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Coral & Pearl

Coral & Pearl - eBook-Ausgabe

Mara Rutherford
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Die Krone des Meeres

— Düster-romantische Fantasy voller Korallen, Meeresrauschen und tödlicher Gefahr
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Coral & Pearl — Inhalt

Eine verbotene Liebe in einem dunklen Königreich!

Seit Generationen heiraten die Prinzen von Ilara das schönste Mädchen der abgelegenen Insel Varenia. Alle Mädchen träumen davon, als Prinzessin Ilaras auserwählt zu werden, auch die siebzehnjährige Nor. Nor glaubt jedoch, dass ihre hübschere Zwillingsschwester Zadie den Kronprinzen heiraten wird, während sie selbst auf der Insel zurückbleiben muss. Als sich Zadie allerdings bei einem Tauchgang im Meer verletzt, wird Nor an ihrer Stelle nach Ilara geschickt. Dort trifft sie nicht nur auf ihren zukünftigen Ehemann, den feindseligen Prinzen Ceren, sondern auch auf dessen charmanten jüngeren Bruder Talin – und entdeckt eine Verschwörung, die ihre Heimatinsel zerstören könnte.

€ 9,99 [D], € 9,99 [A]
Erschienen am 01.03.2021
Übersetzt von: Diana Bürgel
480 Seiten
EAN 978-3-492-99800-0
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Leseprobe zu „Coral & Pearl“

1

Manchmal frage ich mich, ob es unsere Namen sind, die unser Schicksal festlegen, oder ob es umgekehrt ist. Nor und Zadie: Koralle und Perle. Beides Kostbarkeiten für unser Volk. Beides schön genug, um den Hals einer Königin zu schmücken. Doch Perlen schätzt man ihres Schimmers, ihrer Form und ihrer Perfektion wegen. Bei Korallen ist es anders. Sie wachsen verdreht. In ihrer natürlichen Form würde sie kaum jemand als schön bezeichnen.

Zadie und ich waren einander jedoch von Geburt an ebenbürtig in Schönheit, Anmut und Scharfsinnigkeit. Wir waren, so das [...]

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1

Manchmal frage ich mich, ob es unsere Namen sind, die unser Schicksal festlegen, oder ob es umgekehrt ist. Nor und Zadie: Koralle und Perle. Beides Kostbarkeiten für unser Volk. Beides schön genug, um den Hals einer Königin zu schmücken. Doch Perlen schätzt man ihres Schimmers, ihrer Form und ihrer Perfektion wegen. Bei Korallen ist es anders. Sie wachsen verdreht. In ihrer natürlichen Form würde sie kaum jemand als schön bezeichnen.

Zadie und ich waren einander jedoch von Geburt an ebenbürtig in Schönheit, Anmut und Scharfsinnigkeit. Wir waren, so das Urteil der Ältesten, die schönsten Babys, die jemals in Varenia geboren worden waren. Stolz ruderte uns Mutter im Holzboot unserer Familie umher, in dem Zadie und ich den Großteil unserer Kindheit verbringen sollten. Sie beschattete unseren Oliventeint mit breitkrempigen Hüten, um zu verhindern, dass wir einen Sonnenbrand bekamen. Sie zwang Vater, die scharfen Kanten unserer Möbel rund zu schleifen, niemals fiel auch nur ein einziges unserer dunklen Haare einer Schere zum Opfer. Jeden Abend suchte sie uns nach Abschürfungen und Kratzern ab und trug dann Öle und Salben auf, während sie mit uns schimpfte und uns ermahnte, vorsichtiger zu sein.

Jede der varenianischen Frauen war mit einer einzigartigen Haarpracht gesegnet – von glatt bis lockig, von flachsblond bis tiefschwarz – und unsere Haut schimmerte samtig und gesund, in Farbtönen von golden bis zu poliertem Kupfer. Doch in unserem Dorf wurde Schönheit nach einem höheren Maßstab gemessen. Die Gesichtszüge eines Mädchens mussten symmetrisch und wohlgeformt sein, der Teint rein, der Blick klar und wissbegierig, wenn auch niemals zu direkt. Die Erscheinung musste stets makellos sein, ganz gleich zu welcher Zeit und an welchem Ort. Um wirklich aufzufallen, musste ein Mädchen nichts Geringeres als perfekt sein.

Denn in Varenia war es nicht nur bloßes Glück, wenn man ein schönes Mädchen war. In jeder Generation bestimmte die Schönheit darüber, welche von uns eine Prinzessin werden würde.

 

„Nor!“, rief Zadie und zog mich vom Bootsrand zurück, wo ich auf einem Fuß balanciert hatte. „Was denkst du dir dabei? Du kannst doch jetzt nicht riskieren, dich zu verletzen.“

Ich rieb mir über die Kopfhaut, die noch immer empfindlich war, weil Mutter mir die Zöpfe am Vortag besonders straff geflochten hatte. Als Strafe dafür, dass ich meinen Hut vergessen hatte. Sie befand sich in ständiger Sorge darum, dass die Sonne unser seidiges Haar spröde machen oder – Gott bewahre – eine Sommersprosse hervorrufen könnte. In letzter Zeit knurrte mein leerer Magen allerdings so laut, dass er die schrille Stimme meiner Mutter in meinem Kopf übertönte. Seit Stunden suchten wir nun schon nach Austern. Ohne Erfolg.

Zadie, stets eine pflichtbewusste Tochter, schob meine Hand fort. „Bitte benimm dich, Mutter zuliebe. Du weißt doch, wie nervös sie wegen der Zeremonie ist.“

Die Zeremonie. Wann war Mutter denn jemals nicht nervös deswegen gewesen? Jeder wolkenlose Tag, den wir im Schatten unseres auf Pfählen erbauten Hauses verbracht hatten, jede verpasste Gelegenheit zum Perlentauchen, wenn die See zu unruhig gewesen war – all das hatte ich an die Zeremonie verloren und an die Besessenheit unserer Mutter.

„Unser Königreich hat keine Grenzen“, sagte Vater gern, wenn er auf dem schmalen Balkon unseres Hauses stand, die Augen mit einer Hand beschattete und den Blick auf den Horizont gerichtet hielt. Das mochte für ihn stimmen, doch unser Leben war eine unablässige Erinnerung daran, dass der Kronprinz Ilaras eines Tages das heiratsfähige Alter erreichen würde. Das, was sich seit Hunderten von Jahren wiederholte, würde auch in drei Tagen wieder geschehen: Die Ältesten würden endlich das schönste Mädchen in Varenia auswählen, damit es seine Braut wurde.

Das letzte Mädchen hatte uns vor zwanzig Jahren verlassen, als der derzeitige König noch ein Prinz gewesen war und die Untiefen noch nicht geplündert waren, doch Mutter versicherte uns unbeirrt, dass sie nicht einmal halb so schön gewesen war wie Zadie und ich. Vor dem Zwischenfall hatte sie die Ältesten stets damit aufgezogen, dass sie wohl uns beide zum Prinzen würden schicken müssen, damit er sich seine Braut selbst aussuchte, denn wir glichen einander wie zwei silberne Federfische.

Nun war es natürlich keine Frage mehr, wer geschickt werden würde. Die kleine rosa Narbe auf meinem rechten Wangenknochen war das Einzige, was zwischen mir und der Krone stand. An irgendeiner anderen Stelle meines Körpers wäre ein Makel, der nicht einmal so groß wie eine varenianische Perle war, einfach übersehen worden, aber neben Zadies makellosem Teint konnte man das gezackte Mal nicht ignorieren. Glücklicherweise hatte ich seit dem Zwischenfall sieben Jahre Zeit gehabt, um mich auf dies hier vorzubereiten. Sieben Jahre relativer Freiheit von den unablässigen Ermahnungen unserer Mutter – jedenfalls im Vergleich zu Zadie.

Ich ließ mich wieder auf die Kissen fallen, mit denen unser Boot ausgepolstert war, und wandte das Gesicht dem wolkengetupften Himmel zu. „Bist du bereit?“, fragte ich.

„Wofür?“ Zadie täuschte Unwissenheit vor und zog ihre Röcke wieder über die entblößten Knöchel.

„Varenia zu verlassen. Mutter und Samiel zu verlassen.“ Mich zu verlassen.

„Du weißt doch noch gar nicht, ob sie mich wählen werden. Du bist genauso schön wie ich und du wirst nie krank. Außerdem habe ich Gerüchte gehört, dass Alys auch in Betracht gezogen wird.“

Skeptisch hob ich eine Braue. „Mutter sagt, dass sogar ich mit meiner Narbe schöner bin, als es Alys je sein wird. Wie hat sie sich noch mal ausgedrückt? ›Alys muss nur lächeln und schon wird der Prinz beim Anblick ihres vorstehenden Zahns zurück zu seinem Kindermädchen rennen.‹“

Zadie runzelte die Stirn. „So was sollte Mutter nicht sagen. Alys kann sich doch nicht ändern.“

„Mutter sich aber auch nicht“, entgegnete ich ironisch.

Zadie holte eine der Leinen ein, die über die Bootswand hingen, und machte beim Anblick des winzigen Fischchens, das am Ende zum Vorschein kam, ein finsteres Gesicht. Unsere Gewässer wurden seit Jahren überfischt, auch wenn das offenbar niemand zugeben wollte. Vorsichtig legte sich Zadie das schimmernde Wesen in die Handfläche, entfernte den Haken und warf es zurück ins Wasser. Zum Essen war der Fisch zu klein, allerdings hätten wir ihn als Köder verwenden können, wenn es denn etwas Größeres zu fangen gegeben hätte.

„Ich weiß, dass Mutter schwierig sein kann, aber sie möchte nur das Beste für uns“, sagte Zadie einen Moment später. „Das, was sie selbst nicht haben konnte.“

Sofort fielen mir mindestens ein Dutzend beißender Kommentare dazu ein, aber ich beherrschte mich. „Vielleicht hast du recht.“

Obwohl ich es ihr nie gesagt hatte, wusste ich mit absoluter Sicherheit, dass Zadie die Auserwählte werden würde. Und damit diejenige von uns beiden, die jemals einen Fuß auf trockenes Land setzte – etwas, wonach ich mich seit meiner Kindheit sehnte. Denn Narbe hin oder her, Zadie war schön auf eine Art, wie ich es niemals sein würde. In Varenia suchten wir stets nach einem Makel, sei es nun bei Perlen oder bei Menschen, aber Zadie sah immer nur das Gute. Gerade erst in der vergangenen Woche hatte ich über die Schäden an unserem Haus geschimpft, die ein vorbeiziehender Sturm verursacht hatte. Zadie dagegen hatte den Himmel nach Regenbögen abgesucht.

Deshalb fand Zadie selbst dann, wenn unsere Mutter unerträglich zu werden schien, etwas Freundliches über sie zu sagen.

So gutherzig und anständig würde ich niemals sein und dieser Schmerz war schwerer zu ertragen.

„Ich gehe schwimmen“, sagte ich und wünschte, ich könnte meine Gedanken ebenso leicht abstreifen wie meine Röcke.

Ängstlich blickte sich Zadie um. Junge Frauen im heiratsfähigen Alter sollten sich niemals mit nackten Beinen sehen lassen, aber in einem Rock zu tauchen war nicht nur schwierig, es war gefährlich. Früher einmal hatte es reichlich Austern gegeben, und damals hatten die jungen Männer das Tauchen praktisch allein übernommen, doch nun halfen auch die Mädchen und Frauen aus, wann immer es möglich war. In unserer Familie fuhr Vater jeden Tag zum Fischen hinaus, und wir hatten keine Brüder, die diese Bürde mit ihm teilen konnten, also blieb uns keine Wahl. Nicht einmal Mutter konnte sich allzu laut beklagen – sie wusste, wie dringend wir das zusätzliche Geld brauchten.

„Kommst du?“, fragte ich.

„Das Salz wird unsere Haut austrocknen. Mutter wird es sofort merken.“

Ich stemmte die Hände in die Hüfte und grinste. „Wer als Letzte eine Auster findet, muss heute Abend kochen.“ Die Wahrheit war, dass wir es uns schlicht nicht leisten konnten, mit leeren Händen nach Hause zurückzukehren. Nicht, wenn wir nächste Woche noch etwas zu essen haben wollten. Doch es war leichter, so zu tun, als wäre das alles bloß ein Spiel. Ein Spiel, bei dem es nicht um Leben und Tod ging. „Bereit?“

Sie schüttelte den Kopf, löste dabei jedoch bereits die Schnürung ihrer Röcke und zog die Tunika nach unten, damit ihre Oberschenkel bedeckt blieben. „Du bist durch und durch verdorben“, kommentierte sie und sprang dann ins klare Wasser.

Ich tauchte ihr nach, fühlte den Druck in meinen Ohren anschwellen, als ich an Zadie vorbei zum Grund schwamm und dabei die leise Stimme in meinem Kopf ertränkte, die flüsterte: Ich weiß.

 

Mehrere Stunden später rührte ich in einem Kessel über dem Feuer den wässrigen Fischeintopf um, als Samiel unser Haus betrat. Sein Körper glänzte nass vom Meerwasser, weil er herübergeschwommen war. Sami war unser bester Freund und der einzige Junge im Dorf, der es gewagt hatte, mit uns zu spielen, als wir noch Kinder gewesen waren. Unsere Mutter war über alle Grenzen der Vernunft hinaus streng gewesen, und unser Vater war der beste Freund des Gouverneurs. Sami war dem Zorn unserer Mutter jedoch entronnen, weil sein Vater der Gouverneur war.

„Sag nicht, dass Zadie vor dir eine Auster gefunden hat“, zog er mich auf. Sami war genauso wettkampflustig wie ich, aber an diesem Tag hatte Zadie eben Glück gehabt. Die Auster lag auf einem kleinen Treibholztischchen, bereits ausgenommen, jedoch leider ohne Perle.

Unsere Hauptwährung, die seltenen rosa Perlen, die man nur in unseren Gewässern fand, waren in letzter Zeit ebenfalls knapp geworden, während der Bedarf nach ihnen in Ilara immer weiter stieg. Aus den Perlen wurde Schmuck für die Reichen und Mächtigen angefertigt, aber man konnte sie auch zu einem Pulver zermahlen und Hautcremes und Schönheitsmittel daraus anfertigen. Die meisten Familien in Varenia besaßen eine kleine Dose mit Heilsalbe aus den Perlen, die jedoch streng für Notfälle aufbewahrt wurde. Die meisten von uns waren ohnehin sehr gesund, da wir so viel Zeit in den Gewässern verbrachten, die diese Perlen überhaupt erst so besonders machten. Nach dem Zwischenfall hatte Mutter die Heilsalbe täglich auf meine Wunde aufgetragen, in der Hoffnung, den Schaden damit so gering wie möglich zu halten. Als sie jedoch begriffen hatte, dass die Narbe nie vollständig verheilen würde, hatte sie damit aufgehört.

Sami ließ einen angelaufenen Messingknopf neben die leere Austernschale auf das Tischchen fallen. „Schau mal, was ich für Zadie habe.“

Tadelnd schnalzte ich mit der Zunge. Dem Gesetz nach war Ilara unser einziger Handelspartner für alles, was das Meer uns nicht geben konnte: Kleidung, Obst und Gemüse, Werkzeuge, Bücher, Fässer voller Frischwasser. Sogar unser Feuerholz stammte aus Ilara. Doch Sami war eben die Ausnahme von der Regel. Er handelte oft heimlich – und verbotenerweise – mit unseren Vettern aus Galeth. Vor über hundert Jahren hatte eine kleine Gruppe Varenianer ihr Leben riskiert, um aufs Festland zu gelangen. Dann waren sie so schnell wie möglich nach Norden geflohen, mitsamt einer Herde gestohlener ilarischer Pferde. Diese Pferde waren zum Grundstein der galethischen Kultur geworden. Unsere Kultur dagegen hatten die Wellen geformt.

„Wellenkinder“, nannten uns die Ilarer, und genauso behandelten sie uns auch. Wie Kinder.

Die Ilarer hatten Zugang zu Ressourcen, von denen wir nur träumen konnten – nicht nur Frischwasser und Nahrungsmittel, sondern auch ausgefeilte Waffen und Tausende von Männern. Manchmal kam es vor, dass ein verzweifelter Varenianer versuchte, Fuß auf ilarisches Land zu setzen, auf der Suche nach einem leichteren Leben weit entfernt von den Launen der See, doch meistens machten die Soldaten, die an der Küste patrouillierten, kurzen Prozess mit diesen Leuten. Möglicherweise kamen ein paar von ihnen davon, aber ein Vergehen gegen das ilarische Recht endete nicht einfach mit dem Tod des Abtrünnigen – Ilara konnte unser Volk ohne große Mühe einfach ausrotten. Das machten sie stets deutlich, wenn sie es mit uns zu tun hatten.

Mit gespielter Gleichgültigkeit stupste ich den Knopf an, obwohl mich in Wahrheit alles faszinierte, was vom Festland stammte. „Und was soll Zadie mit einem Knopf anfangen? Soll sie sich damit die Hosen zuknöpfen, die sie nicht trägt?“

„Ich mache ihr einen Mantel, den sie mitnehmen kann, wenn sie geht. Sie wird in Ilara frieren.“

Sami wusste genauso gut wie ich, dass bei der Zeremonie Zadie ausgewählt werden würde. Für ihn war es in gewisser Hinsicht genauso schwer wie für mich, weil auch er sie liebte. Das hatte er immer schon. Ich vermutete, dass Zadie seine Liebe erwiderte, aber sie wussten beide, dass sie eines Tages fortgehen und den Prinzen heiraten würde, also konnte ihre Beziehung nie mehr als Freundschaft sein.

„Das ist sehr fürsorglich von dir“, sagte ich. „Aber du solltest wirklich nicht mit den Galethern handeln. Wenn sie dich erwischen, hängen sie dich auf.“

„Dann sollte ich mich wohl nicht erwischen lassen.“ Er lächelte und seine Zähne schimmerten muschelweiß im Kontrast zu seiner gebräunten Haut. Jungen trugen nicht dieselbe Last wie varenianische Mädchen, zumindest nicht, wenn es um Narben und Sonnenbrände ging. Immerhin mussten sie für ihre Familien sorgen, was immer schwerer wurde. Letztes Jahr noch hatten zwei Perlen ausgereicht, um eine Familie einen Monat lang zu ernähren. Inzwischen waren es schon doppelt so viele, und irgendwie wurde die Qualität der Produkte, die Ilara dafür lieferte, trotzdem zusehends schlechter. Ich hatte schon vor langer Zeit gelernt, keine Fragen zu stellen, wenn es um unsere Handelsbeziehung zu Ilara ging – es war die Aufgabe der Ältesten, sich um solche Dinge Gedanken zu machen, nicht meine. Wenn es nach meiner Mutter ging, gab es ohnehin weit wichtigere Dinge, um die ich mich sorgen musste, wie der Glanz meines Haars oder die Länge meiner Wimpern.

Was mich jedoch nie davon abgehalten hatte, über die Welt jenseits von Varenia nachzudenken.

„Irgendwelche Neuigkeiten aus Galeth?“, fragte ich.

„Es gibt Gerüchte über einen Aufstand im Süden von Ilara.“

„Das ist aber nichts Neues.“

Er schüttelte den Kopf. „Es wird schlimmer. König Xyrus weigert sich, die Flüchtlinge nach Norden durchziehen zu lassen, obwohl die Galether sie mit offenen Armen empfangen würden.“

„Jeder Mann, der ihre Armee stärker macht, ist ihnen willkommen.“

„Es ist nicht nur das. Die Galether waren selbst einmal Flüchtlinge.“

Ich drehte den Knopf zwischen den Fingern. Eine kleine Blume mit vielen Blütenblättern war darauf eingraviert. Ich hatte schon von Rosen gehört, aber gesehen hatte ich noch nie eine. Ich versuchte, mir eine Welt vorzustellen, in der etwas so Kleines wie ein Knopf ein solches Kunsthandwerk wert war.

„Er ist schön“, sagte ich und ließ den Knopf in die leere Austernschale fallen. „Genau wie Zadie.“

Sami legte mir die Hand auf die Schulter und ich schmiegte meine Wange dagegen. „Was sollen wir ohne sie tun?“, flüsterte ich.

Darauf folgte kurze Stille, dann ein Hüsteln. „Ich schätze mal, wir werden eben einander heiraten müssen.“

Ich gab ihm mit dem Kochlöffel, den ich immer noch festhielt, einen Klaps auf die Fingerknöchel, woraufhin er schnell die Hand zurückzog. „Ich würde dich nicht mal heiraten, wenn du der letzte Mann in Varenia wärst.“

Mit gespielter Entrüstung legte er sich die Hand auf die Brust. „Und warum nicht?“

„Weil du mein bester Freund bist. Und was noch schlimmer ist, du bist der zukünftige Gouverneur.“

„Stimmt. Du würdest wirklich eine grässliche Gouverneursgattin abgeben.“ Er schnappte sich eine getrocknete Dattel vom Tisch und sprang aus meiner Reichweite.

„Wenn du das noch mal machst, dann schwöre ich, dass ich dich auf gar keinen Fall heirate. Dann bliebt dir nur noch Alys.“

Er zog eine Grimasse. „Stell dir mal unsere kleinen haifischzähnigen Kinder vor. Meine Mutter wäre untröstlich.“

Zadie erschien in der Tür, ihre Miene wirkte streng. „Ihr seid beide boshaft, wisst ihr das? Alys ist freundlich und treu. Du könntest dich glücklich schätzen, wenn du sie bekommst.“

„Du hast recht“, sagte ich und schämte mich. Ich wusste schließlich besser als die meisten anderen, wie es war, wenn man nur nach der äußeren Erscheinung beurteilt wurde.

Zadie wrang ihr nasses Haar aus und ließ das Frischwasser ihres Bads in den Eimer tropfen, in dem wir unser Geschirr abspülten. Zadie schlief auf Mutters Geheiß nie mit Meerwasser im Haar, obwohl das Frischwasser aus Ilara teuer und eigentlich zum Kochen und Trinken bestimmt war.

„Würde ein boshafter Mann dir das hier schenken?“, fragte Sami und bot ihr den Messingknopf in der Austernschale dar.

Sie schnappte nach Luft, dann verschränkte sie die Arme vor der Brust. „Vermutlich schon, weil ein ehrlicher Mann an so etwas gar nicht herankommen würde.“

Er warf mir über die Schulter einen Blick zu und trat dann näher an Zadie heran. „Er gefällt dir doch, oder? Bitte sag, dass er dir gefällt. Ich wollte dir einen Mantel machen, den du mit nach Ilara nehmen kannst. In den Bergen ist es kalt.“

„Du weißt doch noch gar nicht, ob ich gehe“, sagte sie, aber ihre Haltung wurde weicher. „Außerdem, wo willst du denn den Stoff für einen Mantel herbekommen?“

„Ein ehrlicher Mann würde niemals seine Quellen preisgeben.“

„Ein ehrlicher Mann hätte überhaupt keine Quellen.“

Ich tat so, als würde ich den Eintopf umrühren – selbst so verwässert reichte es kaum für uns vier –, während ich die beiden aus dem Augenwinkel beobachtete. Ich war erleichtert, dass Zadie ihm nicht vorgeworfen hatte, er würde Geld verschwenden, das man auch für Essen hätte ausgeben können, aber sie sollten lieber Abstand zwischen sich bringen, wenn sie wussten, was gut für sie war. Wäre da nicht meine Narbe, dann wäre ich es vielleicht gewesen, die nach Ilara ging. Dann könnten Sami und Zadie heiraten, wenn sie das wollten, und ich würde mehr zu sehen bekommen als eine Rose auf einem dummen Messingknopf für ein anderes Mädchen.

Vielleicht in einem anderen Leben, dachte ich bitter. Aber nicht in diesem.

„Was duftet denn hier so fantastisch?“, fragte Vater und betrat nun ebenfalls das Haus, woraufhin Sami hastig von Zadie zurückstolperte. Vater war gerade vom Fischen in tieferen Gewässern zurückgekommen, das verrieten die Salzkruste auf seiner Stirn und seine windgepeitschten Wangen.

„Das Gleiche, was wir jeden Abend essen“, antwortete ich. „Außer, du hast heute etwas gefangen?“

Er schüttelte knapp und traurig den Kopf und mein Magen gab ein Knurren von sich. Ich schlug mit dem Kochlöffel gegen den Kessel, um es zu übertönen. „Kein Problem, Vater. Das letzte Mal hat es eine Woche lang im Haus gestunken, nachdem Zadie Fisch gebraten hat.“

Sami lachte, und Zadie tat so, als wäre sie empört, und stieß Sami sanft beiseite. Sogar mein Vater erlaubte sich ein kleines Lächeln über meinen Versuch, die Stimmung aufzuhellen.

Meine Eltern hatten längst bemerkt, wie sich Zadie und Sami in der Gegenwart des jeweils anderen verhielten – tatsächlich war es nicht zu ignorieren –, aber Vater war etwas toleranter als Mutter, die nicht wollte, dass irgendetwas Zadie von ihrem ausschließlichen Daseinszweck ablenkte: nämlich Königin zu werden. Ein Schicksal, das Mutter selbst verwehrt geblieben war. Vor zwanzig Jahren war diese Ehre einer anderen jungen Frau zuteilgeworden, und Mutter würde nicht zulassen, dass sich die Geschichte wiederholte. Ich war ihr Notfallplan, aber im Laufe der vergangenen ein, zwei Jahre, als immer offensichtlicher geworden war, dass Zadie bis zur Zeremonie unbeschadet bleiben würde, hatte sie ihre Aufmerksamkeit mehr und mehr auf meine arme Schwester gerichtet.

Vater räusperte sich und wandte sich an Sami, der rasch den Knopf hinter seinem Rücken versteckte. „Ich glaube, dein Vater sucht dich. Irgendetwas, weil du vorhin nicht da warst, obwohl du eine Ladung Feuerholz an deine Tanten liefern solltest?“ Er hob eine Braue, aber ich hörte die Belustigung in seiner Stimme.

„Ja, natürlich. Ich wollte gerade gehen.“ Sami drehte sich zu Zadie um und gab erst ihr, dann mir einen Kuss auf die Wange. „Wir sehen uns morgen.“

„Nicht morgen“, rief mein Vater ihm in Erinnerung. „Da bereiten sich die Mädchen auf die Zeremonie vor, schon vergessen?“

Eigentlich war er kein sonderlich Furcht einflößender Mann, jedenfalls nicht in meinen Augen, aber Sami errötete. „Natürlich. Dann also bei der Zeremonie.“

Ich wünschte mir, Vater würde gehen und Sami die Möglichkeit geben, sich richtig zu verabschieden. Wenn er Zadie das nächste Mal sah, würde sie schon so gut wie verlobt sein, mit dem Prinzen von Ilara.

„Bis dann“, riefen Zadie und ich gleichzeitig, als Sami auf den Balkon hinaustrat, von dem eine Strickleiter ins Wasser hinabhing. Unser Haus war wie alle Häuser Varenias aus dem Holz eines Schiffswracks erbaut. Alle paar Jahre strichen wir es orangerosa an, eine Farbe, die Mutter gefiel und die vom Horizont aus leicht zu sehen war, um uns auch bei Tag sicher nach Hause zu führen, wenn eine Laterne wenig Sinn hätte.

Vater ließ sich auf einen niedrigen Hocker aus Treibholz sinken. „Wie ich sehe, kocht Nor heute. Heißt das, Zadie hat die Auster gefunden?“ Er deutete auf den glänzenden grauen Fleischklumpen, der in einer unserer gesprungenen Porzellanschalen lag. Einige unserer Besitztümer stammten aus dem Handel, aber andere waren aus Schiffswracks geborgen worden. Mutter fragte nie, wie ich zu solchen Dingen kam, besonders nicht, wenn ich etwas fand, das ihrer Eitelkeit schmeichelte, wie einen Handspiegel oder einen Kamm aus Schildkrötenpanzer.

Zadie und ich tauschten einen Blick. Wenn wir zugaben, dass Zadie die Auster gefunden hatte, dann verrieten wir damit auch, dass sie heute Mutters Anweisung nicht befolgt hatte und geschwommen war. Sie zählte auf den beeindruckenden Brautpreis, den der Prinz der Familie des auserwählten Mädchens zukommen lassen würde, aber bis dahin mussten wir irgendetwas essen. Wer wusste schon, wie viele Austern es morgen geben würde? Oder nächste Woche? Sami hatte gehört, wie sich sein Vater nachts in gedämpftem Tonfall mit den Ältesten besprochen hatte, weshalb wir wussten, dass die Dinge schlimmer standen, als es unsere Eltern zugaben.

„Ich habe sie gefunden“, antwortete ich. „Aber ich habe mit Zadie gewettet, dass eine Perle drin ist, und da war keine.“

„Wie schade. Na ja, solange ich die Auster essen kann, ist es mir eigentlich egal, wer sie gefunden hat.“ Vater zwinkerte Zadie zu, als sie ihm die Schüssel reichte. „Ihr seid gute Mädchen, alle beide.“

Während er den Kopf in den Nacken legte und sich die Auster in den Mund gleiten ließ, stellten Zadie und ich uns zu ihm. „Ich werde diejenige von euch, die mir weggenommen wird, sehr vermissen“, sagte er. „Aber ich habe immer gewusst, dass dieser Tag kommen würde. Das hat man davon, wenn man das schönste Mädchen in Varenia heiratet.“

Mutter trat vom Balkon ins Haus und flocht sich dabei ihr frisch gewaschenes Haar zu einem Zopf. Sie war nie so tief getaucht, dass ihre Trommelfelle geplatzt waren – etwas, das viele der älteren Dorfbewohner getan hatten, um besser mit dem Druck zurechtzukommen –, und sie hatte eines der schärfsten Paar Ohren im ganzen Dorf. Nur wenige Fältchen zupften an ihren Augenwinkeln und ihren Lippen, das Ergebnis, wenn man stets einen Sonnenhut trug (und fast nie lächelte).

„Unsere Schönheit ist ein Zeichen der Gunst, die Thalos unserer Familie gewährt hat“, sagte sie und sah aus dem Fenster hinaus auf die dunkler werdenden Wellen, so als würde der Meeresgott selbst zusehen. Plötzlich schoss eine Gischtfontäne durch die Ritzen der Bodenbretter unseres Hauses und Mutters Blick blitzte zufrieden auf.

„Wir werden ihn mit unserem Opfer ehren“, fügte Vater hinzu.

Hinter seinem Rücken drückte ich Zadies Hand und wünschte mir, die Sonne würde niemals untergehen. Das Meer schenkte einem nichts, ohne eine Gegenleistung dafür zu erwarten, so sagte man, und Thalos war ein hungriger Gott.

Mara Rutherford

Über Mara Rutherford

Biografie

Mara Rutherford wurde als Drilling in Kalifornien geboren. Sie schloss ihr Studium an der University of London mit einem Master in Kulturwissenschaften ab. Ihre schriftstellerische Karriere begann sie als Journalistin, entdeckte jedoch schnell ihre Leidenschaft für das Schreiben von phantastischen...

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