Couchsurfing in der Ukraine Couchsurfing in der Ukraine - eBook-Ausgabe
Meine Reise durch ein Land im Krieg
— Das packende Porträt eines belagerten Landes und seiner MenschenCouchsurfing in der Ukraine — Inhalt
Vom Mut, der Hoffnung und einem Leben im Ausnahmezustand
Bestsellerautor Stephan Orth hat den Krieg Russlands gegen die Ukraine von Anbeginn intensiv miterlebt. Durch seine ukrainische Freundin Julija verbindet ihn ein besonderes Band mit dem Land. Wie geht es den Menschen, die geblieben sind? Wie sieht ihr Alltag aus, was gibt ihnen Hoffnung? Und was hat das alles mit uns zu tun? Mit diesen Fragen reist er nach Kyjiw und Odesa, nach Charkiw und in die Karpaten. Er wohnt bei Einheimischen, hört ihre Geschichten, ist beeindruckt von ihrem Mut und Lebenswillen – und packt selbst beim Wiederaufbau mit an.
Persönliche Einblicke und Begegnungen auf Augenhöhe
Sein bewegender Bericht ermöglicht uns eine Perspektive, die weit über den Krieg hinausreicht.
„Stephan Orth versteht es hervorragend, Land und Leute für den Leser lebendig werden zu lassen.“ Westdeutsche Allgemeine Zeitung
Leseprobe zu „Couchsurfing in der Ukraine“
Ein historischer Knall
Diese Scheißsirenen. Ein dissonantes Klagegeheul der schlaflosen Stadt. Aus verschiedenen Lautsprechern klingt der stehende hohe Ton unterschiedlich, mit einer großen Sekunde Intervall. Wie ein zu langes Luftanhalten, nach einer Ewigkeit folgt das Glissando nach unten, ein zeitversetzter Todeskanon aus verschiedenen Richtungen. Es ist zwei Uhr morgens, und in einem solchen Moment wachen ein paar Hunderttausend Menschen gleichzeitig auf. Der Puls dieser paar Hunderttausend Menschen geht im gleichen Moment nach oben, sie haben Angst, [...]
Ein historischer Knall
Diese Scheißsirenen. Ein dissonantes Klagegeheul der schlaflosen Stadt. Aus verschiedenen Lautsprechern klingt der stehende hohe Ton unterschiedlich, mit einer großen Sekunde Intervall. Wie ein zu langes Luftanhalten, nach einer Ewigkeit folgt das Glissando nach unten, ein zeitversetzter Todeskanon aus verschiedenen Richtungen. Es ist zwei Uhr morgens, und in einem solchen Moment wachen ein paar Hunderttausend Menschen gleichzeitig auf. Der Puls dieser paar Hunderttausend Menschen geht im gleichen Moment nach oben, sie haben Angst, aber noch stärker ist längst die Wut. Schon wieder eine Nacht mit Schlafentzug. Es ist Anfang Mai 2023, und wer in Kyjiw geblieben ist, hat einen Winter mit häufigen Stromausfällen überstanden und mehr Luftalarme, als man zählen kann.
Viele begegnen der Todesgefahr längst mit einer Mischung aus Fatalismus und Wahrscheinlichkeitsrechnung: Wenn es mich trifft, dann ist es halt so. Aber immerhin ist die Wahrscheinlichkeit, dass es mich heute nicht trifft, einigermaßen hoch. Die meisten feindlichen Raketen über der Hauptstadt werden von der Flugabwehr abgeschossen.
Es ist unmöglich auszurechnen, wie viele Leben allein das deutsche Abwehrsystem Iris-T gerettet hat. Tausende? Zehntausende? Oder welchen Schaden die iranischen Shahed-Drohnen angerichtet hätten, die deutsche Gepard-Panzer aus der Luft geholt haben. Hätte man eine Zahl, wäre leichter zu verstehen, wie wertvoll diese Hilfe war, was für einen Unterschied diese Gerätschaften gemacht haben. Wenn ich mir vorstelle, wie Kyjiw in diesem Moment aussähe ohne ausländische Waffenlieferungen, wird mir ganz anders.
Es knallt. Und dann noch einmal.
„Ist nur outgoing“, murmelt Julija routiniert und verschlafen und dreht sich auf die andere Seite. Ich verstehe nicht, warum sie so unbekümmert ist, schließlich wird die Luftverteidigung nur aktiv, wenn sie Ziele in der Luft entdeckt hat.
Autoalarmanlagen gehen los, Hunde bellen.
Dann ein Donnerschlag, zwanzigmal lauter, er kommt von weiter oben. Die Wände der Wohnung wackeln.
„Ins Bad“, sagt Julija, jetzt hellwach. Wir reißen die Decken an uns und ziehen um. Es plätschert im Abwasserrohr, das zu den höheren Stockwerken führt. Logisch, das ganze Haus ist gerade aufgewacht.
Handycheck. Was fliegt gerade auf uns zu, was ist los? Eine MiG-31 ist in Russland gestartet und hat mehrere bislang nicht identifizierte Raketen in Richtung Ukraine geschossen, außerdem sind Shahed-Drohnen in der Luft. Blitzschnell bekommt man diese Informationen in diversen Telegram-Gruppen oder bei war_monitor_ua auf X.
Es knallt noch ein paarmal dumpf, dann ist Ruhe. Einer der traurigsten und schönsten Sätze, den ich je von Julija gehört habe, ist folgender: „Ich liebe dich dafür, wie du mir bei Luftalarm den Rücken streichelst.“
Am nächsten Tag lesen wir, dass wir einen historischen Moment miterlebt haben. Zum ersten Mal hat ein ukrainisches Patriot-System eine Kinschal-Überschallrakete abgeschossen. Vorher hieß es, gegen die könne man sich nicht verteidigen. Das muss der besonders laute Knall gewesen sein.
Wir arbeiten ein bisschen an unseren Laptops, aber wir sind angespannt, streiten über eine Kleinigkeit. Ich gehe raus, um Luft zu schnappen. Schon wieder Sirenen. Über der Iwan-Franko-Straße sehe ich eine Art Flugzeug. Unmöglich, über Kyjiw fliegen keine Flugzeuge, seit vielen Monaten schon. Es ist dunkelgrau, hat eine seltsam rechteckige Heckpartie und bewegt sich ungewöhnlich langsam, wie ein Segelflieger. Mein Puls rast. Andere Passanten beobachten es ebenfalls, bis es hinter Hochhausreihen verschwindet. Es knallt ein paarmal. Flugabwehr. Etwas detoniert in der Luft. Kurz darauf gehen Videos herum, die den Abschuss direkt über dem Unabhängigkeitsplatz zeigen. Passanten jubeln, als das Fluggerät getroffen wird, in Flammen aufgeht und abstürzt. Doch dann stellt sich heraus, dass die Situation anders war als gedacht: Das war kein feindlicher Angriff, sondern eine ukrainische Bayraktar-Drohne, die außer Kontrolle geraten war und deshalb abgeschossen werden musste.
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