Cho Oyu Cho Oyu - eBook-Ausgabe
Göttin des Türkis
Cho Oyu — Inhalt
Den Tibetern gilt der Cho Oyu als heilig; in Europa wurde seine Existenz erst 1921 bekannt. Lange Zeit war er der am wenigsten begangene Achttausender, heute ist er mit dem Mount Everest der meist bestiegene. Reinhold Messner berichtet von der Bedeutung des Nangpa La, eines 6000 Meter hohen Passes, über den seit Urzeiten die Menschen des Himalaja ziehen: Er erzählt von der Erstbesteigung durch den Österreicher Herbert Tichy 1954, vom dramatischen Verlauf der Frauenexpedition 1959, von Reinhard Karls Tod, vom eigenen Scheitern am Cho Oyu und der Besteigung 1983, aber auch von modernen Routen wie der von Denis Urubko.
Leseprobe zu „Cho Oyu“
HISTORIE
» Zum ersten Mal, seit ich Vanessa kenne, bin ich ohne sie auf einer Expedition. Angst ist da, verursacht oder ausgelöst durch ihr Fehlen. Vanessa und die Nachricht von meinem Tod, wie damals Eva und die Nachricht von Reinhards Tod. Auf einem Zettel, von irgendeinem Nepali in die Hand gedrückt, stand: ›Reinhard was killed by an avalanche on Cho Oyu.‹ Vielleicht werden meine Freunde, wenn sie mich finden, meine Gsi-Steine abschneiden und sie Vanessa bringen. Sie ist allein, weil sie mich in meinen Verrücktheiten unterstützt hat. Darüber bin ich [...]
HISTORIE
„ Zum ersten Mal, seit ich Vanessa kenne, bin ich ohne sie auf einer Expedition. Angst ist da, verursacht oder ausgelöst durch ihr Fehlen. Vanessa und die Nachricht von meinem Tod, wie damals Eva und die Nachricht von Reinhards Tod. Auf einem Zettel, von irgendeinem Nepali in die Hand gedrückt, stand: ›Reinhard was killed by an avalanche on Cho Oyu.‹ Vielleicht werden meine Freunde, wenn sie mich finden, meine Gsi-Steine abschneiden und sie Vanessa bringen. Sie ist allein, weil sie mich in meinen Verrücktheiten unterstützt hat. Darüber bin ich traurig. “ Oswald Oelz
Ein Pass und sein Berg
von Reinhold Messner
„ Vielleicht erinnere ich mich auch wirklich nicht ungern an die Sturmstunden im Lager IV. Nicht aus Heroismus – es war keine heldenhafte Situation; auch nicht aus Gefühlsgründen – obwohl ich die aschgrauen Gesichter der Sherpa nie vergessen werde; sondern ganz einfach, weil diese Augenblicke im Schatten des Jenseitigen so gar nichts mit dem alltäglichen Leben gemein haben. “
Herbert Tichy
Der Cho Oyu – im Tibetischen kann der Name dieses Berges auch „Göttin des Türkis“ bedeuten – ist nach neuesten Vermessungen 8202 m hoch und damit der sechsthöchste Gipfel der Erde.
Im Süden dieses Achttausenders bewohnen die Sherpa, „das Volk aus dem Osten“, die kargen Täler und Hochalmen, im Norden leben Tibeter. Über den Nangpa La, einen fast sechstausend Meter hohen Pass, unmittelbar am Westfuß des Cho Oyu, ziehen seit Menschengedenken die stärksten Männer des Himalaja hin und her, um Handel zu treiben. Die Sherpa holten einst Salz aus Tibet und kauften Felle, Wolle und sogar Yaks von ihren Nachbarn im Norden; die Tibeter holten Getreide und Tuch aus dem Süden und brachten diese Güter in wochenlangen, beschwerlichen Märschen über den Nangpa La in ihre Heimat Tibet, ins Schneeland. Heute strömen vor allem chinesische Waren über den Pass nach Nepal, Billigprodukte, die in den Bergtälern im Süden verkauft werden.
Der Nangpa La, dieser höchste regelmäßig begangene Pass der Welt, ist für Ausländer aber seit bald sechs Jahrzehnten gesperrt. Seit 1959, als der Dalai Lama Tibet verlassen hatte und die chinesische Zentralregierung unwiderruflich die Herrschaft über das tibetische Hochland proklamierte, wird die Grenze an diesem für Ortsfremde unzugänglichen Himalaja-Pass von Tingri aus kontrolliert. Ein- und Ausreise sind dort inzwischen für alle verboten.
Trotzdem ist es in den vergangenen Jahrzehnten ganzen Familien gelungen, über den Nangpa La von Tibet nach Nepal zu fliehen. Viele Khampas vor allem, die, unterstützt von humanitären Organisationen aus der Schweiz, den Invasoren aus dem Osten entgegengetreten waren. Mit ihren bescheidenen Waffen – ellenlange Schwerter und Vorderlader – waren sie den mit Flugzeugen, Panzern und Maschinengewehren kämpfenden Chinesen zuletzt hoffnungslos unterlegen. Trotz bester Geländekenntnisse und der Fähigkeit, in der dünnen Höhenluft zu überleben.
Diese mutigen Kämpfer hatten den chinesischen Eindringlingen am längsten Widerstand geleistet. Am Ende hatten sie sich ergeben oder fliehen müssen.
Ohne es zu wissen, war ein Teil der fliehenden Khampas dann denselben Weg gegangen, den Zigtausende ihrer Vorfahren ein halbes Jahrtausend früher schon angetreten hatten, den Weg in die Freiheit im Süden des Himalaja-Gebirges, das die Hochfläche Tibet wie einen schier unüberwindlichen Grenzwall von den Königreichen Nepal, Sikkim und Bhutan trennt. Bei dieser Völkerwanderung kam wohl auch die Legende vom Yeti ins Sherpa-Land Solo Khumbu und somit nach Nepal.
„Der Yeti, der sogenannte Schneemensch, ist ein Fabeltier. Kein Mensch hat es je fotografiert, doch die Sherpa glauben fest an ihn und dulden keine Scherze. Ang Dorje behauptet felsenfest, einen Yeti gesehen zu haben. Wenn er davon erzählt, beginnt er zu schreien. “
Jul Bruno Laner
Am östlichen Rand der tibetischen Hochfläche, dort, wo himmelhohe Berge eine natürliche Schutzmauer gegen das chinesische Sichuan bilden, liegt die Provinz Kham. Dort lebten und leben die Khampas. Heute noch. Vor mehr als 500 Jahren lebten dort auch die Sherpa. Zwischen den Zuflüssen des Yangtse und des Huangho besaßen sie viel Land in einem Gebiet, das sie Salmo Gang nannten.
Eines Tages verkauften sie alle unbeweglichen Güter und verließen mit Kind, Kegel und Yaks ihre Heimat. Mit ihren Yaks – bepackt mit Hausgeräten, feuervergoldeten Bronzen, Silber und wertvollen Kleidungsstücken – zogen sie monatelang nach Südwesten. Im zentralen Tibet, wo einst wie in Kham die vorbuddhistische Bon-Religion weiterlebte, blieben sie nomadisierend viele Jahre lang: immer in Bewegung, wie auf der Flucht.
Zuletzt setzten sie ihre Reise fort. Bis nach Lhasa, wo inzwischen die Hierarchie der Dalai Lamas gegründet worden war. Die Gottkönige waren offensichtlich bestrebt, ihre religiöse und politische Macht über ganz Tibet auszudehnen. Die freiheitsliebenden Clans aus Kham aber hingen an ihrer alten Bon-Religion und wollten von der Zentralregierung in Lhasa nichts wissen. Nachdem sie im Jo-Khang-Tempel – dem ältesten buddhistischen Heiligtum des Landes – gebetet, Butterlampen geopfert und Khatas, weiße Glücksschleifen, niedergelegt hatten, zogen sie weiter.
Über Gyantse und Shegar Zong kamen sie nach Tingri, einer großen Ebene im Norden des heiligen Berges Tseringma und des alles überragenden Cho Oyu. Lange blieben sie mit ihren Yak-Herden, in schwarzen Zelten wohnend, dort. Sie besuchten die Heiligtümer von Rangshar am Fuß der „Göttlichen Mutter“ Tseringma, der Tochter des Berggottes Himachal, und das berühmte Lama-Kloster Rongbuk am Nordfuß des Chomolungma, der „Göttlichen Windmutter“, wie sie den Berg nannten, den wir als Mount Everest bezeichnen. Nach einigen Jahren Aufenthalt in der Ebene von Tingri beschlossen die Führer der Sherpa-Clans weiterzuziehen. Es waren nicht genügend Äcker und Weideflächen vorhanden für die Einwohner von Tingri und die Yak-Nomaden, die seit Jahrzehnten dort den Winter verbrachten, geschweige denn für die Neuankömmlinge aus Kham. Es gab Streit. Die Sherpa gingen freiwillig. Sie überschritten den Nangpa La zwischen Tseringma (auch Gaurishankar) und Cho Oyu, stiegen über Lunak, Thame nach Namche Bazar ab und wurden weiter südlich davon, im Khumbu-Gebiet und in den Tälern von Solo, sesshaft.
Ich bin innerhalb von 40 Jahren häufig in Solo Khumbu gewesen, habe wochenlang mit den Sherpa in Khumjung gelebt und stundenlang dem Singsang der Lamas in Thengboche gelauscht. Ich war an der Ama Dablam und auf dem Mount Everest. Zweimal war ich von Tibet ganz nahe an den Cho Oyu herangekommen, einmal von Rongbuk, einmal von Tingri aus. Niemals aber war es mir möglich gewesen, bis zum Nangpa La vorzustoßen, zur Schlüsselstelle der Sherpa-Völkerwanderung. Auch im Dezember 1982 nicht, als wir mit einer Südtiroler Expeditionsmannschaft eine Winterbesteigung dieses heiligen Berges versuchten.
„ Wir gehen an Tempeln vorbei, zerklüftet und dem Einsturz nahe. Ein heiliger Baum, unter dem Buddha Erleuchtung hätte finden können, ist hineingewachsen und sprengt langsam das Mauerwerk. Der Baum ist heiliger als menschliches Machwerk: Man lässt den Baum stehen und den Tempel verfallen. Ich denke an unsere Betonstädte, in denen kein Gras mehr wächst. “
Jul Bruno Laner
Erst ein halbes Jahr später stand ich erstmals an diesem historischen Ort. Die Regierung in Nepal hatte mir erneut eine Genehmigung für die Besteigung des Cho Oyu angeboten. Diesmal von Südwesten her, vom Nangpa La aus. Allerdings mit der Auflage, den Pass selbst nicht zu betreten. Wir hätten in die Hände chinesischer Grenzposten fallen können.
Als ich im April 1983 also erneut zu einem Versuch aufbrach, waren nur drei Besteigungen nachgewiesen. Der Cho Oyu war damals der am seltensten bestiegene Achttausender. Meine Neugier aber richtete sich weniger auf den Berg als vielmehr auf die Besiedlungsgeschichte von Solo Khumbu. Jahre später habe ich die Urheimat des Sherpa-Volkes besucht und dort eine ähnliche Baukultur vorgefunden wie in seiner heutigen Heimat Solo Khumbu. Auch die Tschorten, die Gebets- oder Reliquienschreine, stehen an ähnlich aussehenden Orten. Als ob die Sherpa-Clans auf ihrer langen Völkerwanderung eine Gegend gesucht hätten, die dem verlassenen Raum entspricht.
„ Hans ist glücklich, Reinholds Partner zu sein. Ich glaube, dass er sich sehr gut konzentrieren kann. Er hat eine selbstverständliche Ruhe und sieht die Dinge mit einem optimistischen Realismus. Er achtet Reinhold, hat aber seine ganz eigenständige Vorstellung vom Bergsteigen. “
Ulrike Stecher
Ich hatte eine kleine Mannschaft ausgewählt: Hans Kammerlander, der beim Versuch im Winter mit mir bis auf einen Klettertag an den Gipfel herangekommen war, und Michl Dacher, der sich zu seinem 50. Geburtstag einen Achttausender gewünscht hatte. Dazu eine Handvoll Sherpas, von denen einer kochte, einer Woche für Woche die Post aus dem Tal holen sollte und drei für den Nachschub ins Basislager sorgten. Als Bergsteiger waren wir nur zu dritt.
Wir wählten einen teilweise neuen Zugang von Südwesten her, hofften, so in die Tichy-Route zu finden und in Tichys Stil sowie in seinem Geist den Gipfel zu erreichen.
Keiner der 14 Achttausender war so fair angegangen worden wie der Cho Oyu von Herbert Tichy 1954. Auch ich wollte diesen Gipfel ja nicht besteigen, um einen bergsteigerischen Rekord zu verbuchen, ich suchte Erfahrung. Ich war drei Geheimnissen auf der Spur: der mythischen Kraft, die auf dem höchsten regelmäßig begangenen Pass der Welt wohnt; der Bedeutung des Berges, der diesen Übergang verklärt und überschattet; der Heiligkeit des Cho Oyu also und dem Glauben der Menschen, die hüben wie drüben von diesem Schneegebirge leben und sich von ihm beschützt fühlen.
Die Völkerwanderung der Sherpa
von Fosco Maraini
„Ich denke voll Dankbarkeit an diesen Tag zurück: an das Glück der Müdigkeit und das Gefühl, sein Bestes gegeben zu haben; an die großartige Einsamkeit, die vor uns noch kein Mensch gestört hatte; an die gute Kameradschaft mit den Sherpas, die gegen den wolkenlosen, grausam kalten Himmel steigen, als wäre er ihre Heimat, nach der sie sich sehnen.“
Herbert Tichy
Man stelle sich vor: Ein ganzes Volk auf Wanderschaft von einem Wohnsitz zum anderen, der vielleicht sehr weit entfernt ist. Das ist eines der ungewöhnlichsten Schauspiele in der Geschichte der Menschheit. Der Gedanke an die große Wanderung schlechthin, an den Auszug aus Ägypten, der Moses und die Seinen in das Land Kanaan führte, liegt nahe. Aber dieses Ereignis ist berühmt, weil große Dichter es beschrieben haben und weil ihr Bericht in die heiligsten Bücher der westlichen Tradition eingegangen ist. Wie viele andere Wanderungen, vielleicht genauso dramatische und mit Leiden verbundene, sind wohl in Vergessenheit geraten, oder das Wissen über sie ist nur bruchstückhaft überliefert?
Vor vielen Jahren, 1968, hatte ich Gelegenheit zu einigen Bergtouren im Friaul; ein Freund zeigte mir die Täler, durch die 1400 Jahre früher, im April 568, die Langobarden in Italien eingefallen sein sollen. Auf einem Felsblock sitzend, beobachtete ich den ruhigen Talboden mit seiner Asphaltstraße; ab und zu kam ein Fahrzeug vorbei, ein Fiat 500, ein Lieferwagen, ein Lastzug; das friedliche Brummen des alltäglichen Verkehrs drang bis zu den Höhen herauf. Mir gefiel es in diesem Augenblick, die Augen zu schließen und mich in meiner Phantasie in den April des Jahres 568 zu begeben. Hatte in jenen Tagen die Sonne geschienen, hatte es geregnet – wer weiß? Sicher war die Straße ein holpriger Pfad gewesen, je nach Wetter schlammig oder staubig. Hier kam die Vorhut der neuen Barbaren, stolze und streitbare Mannsbilder zu Pferde, schwer bewaffnet, bereit, jeden Gegner in die Flucht zu schlagen. Dann andere und wieder andere, stundenlang. Da war der prächtige Schmuck der Pferde König Alboins und seines Hofstaats. Viele Stunden später, vielleicht erst am nächsten Tag erscheint die Masse des Volkes – Wagen mit Frauen, Kindern und alten Leuten, begleitet von Herden, die mit Rufen, Schreien, Pfiffen vorwärtsgetrieben werden, gefolgt von bellenden Hunden; die armen Kühe wollen grasen, doch nein, nur weiter, weiter. Dann wieder Gruppen bewaffneter Männer, die die Flanken schützen, schließlich eine große Streitmacht, die die Rückendeckung bildet und den ungeheueren Zug beschließt.
„ Ich muss wieder fort. Es ist nichts mehr von hellen Schneefeldern und braunen Hügeln in mir geblieben. “
Voytek Kurtyka
Man schätzt, dass die Langobarden über 200 000 an der Zahl waren. Sie hatten ihre Heimat im Noricum und in Pannonien verlassen, um der Bedrängung durch die Gepiden und andere Feinde zu entgehen, bewegten sich voll Zuversicht auf die märchenhaften Ebenen Italiens zu, ein fruchtbares und sonniges Land, ein Land der Weinberge und Gärten, der Städte und Kastelle.
Und die Römer? Einst waren sie die Herren der Welt gewesen, aber inzwischen wussten die Barbaren sehr wohl, dass sie keine Rolle mehr spielten.
Und was Ostrom betraf, so war es zu weit entfernt, um Furcht einzuflößen. Es war also der Mühe wert, den Streich zu wagen, mutig vorzurücken, fruchtbare Landstriche zu besetzen, sich der Städte zu bemächtigen mit ihren Foren, Märkten, Theatern und Bädern, mit ihren an Gold und Marmor reichen Basiliken. Das Unternehmen, das vielen aussichtslos erschienen sein mag, gelang vollkommen. Wenige Jahre später, 572, residierten Alboin und sein Hofstaat königlich in Pavia, und zwei Jahrhunderte lang konnte Italien das Land der Langobarden heißen.
König Liutprand, von 712 bis 744 König der Langobarden, fuhr wütend auf, als die Byzantiner ihn einen Römer nannten: „Romane! Dicamus, hoc solo nomine quidquid ignobilitatis, quidquid timiditatis, quidquid avaritiae, quidquid luxuriae, quidquid mendacii, imo quidquid vitiorum est comprehendente.“ (Zitiert nach: Tagliavini, Carlo: Le origini delle lingue neolatine. Patron, Bologna, 5. Aufl. 1969, S. 163.)
Unter den vielen Wanderungen in der Geschichte der Menschheit ist eine der unbekanntesten, zugleich aber auch eine der kühnsten jene, die eine winzige, mutige Gruppe von Tibetern aus den Tälern der Region Kham, im äußersten Osten des alten Tibet, beinahe an der Grenze zur chinesischen Provinz Sichuan gelegen, in bestimmte Täler des Himalaja führte. Sie gelangten bis an den Fuß ungeheurer Berge, der schwindelerregendsten Höhen der Erde: der Chomolungma (Mount Everest) und anderen Kolossen aus seinem Hofstaat. Dort blieben sie.
Leider besang kein Barde die denkwürdigen Taten dieser Tibeter, die eines Tages Zeltlager und Weiden, Häuser und Dörfer verließen, um ins Unbekannte aufzubrechen. Lange Zeit war all dies von dunkelstem Geheimnis umhüllt. Erst vor einigen Jahrzehnten gelang es einem deutschen Wissenschaftler, Michael Oppitz von der Universität Köln, in den Sherpa-Dörfern des Solo-Tales einige historische Dokumente zu entdecken, die Licht auf die Umstände der Wanderung zu werfen scheinen. 2Shar bedeutet im Tibetischen „ Orient, Morgenland, Osten“, pa heißt so viel wie „Mensch, Person, Leute“, also kann man shar-pa (im Dialekt sher-pa) mit „Mensch aus dem Osten, Leute aus dem Morgenland “ übersetzen. (Oppitz, Michael: „Geschichte und Sozialordnung der Sherpa“, in Khumbu Himal, Band VIII, Wagner, Innsbruck/München 1968. Oppitz, Michael: „Myths and Facts: Reconsidering some Data concerning the Clan History of the Sherpa“. In: Fürer-Haimendorf, C. von ( ed. ): Contributions to the Anthropology of Nepal. University of London, Aris & Philips, Warminster 1974, S. 232 – 243.) Der Name gibt bereits einen allgemeinen Hinweis darauf, dass die Sherpa ursprünglich Einwanderer aus einem fernen, östlich des Himalaja gelegenen Gebietes waren. Aber von wo aus, wie und wann hatte diese bedeutende Umsiedlung eines Volkes stattgefunden, die im Gebiet des heutigen Nepal Bevölkerung und Kultur der Hochtäler Solo und Khumbu sowie anderer, kleinerer Täler von Grund auf verändern sollte ?
„ Wenn wir in die Ferne ziehen, begleite uns, göttliche Mutter, und wenn wir heimkehren, nimm uns wieder gnädig auf. “
Gebet der Sherpa an Tseringma
Die Untersuchungen von Michael Oppitz haben erwiesen, dass sich die Wanderung in zwei Schritten vollzog. Ausgangspunkt war ein Ort namens Salmo Gang in Kham; von dort aus bewegten sich die Sherpa langsam in Richtung einer Region im mittleren bis südlichen Tibet nahe der Grenze zu Sikkim, besonders in die Gebiete von Tingkye und Tingri. Zu einem späteren Zeitpunkt kam es zu einer zweiten, viel kürzeren, aber schwierigeren Wanderung, die über den Nangpa-Pass ( 5806 m ) – einige Karten geben die Höhe mit 5716 m an – und dann in die Hochtäler Solo und Khumbu hinab durch das Himalaja-Gebirge führte. Es scheint, dass die erste Phase der Wanderung von den Sherpa selbst als endgültig betrachtet worden war und dass nur äußerst unglückliche Lebensbedingungen, die sich in der Folgezeit ergaben und auf die wir noch eingehen werden, ihre Oberhäupter zu der Entscheidung bewogen, nach Süden weiterzuziehen.
Zunächst aber: Warum verließen die Sherpa Kham? Und wann ?
Was den Zeitraum betrifft, so scheint man sehr weit zurückgehen zu müssen, vielleicht bis ins 14. Jahrhundert, als der Druck, den die Mongolen auf die Tibeter des Nordostens ausübten, wohl besonders hart und schwerwiegend war – sodass er für einige unerträglich wurde. Der Aufbruch dürfte keine überstürzte Flucht gewesen sein, beschlossen in einem Augenblick von Trostlosigkeit und Verzweiflung. Die alten Chroniken, die Oppitz studiert hat, sprechen von langen und bedachtsamen Vorbereitungen, vom Verkauf von Herden und Häusern, um sich mit Gold zu versehen, das problemlos zu transportieren und überall leicht einzutauschen war. Es scheint auch, dass die Einwanderer (die übrigens nicht sehr viele waren, vielleicht handelte es sich zunächst lediglich um einige Hundert Personen) in den Klöstern und Dörfern entlang des Weges gut aufgenommen wurden – eben deshalb, weil sie nicht wie Landstreicher auftraten, sondern wie Leute, die den Regeln entsprechend für Güter und Dienstleistungen zahlten. Als sie das Gebiet zwischen Tingkye und Tingri erreicht hatten, schien die Wanderschaft beendet; vermutlich glaubten die Sherpa, eine neue Heimat gefunden zu haben, wo sie sich niederlassen, in Ruhe arbeiten und sich vermehren konnten.
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