuschauen. Es hatte keinen Sinn, ihn noch länger davor zu schützen. Dann fiel Harvold ihre Schwester ein.
„Wo ist sie?“, fragte er und schaute dorthin, wo sie hätte liegen sollen, es aber nicht tat.
Die Brüder hasteten von dem Felsen und drehten sich um, blieben beide überrascht stehen.
Hinter ihnen standen Männer. Männer mit Flügeln. Nicht mit den schwarzen Flügeln von Odins Kriegern, sondern großen weißen Flügeln. Und die Rune Tyrs war in ihre Bizepse eingebrannt. Sie schauten auf Harvolds Schwester hinab, als sie ihnen ihre dicken Ärmchen entgegenstreckte.
„Nein!“, bellte sein Bruder, aber Harvold hielt dem Jungen den Mund zu, um ihn zum Schweigen zu bringen.
Die Männer sahen ihn alle gleichzeitig an. Sie hatten große Augen, die sich nicht bewegten. Nur ihre Köpfe bewegten sich und sie blinzelten Harvold an. Wie Eulen. Ihre Köpfe und Augen bewegten sich wie die von Eulen.
Harvold stieß seinen Bruder nach vorn, und der Junge beeilte sich, ihre Schwester hochzuheben. Er kehrte schnell an Harvolds Seite zurück, das Baby fest im Arm.
Nachdem die Männer sie eine weitere Minute lang angestarrt hatten, gingen sie in zwei getrennten Reihen um sie herum, bevor sie sich in den Himmel erhoben und die verbliebenen Sklavinnen angriffen.
„Protectors!“, schrie eine der Sklavinnen. „Haltet euch bereit, Schwestern!“
Harvold beschloss, nicht hinzuschauen. Er hatte an diesem Tag mehr als genug gesehen.
Er schob seinen Bruder mit ihrer Schwester vor sich her, und sie machten sich zu der Hütte ihrer Großmutter auf, die tief im Wald versteckt lag, wo sie hoffentlich sicher sein würden.
Unterwegs fragte sein Bruder schließlich: „Warum, glaubst du, haben sie einander alle getötet, Harvold? Warum töten sie immer noch?“
Harvold antwortete schulterzuckend: „Ich schätze, sie haben sich nicht besonders gut verstanden …“
Jahrhunderte später …
Hel, Göttin der Unterwelt, ging vor der dunklen, feuchten Höhle auf und ab, in die ihr Vater vor so langer Zeit verbannt worden war.
Die Höhle war der eine Ort, den sie weder betreten konnte, noch konnte sie ihre Aasfresser hineinschicken. Die anderen Asengötter wussten genau, dass sie, wenn sie eintreten könnte, ihren Gefangenen befreien würde. Wie hätte sie das auch nicht tun können? Er war der große Loki, Betrüger-Gott und ihr Vater.
Aber sie hatte die eine Göttin gefunden, die ihn freilassen konnte – Gullveig.
Sie war kein Sproß aus dem Stamm der Asen, sondern aus dem der Wanen, und sie war an nichts gebunden, das sie daran hindern würde, die Höhle zu betreten.
Hel hörte Schritte und wandte sich schnell dem Höhleneingang zu, die Hände fest verschränkt, die Lippen zusammengepresst, während sie darauf wartete, den Vater wiederzusehen, den sie so sehr liebte.
Gullveig kam als Erste heraus. Sie steckte nicht mehr in dem schwachen menschlichen Körper fest, den sie gewählt hatte, um erneut die menschliche Welt zu betreten. Sie glänzte wie das Rheingold. Haare, Augen, Haut – alles war aus Gold und schimmerte selbst in dieser Dunkelheit.
Gullveig blieb vor dem Höhleneingang stehen und lehnte sich an die linke Seite der Steinöffnung.
„Nun?“, drängte Hel, als sie ihren Vater nicht sah.
„Er ist nicht da.“
Hel versteifte sich. „Was? Was hast du … was?“
Gullveig zuckte die Achseln, bereits gelangweilt von dem ganzen Gespräch. „Er ist nicht da. Nicht in dieser Höhle.“
„Das … das ist nicht möglich.“
Gullveig drehte sich um und ging zurück in die Höhle. Als sie wiederkam, hielt sie schwere Ketten in den Händen und warf sie Hel vor die Füße.
Hel kannte diese Ketten. Sie waren aus den Gedärmen ihres Halbbruders Narfi gemacht. Eine zusätzliche Strafe für Loki, für die Dinge, die er jedermanns Lieblingsgott angetan hatte, Baldur. Die Götter hatten Lokis Sohn Vali in einen Wolf verwandelt, der in dieser Gestalt seinen Bruder Narfi getötet hatte. Dann hatten sie Loki mit den Gedärmen seines Sohnes gefesselt, die sich in Eisen verwandelt hatten.
Warum das alles? Weil Odin ein kranker, rachsüchtiger Mistkerl war, und Hel hatte es immer erstaunt, dass so wenige Sterbliche sich an diese Eigenschaft des Allvaters erinnerten.
„Was ist mit Sigyn?“, fragte Hel verzweifelt.
„Mit wem?“
„Seiner Frau! Ist sie da drin?“
„Niemand ist da drin. Die Höhle ist leer bis auf eine ekelhafte Schlange, die mich angezischt hat. Und als ich ihr den Kopf abreißen wollte, hat sie versucht, mich zu beißen! Mich! Weiß sie denn nicht, wer ich bin?“
Hel wandte sich von Gullveigs Klagen ab. Zum ersten Mal seit Äonen empfand sie etwas. Tief, tief in ihren Eingeweiden. Panik. Bei allem, das Hel selbst war, sie geriet in Panik! Und sie wusste, warum.
Hel zeigte auf einen ihrer Aasfresser.
„Macht hier alles dicht. Und bringt uns zurück nach Eljudnir. Sofort.“
„Was ist los?“, fragte Gullveig und entriss dem Aasfresser ihren Arm, den er gepackt hatte, um sie zurück nach Eljudnir zu bringen, Hels Hallen. „Warum hast du solche Angst?“
„Loki ist frei.“
„Na und? Du wolltest ihn doch gerade selbst befreien.“
„Wollte ich. Und dann wäre ich es gewesen. Er hätte in meiner Schuld gestanden. Wenn schon nichts anderes, wäre ich wenigstens vor seinem Zorn sicher gewesen. Aber jetzt …“
„Und was hat irgendetwas von alledem mit mir und meinen Plänen zu tun?“
„Es dreht sich nicht immer alles um dich, weißt du?“
„Nein. Das weiß ich nicht. Meine Pläne sind bereits in der Ausführung begriffen. Willst du mir erzählen, dass du alles änderst, weil dein Daddy vielleicht sauer sein könnte?“
Hel trat dicht an Gullveig heran und zeigte mit einem Finger auf ihr Gesicht. „Du weißt nicht, wovon du redest.“
„Und du solltest mal dafür sorgen, dass du einen Arsch in der Hose hast, und deine Verpflichtung mir gegenüber einhalten!“, knurrte Gullveig zurück und schlug Hels Hand vor ihrem Gesicht weg. Hel streckte beide Hände nach Gullveigs Kehle aus, aber einer der Aasfresser zog Gullveig schnell aus ihrer Reichweite, und ein anderer sagte sanft zu Hel: „Mylady, wir sollten Euch in Sicherheit bringen. Zumindest bis wir wissen, wo Euer Vater ist.“
Hel ballte die Hände zu Fäusten und ließ sie dann sinken. Sie knirschte mit den Zähnen, die sich kurz in Reißzähne verwandelten.
Sie nahm sich einen Moment Zeit, um ihren Zorn unter Kontrolle zu bekommen. „Na schön“, sagte sie endlich und hielt die Augen auf ihren treuen Soldaten gerichtet. Nach so viel gemeinsamer Zeit wusste der Aasfresser, wie er seine Herrscherin beruhigen konnte.
Der Aasfresser lächelte und seine ledernen Flügel bewegten sich langsam hinter ihm. Das Geräusch besänftigte Hels zorniges, verfaulendes Herz.
Bis sie die Worte hörte: „Und was ist mit mir?“
Ihr Aasfresser verzog die Lippen und biss die Zähne zusammen.
Gullveig vergaß immer wieder, dass die Aasfresser Hel ergeben waren und niemandem sonst. Nicht Odin. Nicht Thor. Nicht einmal der schönen Freya, die nur mit einem charmanten Blick leicht die Herzen – und die Schwänze – von willensschwachen Männern eroberte.
Hel brauchte nur mit dem Finger zu schnippen, und ihre Männer würden sich auf Gullveig stürzen und sie in Stücke reißen.
Aber wie sie es schon früher getan hatte, würde Gullveig einfach wieder zurückkommen, und es war das Beste, die Idiotin nicht daran zu erinnern, dass sie in diesem Universum im Grunde unzerstörbar war.
Also fragte Hel, statt mit dem Finger zu schnippen: „Wo ist Önd?“ Sie beobachtete – erheitert –, wie das Wenige an Farbe in den toten Wangen ihres Soldaten verblasste und seine Augen sich ein wenig weiteten.
„Er ist … er ist nicht hier, Mylady.“
„Wo ist er dann?“
„Er befindet sich in den Kreisen der christlichen Hölle … und peinigt die Dämonen.“
Hel lächelte. „Ruf ihn. Sag ihm, dass ich ihn hier an meiner Seite brauche.“
„Aber, Mylady …“
„Tu es. Sofort.“
Der Soldat neigte kurz den Kopf. „Selbstverständlich, Mylady.“
Hel spähte um den Aasfresser herum zu Gullveig. „Ich habe jemanden, liebste Freundin, der dir mit Freuden bei allem helfen wird, das du brauchst. Wenn du willst, dass die menschliche Welt zerstört wird, um Odin und den anderen Schmerz zu bereiten … dann ist Önd dein Mann.“
„Gut“, antwortete Gullveig, wunderbar ahnungslos wie immer. Und sie übersah vollkommen die Tatsache, dass die anderen Aasfresser sich bei der bloßen Erwähnung von Önds Namen äußerst unbehaglich zu fühlen schienen. „Ich freue mich darauf, ihn kennenzulernen. Ich bin des Wartens so furchtbar müde.“
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