Das achte Paradies (Jacques-Ricou-Reihe 4) Das achte Paradies (Jacques-Ricou-Reihe 4) - eBook-Ausgabe
Ein Fall für Jacques Ricou
„Wickert-Krimis sind (...) beste Unterhaltung, haben ihre eigene Spannung, ihren eigenen Charme.“ - Leipziger Volkszeitung
Das achte Paradies (Jacques-Ricou-Reihe 4) — Inhalt
Eigentlich wollte der Pariser Untersuchungsrichter Jacques Ricou während der offiziellen Justizferien ein wenig Abstand zum stressigen Alltag gewinnen und auf der Motorjacht seines alten Freundes Eric die Seele baumeln lassen. Doch noch bevor er seine Ferien antreten kann, wird die Cousine seiner Freundin Margaux vermisst. Steht ihr Verschwinden im Zusammenhang mit Margaux’ Recherchen in Kreisen der georgischen Mafia? – Ulrich Wickert, der Meister französischer Lebensart, gönnt seinem Richter keine Ruhepause und lässt ihn gegen die skrupellosen Männer mit dem achtzackigen Stern ermitteln.
Leseprobe zu „Das achte Paradies (Jacques-Ricou-Reihe 4)“
Für Adrienne
Urlaubsträume
Nun lass doch die Spatzen!«, sagte Gaston. Er stand an der Tür zum „Aux Folies“ nicht weit von Jacques entfernt, der an seinem angestammten Bistrotisch à la terrasse saß, einen Café crème trank, Zeitung las und, ohne hinzuschauen, in ein Croissant biss.
Immer wieder hüpfte ein Spatz auf die Lehne des Stuhles ihm gegenüber und wartete auf die Chance, ein paar Krümel aufzupicken.
Halb neun am Morgen. Und dazu noch Montag. Über Nacht war die Luft ein wenig abgekühlt und das sehr früh mit Wasser sauber gespritzte Trottoir noch nicht [...]
Für Adrienne
Urlaubsträume
Nun lass doch die Spatzen!«, sagte Gaston. Er stand an der Tür zum „Aux Folies“ nicht weit von Jacques entfernt, der an seinem angestammten Bistrotisch à la terrasse saß, einen Café crème trank, Zeitung las und, ohne hinzuschauen, in ein Croissant biss.
Immer wieder hüpfte ein Spatz auf die Lehne des Stuhles ihm gegenüber und wartete auf die Chance, ein paar Krümel aufzupicken.
Halb neun am Morgen. Und dazu noch Montag. Über Nacht war die Luft ein wenig abgekühlt und das sehr früh mit Wasser sauber gespritzte Trottoir noch nicht ganz trocken.
„Mich nerven Spatzen“, antwortete Jacques und wedelte mit der Zeitung, sodass der kleine Spatz davonflatterte, um sich ein paar Meter entfernt auf seinen nächsten Anflug vorzubereiten.
Gaston stieg langsam die drei Treppenstufen hinunter auf die Straße und warf demVogel einige Brösel zu. „Das Normale verschwindet. Der Hering wird teuer wie Kaviar, in der Straße der Ölsardinen schwimmen keine Fische mehr, der billige Kabeljau steigt zur seltenen Delikatesse auf. Und jetzt sterben auch noch die Spatzen aus. Und weißt du, warum?“
Jacques schaute kurz auf und knurrte, statt eine Antwort zu geben.
„Die Reichen renovieren die immer teurer werdenden Häuser mit viel Geld und lassen alle Löcher zumauern. Deshalb finden die Spatzen keine Nistplätze mehr.Wirklich wahr! Und keine Krümel, weil die Leute so lumpig sind wie du.“ Gaston lachte. „Vor ein paar Jahren hätten hier noch zehn Spatzen rumgezwitschert und wären wirklich lästig gewesen. Aber jetzt?“
„Bring mir noch einen Café“, sagte Jacques, der von der sentimentalenVogelstudie des Wirts genervt war.
Er fühlte sich gestresst.
Auch dieses Wochenende hatte er in seinem Büro im Palais de Justice gesessen und bis spätabends gearbeitet.
Die letzten beiden Jahre hatte er, der Untersuchungsrichter Jacques Ricou, mithilfe von Kommissar Jean Mahons Truppe damit verbracht, einen Casinobesitzer zu überführen, der sich mit großzügigen Geldgeschenken politische Protektion gekauft hatte. Wie blöd sich doch manchmal würdevoll auftretende Politiker benehmen! Genauso blöd wie ehrbar erscheinende Gauner, die Leute in Ämtern bestechen. Der eine hält die Hand auf, der andere schiebt was rein. Wahrscheinlich kommen beide aus dem gleichen Milieu und haben das gleiche Ziel: es weit zu bringen.
Die einen streben nach Geld, die anderen nach Macht.
Es ist ein altes Spiel.Weil die an der Macht Genehmigungen erteilen, zum Beispiel zum Betrieb eines Spielcasinos, und so bestimmen, wer Geld scheffeln darf, können sie sich ihr Leben ein wenig vergolden lassen.
So wird der Mächtige seit eh und je korrumpiert.
Jetzt war die Untersuchung abgeschlossen, drei Politiker, der Casinobetreiber und vier seiner Handlanger saßen in Untersuchungshaft. Die Anklageschrift lag fast fertig in der linken Schublade seines Schreibtischs. Nach den Justizferien würde er sie noch einmal überarbeiten und dann an seine Chefin, Gerichtspräsidentin Marie Gastaud, weiterleiten, mit der Empfehlung, das Verfahren zu eröffnen. Alles Weitere wäre Sache der Strafkammer.
Er ditschte die Spitze seines zweiten Croissants in den Café crème, beugte sich vor, damit nicht gleich ein brauner Tropfen auf sein Hemd kleckerte, biss ein Stück ab und wischte sich die buttrigen Krümel aus dem Mundwinkel.
Er wusste, dass sein Gesicht bleich war, dass er an den Wangen und um die Taille ein wenig zugenommen hatte. Wann hatte er eigentlich zum letzten Mal Urlaub gemacht? Letztes Jahr, im September.
Lebte er nur noch für die Arbeit?
Ja, warum auch nicht! Paris, der Stress und Margaux. Daraus bestand sein Leben. In dem fühlte er sich wohl. Wer Fälle wie seine zu untersuchen hatte, dessen Uhr raste wie ein Rennwagen.
Sein Mobilfone klingelte.
Es steckte in der rechten Tasche seiner Jacke.
Jacques hatte keine Lust nachzuschauen.
Der Tag hatte noch nicht angefangen, da war er schon zweimal aufgeschreckt worden. Einmal hatte er sich darüber gefreut:
„Ganz Cannes ist ein russischer Puff“, hatte in der SMS von Eric gestanden, die auf Jacques’ Mobilfone aufpoppte, während er seinen ersten Café getrunken hatte, „es ist zum Kotzen. Komm runter, und wir genießen ein paar sonnige Tage auf meinem Boot.“
Eric gehörte zu Jacques’ ältesten Freunden. Und er war so vermögend, dass er auf dem Meer herumschippern konnte, so lange er wollte.
Jetzt, Ende Juli, könnte man auf Erics Motorjacht herrlich entspannen. Jacques blätterte durch die Zeitung auf der Suche nach dem stets an einer anderen Stelle versteckten Wetterbericht. Für die kommende Woche lag ganz Frankreich unter einem Azorenhoch.Wenigstens eine gute Nachricht, sagte er sich, denn der andere Anruf am frühen Morgen war nicht so angenehm gewesen.
Er hatte gerade unter der eiskalten Dusche gestanden, mit der er sich morgens immer wach schockte, als Margaux anrief und in den Hörer schrie: „Ginas Kahn ist heute Nacht auf der Seine abgebrannt, und sie ist verschwunden. Du musst uns sofort helfen!“
Margaux war nicht nur eine angesehene Journalistin, sondern auch seine Freundin. Wenigstens meistens. Und Gina, ein Model, war ihre Cousine, die in einem umgebauten Kahn auf der Seine lebte.
Jacques hatte versucht, Margaux zu beruhigen, und Jean Mahon angerufen. Der Kommissar der Police judiciaire würde den Fall übernehmen, und er, Jacques, hatte erst einmal gemütlich frühstücken und Zeitung lesen wollen.
Als er dann seine drei Tageszeitungen kaufte, hatte ihn Nicolas, der Kioskbesitzer, mit der Bemerkung überrascht: „Da war ’ne Frau, die hat nach deinen Gewohnheiten gefragt, tat so, als erkundigte sie sich nur nebenbei.Sah nett aus, na ja, fast elegant.“
Nicolas betrieb seit mehr als zwanzig Jahren den Zeitungskiosk am Anfang der Rue de Belleville, und seine Kunden riefen ihn bei seinemVornamen,den er mit „Sarko“, dem in diesem Viertel wenig geschätzten Präsidenten Sarkozy, teilte. Hier wählte man links, weshalb sich die Kirchenzeitung der katholischen Kirche ähnlich klassenkämpferisch las wie das Blatt der Kommunistischen Partei. Die gab es hier noch.
Sein Telefon klingelte wieder. Er griff in seine Jackentasche und holte es heraus.
Der Name Margaux stand auf dem Display.
Jacques überlegte kurz, ob er das Gespräch wegdrücken sollte, dann aber siegte seine Neugier: „Ja, Margaux. Gibt’s was Neues?“
„Sitzt du immer noch beim Café im Bistro?“, fragte sie aufgeregt. „Mich lässt niemand auf Ginas Kahn. Deine Leute haben alles abgesperrt.“
„Reg dich nicht auf.Ich kann da wirklich nichts machen.“
„Doch“, schrie sie in das Telefon, „ich rege mich auf! Es geht um das Leben meiner Cousine.“
„Hat man sie denn gefunden?“
„Nein, Gott sei Dank nicht, also gibt es noch Hoffnung“, Margaux sprach ein wenig ruhiger, „aber der Kahn ist völlig ausgebrannt.“
„Ich habe den Kommissar mit seinen Leuten zur Spurensuche geschickt, mehr kann ich jetzt auch nicht tun. Ich melde mich, sobald ich etwas erfahre.“
Sie verabschiedete sich nicht. Jacques lehnte sich zurück und nahm noch einen Schluck von seinem Café.
Spätestens am Freitag könnte er Urlaub nehmen, sich in einen Flieger nach Nizza setzen, was billiger sein konnte als der superschnelle TGV, und während der zwei Wochen dauernden Justizferien auf Erics Boot faulenzen.
Vielleicht würde Margaux mitkommen.
Er nahm sein Handy, suchte die SMS von Eric, drückte auf Antworten und tippte das Symbol für „Zwinkern“: Semikolon, Bindestrich, Klammer zu: ;-), dazu schrieb er: Ich komme, sobald ich kann.
Urlaub mit Eric bedeutete, dem Alltag zu entrinnen. Ringsherum nurWasser und Einsamkeit.Vor dem Frühstück splitternackt ins Meer springen, eine Regel, an die sich inzwischen auch Marie, Erics neue Frau, gewöhnt hatte. Jacques sah das Wasser vor sich, klar und sauber. Er verspürte Lust, sofort loszufahren.
Auf dem Display seines Telefons leuchtete plötzlich der Name Jean Mahon auf, noch bevor es auch nur einmal geläutet hatte. Merkwürdige Technik. Jacques schüttelte den Kopf und nahm das Gespräch an.
„Oui, Jean?“
Seit Jahren arbeitete Jacques mit Jean Mahon zusammen.
„Jacques, wir haben den Kahn jetzt grob untersucht. Das sieht ziemlich eindeutig nach Brandstiftung aus. Hast du Zeit, eben mal vorbeizukommen?Wir haben auch eine verkohlte Leiche gefunden.“
Vor Schreck ließ ein Adrenalinschock Jacques’ Herz so heftig schlagen, dass er ein Klopfen im Hals spürte.
„Gina?“
„Nein, nein“, die beiden Worte klangen wie kurze, trockene Lacher, „sieht eher aus wie ein haariger Köter.“
Jacques’ Dienstwagen stand wie meist in der Nacht auf seinem festen Platz in der Tiefgarage des Palais de Justice auf der Ile de la Cité. In der Nähe seiner Wohnung in der Rue de Belleville gab es ohnehin keine Lücke zum Parken. Selbst dort nicht, wo es verboten war. Dabei schreckte der Untersuchungsrichter vor Knöllchen nicht zurück, denn Strafzettel, von denen er viele einsammelte, reichte er ungerührt an Kommissar Jean Mahon weiter. Der erledigte die Sache mit einem Anruf bei der richtigen Stelle in der Polizeipräfektur. Niemand käme auf den Gedanken, ihm, der für seine Strenge gefürchtet war, vorzuwerfen, er messe mit zweierlei Maß.Ein Knöllchen platzen zu lassen gehört zum Alltag von Paris.
Jetzt musste er sich entscheiden: Metro oder Taxi?
„Ich bin noch im Bistro ›Aux Folies‹.Wenn ich ein Taxi finde, bin ich in zehn Minuten bei dir. Ich melde mich noch mal.“
Am Taxistand vor dem Kiosk von Nicolas stritten drei Taxifahrer heftig darüber, ob die Ankündigung von Sarko je umgesetzt würde, die Zahl der fünftausendTaxen in Paris zu verdoppeln. Denn immer wenn man ein Taxi brauche, finde man keines.
„Was ist denn Ihre Meinung?“, fragte der Senegalese hinter dem Steuer, als Jacques eingestiegen war.
„Es gibt wirklich nie ein freies Taxi morgens zwischen acht und neun und abends zwischen fünf und acht“, sagte Jacques.
Der Senegalese lachte. „Es ist zehn vor neun, und Sie konnten sogar zwischen drei Taxis wählen!“
„Das war Zufall. Meistens steht keines da. Ich wünsche mir manchmal schon mehr Taxis.“
„Es sind keine da, nicht etwa weil es zu wenig Taxis gibt, sondern weil um diese Zeit alle im Stau stehen! Und fünftausend Autos mehr bedeutet einfach nur einen noch längeren Stau, Monsieur le Juge.“
Monsieur le Juge.
Ja, man kannte ihn nicht nur in der Rue de Belleville, nicht nur in Paris, nein, in ganz Frankreich stand der Name des „unerbittlichen“ Untersuchungsrichters immer wieder in den Zeitungen. Seine besonders pikanten Fälle, die er selbst gegen große Widerstände durchzog, sorgten für Schlagzeilen. Schließlich hatte er sogar schon den Staatspräsidenten, den letzten, vorgeladen. Gut, der war dann nicht erschienen. Aber allein die Tatsache, dass er die Vorladung vom Gerichtsvollzieher im Élyséepalast hatte überbringen lassen, fanden alle ganz schön mutig. Außer ihm. Das war doch selbstverständlich für einen Untersuchungsrichter.
Jacques holte sein Telefon aus der Tasche, bat den Fahrer, die Trommelmusik leiser zu drehen, und wählte Kommissar Jean Mahon an.
„Wo genau liegt denn der Kahn?“
„Auf dem rechten Seineufer bei den Tuilerien, zwischen dem Pont de la Concorde und der Passerelle Senghor.“
„O Gott, wie fahre ich dann am besten? Der Quai des Tuileries geht in die falsche Richtung. Da müsste ich über die Place de la Concorde, und die wird verstopft sein.“
„Fahr doch auf der linken Seineseite bis zum Musée d’Orsay,und komm zu Fuß über die Passerelle.Du siehst uns schon.“
„Bis gleich also.“ Jacques lehnte sich zurück und dachte nach. Wer war bloß die Frau, die sich am Kiosk nach ihm erkundigt hatte?
Belleville war kein Viertel, in dem „fast elegante“ Frauen zu Hause waren. Und gestandene Frauen, die ihn erreichen wollten, waren gescheit genug, seine Büroadresse im Palais de Justice herauszufinden. Nun gut, es gab immer wieder Verrückte. Aber die zogen sich nicht elegant an.Vielleicht war es die Frau, die ihm nachts mit einem Sashimimesser aufgelauert hatte, die ihn umbringen wollte und bis heute abgetaucht war? Die brauchte sich nur zu verkleiden. Sie war eine professionelle Mörderin und hatte für Leute gearbeitet, die nachtragend waren. Nachtragend, nicht nur, weil Jacques sie wegen ihrer Mordaufträge für Jahre ins Gefängnis geschickt hatte, sondern auch, weil ihr ganzesVermögen eingezogen worden war. Auch aus der Zelle heraus kann man den Auftrag für einen Mord geben.
Vielleicht wäre es am klügsten, dachte Jacques, Jean Mahon zu fragen, wie er sich wegen der Frau am Kiosk verhalten sollte. Man weiß ja nie.
Der Senegalese schlängelte sich geschickt durch denVerkehr. Es gab nur einen kleinen Stau, als das Taxi aus der Unterführung auf den Pont Neuf fahren wollte, aber die Kreuzung auf dem Quai blockiert war.
Plötzlich fiel ihm ein, dass er Margaux sein Kommen ankündigen sollte. Er ließ es fünfmal klingeln. Als die Mailbox ansprang, schaltete er aus.
Wenige Sekunden später rief sie zurück. „Warst du das eben?“
„Ja. Ich bin jetzt auf dem Weg zu Ginas Kahn. Bist du noch dort in der Gegend?“
„Ich fahr gerade in die Redaktion, aber ich drehe sofort um.Wir treffen uns dort!“
Sie schaltete aus, bevor er widersprechen konnte.
Wolod
Hatte er noch was mit anderen Models?«
„Mit Gina, das wusste jeder. Aber kann sein, dass er noch weiter in dem Hühnerstall gewildert hat.“
„Und wen?“
„Das werden wir rausfinden.“
„Und wenn er nicht redet?“
Der gut aussehende Muskelmann lachte: „Ich war doch nicht umsonst in Grosny. In Tschetschenien haben wir noch jeden zum Reden gebracht.“
„Erst einmal müssen wir ihn finden und unbedingt verhindern, dass er noch mehr Mist macht. Sonst gefährdet er unser ganzes Unternehmen.“
„Unser ganzes System!“
„Sage ich doch,unser Unternehmen.Besteht doch hauptsächlich aus einem System, oder?“
„Wenn Michail noch in Paris ist, was ich vermute, dann haben wir ihn bald.“
„Und wenn er nicht mehr hier ist?“
„Dann auch!“ Wolod, der ehemalige russische Soldat aus Grosny, saß mit geradem Rücken an einem eleganten Konferenztisch und schaute die anderen drei aufmerksam an. Der Raum war geschmackvoll in dunklem Holz getäfelt, ein dicker violetter Teppich schluckte jedes Geräusch.
Das Treffen fand im Besprechungszimmer in der vierten Etage des Hauses 14, Rue Duphot statt. Zur Treppe hin riegelte eine holzverkleidete Panzertür den Zugang zu diesem Stockwerk ab. Selbst von innen konnte sie nur mit einem doppelten Code geöffnet werden.
Die Rue Duphot war eine unauffällige kleine Stichstraße zwischen dem christlichen Tempel Madeleine und der Rue Saint-Honoré mit ihren teuren Konsumtempeln. In den Jahren,als russische Milliardäre mit Koffern voller Geld nach London und Paris flogen, um den Kapitalismus nachzuholen, hatte der Prinz, Gründer der Pariser Niederlassung, diese im amtlichen Register als Handels- und Finanzunternehmen eintragen lassen. Das Gebäude war zwar für einige Millionen zu teuer erworben, aber – wie er lachend spottete – es war immer noch viel billiger gewesen als seineVilla auf Cap Ferrat. Seit dem Zusammenbruch des kommunistischen Ostreiches ließ er sich wieder als Prinz anreden. Er behauptete, der letzte König von Georgien, der 1804 seinen Thron verlor, sei sein direkterVorfahre gewesen.
Neben der großen schweren Eingangspforte des Gebäudes beschäftigte sich ein Coiffeur in seinem Salon mit den Köpfen gelangweilter Ehefrauen und der Maitressen ihrer Männer, färbte Haare, zupfte Augenbrauen, schminkte Krähenfüße zu. Und in einem der hinteren Räume wurden auch Frisuren an intimen Körperstellen gestaltet. Deshalb kamen auch viele Models zu ihm.
Die arbeiteten hinter den hohen Bogenfenstern der ersten und zweiten Etage für „Régine“, eine weltweit agierende Agentur für Fotomodels. Und nachdem der neue Hausbesitzer dort ebenfalls einen Koffer voller Dollar geöffnet hatte, stand auf der neuen Website der Firma, sie vermittle jetzt auch „promising new faces from Russia“.
Der Älteste der vier Russen stand auf, er wirkte wegen seiner krummen Schultern noch kleiner, als er war. Die kurzen grauen Haare standen wie Stacheln über den Ohren ab. Er trat ans Fenster – schusssichere Scheiben filterten alle Geräusche –, schaute auf die enge Straße und drehte sich nach einem kurzen Moment wieder zu Wolod.
„In seinem Zimmer ist Michail offensichtlich seit gestern Abend nicht mehr aufgetaucht. Wolod, wie willst du ihn denn in dieser Riesenstadt finden? Vielleicht ist er wieder nach Nizza geflogen und geht seiner Arbeit an den Servern nach?“
Die Computer des Unternehmens waren an Server bei einer Internetfirma in Sophia-Antipolis, dem französischen Versuch, Silicon Valley zu imitieren, angeschlossen, und Michail war ihrVerbindungsmann zwischen beiden Orten.
„Er hat noch eine Wohnung an der Porte d’Italie, die er für private Zwecke nutzt. Aber wo immer er ist, mit Aka-Aki werden wir ihn schnell finden. Damit kontrollieren wir auch jedes Model, schon aus Angst, unsere kostbaren Schönheiten könnten sich mit Leuten einlassen, die ihnen Drogen aufschwatzen.“
„Dieses Kontrollieren scheint eine Berufskrankheit zu sein“, warf einer der beiden am Tisch ein. Sie ähnelten sich mit ihren runden Köpfen so, als wären sie Brüder. „Wie funktioniert denn dein System?“
„Die Idee haben wir aus Berlin. Ein paar Studenten haben dort das System Aka-Aki entwickelt. Der Name bedeutet nichts. Unter Studenten läuft dieses Aka-Aki als Kontaktbörse. Für uns aber geht das so: Jedes Handy unserer Models ist in das System eingeloggt. Und wir wissen immer, wo sie sind, wo sie waren, mit wem sie sich getroffen haben.“
Der Alte schüttelte den Kopf: „Dazu brauchst du doch einen irren Aufwand.“
„Überhaupt nicht. Die eingeloggten Handys melden über Bluetooth anderen Handys in der Nähe, wer wo ist. Damit hast du unglaublich viele Informationen über Begegnungen von Personen. Klappt bestens. Über die Bewegung jedes unserer Models können wir so ein tägliches Factsheet vorlegen, so etwas wie ein Bewegungstagebuch.“
„Das klappt wirklich?“
„Ja, und zwar ohne dass sie es wissen.“
„Genial. Aber Michail ist kein Model.“
„Jeder unserer Mitarbeiter erhält ein Google Phone als Geschenk. Und natürlich habe ich jedes vorher eingeloggt. Auch Michails. Ich finde ihn noch heute!“
Die vier Russen schauten sich an. In ihren Köpfen rumorte ein Gedanke, den der Älteste schließlich aussprach.
„Ich habe mein Handy auch von dir. Ist das etwa auch eingeloggt?“
Wolod schwieg einen Augenblick. Dann sagte er: „Natürlich nicht.“ Diese Technikidioten würden die Wahrheit selbst nie herausfinden.
Er nickte, als wollte er sich verabschieden, aber einer der Rundköpfe hielt ihn auf: „Hat Michail auch Zugang zu dem Prinzen, so wie du?“
Der georgische Millionär, dem sie dienten, gab sich geheimnisvoll. Häufig wusste niemand, wo er sich aufhielt. Selbst in Georgien, wo er als einer der reichsten Leute des Landes galt, kursierten mehrere Varianten seiner Biografie, die er selber immer wieder umzuschreiben schien. Wolod war der Einzige von denen, die hier am Tisch saßen, der ihn persönlich kannte.
„Nein“, sagte Wolod, „Michail hat ihn noch nie getroffen. Er erhält seine Anordnungen über mich.“
Der Rundkopf zögerte kurz,doch dann sagte er kichernd: „Ich frage mich immer, warum der Prinz Geld für ›Régine‹ ausgegeben hat. Lässt er sich manchmal Mädchen kommen?“
Der Alte ging auf ihn zu und sagte: „Jetzt reicht’s!“
Wolod antwortete nicht, aber er stellte sich selbst die Frage, ob der Prinz sich für Mädchen interessierte. Er hatte ihn nie mit irgendetwas in dieser Richtung beauftragt. In der letzten Zeit allerdings hatte er ihm manchmal Fragen nach dem einen oder anderen Model gestellt. Nach Gina. Aber das hing wohl mit Michail zusammen.
Brandstiftung
Pass auf und mach dich nicht schmutzig«, sagte Kommissar Jean Mahon, als er Jacques durch das verrußte Steuerhaus in den Maschinenraum des altenTreidelkahns führte. „Wenn du dich etwas bückst, dann siehst du gleich rechts in der Ecke einen Generator.Von dem ist das Feuer ausgegangen.“
„Sieht ja ziemlich alt aus, soweit ich das noch erkennen kann.Wieso kommst du denn auf Brandstiftung?“
„Unter anderem, weil der Generator gar nicht mehr in Betrieb war. Der Kahn hatte per Kabel einen Anschluss ans Netz.“
„Ich habe draußen keinen einzigen Anschluss gesehen: weder Elektrizität noch Wasser oder Telefon“, sagte Jacques, stolz auf seine Beobachtungen.
„Das Boot lag ursprünglich auch gar nicht hier, sondern flussaufwärts in der Höhe des Pont des Arts.“
„Das sind keine hundert Meter bis zur Flussbrigade der Feuerwehr.“
Straftaten auf der Seine fielen in Jacques’Aufgabengebiet, aber die wenigsten waren so schwerwiegend,dass der Untersuchungsrichter den Fall hätte aufnehmen müssen.
Verstöße gegen die Regeln desWasserverkehrs, unerlaubtes Baden und Unfälle reichte er meist schnell an die Strafkammern weiter.
Fast jedes Bateaux-Mouche nahm an heißen Sommertagen zu viele Touristen auf, manch betrunkener Kapitän verfehlte Brückenbögen und schrammte gegen die Pfeiler. Früher, als der Schiffsverkehr auf der Seine noch stärker war, stießen so viele Kähne an die engen gusseisernen Pfeiler des Pont de Solférino,dass die Brücke abgerissen werden musste. Sie wurde schließlich durch eine Fußgängerbrücke ersetzt. Heute führt an dieser Stelle die moderne Passerelle Senghor vom Musée d’Orsay, dem zum Tempel der Impressionisten umgebauten alten Bahnhof, über die Seine in die Tuilerien zum Musée de l’Orangerie, wo Claude Monets Seerosenbilder hängen.
Jacques war erstaunt, als er im Steuerhaus einen alten Sextanten und einen antiken Oktanten liegen sah. Dann warf er einen Blick in den fast vierzig mal fünf Meter großen Raum im Bauch des Kahns.
Es roch streng nach Rauch.
Am Eingang zum Schiffsbauch, wo er mit Kommissar Mahon jetzt stand, war die Decke sehr niedrig. Jean Mahon konnte gerade noch aufrecht stehen, er war einen Kopf kleiner als Jacques. Doch die Stufen führten fast drei Meter nach unten.
„Keine Spur von der Bewohnerin?“, fragte Jacques.
„Keine. Sag mir, was du über sie weißt“, sagte Jean.
„Ein Model. Gina. Eine Cousine von Margaux, wie ich dir schon am Telefon gesagt habe. Ziemlich verrücktes Huhn.“ Jacques zog die Augenbrauen hoch, machte eine Handbewegung, die besagen sollte: Na, du weißt schon!, und fragte: „Was ist eigentlich mit dem Hund, den du vorhin erwähnt hast?“
Jean Mahon zeigte mit dem rechten Arm in die Tiefe des verkohlten Raumes: „Dort hinten haben wir ihn gefunden, zusammengekauert unter der Kommode. Ein ziemlich großes Ding“, Jean hielt seine Hände einen Meter auseinander: „Zuerst haben wir gedacht, das wäre ein verkohltes Spielzeugtier. Meine Leute haben den Kadaver mitgenommen und lassen ihn untersuchen. Er wird im Rauch erstickt sein. Aber wer weiß.“
Die Leute in Kommissar Jean Mahons Truppe galten als die besten Spurenanalytiker der Police judiciaire in Paris. Mahon, der kurz vor seiner Pensionierung stand, aber drahtig war, als wäre er fünfzehn Jahre jünger, hatte seine Leute über die Jahre hinweg handverlesen. Den einen holte er wegen seiner barocken Phantasie, den anderen wegen seiner Gabe zur messerscharfen Analyse, den Dritten wegen seiner ans Peinliche grenzenden Gründlichkeit.
Jacques hatte Kommissar Jean Mahon nicht bei Gericht, sondern beim Skifahren in Meribel kennengelernt. Und weil Jacques’ damalige Frau Jacqueline sich mit Jeans Frau Isabelle befreundete – beide hatten den gleichen Hang zu Shopping, Botox und Bling-bling, wie man Chichi seit einiger Zeit in Paris nennt –, verstanden sich auch die Männer gut.Sie rasten die Pisten runter,während Jacqueline und Isabelle sich fürs Après aufbrezelten.
Inzwischen war Jacques längst geschieden, Jacqueline wiederverheiratet, doch die beiden Frauen gingen immer noch gemeinsam auf Streifzüge, weshalb Kommissar Jean Mahon und Untersuchungsrichter Jacques Ricou manchen frühen Abend im Bistro „Aux Folies“ in der Rue de Belleville einen oder auch zwei Absacker tranken und nicht nur über ihre Fälle redeten.
Jacques schaute sich auf dem Deck des Kahns um. Die Rückseite des Steuerhauses war mit einer Registriernummer gekennzeichnet. P 15 790 F. Auf dem flachen Motorhaus hinten lag eine große, schwere Messingschraube.
Am Heck hing ein hölzernes Ruderboot an zwei kleinen Kränen, und auf einer Bretterveranda auf einem kleinenTeil desVorderdecks standen einTisch und vier Gartenstühle aus Teakholz. Eine Hecke aus Buchsbäumen in Töpfen diente als Sichtschutz.
„Irgendwelche Spuren, die auf ihrVerschwinden hindeuten?“, fragte Jacques.
„Noch haben wir nicht alles gründlich untersucht. Aber was das Model betrifft, kein Hinweis, nix.“
„Wickert-Krimis sind (...) beste Unterhaltung, haben ihre eigene Spannung, ihren eigenen Charme.“
„Land und Leute, Mentalität und Lebensart beschreibt der Frankreichkenner Wickert atmosphärisch dicht. Und so machen statt Jacques Ricou die Leser Ferien in Frankreich.“
„Wer Paris und Frankreich mag, kann die Atmosphäre in diesem Buch sicher genießen.“
„Sehr solide Krimiliteratur.“
„Ein stets interessantes Setting mit einem offenbar durchaus angebrachten kritischen Blick auf das Krakensystem des Nicolas Sarkozy.“
Der Richter aus Paris ist ein charmanter Filou und vergisst neben seiner Vorliebe für junge Frauen und alten Ziegenkäse nie seine patriotischen Pflichten.
›Das achte Paradies‹ ist ein spannender Thriller voller Anspielungen auf Themen, die das politische Frankreich aktuell bewegen.
Jacques Ricou kann sich mit ähnlichen Abenteuern von Kurt Wallander messen.
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