Connemara
Roman
— Goncourt-Preisträger Nicolas Mathieu über eine moderne Madame Bovary, die ihre Fesseln abstreiftConnemara — Inhalt
Der neue Roman vom Goncourt-Preisträger
Eine moderne Madame Bovary, die ihre Fesseln abstreift
Hélène ist fast vierzig Jahre alt. Sie hat Karriere gemacht, geheiratet, zwei Töchter bekommen und lebt in einem Architektenhaus in der Nähe von Nancy. Sie hat sich den Traum ihrer Jugend erfüllt: abhauen, das Milieu wechseln, erfolgreich sein. Christophe hingegen hat die kleine Stadt im Osten Frankreichs, in der er und Hélène aufgewachsen sind, nie verlassen. Er verkauft Hundefutter und führt ein unentschlossenes kleines Leben. Bis er Hélène wiedertrifft.
„Connemara“ ist eine Geschichte über das tiefe Unbehagen der Klassenaufsteiger und über die Sehnsucht, noch mal von vorne zu beginnen.
„Zärtlich, süffig, im Abgang brutal bitter“ SPIEGEL online
„Wie Houellebecq mit Herz“ Stern
Lieber Herr Mathieu, wie haben Sie Ihre Charaktere gefunden und wie die Erzählung in Connemara, wer oder was hat Sie inspiriert?
Die Figuren Hélène und Christophe waren von Anfang an da. Ich wollte die Geschichte eines Mannes und einer Frau schreiben, in einer ehebrecherischen Beziehung, die Klassenprobleme aufwirft. Das ist im Grunde etwas ziemlich Klassisches, denn Liebe und Sex sind natürlich politisch. Und das fasziniert mich. Eher unterschwellig wollte ich auch einige Motive aus Wie später ihre Kinder aufgreifen. Eigentlich spielt Hélène die Figuren von Steph, Vanessa und sogar von Anthonys Mutter, deren Namen sie übrigens trägt, auf neue Weise nach. Wie Hélène Casati ist sie eine Frau zwischen 40 und 50, die sich von vielen Zwängen befreien will. Wie Steph und Vanessa war sie ein junges Mädchen, das sich durch ein Studium von ihrem Umfeld losreißen wollte. Christophe könnte eine Möglichkeit sein, Anthony mit anderen Mitteln nachzueifern. Da ist ein Hauch von „Was ist aus ihnen geworden?“ und damit eine Verbindung zu den vorherigen Romanen, ohne darauf abzuzielen.
Was verbirgt sich hinter dem Titel?
Das ist eine Sache, die schwer zu erklären ist für diejenigen, die nicht das Glück hatten, in Frankreich aufzuwachsen. Les lacs du Connemara ist ein Chanson von Michel Sardou, einem in Frankreich äußerst beliebten Sänger und Komponisten, der oft als etwas zu reaktionär kritisiert wird, dessen Repertoire aber (fast) jedem bekannt ist – ob man ihn nun liebt oder hasst. Dieses Chanson zeichnet sich durch seine epische Seite, seinen Schwung und ein Crescendo aus, das ziemlich galvanisierend wirkt. Eigentlich ein Volkslied par excellence. Man spielt es auf Festen und Hochzeiten, manchmal mit Ironie, aber viele Menschen hören es wirklich gern. Dieses Lied beschließt auch die Abende an der HEC, der renommiertesten französischen Business-Schule. Und alle anderen Business-Schulen in Frankreich machen es nach. Es ist also gleichzeitig ein kollektiver kultureller Bezugspunkt, ein Stück unseres gemeinsamen Sockels, aber auch ein Unterscheidungsmerkmal, je nachdem, ob man das Lied mit Leidenschaft oder Spott hört. Meiner Ansicht nach ist dieses Lied und damit der Titel ein geeigneter Ort, um den harten Bruch aufzuzeigen, der Frankreich spaltet, ein Bruch, der sich 2017 anlässlich der Präsidentschaftswahlen erneut manifestiert hat und der sich auch in der Beziehung von Christophe und Hélène vollzieht. Kurz: die Kluft zwischen Groß- und Kleinstädten; zwischen Menschen, die lange studiert haben, und den anderen; die Trennlinie zwischen denen, die sich in der heutigen Welt wohlfühlen und einen gewissen Nutzen daraus ziehen, und denen, die darunter leiden, die den negativen Folgen der Globalisierung ausgesetzt sind und mit Sorge in die Zukunft blicken.
Die Arbeitswelt in Connemara ist sehr gegenwärtig, die Welt der hochrangigen Angestellten, des Consultings, deren Sprachcodes sich wie selbstverständlich in den Text einfügen. Haben Sie eine Art Poetik entwickelt?
Es gibt zweifellos eine Art absurde Poetik in dieser Sprache, aber mir ging es vor allem darum, die Nichtigkeit, die Anmaßung und den dominanten Charakter der Managerlogik aufzuzeigen, die aus den angelsächsischen Ländern zu uns gekommen ist und sich in allen Unternehmen verbreitet hat. Mit ihrer Dreistigkeit, ihrer Scheinwissenschaftlichkeit, ihrem hybriden Vokabular hat sich eine Ideologie entwickelt, die zum Zeitpunkt der Wahl 2017 eine ziemlich unerwartete Bestätigung gefunden hat, wobei En Marche, die Partei von Emmanuel Macron, mehr als jede andere von ihr durchsetzt ist. Es ist eine besonders interessante Ideologie, weil sie nichts entwirft, was außerhalb ihrer selbst liegt, und leicht durchschaubar ist. Sie hat sich in allen Bereichen ausgebreitet, im öffentlichen Dienst, im Sport, in der Politik. Sie hat ihr eigenes Wörterbuch, ihre Werte und ihre Eiferer. Ich bin während meiner beruflichen Laufbahn oft mit dieser Ideologie konfrontiert worden und wollte sie beschreiben, mich über sie amüsieren, so wie Flaubert sich zum Beispiel über den fehlgeleiteten Geist der Aufklärung durch die Figur Homais in Madame Bovary lustig macht.
Was verbindet beziehungsweise trennt Hélène von Rose aus Rose Royale?
Was sie zunächst einmal voneinander trennt, ist, dass Hélène eine Frau ist, die auf den ersten Blick alles erreicht hat. Ihr Studium, ihre Karriere, ihre Ehe, ihr Lebensstil. Rose ist viel mehr beschädigt, von den Kerlen, den sozialen Bedingungen, ihrem Werdegang. Aber sowohl Hélène als auch Rose haben einen brennenden Wunsch nach Emanzipation. Sie wollen ihre Fesseln abstreifen. Allerdings gelingt ihnen das nicht ganz.
Die Jugend ist in Ihrem Werk immer prominent. Aus Nostalgie?
Nostalgie ist ein Begriff, der sehr oft auftaucht und den ich konsequent zurückweise. Dazu müsste man allerdings klären, was man darunter versteht. Mir scheint, dass Nostalgie immer von dem Wunsch geprägt ist, die Vergangenheit wiederzubeleben, von dem Gefühl, dass sie besser war als das, was ist oder sein wird. Aber so empfinde ich nicht. Kindheit und Jugend berühren mich sehr, weil sich in jungen Jahren ein Zeitempfinden entfaltet, das sich sehr von dem erwachsenen Zeitgefühl unterscheidet: Es ist unbegrenzt, direkt, unmittelbar. Die Möglichkeiten scheinen unendlich zu sein. Und niemand wird jemals sterben. Als Erwachsener erfährt man einen komplexeren Zeitbegriff, der von Erinnerungen, einer Art Verzicht, von Erfolgen geprägt ist, und von der Gewissheit, dass etwas unwiederbringlich vergangen ist. Es ist ein Zeitempfinden, das vielleicht weniger frühlingshaft leicht, dafür aber tiefer und angemessener ist, in dem das Ausmaß unserer Existenz und ihr eindimensionaler Verlauf stärker spürbar sind. Taten werden mit einer anderen Waage gewogen, mit der Waage der Unerbittlichkeit. Nicht alles kann rückgängig gemacht werden. Das Leben verkürzt sich. Die Menschen, die wir lieben, werden nicht ewig leben. Dieses Bewusstsein (das in unserer Gesellschaft mit aller Macht verdrängt wird, um uns an die Offensichtlichkeit einer ewigen Gegenwart glauben zu lassen, die wir durch endlosen Konsum unendlich genießen können) löst in mir gemischte Gefühle aus, Freude und Trauer, etwas Schmerzliches und zugleich sehr Schönes, das meiner Meinung nach mit dem zu tun hat, was unser Leben wirklich ausmacht – innerhalb all seiner Möglichkeiten und Grenzen. Unser Zustand ist im Grunde genommen tragisch, was aber die Freude keineswegs ausschließt. All das ist es wert. Und wenn ich schließlich einen Rundumblick auf die eigene Existenz werfe und erkenne, was wir sind und was wir waren, erlebe ich manchmal dieses seltsame, bittersüße Gefühl, das ich sicher nicht als Nostalgie bezeichnen würde, sondern vielmehr als Melancholie, und das für mich eine sehr hohe Bewusstseinsebene darstellt.
Die Fragen stellte Bärbel Brands, Hanser Verlag
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