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Chasing Hope (Montana Arts College 3)

Chasing Hope (Montana Arts College 3) - eBook-Ausgabe

Julia K. Stein
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Chasing Hope (Montana Arts College 3) — Inhalt

Wenn zwei Welten aufeinanderprallen ...

Julie ist auf Hawaii in einer Hippie-Kommune aufgewachsen und hat sich den Stipendiumsplatz am Montana Arts College hart erkämpft. Sie hat nicht vor, sich in ihrem Creative Writing Studium von irgendetwas ablenken zu lassen, schon gar nicht von einem reichen Schnösel wie Nate, dem alles zugeflogen kommt. Nates Eltern denken, dass er Wirtschaft studiert, doch seine wahre Leidenschaft liegt im Drehbuch. Er möchte Filme produzieren, die Welt aus neuen Blickwinkeln zeigen. Und er möchte Julie aus der Reserve locken, der es immer schwerer fällt, sich zu konzentrieren, wenn er in der Nähe ist.

„Julia K. Stein hat dieses einzigartige Talent, mich gleichzeitig zum Lachen, Fluchen und Weinen zu bringen. Intelligent, voller Gefühl und mit so viel originellem Witz schreibt sie sich mit jedem neuen Buch in mein Leserherz!“ Spiegel-Bestsellerautorin Stella Tack

Das Zentrum der Reihe bildet das Montana Arts College, ein prestigeträchtiges College mit Schwerpunkt in den darstellenden Künsten. In der Abgeschiedenheit Montanas sollen die Studenten sich auf die Ausbildung ihrer Talente in Tanz, Schauspiel, Film und Kreativem Schreiben konzentrieren. Doch die Natur am Rande der Rocky Mountains ist gewaltiger, die Gefühle intensiver – und das führt nicht nur zu ausdrucksstarker Kunst, sondern auch zu intensivem Funkenflug zwischen den Studenten …

Perfekte Lektüre für alle LeserInnen von Sarah Sprinz, Ava Reed und Sophie Bichon.

Julia K. Stein stammte aus dem Ruhrgebiet und studierte in Bonn, Berkeley und an der amerikanischen Ostküste, erwarb einen Magister der Philosophie und promovierte über Literatur. Viele Jahre schrieb sie erfolgreich Bücher für Jugendliche und Erwachsene, arbeitete als Dozentin, moderierte Branchenveranstaltungen und sprach und schrieb auf YouTube und Instagram (@julia.k.stein) über das kreative Leben. Sie verstarb im August 2024.

€ 9,99 [D], € 9,99 [A]
Erschienen am 02.12.2021
400 Seiten
EAN 978-3-492-99968-7
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Leseprobe zu „Chasing Hope (Montana Arts College 3)“

Eins

Julie


Alle Blicke sind auf mich gerichtet, was sich anfühlt, als würde jemand ein Feuer unter mir anzünden. Nein, wir sind nicht im Mittelalter, und ich bin nicht auf einem Scheiterhaufen, sondern sitze in der Bibliothek eines der prestigeträchtigsten Colleges für darstellende Künste der USA. Klopfen auf die Augenbrauen, seitlich neben meinen Augen, kurzes Antippen über dem Mund und dabei hoffentlich nicht aussehen, als würde ich heimlich in der Nase bohren, dann unter dem Kinn, auf dem Schlüsselbein … Unauffällig versuche ich, die unangenehmen [...]

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Eins

Julie


Alle Blicke sind auf mich gerichtet, was sich anfühlt, als würde jemand ein Feuer unter mir anzünden. Nein, wir sind nicht im Mittelalter, und ich bin nicht auf einem Scheiterhaufen, sondern sitze in der Bibliothek eines der prestigeträchtigsten Colleges für darstellende Künste der USA. Klopfen auf die Augenbrauen, seitlich neben meinen Augen, kurzes Antippen über dem Mund und dabei hoffentlich nicht aussehen, als würde ich heimlich in der Nase bohren, dann unter dem Kinn, auf dem Schlüsselbein … Unauffällig versuche ich, die unangenehmen Gefühle wegzuklopfen.

Hinter den riesigen Fenstern der Olin-Bibliothek, die an die einer Kathedrale erinnern, sieht man den Quad, wo sich die Hauptwege des Campus kreuzen. Zwei Studentinnen sitzen in Bikinioberteilen auf der Wiese, um die warme Spätsommersonne zu genießen, und lesen dort, aber wie immer am Anfang des Semesters ist auch die Bibliothek voll mit hoch motivierten Studierenden. Eigentlich ist der Job in der Bibliothek des Montana College of Performing Arts, kurz MCPA, mein Traumjob, und normalerweise bewege ich mich eher in den Untiefen der Bibliothek, im wörtlichen Sinne. Die Bibliotheksmagazine gehen mehrere Stockwerke unterirdisch weiter, und ich sortiere die zurückgegebenen Bücher wieder in die Regale. Dabei stoße ich auf so viele interessante Werke zu Themen, auf die ich ohne diesen Job niemals kommen würde. Ich werde dafür bezahlt, mich inspirieren zu lassen. Die meiste Zeit ist es lächerlich, das als Arbeit zu bezeichnen. Außer heute, da mache ich die Aufsicht im Chaucer-Lesesaal, dem altehrwürdigen Saal mit den langen Holztischen zum Arbeiten und den Ölgemälden von ernst dreinschauenden Gelehrten an der Wand. Ich sitze allerdings nicht an den langen Tischen, sondern an einem Einzeltisch vorn wie an einem Lehrerpult.

 

Gewöhnlich sind die Lernenden im Chaucer-Lesesaal leise, weil sie in ständiger Angst leben, dass Mr Ross reinkommt und sie ermahnt oder rauswirft.

Wie es der Zufall will, ist ausgerechnet heute eine Person anwesend, die schon seit zwanzig Minuten stört, ohne Anstalten zu machen, den Lesesaal dauerhaft zu verlassen. Leider kenne ich diese Person viel zu gut, weil sie in meinem Haus wohnt, und es ist, trotz aller Vorsätze meinerseits, unmöglich, sie weiterhin zu ignorieren.

Nate sitzt an einem der vorderen Tische auf der linken Seite neben den Nachschlagewerken. Nein, er sitzt nicht einfach da, er hält Hof. Er trägt einen dunkelblauen Hoodie mit dem MCPA-Logo, das seine Augen in der gleichen Farbe zum Strahlen bringt, was er mit Sicherheit sehr genau weiß. Seine hellbraunen Haare umrahmen etwas zerzaust – definitiv gewollt zerzaust – sein Gesicht mit den ausgeprägten Wangenknochen. Seine Haut ist, abgesehen von einer schmalen Narbe an der rechten Wange, perfekt. Immer wieder kommen irgendwelche Studis zu ihm, hocken sich neben den langen Tisch mit der goldenen Lampe, um flüsternd etwas zu besprechen. Sie verlassen gemeinsam den Lesesaal, Nate kommt zwei Minuten später zurück, lässt die Tür extra laut ins Schloss fallen, was aufgrund der Türschließer eigentlich unmöglich sein sollte. Keine Ahnung, wie man so grundsätzlich laut existieren kann. Er spricht in einem Flüsterton, den man im ganzen Raum hört, und ich hasse diese Studentinnen, die sich neben seinen Tisch knien und mit ihm irgendetwas bequatschen. Was kann so wichtig sein? In dem Moment leuchtet mein Handy auf, eine Nachricht von meiner Schwester Rain.

Rain:     Ich habe das Handy. Kannst du mich anrufen?

 

Mein Blick gleitet zurück zu Nate und den anderen. Egal, nur fünf Minuten werden sie es ja wohl noch schaffen, nicht völlig auszurasten. Rain will mir sagen, wann sie ankommt. Schnell laufe ich zum Seitenausgang, hinter dem sich die Behindertentoilette befindet – perfekt zum Telefonieren, ohne die Bibliothek zu verlassen und das Telefonverbot allzu schlimm zu missachten. Zum Glück ist sie gerade nicht belegt. Schnell drücke ich die Anruftaste. Sie geht sofort ran.

„Blossom, du bist schnell!“, sagt sie mit ihrer hellen Stimme. Die Verbindung ist ungewohnt gut. Hawaii fühlt sich an, als wäre es direkt nebenan in der MCPA Dining Hall und nicht fünftausend Kilometer entfernt, dazwischen endloser Pazifik.

„Wo bist du?“, frage ich sie. „Bist du allein?“ Ich sehe sie vor mir, ihre gebräunten Hände mit dem silbernen Ring, ihr pinkfarbenes Tanktop, die langen, hellblonden Haare, die ihr ebenmäßiges Gesicht mit den blauen Augen umspielen. Meine Haare sind rotstichiger und meine Augen grün. Ich bin schon immer etwas neidisch auf den satten Goldton, den ihre Haut in der Sonne annimmt.

„Zu Hause. Papa hat tatsächlich das Handy vergessen. Er ist surfen, und Mum ist auf der Plantage.“

Mom verkauft selbst gepresste Öle und ist häufig auf einer Plantage, wo sie die Ausrüstung nutzen kann, um ihre Pflanzen zu pressen und das Öl abzufüllen, das sie an lokale Läden verkauft.

„Er hat sein Handy vergessen?“ Ich muss grinsen. „Er wird nachlässiger bei der Bewachung des teuflischen Instruments, das die Gehirne einer ganzen Generation zerstört.“

Rain gluckst. „Ja, vielleicht lade ich ein Pokémon Unite herunter, einfach um zu sehen, wie er reagiert.“

„Lass es lieber“, sage ich. „Sonst rastet er aus, und du kannst nicht kommen. Also, wann kommst du an? Du wirst es lieben und sofort auch hier studieren wollen. Ich muss noch den Transport organisieren, der Flughafen hier ist ganz schön weit, aber es gibt Shuttles, die einigermaßen bezahlbar sind. Eine Freundin hat sogar angeboten, dich abzuholen.“ Hazel hatte das tatsächlich angeboten, auch wenn ich das niemals annehmen werde, weil es einfach viel zu weit ist.

Für einen Moment ist Stille in der Leitung, und in einer bösen Vorahnung spüre ich ein Stechen in der Brust. Im Spiegel über dem Waschbecken sehe ich mich selbst mit gerunzelter Stirn und angepannten Schultern.

„Deswegen wollte ich anrufen.“ Rain seufzt. „Dad will nicht, dass ich komme.“

„Nein“, protestiere ich laut. „Das haben wir fest ausgemacht, als ich da war. Er hat zugestimmt“, erkläre ich trotzig, als würde Rain mir widersprechen.

„Er sagt, wir hätten gerade kein Geld dafür.“

„Wir hatten das Ticket schon, als ich im Sommer zu Hause war! Daran kann es nicht liegen!“

„Er … er hat es zurückgegeben“, erklärt Rain sanft, als würde sie befürchten, dass ich gleich total ausflippe.

„Dieses selbstsüchtige Arschloch!“, entfährt es mir. Ich schlage mir selbst auf den Mund. Mit Mühe beherrsche ich mich, nicht mit der Faust gegen die Tür zu hauen. Ich bin schließlich immer noch in der Bibliothek.

„Es ist okay, Schwesterherz. Ein andermal.“

Mir kommt der Gedanke, dass sie in der gleichen sanften Stimme spricht, wenn Dad ausrastet. Ich versuche, mich zusammenzureißen.

„Dann kaufen wir es neu. Das Geld kann ja nicht weg sein.“

„Er hat einen neuen Rasenmäher für das Garten-Business gekauft, das er anfangen will. Er möchte das als Service für die neuen großen Villen machen, die auf der Nordseite der Insel gebaut worden sind und so üppige Rasenflächen haben. Hat ihn ein Freund drauf gebracht.“

Wir beide wissen, dass Dads Business-Ideen nie funktionieren. Aber ich bin gerade so schockiert, dass Sonny so weit gegangen ist, dass ich nicht mehr sprechen kann. „Ich werde ein neues Ticket kaufen“, bringe ich durch zusammengebissene Zähne hervor. „Ich weiß, dass Dad Colleges für überflüssige Einrichtungen hält. Aber ich werde ein Ticket besorgen.“

„Wovon denn? Du hast doch selbst nur ein Stipendium.“

„Ich habe einen Job“, weise ich Rain zurecht. „Ich habe Geld gespart. Du kannst dich auf mich verlassen. Ich … muss zurück zur Aufsicht. Ich bin gerade in der Bibliothek. Ich melde mich.“ Und damit lege ich auf. Meine Finger sind schweißnass, und fast fällt mir mein Handy aus der Hand. Für eine weitere Minute starre ich bloß auf das Telefon und warte, dass mein Atem sich wieder beruhigt. Wie konnte er das nur tun? Immer möchte er allen seinen Willen aufzwingen. Ich werde das nicht zulassen. Ich wasche mir die Hände, spritze mir kaltes Wasser ins Gesicht. Dann reiße ich die Tür auf und stapfe zurück an meinen Platz.

 

Die harte Stuhllehne drückt in meinen Rücken, und in meinem Kopf kreisen die Gedanken. Jetzt kann ich mich leider wirklich nicht mehr konzentrieren, und das Verhalten von Nate, das sich kein bisschen verbessert hat in den letzten Minuten, macht mich wahnsinnig. Wenn ich ehrlich bin nicht nur heute. In meinen Adern siedet ein Gemisch aus Wut über meinen Vater und Empörung über Nates Rücksichtlosigkeit. Eigentlich halte ich mich für einen ausgeglichenen Menschen, aber irgendwas an Nate treibt mich in den Wahnsinn. Sein Selbstbewusstsein nervt mich, diese Souveränität, die er nur besitzt, weil er so aufgewachsen ist und immer alles hatte, was er wollte: die besten Schulen, Lehrer, Kleidung, Essen, einfach das ganze Paket. Und gleichzeitig tritt er all das mit Füßen und hat keinen Respekt vor den Dingen, die er ungefragt geschenkt bekommen hat. Vielleicht kann es mich trösten, dass es auch Vorteile hat, nicht nur von Leuten umgeben aufzuwachsen, die einem jeden Wunsch von den Lippen ablesen. Man wird nicht verdorben. Ich verstehe die Frauen nicht, die auf ihn abfahren. Was sie in ihm sehen. Auf jeden Fall etwas, was völlig anders ist als das, was ich sehe. Sie denken, er ist tough und cool und, keine Ahnung, wollen in irgendeiner Form von ihm erobert werden? Für mich ist er jemand, der großkotzig alle Chancen mit Füßen tritt, die er bekommt, und gerade wurmt mich das noch mehr als sonst.

 

Ich vergrabe mich tiefer in mein Buch und versuche zu ignorieren, was um mich herum vorgeht. Dann versuche ich, den Brief weiterzuschreiben, den ich meiner Schwester schicken wollte. Sie liebt es, Post zu bekommen, die in der Silverfall Colony immer im Sanctuary ankommt. Das klingt nach was Heiligem, letztlich ist es der Ort, der eine Adresse hat und somit Post empfangen kann. Aber in den ersten Zeilen hatte ich schon geschrieben, wie sehr ich mich freue, dass sie kommt. Und jetzt hat mein Vater stattdessen einen Rasenmäher gekauft? Rain ist vier Jahre jünger als ich, und solange ich denken kann, habe ich sie beaufsichtigt. Meine Eltern sind nicht so gut im Aufpassen, und das macht mir Angst. Aber gerade kann ich mich weder auf den Brief konzentrieren noch auf mein Buch. Ich versuche, die anschwellende Lautstärke zu ignorieren. So leise wie bei Mr Ross, der hemmungslos jeden Störenfried rauswirft, wird es ohnehin nicht. Die meisten, die den Lesesaal betreten, werfen mir einen langen Blick zu, weil sie sich wundern, wer hier sitzt. Sie fragen sich wahrscheinlich, wer ich bin, obwohl ich schon ein Jahr hier studiere und das College so klein ist. Aber ich habe erst im letzten Semester begonnen, etwas zu unternehmen, seit ich mich mit Yuna und Hazel angefreundet habe. Ich stehe einfach nicht gern im Mittelpunkt. Das kommt noch von der Zeit an der Hanalei Highschool, die ich nur kurze Zeit besucht habe, bevor ich wegen dieses Skandals wieder gehen musste. Ich darf nicht daran denken, sonst rege ich mich noch mehr über meine Eltern auf, die das alles zugelassen haben. Damals habe ich gedacht, dass Blicke Spuren auf mir hinterlassen, wie kleine unsichtbare Wunden. Dass ich sie spüren kann. Na ja, ganz ehrlich, wahrscheinlich stimmt das. Die Leute verstehen nicht, dass viele Dinge, die man nicht erklären kann, wahr sind. Die Studis hier halten sich für clever, dabei wollen sie für alles eine wissenschaftliche Begründung, und wenn ich ihnen sage, dass ich auf Kauai mit Geistern Gespräche geführt habe, halten sie mich für durchgeknallt. Es ist nicht durchgeknallter, als zu glauben, dass eine physikalische Formel erklären kann, warum wir existieren. Nichts kann das Warum begreifbar machen. Warum ist überhaupt etwas da und nicht einfach Nichts? Warum bin ich in Kauai geboren statt an der Upper East Side?

 

Schon wieder höre ich das mir leider allzu bekannte Lachen, schließlich wohne ich seit über einem Jahr mit Nate im gleichen Haus. Ich blicke vorsichtig hoch und sehe, dass Landon sich neben ihn gehockt hat und sich totlacht. Lautlos, aber er krümmt sich, und nein, es ist nicht lautlos, die beiden glauben nur, dass es das ist. Nate mag der beste Freund von Landon sein, Hazels Freund seit letztem Semester – und Hazel habe ich wirklich gern –, aber dafür habe ich jetzt echt keinen Nerv mehr. Das kann ich den anderen auch nicht zumuten. Ich gebe ihnen fünfzehn Sekunden. Im Kopf beginne ich zu zählen.

Und dann klingelt auch noch Nates Handy mit einem völlig beknackten Klingelton. Er stellt es aus und hebt entschuldigend die Hand in meine Richtung. Äh, wie bitte? Ich spüre wieder Blicke auf mir. Diesmal die von den Studierenden, die tatsächlich arbeiten und sich konzentrieren wollen, weil sie ein Vermögen dafür bezahlt haben, hier zu sein, und das auch wertschätzen.

Ich weiß nicht, was ich rücksichtsloser finde: die Tatsache, dass er so laut ist, oder die Tatsache, dass er genau weiß, dass gleich alle sauer auf mich sind, weil ich nicht eingreife. Jetzt flüstert Nate noch mit der Studentin neben ihm, die „geräuschlos“ hinter vorgehaltener Hand kichert. Sie trägt teure Klamotten, das erkenne ich, auch wenn ich selbst nie wertvolle Sachen besessen habe. An ihren Fingern stecken goldene Ringe, und sogar ihre Haare sehen irgendwie teuer aus, glänzend, gesträhnt. Sie strahlt diesen Wohlstand aus, Geld verdunstet förmlich aus jeder Pore.

Es ist ein Elend.

Ich erhebe mich und gehe leise zu seinem Tisch. Unhörbar auf dem Geräusche schluckenden Teppich zu gehen, der hier überall ausgelegt ist, ist für niemanden ein Problem – außer für Nate. Nur das Rascheln meiner Kleidung rauscht laut in meinen Ohren. Vielleicht ist es aber auch mein Blut. Meine Wangen beginnen zu brennen, und ich bin froh über mein weites Sweatshirt und das große Baumwolltuch, das ich trotz des warmen Wetters um den Hals gewunden habe und das Teile meines Gesichts bedeckt. Denn natürlich haben wir jetzt ziemlich viele Zuschauer, die sich die Show nicht entgehen lassen möchten. Nate macht ein betont betroffenes Gesicht, was er scheinbar witzig findet, weil er mich als Aufsicht nicht ernst nimmt. Seine Augen gleiten kurz über mich hinweg, und ich kann nicht verhindern, dass ich darüber nachdenke, was ich anhabe.

Nate lehnt sich zurück und verschränkt die Hände vor der Brust. Das Mädchen kritzelt pseudomäßig in einem ledernen Notizbuch herum, und Landon hat sich eilig verabschiedet. Ich wusste gar nicht, dass ich so einschüchternd sein kann, dass alle davonstürmen.

Nate sieht mich belustigt an. „Mr Ross? So attraktiv habe ich Sie gar nicht in Erinnerung.“

Er flüstert, aber seine Stimme ist laut genug, dass jeder im Raum alles mitbekommt, und ich habe den Eindruck, dass es – anders als vor ein paar Minuten – mucksmäuschenstill im Lesesaal ist.

„Ich helfe nur aus“, gebe ich so leise zurück, wie ich kann. Allerdings glaube ich, dass zu diesem Zeitpunkt jeder im Saal hier die Ohren bis aufs Äußerste gespitzt hat. Man würde eine Stecknadel fallen hören, sogar auf dem Lärm isolierenden Teppich.

„Was hast du gesagt, ich kann dich nicht verstehen?“, flüstert er und beugt sich näher ran, sodass ich sehe, dass seine Nase etwas glänzt und er einen Pickel auf seiner sonst geradezu unwirklich reinen Haut hat. An seiner Lippe ist außerdem die Haut etwas abgeplatzt. Als ich wieder in seine Augen schaue, ist es mir unangenehm, dass ich gerade so offensichtlich auf seinen Mund gestarrt habe. Ich bin so nah, dass ich das Waschmittel riechen kann, das er benutzt. Er provoziert das doch nur. Würdevoll weiche ich zurück, schließlich will ich nicht auf seinen Schoß kriechen.

„Ich helfe heute hier nur aus, weil Mr Ross krank ist. Aber du machst meinen Job verdammt schwer. Ich muss dich eigentlich rauswerfen, denn es gibt hier tatsächlich Leute, die da sind, um zu lernen.“

Er nickt und beißt sich zerknirscht auf die Unterlippe. Daher hat er den Hautfetzen, der dort hängt. Irgendwie passt die nervöse Geste nicht zu seinem sonstigen Auftreten. Leider schaue ich zu der Studentin, die neben ihm sitzt und bisher so getan hat, als würde sie unser Gespräch nicht mitbekommen. Nun schaut sie zu Nate, und mit Erschrecken stelle ich fest, dass sie ihn anstarrt, als wäre er das großartigste Geschöpf, das sie je gesehen hat. Sie wartet förmlich darauf, von ihm den Einsatz zu bekommen, ob sie lachen, einen Witz machen oder ihm bloß huldigen soll. Angewidert wende ich mich wieder ihm zu.

 

„Ich würde vorschlagen, dass du entweder gehst oder vielleicht einfach in dein Buch reinschaust.“ Ich nicke ironisch in Richtung des Stapels, den er vor sich auf dem Tisch platziert hat. Alle Bücher sind zugeklappt. „Man nimmt den Inhalt dieser Bücher nämlich nicht dadurch auf, dass man sie auf den Tisch legt. Man muss tatsächlich reinschauen. Hattest du vielleicht noch nie im Leben nötig. Oder vielleicht verstehst du sie auch bloß nicht.“ Ich bin selbst überrascht, wie gehässig ich bin, sogar im Flüsterton. Aber der ganze angestaute Mist hat mich dünnhäutiger gemacht, und Nates Verhalten bringt irgendetwas in mir zum Überlaufen. Oder, wenn ich ganz ehrlich bin, allein seine Person. Ich muss noch mal drüber nachdenken, was er in mir auslöst. Keine guten Dinge. Ich sollte mich von ihm fernhalten.

Sein überhebliches Lächeln gefriert. Kein Wunder. Fast habe ich ein schlechtes Gewissen, aber nur fast. Die Studentin hat ihren Arm näher an seinen gelegt, sie sucht Körperkontakt. Dabei schaut sie zu mir, aber eher so, als wäre ich ein besonders langer Regenwurm. Fasziniert und ein klein wenig irritiert? Sie nimmt mich nicht ernst.

Nates Blick hingegen hat sich verdunkelt, und er presst die Lippen aufeinander. Konzentriert schiebt er die Bücher zusammen, und über sein Gesicht gleitet ein Ausdruck der Besorgnis, vielleicht sogar ein bisschen Angst. Schwer zu entscheiden, was genau es ist. Und dann packt er seine Sachen in seinen Rucksack, der nagelneu aussieht. Das Mädchen neben ihm in dem Schottenrock, der nichts weiter als eine ironische Anspielung auf die sittsame Schuluniform ist, weil er nur bis zum oberen Drittel des Oberschenkels reicht, versucht, ihn mit einem Griff an den Unterarm zurückzuhalten, aber Nate ignoriert sie.

Kurz huscht ein Ausdruck von Verzweiflung über sein Gesicht. Dann ist er wieder verschwunden. Er seufzt. „Wenn ich jetzt durchfalle, habe ich wenigstens jemanden, dem ich die Schuld geben kann. Danke, Mitbewohnerin, dass du so gut auf mich aufpasst.“ Dann zwinkert er mir zu. Aber es wirkt angestrengt und eher so, als würde er sich eine Maske aufsetzen. Die Leichtigkeit, die ihm vorhin angehaftet hat, ist weg, und mir tun meine Worte leid, als er hinter der schweren Eingangstür des Lesesaals verschwindet. Ich habe Mitleid mit ihm. Was für eine Ironie, dass ich, Julie Reef, Nathaniel the Third – oder wie auch angestrengt vornehm dieser Name lautet, den seine Eltern ihm gegeben haben – bemitleide. Ich höre besser damit auf.



Zwei

Nate


Party am ersten Wochenende nach den Sommerferien. Immerhin habe ich es bisher einmal in die Bibliothek geschafft. Eigentlich wollte ich die Aufsätze schreiben, was ich im Sommer in den Hamptons nicht gepackt habe. Aber nach einer frustrierenden Stunde vor dem blinkenden Cursor und ein paar geschriebenen und wieder gelöschten Wörtern habe ich es nicht mehr ausgehalten in meinem Zimmer, und die Nachricht von Victoria kam wie gerufen. Die Einzelteile meiner Umgebung, das Mid-Century-Modern-Mobiliar des International House mit den geschwungenen Tischen und Sesseln, die etwas ungemütlich wirken, verbinden sich zu einer beruhigenden Einheit, die Anspannung fällt von mir ab, und ein wohliger Frieden senkt sich um mich.

Noch zwei Drinks bis zu dem Punkt, an dem ich sein will. Ich atme aus. Ich habe noch drei Wochen, um meine Aufsätze abzugeben. Drei Aufsätze, das wäre doch ein Witz, wenn ich das nicht schaffen würde, wo so viel auf dem Spiel steht.

Was ich vorhin geraucht habe, war gut. Jo ist der beste Dealer hier am College. Er ist mit einem Stipendium hier und ständig knapp bei Kasse, weshalb er immer erreichbar ist, wenn man was braucht. An meiner Highschool gab es einige, die gedealt haben. Vor allem die Kids, die Geld brauchten, denn man konnte gut verdienen, wenn es so viele gab, deren Ausgaben so wenig kontrolliert wurden wie auf meiner Highschool. Ich war nicht der Einzige mit einer Kreditkarte, die niemand überwacht.

Im International House bin ich freudig begrüßt worden, schließlich bin ich gekommen, um Victoria was zu rauchen zu bringen, worum sie mich gebeten hat. Ich wäre sonst vielleicht noch mal in die Bibliothek gegangen, um es dort mit den Aufsätzen zu probieren. Victoria hat mich umarmt, als wäre ich das Beste, was sie seit vielen Jahren gesehen hat. Das tut gerade irgendwie gut und hilft mir dabei, das schlechte Gewissen abzustreifen.

„Nate, mein Lieblings-Party-Boy.“ Auf ihren Lippen ist der Großteil der roten Farbe schon verschwunden, wahrscheinlich an verschiedenen Wangen, Lippen und Drinks-Gläser verteilt. Nur ihre superlangen schwarzen Haare hängen geradezu makellos frisiert über ihre Schultern. Es handelt sich um eine Perücke, wie ich inzwischen weiß. Sie liebt Perücken. Hatte ich anfangs gar nicht verstanden, wie sie das hinbekommen hat mit den schnell wechselnden, aufwendigen Frisuren, aber sie tauscht bloß die Perücke. Clever, die Frau. Sie trägt ein weißes Kleid, das ihren etwas knochigen, aber hübschen Körper betont, dazu dicke Boots. Ich mag Victoria, vielleicht mag ich sie auch, weil sie einen Hauch vertrautes New York mit nach Montana bringt. Sie ist von der Upper West Side, in der Stadt mag das weit weg sein, hier gehört sie zu meiner Art von Leuten.

„In den Hamptons hast du dich auch nicht mehr gemeldet“, murrt sie gespielt beleidigt.

„Ich war nur ganz kurz da. Wir waren auf Hawaii, im neuen Haus von meiner Mutter und meiner Tante. Einweihung.“ Das stimmt so halb. Auf Hawaii war ich nur für fünf Tage, aber ich habe vergessen, mich zu melden. Das Grundstück auf Hawaii hat meine Familie schon seit zwei Generationen, allerdings hat meine Tante in den letzten drei Jahren einen neuen gigantischen Kasten gebaut, und ich habe immer noch keine Ahnung, wie sie es geschafft haben, diese Baugenehmigung zu bekommen.

„Wie war es bei dir? Steht der Club noch?“

„Ach, es war ein bisschen so wie immer. Ich bin ganz froh, wieder hier zu sein, der Klatsch ist manchmal einfach unerträglich“, sagt sie und wendet sich einer anderen Studentin zu, die sie überschwänglich begrüßt.

Wir hatten direkt am Anfang des Studiums festgestellt, dass wir Mitglieder im gleichen Country Club in den Hamptons waren. Ich erinnere mich vage, dass ich sie früher mal dort gesehen habe, auch wenn wir nicht mit den gleichen Leuten zusammen waren. Als Kinder hatten wir sogar beim gleichen Reit-Sommer-Programm teilgenommen. Eines dieser Sommer-Programme in den Hamptons, bei denen jeder Tag vierhundert Dollar kostet. Natürlich weiß jeder, dass Reitstunden für Achtjährige nicht vierhundert Dollar pro Tag wert sind. Die Preise dienen ausschließlich der Sortierung. Wenn es so teuer ist, können sich das nur bestimmte Leute leisten, und man ist automatisch nur mit anderen Leuten zusammen, die das ebenfalls können. Da ist keiner dabei, der mal kritisch nachfragt, ob das nicht völlig absurd ist.

Am MCPA ist das anders. Ich weiß genau, dass viele mich überhaupt nicht ernst nehmen. Für sie bin ich eben der verwöhnte New Yorker, der sich aus Spaß ein bisschen im Filmemachen ausprobiert. Leute mit viel Geld sind Kreativen suspekt. Fuck you, möchte ich sagen und nehme noch einen großen Schluck, um die ganzen Stimmen in meinem Kopf zum Schweigen zu bringen, die genauso der Meinung sind, dass ich nichts kann. Dass ich hier nicht hingehöre. Dass alle anderen besser sind. Auch wenn andere glauben, dass es mir entgangen ist, weiß ich ziemlich genau, dass das Geld, das ich ausgebe, von meinen Eltern kommt. Und wenn man ganz ehrlich sein soll, dann haben die sich das noch nicht mal selbst erarbeitet, sondern auch nur geerbt. Manchmal benötigt man ganz schön viele Drinks und am besten noch was drauf zum Rauchen, um all diese Gedanken zum Schweigen zu bringen. Andere Drogen nehme ich allerdings nicht oder nicht mehr. Die Probierphase, die einige hier im College haben, habe ich in der Highschool schon lange hinter mich gebracht. Ich will mich nicht umbringen, nur betäuben. Maximal.

Victoria winkt Layla heran, die heute auch drauf ist, und sie umarmen sich innig und fangen an, sich zu unterhalten. Layla ist Victoria in rothaarig mit Westküsten-Vibe. Sie kommt aus L. A., und normalerweise würden Victoria und ich sagen, dass sie deswegen total anders ist als wir, aber hier, in Appleby, Montana, sind wir Stadtmenschen uns ziemlich ähnlich. Jedenfalls ist Layla heute auch auf Spaß aus, darauf, sich selbst zu vergessen.

Sie wendet sich zu mir. Sie trägt einen ultrakurzen Rock und ein winziges Tanktop. Rote Haare umspielen ihre Schultern. Sie sieht super sexy aus, was keineswegs Zufall ist, und umarmt mich. Sie presst ihren Oberkörper flach gegen meinen, und ihr Parfum steigt mir in die Nase, ein blumiger Duft mit einer dunkleren Note, der eine berauschendere Wirkung hat, als hätte sie sich mit puren Pheromonen eingesprüht. Ein zusätzlicher Teil ihrer Sexyness ist definitiv ihr Selbstbewusstsein.

„Layla, ich glaube, ich habe mich gerade in dich verliebt“, bemerke ich. Wir kennen uns über Landon, der gut mit ihr befreundet ist und letztes Jahr was mit ihr hatte. Nichts Ernstes, halt auf Landon-Layla-Art, bevor er sich in Hazel verknallt hat.

Sie grinst, was ich an ihrer Stimme höre, denn wir umarmen uns immer noch. „So richtig verliebt? Wie im Film, meinst du?“ Layla ist im Schauspiel-Programm. Sie rückt ein Stück von mir ab und klimpert mit ihren auffällig langen Wimpern.

„Also nicht so verliebt verliebt. Aber du riechst halt gut.“

Jetzt gluckst sie vor Lachen und zwickt mich in die Seite.

„Ach, Nate, du hebst meine Laune. Das ist gut. Heute könnte dein Glückstag sein.“

Sie löst sich von mir, und sofort will ich sie zurück: ihre Wärme, ihre Nähe, ihren etwas betäubenden Geruch.

„Dein Glückstag“, betone ich und grinse sie an. Sie rollt mit den Augen.

„Gib mir deine beste Pick-up-Line, Nate. Ich will wissen, ob sie deinem Ruf gerecht wird.“

„Nicht so viel Druck, damit kann ich schlecht umgehen“, erwidere ich und lasse ihre lockigen Haare durch meine Finger gleiten. „Wenn du zum Beispiel ein Joint wärst, würde ich dich nur für mich behalten und so lange an dir saugen, bis dir die Glut ausgeht.“

Sie verzieht das Gesicht. „Soll das ein Gedicht sein? Lernt man so was im Filmprogramm?“

„Entschuldige, ich bin durcheinander, weil ich einfach so aufgeregt bin, wenn ich an all die Dinge denke, die wir gegenseitig mit uns anstellen werden. Die Antizipation macht mich fertig.“

Sie schüttelt den Kopf, aber sie lacht. „Du bist durchgeknallt, Nate.“

Layla beugt sich vor und flüstert in mein Ohr: „Komm, lass uns tanzen.“ Sie riecht wirklich gut, dieser vielversprechende Duft, ihre Lippen sind so nah an meinem Ohr, dass ich die Feuchtigkeit, die auf ihnen liegt, spüre. Das ist eigentlich keine Einladung zum Tanzen, sondern zu etwas anderem. Und ich denke, wir wissen das beide. Ich werde mit Sicherheit nicht ablehnen. Ihr Gesicht gerät wieder in meinen Fokus, ihre hohen Wangenknochen, die sinnlich geschwungenen Lippen. Ich mag Frauen, und viele gefallen mir, wenn ich ehrlich sein soll. Layla ist heute die perfekte Frau für mich.

Wir gehen in die Mitte des Raumes und beginnen, voreinander zu tanzen. Vielleicht hat sie wieder mit ihrem Vater gesprochen oder mit ihrem Bruder. Beides Männer, die sie triggern, sich den Kopf frei zu machen, mit ähnlichen Mitteln, wie ich sie nutze. Ich habe ein Gespür dafür, wer mit der gleichen Mission unterwegs ist.

Zu Hause hatte ich dafür ein gutes Trainingsgelände. Dort sind so viele glatt polierte Oberflächen, dass ich weiß, dass die am besten polierten meist was ganz anderes verbergen. Ich habe mal zwei Monate lang die Freundin meiner Mutter gevögelt, die immer in weißen Kostümen, Pumps und mit unschuldiger Fünfzigerjahre-Frisur unterwegs war. Daher weiß ich, dass Leute, von denen man es nicht erwartet, ziemlich überraschende Fantasien haben. Sie sah jedenfalls nicht so aus, als würde sie davon träumen, dass man ihre Arme über dem Kopf festbindet. Hatte sie aber. Und noch von ein paar andern Sachen. Sie hatte die letzten zwanzig Jahre ausschließlich im Ehebett mit ihrem Mann geschlafen und wollte noch ein paar Orte sammeln, unter der Dusche, auf dem Sofa und im Fahrstuhl. Was soll ich sagen, ich war dazu bereit. Jeder Mensch hat Abgründe. Ich helfe gern beim Eintauchen. Aber sie hat tatsächlich nie ihren Mann in ihre Fantasien eingeweiht. Das war schon absurd, so viele Jahre mit jemandem zu verbringen und eine solche Distanz aufrechtzuerhalten. Ich bilde mir ein, dass ich ziemlich viel gesehen habe und von dem Material ein paar gute Filme machen könnte. Vielleicht tue ich das später mal. Das ist es, was ich hier mache: Material sammeln. Mein ganzes Leben besteht aus nichts anderem. Die Frage ist nur, für welches Projekt genau ich sammele.

Layla verschwindet kurz, um was zu holen. Ich tanze allein weiter, knöpfe mein Hemd noch ein Stück auf, weil mir heiß ist. Eduardo ist ebenfalls auf der Tanzfläche, hat sich Victoria geschnappt und wirbelt sie an ihrem Handgelenk herum wie bei einem europäischen Gesellschaftstanz. Natürlich beherrscht Eduardo klassische Gesellschaftstänze, er könnte hier sicherlich auch einen Eins-a-Walzer tanzen. Aber er hat seine Anzugjacke abgelegt und seinen Hemdkragen mehr geöffnet als sonst. Keine Ahnung, was das heißt, vielleicht seine Art, mal so richtig die Sau rauszulassen. Das seidene Einstecktuch ist allerdings noch da. Eduardo ist auch im Filmprogramm, und es gibt Parallelen zwischen uns, was unsere Vorliebe für Partys angeht. Wobei ich gehört habe, dass er ein ziemlich gutes Theaterstück geschrieben hat. Sogar Eduardo kann was.

Ich schwanke, doch es geht noch. Mir kommt der Gedanke, dass ich im dritten Semester bin. Das Semester, in dem ein wichtiges Filmprojekt verlangt wird und ich nicht weiter bin als im letzten Semester. Dass ich genau an dieser Stelle schon zu oft gewesen bin. Und was ich mir selbst als Materialsammlung verkaufe, ist schon lange nur noch Betäubung. Aber jetzt ist es ohnehin zu spät. Ich bin zu zugedröhnt, um noch irgendetwas zu machen. Oder, nun ja, es gibt bloß noch eine Sache, die ich kann. Und hallo, heute ist mein Geburtstag. Ich finde, da kann ich mir was gönnen, und ich nippe an dem Getränk, das Layla mir reicht, als sie zurückkommt. Moscow Mule. Ich lächele sie dankbar an, auch wenn ich wirklich nichts mehr wollte. Eigentlich. Ich denke an die ganzen eingeschweißten Reader vom letzten Jahr, die noch in meinem Zimmer liegen. Ich habe sie noch nicht mal ausgepackt. Aber heute Abend kann ich sowieso weder einen Film drehen noch einen Aufsatz schreiben noch irgendwelche Wirtschaftsprobleme lösen. Wenn ich so müde bin, kann ich auch keinen Satz ohne mindestens fünf Fehler schreiben, dann wird es ganz schlimm mit meiner abgefuckten Rechtschreibung.

Geburtstag also. Ich brauche Dopamin. Es gibt viele Wege, Dopamin zu bekommen: Videospiele, Trinken, Kiffen, Sex. Trinken und Sex ist eine ziemlich bewährte Kombination, und glücklicherweise bin ich nicht der Einzige an diesem College, der diese Theorie vertritt.

Layla will Sex. Ihre Augen glänzen, keine Ahnung, ob sie was getrunken hat oder sich was eingeworfen hat. Ich glaube, das macht sie noch nicht mal, aber sie sieht mich, und sie weiß auch, dass wir gerade im gleichen Universum unterwegs sind und sich unsere Flugbahnen heute kreuzen.

Ich lasse meine Hand ihren Rücken heruntergleiten, direkt in die Kuhle über ihrem Po. Sie ist erhitzt. Ein bisschen Druck, nicht zu viel Druck, aber durch ihre Klamotten ist es nicht sonderlich schwer, ihre Körperformen zu erahnen. Das Top ist nur Dekoration für die Blumenranke an ihrem Oberarm. Ein schräges Lächeln erscheint in ihrem Mundwinkel, und unsere Blicke verhaken sich ineinander. Ich umfasse vorsichtig ihren Oberarm und küsse ihr Tattoo. „Wissen das eigentlich deine Eltern?“, frage ich sie und lasse meinen Daumen ihren Arm hochgleiten.

„Nate, Nate, Nate, viele Leute unterschätzen dich. Du kriegst mehr mit, als viele ahnen. Nein, natürlich nicht.“

Ich nicke und streichele vorsichtig mit dem Daumen darüber. „Es passt zu dir. Ich glaube, wir haben noch nie zusammen getanzt“, erwidere ich.

„Es ist überfällig.“

„Keine Ahnung, wie wir das bisher verpassen konnten.“

Der Wodka knallt voll rein. Viel Limette, wie ich es mag. Mehr brauche ich auf keinen Fall. Jetzt bloß nicht das Maß verlieren, dann wird es noch ein richtig guter Geburtstag.

Wir sind nur noch ungefähr zehn Leute, aber das ist egal. Zehn Leute, die ziemlich gut drauf sind, sind besser als fünfzig halb gare Leute, die dir ein schlechtes Gewissen machen, indem sie dich durch ihre bloße Existenz daran erinnern, dass du gerade etwas anderes tun solltest. Man findet sogar auf diesem kleinen Campus immer jemanden zum Ausgehen. Das Problem für mein Studium ist, dass es für andere das eine Mal ist, der große Abend, an dem man sich einmal komplett zerstört. Und einige wissen inzwischen, dass ich ein guter Partner dafür bin, so einen Abend zu verbringen. Sie wissen, dass ich immer bereit bin, eine Pause vom Lernen zu machen und die Bibliothek zu verlassen. Meine Partner für alle diese Dinge wechseln, ich bin allerdings immer der Gleiche. Die anderen haben eine Auszeit genommen, ich habe nur Auszeiten genommen.

Doch jetzt ist Layla da, und es ist mein Geburtstag. Ihre Haut schimmert leicht von Schweiß, sie lässt ihre schlanken Arme herumwirbeln, ihr roter Lippenstift harmoniert perfekt mit ihren roten Haaren. Während wir tanzen, schließt sie die Augen und lässt sich nach hinten sinken, als würde sie gleich in die Brücke gehen, aber sie kommt wieder hoch. Sie gibt sich der Musik hin, aber ich glaube, sie will mir nur einen Vorgeschmack darauf geben, was mich erwartet.

Als das Lied zu Ende ist, bleiben wir voreinander stehen. Auch wenn nur noch wenige Leute da sind, haben die jedoch vermutlich alle mitbekommen, was hier läuft. „Manchmal vermisse ich die Anonymität der Großstadt“, flüstere ich ihr zu.

„Ich weiß, was du meinst.“ Layla wohnt gemeinsam mit Landon im Chekhov-Haus. Im letzten Jahr, als ich mir nicht sicher war, ob sie was mit Landon am Laufen hat, habe ich mich von ihr ferngehalten. Man will keine problembeladenen One-Night-Stands. Das widerspricht sich total.

„Im Chekhov-Haus war ich schon ewig nicht mehr. Landon lädt mich nie ein“, bemerke ich.

„344 ist eigentlich eins meiner Lieblingshäuser. Dieses Wochenende ist es im Chekhov-Haus zudem voll. Und ich habe eine Zimmernachbarin. Und du?“ Layla zupft an meinem Shirt herum, auch wenn ich nicht weiß, was es da genau zu zupfen gibt.

„Willst du das Einzelzimmer sehen, das ich dieses Semester habe?“

„Natürlich, ich habe schon viel von 344 gehört“, bestätigt Layla grinsend. Sie blickt zur Seite, wo Eduardo gerade verschwindet. „Ich würde sagen, wir folgen Eduardo mit Abstand, dann kommt er nicht auf die Idee, gemeinsam mit uns rüberzulaufen.“

 

Auf dem nächtlichen Campus ist es ungewohnt mild. Die Luft ist warm vom Tag und wurde ausnahmsweise nicht durch feuchte Kälte ersetzt. Layla hat ihre Jacke nur nachlässig übergeworfen, eher als Umrahmung für ihr Dekolleté. In ihrem kurzen Rock und dem kleinen Top zeigt sie immer noch viel Haut. Wir halten uns an den Händen, die Welt ist ein bisschen verschwommen, aber ihre Hand ist deutlich spürbar, eine Art Anker. Als wir noch hundert Meter von 344 entfernt sind, bleibt sie abrupt stehen und hält mich fest, bis ich auch stehe, lässt los und zieht stattdessen meinen Kopf zu sich und küsst mich. Sorgfältig, mit geöffneten Lippen. Wir stehen in der Nähe einer der Laternen, die den Campus in ein sanftes Licht tauchen. Um uns herum, wie es typisch ist fürs Wochenende, einige vereinzelte Gruppen, die umherlaufen, ein paar Leute sind mit dem Fahrrad unterwegs. Alles wirkt weit weg. Belanglos. Sie unterbricht den Kuss und sucht wieder meine Augen. In ihren glänzt Verlangen. Ich streiche mit beiden Händen an ihren Schläfen herunter, nehme ihre Haare und bündele sie hinter ihrem Rücken. Dann wickele ich sie um eine Hand, was Zug auf ihre Kopfhaut auslöst. Sie lässt mich gewähren und lehnt ihren Kopf zurück. Ich beuge mich zu ihrem Hals herunter und küsse ihre Kehle. Ihr entfährt ein Seufzen. Sie ist ziemlich bereit, für alles. Ich richte mich auf und streiche mit dem Daumen über ihre Kehle, entlang ihrer empfindlichsten Stelle, und ich merke an ihrem Atem, wie sehr es ihr gefällt. Ihre Augen verschleiern sich. Schon jetzt. Hier draußen. Zu behaupten, dass ich angeturnt bin, ist echt untertrieben.

Ich trete noch näher an sie heran, sodass mein Unterkörper gegen ihren stößt, und sie kommt näher, erhöht den Widerstand. Sie will wissen, ob sie mich kaltlässt. Tut sie nicht, das weiß sie spätestens jetzt. Wir sind inzwischen in einer eigenen Welt und spielen ein Spiel. Es ist eine Art Schatzsuche auf Speed, bei der wir dem anderen mitteilen, was wir mögen. Es ist die Sprache der Leute, die nicht den ersten One-Night-Stand haben, die vorher sichergehen wollen, dass sie das Gleiche im Sinn haben. Dass wir dazu geeignet sind, dem anderen das Gehirn wegzupusten und all den Scheiß hinter uns zu lassen.

Dann dreht sie sich abrupt um und zieht mich weiter Richtung 344.

„Ich mag diese Antizipation auch“, sagt sie. „Aber langsam reicht’s.“

Julia K. Stein

Über Julia K. Stein

Biografie

Julia K. Stein stammte aus dem Ruhrgebiet und studierte in Bonn, Berkeley und an der amerikanischen Ostküste, erwarb einen Magister der Philosophie und promovierte über Literatur. Viele Jahre schrieb sie erfolgreich Bücher für Jugendliche und Erwachsene, arbeitete als Dozentin, moderierte...

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