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Das böse Kind (Kristina-Mahlo-Reihe 3)

Das böse Kind (Kristina-Mahlo-Reihe 3) - eBook-Ausgabe

Sabine Kornbichler
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Kriminalroman

„Es gelingt Kornbichler ausgesprochen gut, trotz nur dreier Verdächtiger die Spannung bis zum Schluss hoch zu halten und den Charakter ihrer Figuren differenziert und glaubwürdig darzustellen.“ - ver.di publik

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Das böse Kind (Kristina-Mahlo-Reihe 3) — Inhalt

Eine junge Frau gerät scheinbar aus dem Nichts in Panik, rennt vor ein Auto und stirbt – ein tragisches Unglück, und doch kommt Nachlassverwalterin Kristina Mahlo der Fall seltsam vor. Was kann die freie Lektorin von einem Moment auf den anderen so sehr in Schrecken versetzt haben? Im Nachlass der Toten entdeckt Kristina Hinweise auf ein Ereignis, das jede Sekunde im Leben der jungen Frau bestimmt hatte. Und auf einen erbarmungslosen Täter, der allgegenwärtig scheint.

€ 8,99 [D], € 8,99 [A]
Erschienen am 19.10.2015
384 Seiten
EAN 978-3-492-97138-6
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Leseprobe zu „Das böse Kind (Kristina-Mahlo-Reihe 3)“

1

Im Schein der Straßenlaterne tanzten bizarre Schatten über die Wand. Sie folgten dem Rhythmus, den der Wind ihnen vorgab. Spätestens in einer halben Stunde würde die Morgendämmerung sie verschluckt haben. Leise glitt ich unter der Decke hervor und suchte auf dem Boden meine Sachen zusammen. Einer meiner Stiefel fehlte. Ich kniete mich hin und tastete unters Bett. Zwischen Staubflusen be­kam ich ihn zu fassen. Nachdem ich ihn hervorgezogen hatte, lauschte ich auf Martins gleichmäßigen Atem. Dann wandte ich mich auf Zehenspitzen zur Tür. Gedanklich war [...]

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1

Im Schein der Straßenlaterne tanzten bizarre Schatten über die Wand. Sie folgten dem Rhythmus, den der Wind ihnen vorgab. Spätestens in einer halben Stunde würde die Morgendämmerung sie verschluckt haben. Leise glitt ich unter der Decke hervor und suchte auf dem Boden meine Sachen zusammen. Einer meiner Stiefel fehlte. Ich kniete mich hin und tastete unters Bett. Zwischen Staubflusen be­kam ich ihn zu fassen. Nachdem ich ihn hervorgezogen hatte, lauschte ich auf Martins gleichmäßigen Atem. Dann wandte ich mich auf Zehenspitzen zur Tür. Gedanklich war ich bereits im Flur, als ich gegen etwas stieß, das mit einem Klirren umfiel. Das Geräusch war unverwechselbar: Ein Glas war zu Bruch gegangen. Ich versuchte, mich zu er­innern, wie es dorthin gekommen war. Wir hatten Rotwein getrunken und die Gläser mit ins Schlafzimmer genommen. Und dann hatten wir sie irgendwo abgestellt. Nein, nicht irgendwo, sondern auf dem Boden. Weil die Fensterbank einen Umweg bedeutet hätte.

Ich machte einen großen Schritt, um den Scherben auszuweichen, und trat doch mitten hinein. „Au!“, schrie ich und biss mir auf die Unterlippe.

Sekunden später war das Zimmer in Licht getaucht. „Was ist passiert?“, fragte Martin verschlafen.

Nackt, wie ich war, hüpfte ich auf dem unversehrten Fuß zurück zum Bett und ließ mich darauf fallen. „Ich bin in Scherben getreten.“ Ich setzte mich so, dass Licht auf meine Fußsohle fiel. Mehrere Splitter hatten sich in die Haut ge­bohrt, an den Wundrändern bildeten sich Blutstropfen.

„Scherben?“

„Ich habe ein Glas umgeworfen. Hast du eine Pinzette und ein paar Pflaster?“

Allmählich wurde er wach. „Wolltest du dich heimlich davonstehlen?“

„Ich wollte dich nicht wecken. Und jetzt hilf mir bitte!“ Während Martin den Scherbenteppich auf dem Weg ins Bad geschickt umrundete, schlüpfte ich in mein Jeanshemd und knöpfte es zu.

Als er zurückkam, trug er Boxershorts und Turnschuhe mit offenen Schnürsenkeln. Er setzte sich neben mich und nahm meinen Fuß in beide Hände. „Lass mal sehen!“ In Nullkommanichts hatte er den ersten Splitter mit der Pinzette herausgezogen.

„Au!“ Vergeblich versuchte ich, ihm meinen Fuß zu entwinden.

„Halt still, sonst tut es noch mehr weh!“

Bei den restlichen Splittern biss ich die Zähne zusammen. Erst als das Desinfektionsspray in den Wunden brannte, schrie ich wieder auf.

Martin tupfte alles fein säuberlich ab, bedeckte die Schnitte mit Pflastern und besah sich sein Werk. „Abergläubige könnten jetzt meinen, das sei die Strafe für deinen Versuch, dich davonzuschleichen.“

„Wie gut, dass wir beide Realisten sind.“

„Also ich bin Romantiker. Deshalb habe ich auch extra Kakao für dich besorgt. Den trinkst du doch nachts immer, wenn du nicht schlafen kannst, oder?“

„Hast du etwa ein Dossier über mich angelegt?“

„Auch Detektive haben Berufskrankheiten.“

„Und was steht drin?“

„Dass du mit einer Krähe redest …“

„Die Krähe heißt Alfred.“

Er nickte, als würde er es im Geiste vermerken. „Dass du zur Entspannung gerne auf Bäume kletterst, dass du dir für deine Toten ein Bein ausreißt, dabei aber manchmal unkalkulierbare Risiken eingehst …“

„Ich kalkuliere sie, nur liege ich hin und wieder falsch. Noch mehr?“

„Dass du immer allem auf den Grund gehen musst …“

„Was soll daran negativ sein?“

„Die Aufzählung ist wertfrei.“ Er musterte mich. „Du bist dickköpfig, und ich vermute, du lügst, wenn du dich in die Enge gedrängt fühlst.“

„Lügen kann sehr viel zeitsparender sein als lange Erklärungsversuche oder Rechtfertigungen. Was noch?“

Er gähnte und tat so, als müsse er überlegen. »Ach ja, du bist deinen Eltern eine liebevolle Tochter, du bist eine verlässliche Freundin und du wirst panisch, wenn jemand un­pünktlich ist.«

„Das würdest du auch, wenn du die Erfahrung gemacht hättest, dass Menschen spurlos verschwinden. Und damit meine ich nicht deine berufliche Erfahrung als Detektiv, sondern meine ganz persönliche.“ Ich dachte an meinen Bruder Ben und spürte plötzlich die Schnitte in meiner Fußsohle, als seien es tiefe Wunden. Ich legte eine Hand darauf und drückte leicht dagegen.

„Tut’s weh?“

„Ziemlich.“

„Warum kuschelst du dich nicht einfach wieder ins Bett und ich bringe dir einen Kakao?“

„Weil der Kakao dann kalt würde.“ Ich streifte seine Lippen mit einem Kuss und entzog mich seinen tastenden Händen.

„Habe ich übrigens schon erwähnt, was dick und fett über dem Dossier steht?“ Er strich mir eine Strähne hinters Ohr.

„Dass du besser die Finger von mir lässt?“ Ich stand auf und schlüpfte in meine Jeans.

„Dort steht: Wenn du dich in sie verliebst …“

Blitzschnell legte ich ihm einen Finger auf die Lippen. »Scht! Ich will das nicht hören. Wir haben eine Nacht zu­sammen verbracht, mehr …«

„Eine halbe“, unterbrach er mich, „und die war wunderschön.“

„Zugegeben. Das mit der halben, meine ich.“ Ich ließ meinen Blick über sein Gesicht gleiten, über die breite Stirn unter den dunkelblonden Haaren, über seine wachen Augen und die hohen Wangenknochen.

Martin hob eine Augenbraue.

„Okay, das mit dem wunderschön stimmt auch. Aber …“

„Das Aber heißt Simon, ich weiß.“ Er stand auf und wandte den Blick ab.

„Martin?“

„Keine Sorge, es ist alles okay. Während du dich anziehst, mache ich dir den versprochenen Kakao. Ich will schließlich, dass du wiederkommst.“

Vorsichtig trat ich auf und zog mich fertig an. Aus der Hosentasche zog ich eine Spange und fasste meine Haare damit zusammen. Dann sah ich mich im Schlafzimmer um, ob ich etwas vergessen hatte. Bislang hatte ich den Raum gar nicht richtig wahrgenommen. Jetzt ließ ich meinen Blick über das gemütliche Bett wandern, auf dessen Ablage am Kopfende sich Bücher und Zeitungen stapelten. Gegenüber vom Bett stand ein großer Biedermeierschrank, dessen Tür ein wenig schief in den Angeln hing und einen Spalt offen stand. Vor dem Fenster befand sich ein Rennrad in einer Halterung, die es zum Hometrainer umfunktionierte. Auf dem Boden daneben lagen Hanteln.

Ich kniete mich hin, sammelte vorsichtig die größten Scherben auf und brachte sie humpelnd in die Küche. Als Martin mich kommen sah, öffnete er den Mülleimer.

„Der Kakao ist fertig.“ Er stellte den Becher auf eine Glasplatte, die auf Bücherstapeln ruhte, und ließ sich auf das mit dunkelblauem, verblichenem Samt bezogene Biedermeiersofa fallen. Nachdem er einen Packen mit Schnellheftern und Laptop unters Sofa geschoben hatte, klopfte er auf die frei gewordene Fläche neben sich.

Ich setzte mich und sah einen Moment lang durch das geöffnete Fenster hinaus in die Dämmerung. Vogelstimmen begrüßten den Morgen und mischten sich mit dem Ge­räusch raschelnder Blätter, die der Wind vor sich hertrieb. Während ich einen Schluck Kakao probierte, spürte ich Martins Blick auf mir ruhen. Vielleicht lief vor seinem inneren Auge auch gerade der vergangene Abend wie ein Film ab. Wir waren im Kino gewesen, hatten auf einer Parkbank im Englischen Garten Döner gegessen und uns schließlich auf den Heimweg gemacht. Anstatt nach Obermenzing waren wir nach Pasing gefahren und in Martins Wohnung in der rosa gestrichenen, etwas heruntergekommenen Grün­derzeitvilla gelandet, die er samt Mobiliar vor einigen Jahren von seiner Großmutter geerbt hatte.

»Warum hat Simon eure Beziehung eigentlich auf Eis ge­legt?«, fragte er.

„Das weißt du doch. Weil er mit angehört hat, wie ich am Telefon mit dir geflirtet habe.“

„Und was ist der wirkliche Grund?“

Ich stöhnte leise. „Simon möchte mit mir zusammenziehen, während ich an meiner Wohnung hänge.“

„Warum zieht ihr dann nicht einfach in deine?“

„Weil ich mich in der auch alleine ganz wohlfühle. Außerdem möchte ich Kinder, während Simon sich schon vor langer Zeit für ein Leben ohne entschieden hat.“

„Für mich klingt das nach unüberbrückbaren Differenzen.“

„Mach dir keine falschen Hoffnungen. Bitte … Ich möchte dich nicht auch noch verlieren.“

„Erstens weiß ich nicht, was an Hoffnungen falsch sein könnte. Und zweitens verlierst du mich nicht. Wir sind Freunde, schon vergessen?“

Ich stellte den Becher ab, rutschte näher an ihn heran und lehnte meinen Kopf an seine Schulter. „Freunde gehen nicht miteinander ins Bett.“

„O doch, das tun sie. Meine Großmutter hat über ihre große Liebe immer gesagt, er sei ihr bester Freund gewesen. Sie waren fünfundfünfzig Jahre miteinander verheiratet.“

„Du bist wirklich ein Romantiker.“

„In meinen Ohren klingt das wie ein Kompliment.“ Er beugte sich zur Seite und küsste mich.

Einen wunderbaren Moment lang ließ ich es geschehen. „Martin, ich muss gehen.“

„Solange du wiederkommst, ist alles gut.“

„Ich …“

Dieses Mal verschloss er meinen Mund mit einem Finger. „Lassen wir es einfach auf uns zukommen, okay?“


Auf dem Heimweg hatte ich mich über mich selbst gewundert. Ich hatte mit einem schlechten Gewissen gerechnet, mit einem Kater, der mich die vergangene Nacht bereuen ließ. Aber nichts dergleichen geschah. Die Gedanken daran, was es für Simon bedeuten würde, wenn er davon erfuhr, schob ich beiseite. Seitdem er sich eine Pause ausbedungen hatte, behandelte er mich wie eine gute Bekannte. Ich hatte ein paarmal versucht, mit ihm zu reden, nur um mir an­hören zu müssen, dass er noch Zeit bräuchte. Wochenlang hatte mich das wütend gemacht, jetzt, zum ersten Mal, spürte ich einen Anflug von Trotz. Und etwas, das ich nicht genau definieren wollte. Es hatte mit Martin zu tun und mit dem Gefühl, verliebt zu sein.

Eineinhalb Stunden später saß ich in meinem Büro und wälzte Akten. Meine To-do-Liste für diesen Tag hatte ich bereits geschrieben. Am Vormittag würde ich ein paar Anrufe erledigen und zwei Nachlassfälle endgültig abschließen. Einer davon hatte mich zweieinhalb Jahre lang beschäftigt, da ein Querulant eine Einigung innerhalb der Erbengemeinschaft immer wieder erfolgreich torpediert hatte. In mühseliger Kleinarbeit war es endlich gelungen, ihn umzustimmen.

Mit mehreren alten Fällen und fünf neuen, die vor einigen Wochen fast gleichzeitig hereingekommen waren, waren Funda und ich für die nächste Zeit mit Arbeit eingedeckt. Eine weitere Anfrage vom Nachlassgericht hatte ich wegen Auslastung eigentlich ablehnen wollen, mich dann jedoch umentschieden. Es ging um den Nachlass einer Frau, die in einer Wohngemeinschaft gelebt hatte und tödlich verunglückt war. Ihre Erben mussten ausfindig gemacht und das WG-Zimmer schnellstmöglich aufgelöst werden, um weitere Mietkosten zu sparen. So, wie es aussah, würde sich all das schnell erledigen lassen. Es würde Fundas erster eigener Fall sein.

Ich sah auf die Uhr. Fast gleichzeitig hörte ich den tiefen, satten Klang der Kirchturmuhr von St. Georg, die acht Mal schlug. Funda würde jeden Augenblick hier sein. Ich ging in die Küche und setzte Teewasser für sie auf. Während es heiß wurde, goss ich mir den dritten Kaffee an diesem Morgen ein und setzte mich in den kleinen Vorgarten.

Nach ein paar windstillen, sonnigen Tagen hatte über Nacht das Wetter gewechselt. Der Wind trieb graue Wolken vor sich her und bewegte das Laub an den Bäumen, das sich ganz allmählich verfärbte. Die kühle Herbststimmung würde sich bereits morgen wieder verflüchtigt haben. Laut Wetterbericht sollte es bis weit in den Oktober hinein noch einmal warm werden.

Ich zog den Pulli über, den ich mir um die Hüften geschlungen hatte, schloss die Augen und dachte an Martin. Vor einem Jahr hatte ich ihn im Rahmen meiner Arbeit kennengelernt. Er hatte als Detektiv für Theresa Lenhardt gearbeitet, die Frau, deren Testament ich vollstrecken sollte. Ein Testament mit ungeheuren Tücken, weil mir damit die Aufklärung eines Justizirrtums aufgebürdet werden sollte. Die Ablehnung hatte mir schon auf der Zunge gelegen, als ich in den Unterlagen der Verstorbenen einen Hinweis auf meinen verschwundenen Bruder fand. Ich hatte Theresa Lenhardt damals für ihr Testament verflucht, letztlich war ich ihr jedoch dankbar. Ohne sie und ihren letzten Willen wäre der Tod meines Bruders vermutlich nie aufgeklärt worden.

Martin hatte mir damals bei meinen Recherchen geholfen. Genauso wie meine Freundin Henrike und Funda, die längst nicht mehr nur Mitarbeiterin, sondern auch Freundin geworden war. Ich musste daran denken, wie Henrike Martin immer nannte – den Unbeschädigten. Weil ich ihr einmal gesagt hatte, er wirke so unbeschädigt vom Leben. Im Gegensatz zu Simon, der seine Kindheit bei einem trinkenden, schlagenden Vater und einer selbstsüchtigen, ignoranten Mutter immer noch wie einen Rucksack mit sich herumtrug.

Warum musste es nur so kompliziert sein? Warum war in meinem Herzen nicht die eine Tür zugefallen, bevor sich die andere geöffnet hatte? Etwas zog mich zu Martin, aber es gab auch etwas Starkes, das mich bei Simon hielt. Über kurz oder lang würde ich mich entscheiden müssen.

„Guten Morgen“, flötete eine muntere Stimme in meinem Rücken und riss mich aus meinen Gedanken.

Ich wandte mich zu Funda um und erwiderte ihren Gruß mit einem Lächeln. „Hol dir einen Tee und setz dich zu mir. Das Wasser hat schon gekocht.“

Sie wedelte vor meiner Nase mit einer Papiertüte herum. „Dann kannst du auch gleich ein Schokocroissant probieren. Die habe ich gestern gebacken.“

„Ein Rezept von deiner Mutter?“

„Internet.“

Ich hörte sie in der Küche mit Geschirr klappern. Kurz darauf stellte sie ihr Teeglas und zwei Teller auf den Tisch. Zum Schluss holte sie noch ein zu einem Drittel mit etwas Undefinierbarem gefülltes Schälchen, das sie neben Alfreds Blechdose mit den Walnüssen stellte.

„Was ist das?“, fragte ich.

„Eine kleine Abwechslung für Alfred. Immer nur Walnüsse – das wird doch selbst einer Krähe irgendwann langweilig.“

Ich beugte mich vor und besah mir die Abwechslung.

„Apfel und gekochtes Ei, klein gehackt und vermischt“, erklärte sie. „War er heute Morgen schon hier?“

Ich schüttelte den Kopf, nahm einen Schluck von meinem Kaffee und biss in das Croissant. „Mhm, daran könnte ich mich gewöhnen.“

„Joachim auch, er hat sich gleich zwei mit in die Agentur genommen.“ Sie betrachtete mich eingehend. „Hast du heute mal länger geschlafen? Du siehst so rosig aus.“

Alfred ersparte mir die Antwort, als er über die Hecke hinweg auf den Tisch segelte. Wie immer klopfte er mit dem Schnabel auffordernd auf die Dose.

Funda nahm das Schälchen und schob es in seine Richtung. Dann lehnte sie sich im Gartenstuhl zurück und wartete ab. Mindestens genauso gespannt wie sie sah ich dabei zu, wie Alfred erst auf dem Tisch hin und her hüpfte, den Kopf schief legte und schließlich den Schnabel in das Schälchen versenkte. Die Abwechslung schien ihm zu schmecken, er ließ nur einen winzigen Rest übrig, bevor er zurück in den Park flog.

„Komm, lass uns loslegen“, sagte ich, nahm den Rest des Croissants und ging voraus ins Büro.

„Wieso humpelst du?“, fragte Funda.

„Ich bin in Glasscherben getreten.“

„Ich hoffe, du hast die Wunde gleich desinfiziert. Im Fernsehen gab es neulich einen Bericht über Blutvergiftung. So etwas kann tödlich enden, wenn man nicht rechtzeitig etwas dagegen tut.“

„Keine Sorge, ich sterbe nicht“, erwiderte ich mit einem amüsierten Lächeln.

„Es gibt übrigens auch Pflaster, die desinfizierend wirken“, schickte sie mit ihrer Zimmerbrunnenstimme hinterher, als ginge es darum, mich zu beruhigen. „Falls du …“

„Es ist alles gut!“ Ich setzte mich auf meinen Bürostuhl und legte den verletzten Fuß über das Knie. „Die Wunden sind bestens versorgt, und ich verspreche hoch und heilig, jeden Tag die Pflaster zu wechseln. Unter sterilen Bedingungen, versteht sich!“

Sie setzte sich an ihren Schreibtisch und zog eine Schnute. „Du machst dich über mich lustig.“

„Nur ein bisschen, entschuldige.“

„Kommt es mir nur so vor, oder bist du heute in einer seltsam aufgekratzten Stimmung?“

„Das kommt dir nur so vor. Es ist alles wie immer.“

„Ich bekomme schon noch heraus, was nicht wie immer ist“, murmelte sie vor sich hin und warf mir einen strengen Blick zu. Dann straffte sie ihre Schultern. „So, und jetzt erklär mir bitte, wie ich bei dem Nachlass mit dem WG-Zimmer vorgehen soll.“

„Bist du jetzt verstimmt?“, fragte ich.

„Das kommt dir nur so vor. Es ist alles wie immer“, konterte sie mit bierernster Miene.

Dann brachen wir beide in Lachen aus und machten uns an die Arbeit. Wir hatten beschlossen, dass Funda diesen Fall weitgehend alleine abwickeln sollte. Um zehn Uhr hatte sie einen Termin mit Bruno Weber, dem Hauptmieter der Wohnung, der mit der Verstorbenen einen Untermietvertrag geschlossen hatte.

„Michaela Breuer, vierunddreißig, ist bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen“, las Funda mir aus den Informationen vom Nachlassgericht vor, stockte und sah zu mir. „Sie war erst vierunddreißig! Wenn ich mir vorstelle, mein Leben wäre in sechs Jahren zu Ende, einfach so, von einem Moment auf den anderen …“ Sie schluckte. „Diese Frau … sie ist morgens aufgestanden, hat nichts Böses geahnt, hat sich angezogen, sich vielleicht auf den Tag gefreut und dann ist es ganz plötzlich vorbei.“ Funda schnippte mit den Fingern. „Einfach so. Und dann kommen wir und räumen hinter ihr auf. Und wenn wir fertig sind, bleibt vielleicht gerade mal ein Grabstein. Mir macht das Angst.“

»Warum ausgerechnet bei ihr? Warum bei keinem der anderen Verstorbenen, deren Nachlässe du bisher mit be­arbeitet hast? Ist es, weil sie so jung war?«

„Menschen sollten ein Leben haben, bevor sie sterben, sie sollten nicht zu früh herausgerissen werden. Mich macht das traurig.“

Mein Bruder war mit vierundzwanzig herausgerissen worden. Sechs Jahre lang hatte ich geahnt, dass er nicht wiederkommen würde. Seit einem Jahr wussten wir es. Die Ungewissheit war quälend und manchmal unerträglich ge­wesen. Aber auch die Trauer hatte viele Gesichter. Es gab Tage, da rieselte sie wie Sand, und dann gab es solche, da traf sie mich mit voller Wucht. „So etwas ist auch traurig“, sagte ich leise.

Sie schlug sich mit der Hand gegen die Stirn und sah mich schuldbewusst an. „Ich lamentiere hier über Menschen, die zu früh sterben, und … ich habe Ben nicht vergessen, im Gegenteil, vielleicht ist es, weil ich miterlebt habe, was sein Verschwinden für euch alle hier bewirkt hat. Durch diese Frau musste ich wieder daran denken, und dann habe ich versucht, mir meine Familie ohne mich vorzustellen … ach, Kris, entschuldige, ich rede heute Morgen nur Unsinn.“

„Wäre es dir lieber, wenn ich diesen Fall übernehme?“

„Aber du hast doch gesagt, er wäre als Übung ideal für mich, weil er so überschaubar ist“, wandte sie halbherzig ein.

„Übung gibt es genug. Und mir macht es nichts aus.“

„Ist das dein Ernst?“

„Mein voller Ernst!“


Im Vergleich zu der benachbarten Türkenstraße wirkte die Nordendstraße wie eine unscheinbare, etwas vernachlässigte Verwandte. Ihr Reiz bestand ausschließlich in der Nähe zu dem bunten Leben, das die Türkenstraße auf jedem einzelnen Quadratmeter versprühte. Das Haus, in dem Michaela Breuer gewohnt hatte, war ein zweckmäßiger Bau ohne einen Funken Charme. Nur ein einziger der Balkone beherbergte ein paar Pflanzen, auf den anderen schimmerten durch die Milchglasbrüstung Wäscheständer, Bierkästen oder Fahrräder. Vor einigen Fenstern waren die Jalousien heruntergelassen.

Ich stieß die Haustür auf und folgte der Treppe in den dritten Stock, wo Michaela Breuer in einer Wohngemeinschaft mit zwei Studenten gelebt hatte. Normalerweise wurde ich mit derartigen Fällen gar nicht betraut. In der Regel lösten Familienangehörige oder Freunde ein solches WG-Zimmer auf. Aber Michaela Breuers Eltern waren gestorben, Geschwister hatte sie keine. Mögliche Verwandte aufzuspüren würde meine Aufgabe sein. Die Beerdigung war von Corinna Lutz, einer Freundin der Verstorbenen, organisiert worden. Sie hatte auch angeboten, das WG-Zimmer aufzulösen, aber Bruno Weber, der Hauptmieter, hatte ihr den Zugang zum Zimmer verweigert.

Am fünfzehnten Juli war Michaela Breuer in die WG ge­zogen, am vierzehnten August war sie verunglückt. Sie hatte keinen Dauerauftrag für die Miete eingerichtet und war ihrem Vermieter zwei Monatsmieten schuldig geblieben, weshalb er sich ans Nachlassgericht gewandt und da­rum ersucht hatte, die Angelegenheit schnellstmöglich zu regeln.

Weber/Kapoor/Breuer stand am Klingelschild. Der dritte Name würde bald durch einen neuen ersetzt werden. Ich drückte auf die Klingel und wartete, bis drinnen Schritte zu hören waren und kurz darauf die Tür geöffnet wurde.

„Frau Seidel?“, fragte ein präzise gescheitelter Typ mit käsig-weißem Teint, den ich auf Anfang zwanzig schätzte.

„Kristina Mahlo, Frau Seidel musste kurzfristig umdisponieren.“

„Bruno Weber“, stellte er sich vor. „Haben Sie eine Legitimation dabei?“

Ich reichte sie ihm und sah dabei zu, wie er sie studierte, als versuche er, einer Fälschung auf die Spur zu kommen. Schließlich nickte er und bedeutete mir mit einer knappen Geste, ihm zu folgen.

Die einzige Tür, die offen stand, war die zur Küche. Der Flur war mit Laminat ausgelegt, an den Wänden hingen nichtssagende, gerahmte Fotografien. Bis auf einen großen, rechteckigen Korb, der bis oben hin mit Altpapier gefüllt war, stand nichts herum.

Bruno Weber zog einen Schlüssel aus der Hosentasche und öffnete eine Tür. „Dies ist das Zimmer, das Frau Breuer bewohnt hat. Es wird wohl keine große Sache sein, es zu räumen. Was meinen Sie, wie lange es dauern wird?“

„Das kann ich noch nicht sagen, ich muss mir erst einmal einen Überblick verschaffen.“

„Mehr als drei oder vier Tage aber doch sicher nicht, oder? Und dann ist da noch die Sache mit der Miete. Frau Breuer hatte noch keinen Dauerauftrag eingerichtet.“ Er sah sich im Zimmer um und schien den Wert der einzelnen Gegenstände zu taxieren.

Kein Wort des Bedauerns, dass sie gestorben war. Typen wie ihm war ich bei meiner Arbeit zur Genüge begegnet. Was ihn von den anderen unterschied, war allein seine Jugend, mit der er aber allem Anschein nach nicht viel anzufangen wusste. Er war ein alter Mann in einem jungen Körper.

„Wer hatte nach Frau Breuers Tod Zugang zu diesem Raum?“, fragte ich.

„Nur mein Mitbewohner und ich. Und natürlich die Polizeibeamten, die den Unfall aufgenommen haben und Michaelas Ausweis brauchten. Ich habe das Zimmer danach sofort abgeschlossen.“

Sekundenlang kam er mir vor wie jemand, der in Siegerpose einen Fuß auf seine am Boden liegende Beute stellte. Ich verscheuchte das Bild und versuchte, einen neutralen Blick zu wahren.

»Eine Freundin von Frau Breuer war schon hier und wollte sich ein Andenken mitnehmen. Einfach so. Un­glaublich! Aber dem habe ich natürlich einen Riegel vorgeschoben.«

„Dann nehme ich den Schlüssel jetzt am besten an mich und lege los.“ Ich zog ihn aus dem Schlüsselloch und ließ ihn in meine Hosentasche gleiten.

„Aber …“ Die Sorge, ich könnte ihm seine Beute streitig machen, stand ihm ins Gesicht geschrieben.

„Je ungestörter ich arbeiten kann, desto schneller geht es.“

Er hatte den Wink verstanden und verzog sich widerwillig, ließ die Tür jedoch offen stehen. Ich schloss sie hinter ihm und sah mich in dem nach Norden ausgerichteten Zimmer um.

Michaela Breuer hatte dem Mangel an Sonne getrotzt und den Raum in lichten, freundlichen Naturtönen gehalten. Alles hier drin ließ den tristen Flur vergessen. Bett, Paravent, Schrank, Bücherregal, Schreibtisch, Sofa und Lampen hatten jeweils einen anderen Stil, gemeinsam bildeten sie einen ganz eigenen. An der Wand hing nur ein einziges Bild. Es zeigte einen ausladenden Olivenbaum, dessen Schatten mich an die ausgebreiteten Schwingen eines Adlers erinnerte. Auf dem Schreibtisch standen Fotos. Sie zeigten ein älteres Paar, vermutlich ihre Eltern. Eine feine Staubschicht hatte sich darübergelegt. Auf fast jeder freien Fläche stapelten sich Bücher, die in dem Regal, das aus allen Nähten platzte, keinen Platz mehr fanden.

Ich ging zum Fenster, öffnete es weit und fixierte es mit einem der Bücherstapel. Dann begann ich damit, Schubladen zu durchsuchen. Ich fand den Mietvertrag. Wie es aussah, hatte Michaela Breuer monatlich achthundertfünfzig Euro an Bruno Weber zahlen müssen. Das war selbst für Münchner Verhältnisse Wucher. Darunter kam ein weiterer Mietvertrag zum Vorschein. Er bezog sich auf eine großzügig bemessene Zweizimmerwohnung in Obermenzing und war von der Verstorbenen zum fünfzehnten Juli gekündigt worden. Die Wohnung war nur unwesentlich teurer gewesen als das WG-Zimmer. Was hatte sie zu diesem ungleichen Tausch bewogen? Finanzielle Not konnte es nicht ge­wesen sein. Dafür war die Differenz zu niedrig. Außerdem hatte Michaela Breuer als freie Lektorin ein gutes Auskommen gehabt, wie aus ihren Kontoauszügen hervorging. War ihr Obermenzing zu ruhig gewesen und hatte sie sich lieber ins Getümmel rund um die Türkenstraße stürzen wollen? Wenn ja, hatte sie mit Bruno Weber als Vermieter und Mitbewohner einen hohen Preis dafür bezahlt.

Ich zog weitere Schubladen auf und fand Unterlagen, aus denen hervorging, dass ihre Eltern bei dem Tsunami Ende Dezember 2004 in Thailand ums Leben gekommen waren. Ein Jahr später hatte Michaela Breuer ihr Elternhaus in Paderborn samt Inventar verkauft und den Erlös auf die hohe Kante gelegt. Ein Testament hatte sie allem Anschein nach nicht hinterlassen, was für einen Menschen ihres Alters nicht ungewöhnlich war.

Aus dem Schrank holte ich einen Koffer und packte Wertsachen, Dokumente, Laptop und Handtasche ein. Dann schloss ich das Fenster und machte mehrere Fotos. Andernfalls ließ sich hinterher kaum beweisen, dass Gegenstände einmal existiert hatten, bevor sie auf wundersame Weise verschwunden waren.

Ich hatte die Tür gerade hinter mir abgeschlossen, als Bruno Weber aus dem gegenüberliegenden Zimmer auftauchte und den Koffer anstarrte.

„Wann bekomme ich denn nun mein Geld?“, fragte er.

„So schnell wie möglich. Zunächst muss ich allerdings die finanzielle Situation der Verstorbenen klären.“

„Sie stand finanziell gut da“, sagte er schnell. „Ich habe mir ihre Kontoauszüge zeigen lassen, bevor wir den Mietvertrag geschlossen haben. Sicher ist sicher. Schließlich wollte ich mir niemanden in die Wohnung holen, dem nach zwei Monaten die Luft ausgeht.“

„Und dann ist ihr auf andere Weise die Luft ausgegangen“, konnte ich mir nicht verkneifen zu sagen.

Er wurde nicht einmal rot. „Sie haben das Zimmer ja nun gesehen. Können Sie einschätzen, wie lange es dauern wird, es zu räumen?“

Ich hätte ihm gerne gesagt, er solle froh sein, wenn es nicht gleich geräumt wurde, denn dann bekäme er noch weiter diese die Grenzen des Anstands überschreitende Miete. Aber erstens war ich sicher, dass er auf diesem Ohr taub war. Und zweitens würden ihm, sobald er das Zimmer annoncierte, mindestens zweihundert Interessenten die Tür einrennen, um an einem entwürdigenden Nachmieter-Casting teilzunehmen. „Nein, das kann ich Ihnen noch nicht sagen“, entgegnete ich. „Gibt es zu dem Zimmer eigentlich auch einen Kelleranteil?“

„Nein.“

„Und wo hatte Frau Breuer ihr Fahrrad? Ich nehme mal an, sie hatte eines, denn ich habe keinerlei Unterlagen über ein Auto gefunden.“

„Ihr Rad hat sie immer vor dem Haus angekettet.“

„Wissen Sie, wie es aussieht?“

Er zuckte die Schultern.

„Wer wohnt eigentlich noch in dieser Wohngemeinschaft? An der Klingel stehen drei Namen.“

„Rohan Kapoor.“

„Ist er zufällig gerade da?“

„Vor fünf Minuten habe ich seine Tür gehört. Was wollen Sie von ihm?“

„Ihn fragen, ob er mir Michaela Breuers Fahrrad zeigen kann.“


Rohan Kapoor war der Gegenentwurf zu Bruno Weber. Schwarze Locken, buschige Augenbrauen, dunkle, glänzende Augen, olivfarbener Teint und ein breites Lachen, das er mir zur Begrüßung schenkte. Als ihm bewusst wurde, weswegen ich gekommen war, versiegte das Lachen.

„Ich bin sehr traurig, dass sie gestorben ist. Ich vermisse sie.“ Er sah auf seine Hände. „Michaela war an allem interessiert, sie war unkonventionell …“

Bruno Weber, der im Türrahmen lehnte, gab einen abfälligen Laut von sich. „So unkonventionell, dass sie sich nie an den Reinigungsplan für Küche und Bad gehalten hat.“

„Wenn sie ein Manuskript redigiert hat und unter Zeitdruck stand, hat sie alles um sich herum vergessen“, sprang Rohan Kapoor für sie in die Bresche.

„Andere stehen auch unter Zeitdruck und kommen trotzdem ihren Pflichten nach.“

Ich hätte ihn gerne gefragt, wie es sich bei ihm mit der Menschenpflicht verhielt, mit einem Minimum an Mitgefühl, aber vermutlich hätte ich nur einen verständnislosen Blick geerntet. Stattdessen sah ich zu Rohan Kapoor, dessen Mund sich zu einem Schmunzeln verzog.

„Können Sie mir vielleicht Michaela Breuers Fahrrad beschreiben?“, fragte ich ihn.

Als hätte er nur auf diesen Moment gewartet, sprang er von seinem Schreibtischstuhl auf und bedeutete mir, ihm zu folgen. „Kommen Sie! Ich kann es Ihnen sogar zeigen.“ Voller Schwung drängte er Bruno Weber in den Flur und schloss seine Zimmertür vor dessen Nase. „Soll ich Ihnen den Koffer tragen?“

„Nein, das geht schon, danke.“ Ich wandte mich an Bruno Weber und gab ihm eine Visitenkarte. „Ich melde mich bei Ihnen.“

„Was ist mit dem Zimmerschlüssel?“

„Den nehme ich mit.“

„Ich wäre aber schon gerne in der Nähe, wenn Sie das Zimmer ausräumen.“

„Nett, dass Sie helfen wollen, ich komme vielleicht auf Ihr Angebot zurück.“

Für einen Moment geriet er aus dem Konzept. Ich verabschiedete mich schnell und folgte Rohan Kapoor ins Treppenhaus und hinaus auf die Straße, wo uns Nieselregen empfing. Zielstrebig ging er auf Michaela Breuers Fahrrad zu. Ich sah mit einem Blick, dass es kein hochpreisiges Rad war und sie es gut gesichert hatte. Es konnte also erst einmal dort stehen bleiben.

„Haben Sie Lust auf einen Kaffee?“, fragte ich Rohan Kapoor, während ich an der Hauswand Schutz vor dem Regen suchte.

„Das wollte ich Sie auch gerade fragen.“



2

Fünf Minuten später saßen wir im Pavesi, einer kleinen Espressobar in der Türkenstraße. Den Koffer mit Michaela Breuers Sachen stellte ich zwischen meine Füße. Ich war ein gebranntes Kind, denn erst vor einigen Monaten waren mir wichtige Unterlagen eines Verstorbenen aus meiner Tasche gestohlen worden.

„Was studieren Sie?“, fragte ich Rohan Kapoor, als er mit zwei Gläsern Latte macchiato vom Tresen zurückkam und sich setzte.

„Medizin.“

„Und seit wann wohnen Sie in der WG?“

„Seit einem halben Jahr. Es ist nur vorübergehend, bis ich etwas finde, wofür ich nicht halbe Nächte hindurch jobben muss. Michaela wäre übrigens mit umgezogen, wenn ich etwas anderes gefunden hätte.“

„Was hat sie überhaupt bewogen, in die WG zu ziehen?“

„Ich weiß nur, dass sie gezielt nach einer WG mit Männern gesucht hat. Und dass es ihr wichtig war, so hoch wie möglich zu wohnen, also keinesfalls im Erdgeschoss oder im ersten Stock. Was ihre Wohnsituation betraf, war sie ziemlich ängstlich. Sie hat auch immer darauf geachtet, dass die Wohnungstür abgeschlossen war. Wenn ich nachts nach Hause kam, ist sie ein paar Minuten später immer noch mal zur Tür gegangen, um zu prüfen, ob ich auch tatsächlich abgeschlossen hatte. Sie hätte gerne noch einen Querriegel an der Tür angebracht, aber das hat Bruno nicht zugelassen. Er hatte Sorge, für durch Bohrlöcher entstandene Schäden an der Wohnungstür in Haftung genommen zu werden.“ Er ahmte seinen Wohnungsgenossen täuschend echt nach.

Ich musste lachen.

»Michaela hat übrigens immer bei Licht geschlafen. Ich habe ihr mal erklärt, wie wichtig die Dunkelheit für die Melatoninbildung und damit für einen gesunden Schlaf ist, aber sie meinte nur, für sie wäre es gesünder, bei Licht zu schlafen. Ich glaube, sie hatte schlechte Erfahrungen ge­macht. Aber sie wollte nicht darüber reden.«

„Wissen Sie, wie der Unfall passiert ist?“

Er nickte. „Es war der vierzehnte August, ein Donnerstag. Eigentlich wäre ich an dem Tag in der Uni gewesen, aber meine Schwester war mit meiner Nichte in München und ich wollte so viel Zeit wie möglich mit den beiden verbringen. Es war so ein flirrend heißer Tag, später hat es noch ein Gewitter gegeben. Ich habe auf dem Balkon vor der Küche gesessen und Eistee getrunken, als Michaela vom Einkaufen nach Hause kam. Sie war ziemlich verschwitzt, genervt von der Hitze, und sie hatte Kopfschmerzen. Ich habe sie überredet, ein Glas Eistee mit mir zu trinken. Gute Idee, hat sie gesagt.“ Für einen Moment schloss er die Augen, als lausche er ihrer Stimme nach. „Dann hat sie ihre Einkäufe im Kühlschrank verstaut und ist zu mir rausgekommen. Was dann passiert ist, läuft immer noch wie ein Film vor meinem inneren Auge ab. Sie hat dagestanden und von ihrem Tag erzählt, dass die Waschmaschine kaputtgegangen sei, dass sie gerade ein total interessantes Manuskript in Arbeit habe und sich schon darauf freue, am Abend damit weiterzumachen … solche Sachen eben. Und dann ist sie urplötzlich erstarrt und bekam einen ganz seltsamen Blick. Erst dachte ich, ihr sei etwas eingefallen. Und dass es etwas Dringendes gewesen sein müsse, weil sie sich auf dem Absatz umgedreht hat und aus der Wohnung gestürmt ist. Aber wie dringend kann etwas sein, dass man blindlings auf die Straße rennt? Ich habe die Bremsen gehört … und den Aufprall. Ich bin die Treppe runter und war bei ihr, als sie ein paar Minuten später starb.“ Er wischte sich Tränen vom Gesicht. „Ich sehe immer noch ihren Blick oben auf dem Balkon vor mir. Ich weiß, es klingt blöd, aber inzwischen denke ich, sie hatte vor irgendetwas Angst.“

Dieser Satz wirkte wie ein Trigger auf mich, aber ich versuchte, nicht darauf zu reagieren. Die Fragen, die mir auf der Zunge lagen, drängte ich vehement zurück. Meine Aufgabe bestand darin, Michaela Breuers Nachlass zu sichern, nach ihren Erben zu suchen und ihre Angelegenheiten zu regeln. Zu klären, wovor sie Angst hatte, zählte nicht zu meinen Aufgaben.

„Auf dem Balkon“, fuhr Rohan Kapoor fort, „da hat sie den Kopf geschüttelt und Nein geflüstert, bevor sie aus der Wohnung gerannt ist. Sie hat nicht einmal ihre Handtasche mitgenommen. Die hatte sie sonst immer dabei. Ohne ihre Tasche, hat sie mal zu mir gesagt, fühle sie sich wie amputiert. Und: Wenn ich etwas über Frauen lernen wolle, solle ich mir den Inhalt ihrer Taschen ansehen. Ob ich bei ihr gleich damit anfangen könne, habe ich sie scherzhaft gefragt. Und da meinte sie, aus ihrer Tasche würde ich die falschen Schlüsse ziehen.“

„Wie hat sie das gemeint?“

„Keine Ahnung. Haben Sie schon in ihre Tasche hineingeschaut?“

„Ich habe nur einen Blick hineingeworfen.“

„Und?“

„Mir ist nichts Besonderes aufgefallen.“

„Glauben Sie an das Schicksal?“, fragte er.

Ich zögerte. „Wenn man daran glaubt, hat man zumindest einen Schuldigen, wenn etwas schiefgeht.“

»Wäre Michaela nur Sekunden später auf die Straße ge­laufen, würde sie noch leben.«

Ich kannte diese Gedanken nur zu gut. Wäre mein Bruder an jenem verhängnisvollen Tag nicht in ein Café gegangen, wäre er vermutlich noch am Leben. Hätte, wäre, wenn. Das, was diese Worte einem vorgaukelten, konnte dem Schicksal für Momente einen anderen Lauf geben. Aber es waren immer nur Momente, die von der Wirklichkeit eingeholt wurden.

Er fasste sich an den Kopf. „Beinahe hätte ich es vergessen.“ Er öffnete seine Geldbörse, zog eine Karte daraus ­hervor und schob sie mir zu. »Die ist von Corinna Lutz, Mi­chaelas Freundin. Sie hat mir aufgetragen, sie Ihnen zu geben. Sie wollte sehr gerne eine Erinnerung an Michaela haben, aber Bruno hat ihr unterstellt, etwas stehlen zu ­wollen. Der hat sie nicht alle, wenn Sie mich fragen. ­Drücken Sie mir die Daumen, dass ich bald etwas Neues finde.«

Ich nahm Zettel und Stift aus meiner Tasche und notierte die Telefonnummer meiner Mutter. »Rufen Sie meine Mutter an. Im Dachgeschoss unseres Hauses hat es vor ­Jahren schon einmal eine WG gegeben. Meine Eltern haben beschlossen, zwei der Zimmer wieder zu vermieten. Eines ist seit August von einer Studentin bewohnt. Vielleicht ist das zweite Zimmer noch frei. Allerdings liegt das Haus in Obermenzing. Auf studentisches Flair, wie Sie es hier in Schwabing gewöhnt sind, müssten Sie dort ver­zichten. Da­für würden Sie auf einem Hof wohnen, auf dem schon einige gestrandet sind. Es geht sehr familiär bei uns zu.«

Er sah mich mit seinen großen, fast schwarzen Augen an und fuhr sich mit beiden Händen durch die Locken. „Ist das Ihr Ernst?“

„Das Familiäre?“

„Das Angebot.“

„Freuen Sie sich nicht zu früh! Für die Angebote ist meine Mutter zuständig. Ich könnte allerdings ein gutes Wort für Sie einlegen.“

„Sind auf Ihrem Hof alle so wie Sie?“

„Wie bin ich denn?“

„Normalerweise werde ich spätestens nach fünf Minuten gefragt, woher ich komme. Wenn ich dann sage, ich komme aus Freiburg, ist die nächste Frage, woher ich denn ursprünglich komme.“

„Aus Freiburg“, nahm ich seine Antwort vorweg.

„Genau!“

„Dann folgt vermutlich noch der Satz, dass es bewundernswert ist, wie gut Sie Deutsch sprechen.“

Er lachte übers ganze Gesicht. „Und das Zimmer ist tatsächlich noch frei?“

„Gestern war es das noch.“

Sabine Kornbichler

Über Sabine Kornbichler

Biografie

Sabine Kornbichler, geboren 1957, wuchs an der Nordsee auf und arbeitete in einer Frankfurter PR-Agentur, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete. Schon ihr Debüt „Klaras Haus“ war ein großer Erfolg, ihr Kriminalroman „Das Verstummen der Krähe“ wurde für den Friedrich-Glauser-Preis nominiert....

Pressestimmen
ver.di publik

„Es gelingt Kornbichler ausgesprochen gut, trotz nur dreier Verdächtiger die Spannung bis zum Schluss hoch zu halten und den Charakter ihrer Figuren differenziert und glaubwürdig darzustellen.“

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