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Das Dorf der Lügen (Martinsfehn-Krimis 1)

Das Dorf der Lügen (Martinsfehn-Krimis 1) - eBook-Ausgabe

Barbara Wendelken
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Kriminalroman

„Der Roman fesselt mit einem ungewöhnlichen Plot und Gänsehaut ist nicht nur wegen der frostigen Temperaturen garantiert, denen die Romanfiguren ausgesetzt sind.“ - www.gedankenspinner.de

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Das Dorf der Lügen (Martinsfehn-Krimis 1) — Inhalt

Ein Alptraum für Polizeikommissarin Viktoria Engel: Sie erschießt im Dienst einen Unschuldigen, den 16-jährigen Rouven Kramer. In ihrer Not inszeniert sie die Tat, als hätte sie aus Notwehr gehandelt, doch die Dorfbewohner hegen Zweifel. Als kurze Zeit später eine weitere Leiche auftaucht, bizarr inszeniert wie Rouvens Tod, bricht eine Welle von Misstrauen über das Dorf herein, bis sich niemand mehr vor dem anderen sicher fühlt …

€ 8,99 [D], € 8,99 [A]
Erschienen am 14.07.2014
432 Seiten
EAN 978-3-492-96487-6
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Leseprobe zu „Das Dorf der Lügen (Martinsfehn-Krimis 1)“

Prolog

Sie spürte seinen Blick, hob den Kopf und lächelte ihn an. Gemeinsam schnippelten sie einen Teil der getrockneten Pilze noch kleiner, als sie ohnehin schon waren. Sie benutzte dazu sein Taschenmesser. Er nahm das Messer, das er zum Schlachten brauchte. Die Schnipsel landeten in einer Flasche mit Apfelkorn, die er zuschraubte und kräftig schüttelte. Seine Hände waren schlank und sogar jetzt im November noch gebräunt, weil er so viel Zeit im Freien verbrachte. Sie wünschte sich, von ihnen berührt zu werden.

Gestern hatte sie sich im Internet [...]

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Prolog

Sie spürte seinen Blick, hob den Kopf und lächelte ihn an. Gemeinsam schnippelten sie einen Teil der getrockneten Pilze noch kleiner, als sie ohnehin schon waren. Sie benutzte dazu sein Taschenmesser. Er nahm das Messer, das er zum Schlachten brauchte. Die Schnipsel landeten in einer Flasche mit Apfelkorn, die er zuschraubte und kräftig schüttelte. Seine Hände waren schlank und sogar jetzt im November noch gebräunt, weil er so viel Zeit im Freien verbrachte. Sie wünschte sich, von ihnen berührt zu werden.

Gestern hatte sie sich im Internet schlaugemacht. Diese Pilze waren keineswegs so harmlos, wie er behauptete. Sie enthielten Psilocybin, das so ähnlich wie LSD wirkte. Doch sie wagte nicht, ihre Bedenken laut auszusprechen. Er sollte sie nicht für einen Feigling halten.

„  Ich werde noch ein Kaninchen schießen, damit ich nicht aus der Übung komme  “, hatte er angekündigt. Auf seiner großen Wanderung würde er völlig autark leben. In seinem Survival-Guide hatte er ihr gezeigt, welche Insekten man essen konnte, Maikäfer zum Beispiel, das hätte sie nie gedacht. Schnecken galten als besonders nahrhaft, man musste sie in kochendes Wasser werfen und dann noch braten, damit sie ihren unangenehmen Eigengeschmack verloren. „ Dafür müsste ich allerdings kurz vor dem Hungertod stehen “, hatte er gesagt und dabei gelacht. Er wollte lieber fischen und jagen. Aber ausgerechnet Kaninchen.

Als sie klein war, hielt ihr Opa Kaninchen. Deutsche Riesen mit großen, dunklen, glänzenden Augen. Ihr silbriges Fell fühlte sich seidig und unendlich weich an. Obwohl es streng verboten war, ihr Opa fürchtete immer, dass eines der Tiere entwischen könnte, öffnete sie manchmal heimlich eine der Käfigtüren und ließ ihre Hand über die Rücken der Tiere gleiten. Die Kaninchen bewegten sich kaum, sie saßen immer nur da, stumm und wehrlos, eingesperrt in ein winziges dunkles Loch. Wenn die Jungen geboren wurden, nackt und blind, versteckten die Mütter sie in der hintersten Ecke ihres Verschlags, als könnten sie die Kleinen dort vor ihrem trostlosen Schicksal bewahren. Sie bereiteten ein weiches Nest aus Heu und Haaren, die sie sich selbst ausrupften. Ihr Opa war der Einzige, der in die Nester schauen durfte. Acht, sagte er dann, oder zehn oder auch mal nur vier. Sie selbst musste sich gedulden, bis die kleinen Kaninchen von selbst aus dem Nest krabbelten. Sie sahen alle gleich aus, graubraun ohne irgendein Fleckchen Weiß. Dennoch hatte sie immer ein Lieblingskaninchen. Eins, das sie ihrer Meinung nach besonders lieb anschaute oder das außergewöhnlich süß mit der Nase wackeln konnte.

Die Kaninchen waren zum Schlachten da, das verstand sie erst später. Sobald ihr klar wurde, was da sonntags auf den Tisch kam, in sämiger, hellbrauner Bratensoße, mit gelblichen Kartoffeln und köstlich duftendem Rotkohl, weigerte sie sich, davon zu essen. Wie konnten die Erwachsenen nur mit Appetit die Kaninchen verspeisen, die vor ein paar Tagen noch in Opas Stall gehockt hatten, lebendig, warm und weich.

Jahrelang hatte sie nicht mehr daran gedacht. Erst an diesem späten Nachmittag im November, als sie nebeneinander im herbstnassen Gras kauerten, hinter den morschen Brettern, die einmal Claasens Gemüsegarten eingezäunt hatten, kam die Erinnerung zurück. Etwa siebzig Meter vor ihnen hockte ein Wildkaninchen, sein Fell schimmerte nur wenig bräunlicher als das der Schlachtkaninchen ihres Großvaters, und da war alles wieder da. Sogar der Stallgeruch, streng und etwas süßlich, stieg ihr in die Nase.

Das Tier ahnte nichts von seinem bevorstehenden Tod. Unbekümmert setzte es sich auf die Hinterläufe, der Kopf mit den großen dunklen Augen, die ihr so vertraut waren, drehte sich wachsam hin und her. Als er ihr die Schrotflinte anbot, schüttelte sie den Kopf und unterdrückte den Impuls, in die Hände zu klatschen und dem Kaninchen das Leben zu retten.

Er kniete neben ihr, hob die Waffe, ganz langsam, mit der Sicherheit des guten Jägers, er kniff das linke Auge zusammen, zielte sorgfältig und drückte ab. Gleichzeitig mit dem Knall flog das Tier rückwärts durch die Luft. Es landete auf der Seite und blieb reglos liegen, wie hingeworfen. Als hätte es niemals gelebt.

Jeden anderen Menschen hätte sie in diesem Moment aus tiefster Seele verabscheut. Ihr wurde klar, wie sehr sie ihn liebte.



Freitag, 4. November

Mit einem Seitenblick musterte Hauptkommissar Renke Nord­mann, Leiter des Polizeireviers Martinsfehn, die neue Beamtin, die seit einigen Wochen zu seiner Mannschaft gehörte. Polizeikommissarin Viktoria Engel, dreiundzwanzig Jahre alt und frisch von der Polizeiakademie in Nienburg, machte ihrem Namen alle Ehre. Langes blondes Haar, im Dienst zu einem braven Zopf geflochten, eine schmale Figur, ein verträumtes Lächeln. Das einzig Irdische an ihr waren die Hände, groß und derb, mit kurzen, fleischigen Fingern und Nägeln, die breiter waren als lang, Männerhände. Aber das tat ihrer Schönheit keinen Abbruch. Wer guckte bei einer hübschen Frau schon auf die Hände. Und alles andere erschien aus Männersicht nahezu perfekt. Kürzlich hatte er sie mal privat gesehen, in Top, Minirock und hohen Pumps. Das war auf dem fünfundzwanzigsten Geburtstag von Jens Stiller gewesen. Den Kumpels aus Jens’ Fußballmannschaft war bei ihrem Anblick buchstäblich der Sabber aus dem Mund gelaufen.

In gerade mal fünf Wochen war es der jungen Polizistin gelungen, seine Dienststelle in ein Tollhaus zu verwandeln. Sogar Lorenz Bäumer, der trotz seiner achtundvierzig Jahre noch immer bei seiner Mutter wohnte, wich nicht von ihrer Seite. Lorenz war unglaublich langweilig und verstaubt, angefangen bei der Frisur, einem akkuraten Seitenscheitel, der schon in Renkes Jugend den Strebern vorbehalten war, bis hin zu den perfekt geputzten Schuhen und den weißen Stofftaschentüchern, die seine Mutter mit großer Sorgfalt für ihn bügelte. Dass Lorenz sich überhaupt für eine Frau interessierte, war neu. Jetzt allerdings hätte er am liebsten den Stuhl abgefegt, bevor Viktoria Engel sich darauf setzte. Auch Jens Stiller, der jüngste seiner Beamten, kriegte regelmäßig rote Ohren, wenn sie ihn ansprach. Und das, obwohl er gerade erst mit seiner Tanja zusammengezogen war. Selbst Oliver Dellbrink, Anfang vierzig und glücklich verheiratet, konnte den Blick nicht von ihr lassen. Zwischen den dreien hatte sich eine Art Wettkampf um Viktoria Engels Gunst entwickelt. Einzig Renke selbst und Erwin Holtz, der kurz vor der Pensionierung stand und sich mehr für seine Enkelkinder als für junge Frauen interessierte, hielten sich da raus.

Die Kleine genoss die Situation und versuchte gar nicht erst, das zu verbergen. Irgendwann in ihrem Leben, davon war Renke überzeugt, hatte Viktoria nicht genug Beachtung bekommen. Bekanntlich lagen die meisten Verhaltensmuster ja in der Kindheit begründet. Jetzt schien sie geradezu süchtig nach männlicher Bewunderung zu sein. Ständig hielt sie Blickkontakt zu ihren Kollegen, und sie verfügte über ein breites Repertoire an Gesten, die ihr die Aufmerksamkeit einbrachten, die sie offenbar so dringend benötigte.

Am Anfang hatte es Renke Nordmann amüsiert, wie Viktoria die männlichen Kollegen manipulierte, beinahe wie eine Dompteuse. Mittlerweile fielen ihm dieses Gehabe und vor allem die allzu vorhersehbaren Reaktionen seiner Kollegen auf die Nerven. Vor allem störte ihn dieses Mädchengetue, das ihn an Aleena, seine sechzehnjährige Tochter, erinnerte.

Es war Freitag, der vierte November, achtzehn Uhr, in einer Stunde schloss das Revier. Nachts war das Polizeipräsidium in Leer für Martinsfehn zuständig. Viktoria sollte das Protokoll einer Vernehmung schreiben. Ratlos, mit gerunzelter Stirn, schaute sie den Monitor an, so als würde sie ihn zum ersten Mal sehen und überhaupt nicht begreifen, wie dieses Ding da auf ihren Schreibtisch gekommen war. Ihre Fingerspitzen spielten mit ihrem blonden Zopf, ihre typische Hilf-mir-bitte-Geste. Wie üblich blieb das Signal nicht lange unbemerkt.

Gerade als Renke sagen wollte, dass so ein Protokoll ja wohl keine große Aufgabe darstellen würde, bot Jens seine Hilfe an.

Augenblicklich versuchte Oliver, seinen vermeintlichen Rivalen auszubooten. „ Musst du nicht den Bericht über den Crash auf dem Parkplatz schreiben  ? “

Jens warf ihm einen unwirschen Blick zu. „ Das hat Zeit bis Montag. “

Noch eine Stunde bis Dienstschluss, und die Luft in der Wachstube knisterte mal wieder. Bei nächster Gelegenheit sollte Renke wohl mal Tacheles mit den Jungs reden. Das hier war immer noch ein Polizeirevier und kein Hühnerstall. Um die Situation zu entschärfen, erhob er sich von seinem Schreibtischstuhl und griff nach der Dienstmütze.

„ Ich fahr noch mal ’ne Runde. Mal schauen, ob die Kids wieder bei Aldi an den Einkaufswagen rumhängen und die Kundschaft nerven. Viktoria, du kommst mit. Das Protokoll kann bis Montag warten. “

Ein schadenfrohes Grinsen erhellte Olivers Gesicht.

Kaum dass er die Tür geöffnet hatte, bereute Renke seinen Entschluss. Ostwind und leichter Nieselregen. Mistwetter. Der Dienstwagen war noch ziemlich neu, ein Passat Kombi, silbern mit blauen Streifen, auf denen mit weißer Schrift aus reflektierender Folie POLIZEI stand. Zum Fuhrpark des Polizeireviers Martinsfehn gehörte auch ein Bulli, aber den fuhr Renke nicht so gern, weil die Kupplung rutschte und der Fahrersitz nicht mehr so stramm gepolstert war. Er startete den Motor und drehte die Heizung bis zum Anschlag auf. Sechs Grad zeigte das eingebaute Außenthermometer.

„ Ganz schön kalt, was ? “ Viktoria klemmte die Hände zwischen ihre zusammengepressten Knie.

„ November, was erwartest du ? “ Nach einem Blick in den Rückspiegel ließ er den Passat rückwärts auf die Straße rollen.

Martinsfehn war ein typisches Fehndorf, wie es Hunderte in Ostfriesland gab. Die Hauptstraße verlief beidseitig parallel zum Martinskanal, dem der Ort seinen Namen verdankte. In Renkes Kindheit war Martinsfehn noch ein kleines, unbedeutendes Dorf gewesen, in dem jeder jeden kannte. Inzwischen gab es ein neues Schulzentrum, ein Einkaufszentrum, zwei Neubaugebiete und neuerdings sogar ein Industriegebiet, das allerdings außerhalb der Ortschaft lag und von dem die meisten Grundstücke noch nicht verkauft waren.

Renke drehte die übliche Runde. Am Marktplatz vorbei, die kleine Stichstraße zum Einkaufszentrum hoch und dann links auf den Parkplatz. Martinsfehn mochte ein kleines Nest sein, aber die gängigen Märkte wie Aldi, Lidl, Rossmann, KiK und ein Verbrauchermarkt, der zu einer regionalen Kette gehörte, hatten sich auch hier angesiedelt, außerdem ein Schnellimbiss, die Filiale einer Großbäckerei und ein kleiner Blumenladen. Er stellte den Motor ab und löste seinen Sicherheitsgurt. Mit einem Blick erfasste er, dass bei den Einkaufswagen keine Jugendlichen herumlungerten. Vermutlich war es ihnen schlicht und ergreifend zu kalt, was er gut verstehen konnte. Aber das war ja ohnehin nicht der wahre Grund für diese Fahrt.

„ Da ist keiner. “ Viktorias Stimme klang ein wenig enttäuscht, fast schon beleidigt, und wieder musste er an seine Tochter denken. „ Fahren wir wieder zurück ? “

„ Gleich. Ich muss noch was besorgen. “ Er stieg aus und steuerte den kleinen Bäckerladen an, dessen Schaufenster in samtigen Herbstfarben geschmückt waren.

„ Moin, Renke “, begrüßte ihn Sybille Lange, eine ehemalige Freundin seiner verstorbenen Frau, die hier seit Jahren arbeitete. In der roten Schürze wirkte sie genauso appetitlich wie die Backwaren, die sie verkaufte. Ihre Tochter Melanie war schon seit Kindergartenzeiten Aleenas beste Freundin.

„ Na, was macht Aleena ? “ Bevor er antworten konnte, winkte sie ab. „ Schon klar, mit sechzehn fühlen sie sich erwachsen und erzählen uns kein Wort zu viel. Stimmt’s ? “

Er nickte beiläufig und zeigte auf das dunkle Kürbiskernbrot, das köstlich aussah und noch besser duftete. „ Das nehme ich mit. “ Ihm war bewusst, dass Sybille einen Anlass suchte, ihn in ein privates Gespräch zu verwickeln, doch dafür fehlten ihm sowohl die Zeit als auch das Interesse.

Als er wieder im Auto saß, strahlte Viktoria ihn verschwörerisch an. „ Ach, darum sind wir hier. “ Sie tat so, als würden sie von jetzt an ein großes Geheimnis teilen, aber auf solche Spielchen verspürte er keine Lust. Drei Verehrer mussten für das Ego der Kleinen reichen.

Ein kurzer Blick in den Seitenspiegel, dann bremste er ab. „ Moment. Da sind sie ja. “ Mit dem Daumen wies er auf eine Gruppe von Jugendlichen, die es sich unter dem Dach des Buswartehäuschens bequem gemacht hatte.

Beim Anblick des Polizeiwagens erhob sich Patrick Janssen, natürlich betont langsam, man hatte ja ein Gesicht zu verlieren. Nachlässig steckte er die linke Hand in die Tasche seiner schwarzen Bomberjacke, die nicht so aussah, als könnte sie ihn bei diesen Temperaturen warm halten. Die rechte verbarg er hinter dem Rücken. „ Hey, Nordmann, alles paletti ? “

Der Polizist schenkte ihm ein halbherziges Lächeln. „ Hallo Patrick. Bisschen kalt heute, oder ? “

„ Und nass. Aber wenn man von innen heizt, ist das null Problem. “ Mit breitem Grinsen brachte Patrick die rechte Hand, die eine Dose Bier umklammert hielt, nach vorn und streckte sie in die Höhe. Seine Fingernägel waren abgekaut bis auf das Fleisch. Am kleinen Finger steckte ein breiter Silberring.

„ Ich gehe mal davon aus, dass ihr alle sechzehn seid. “ Nach einem ernsten Blick in die Runde ließ Renke die Scheibe hochfahren und gab Gas. Halb sieben, heute wollte er mal pünktlich Feierabend machen.

„ Müssen wir das nicht kontrollieren ? “ Mit gerunzelter Stirn drehte Viktoria sich um und schaute noch mal über ihre Schulter. „ Die Kleine in der weißen Jacke ist bestimmt jünger. “

„ Angelina. Die ist vierzehn. Glaub mir, die ist hier besser aufgehoben als zu Hause. Wenn ich sie heimbringe, kriegt sie gewaltige Prügel von ihrem Stiefvater. Und morgen sitzt sie wieder hier, dann allerdings mit einem blauen Auge. “

„ Hast du schon mal das Jugendamt informiert ? “

„ Wozu ? Was glaubst du denn, was die unternehmen ? Ich kann es dir sagen. Nichts. “

„ Okay “, sagte Viktoria gedehnt, die das in der Ausbildung natürlich ganz anders gelernt hatte.

Vielleicht hätte er ihr an dieser Stelle einen Vortrag halten sollen über das richtige Augenmaß im Umgang mit Jugendlichen, bei der Gelegenheit könnte er auch darauf hinweisen, dass Patrick Janssen achtzehn war und damit volljährig. Und dass der junge Mann nach einem sehr ernsten Gespräch unter vier Augen, das inzwischen zwei Jahre zurücklag, seine Grenzen sehr wohl kannte und in der Regel auch nicht überschritt. Aber irgendwie fehlte Renke die Motivation. Als Dienststellenleiter hatte er es weiß Gott nicht nötig, sich vor einer Anfängerin zu rechtfertigen. Seit er vor zweieinhalb Jahren die Revierleitung in Martinsfehn übernommen hatte, lief hier ­alles rund. Renke war hier aufgewachsen, als Sohn eines Postboten und der Gemeindeschwester. Jeder kannte und achtete ihn, in so einer ländlichen Gemeinde bedeutete das schon die halbe Miete. Zudem hatte er als Übungsleiter für Selbstverteidigungskurse eine weitere Möglichkeit gefunden, die Jugendlichen aus Martinsfehn zu erreichen. Dabei erschien es ihm besonders wichtig, nicht nur die Grundlagen verschiedener Kampfsportarten zu vermitteln, sondern auch das, was einen guten Kampfsportler ausmachte, nämlich Fairness, Disziplin und ein gutes Gefühl für den eigenen Körper. Wer mit sich selbst im Reinen war, brauchte nicht grundlos auf andere einzuprügeln. Aus dem Stegreif wären ihm vier oder fünf Heranwachsende eingefallen, die er im Training auf den richtigen Weg gebracht hatte. Die Mehrzahl der Kids in Martinsfehn res­pek­tierte ihn, viele mochten ihn sogar, aber sie alle wussten, wenn Nordmann richtig böse wurde, war der Spaß vorbei.

In der Revierstube war mittlerweile wieder Ruhe eingekehrt. Wie früher, dachte er und ertappte sich bei dem Gedanken, dass es ohne Viktoria besser gelaufen war.

Das Telefon klingelte. Oliver nahm mit der linken Hand ab, weil er in der rechten einen Kaffeebecher hielt. „ Polizeirevier Martinsfehn, Polizeioberkommissar Dellbrink am Apparat  … Okay, wir werden das prüfen. Herzlichen Dank. “ Er legte auf, stöhnte und verdrehte die Augen. „ Da treibt sich mal wieder jemand bei Claasen rum. Haben die Leute nichts Besseres zu tun bei dem Schweinewetter ? “

Zwanzig vor sieben. Renke hatte sich fest vorgenommen, heute mal pünktlich Feierabend zu machen, um mit Aleena zu Abend zu essen, zum ersten Mal in dieser Woche. In letzter Zeit fanden kaum noch gemeinsame Mahlzeiten statt, das musste sich dringend wieder ändern. Der Duft des frischen Brotes, das vor ihm auf dem Schreibtisch lag, stieg in seine Nase. Er würde Spiegeleier dazu braten, irgendwo im Kühlschrank musste auch noch ein Rest Schinken sein. „ Oliver, du fährst da hin. Nimm Viktoria mit. “

Zu Claasens Hof führte eine schmale Straße, die Schlehenwieke, die sich vor allem nachts und am Wochenende als Schleichweg zwischen Martinsfehn und dem Nachbardorf Hankensfehn großer Beliebtheit erfreute. Links der Straße verlief der Kanal, die eigentliche Schlehenwieke, rechts standen die wenigen Häuser. Sie fuhren an zwei Bauernhöfen vorbei, von denen einer noch landwirtschaftlich genutzt wurde und der andere einer jungen, alternativ orientierten Familie gehörte, dann hörte die Bebauung auf. Starker Regen setzte ein, was Oliver mit lautem Fluchen kommentierte. Wenig später musste er abrupt auf die Bremse treten, weil ein Rudel Rehwild die Straße kreuzte. Die Viecher schwammen einfach durch den Kanal, das hatte er schon öfter beobachtet. Der Wagen schlingerte und geriet auf den Seitenstreifen, doch er schaffte es, ihn wieder auf die Straße zu bringen und dort zu stoppen. Zum Glück. Er konnte sich was Besseres vorstellen, als einen der Martinsfehntjer Landwirte anzurufen, damit der schadenfroh grinsend den Dienstwagen aus dem Morast zog und dafür zwanzig Euro kassierte.

Die geblendeten Tiere blinzelten ins Scheinwerferlicht, dann staksten sie auf ihren langen Beinen weiter.

„ Was für eine überflüssige Scheißaktion “, beschwerte er sich und boxte mit der Faust gegen das Steuerrad. „ Warum ist Renke nicht selbst gefahren ? “

Viktoria lachte leise. „ Ja. Schade eigentlich. Renke und ich so ganz allein im Dunkeln, das hätte mir gefallen. “

„ Was soll das denn heißen ? “

„ Renke Nordmann sieht verdammt gut aus, er ist ledig und im richtigen Alter. “

» Er ist verwitwet. Und er hat seiner Britta auf dem Sterbe­bett versprochen, dass er allein bleibt, bis Aleena aus dem Haus geht. Das ist noch ’ne ganze Weile. Mach dir keine Hoffnungen. «

„ Woher weißt du das so genau ? Warst du dabei, als sie gestorben ist ? “

„ Nee, bestimmt nicht. Aber Christine und Britta waren gut befreundet. “

Dass er den Namen seiner Frau erwähnte, verdarb ihr die Laune. Sie wandte sich von ihm ab, schaute angestrengt nach vorn und sagte kein Wort mehr. Dabei hatte er nur ihre Frage beantwortet.

„ Wir sind da. “

Der alte Claasen war vor zehn oder elf Jahren gestorben. Seither stand der Hof leer. Seine beiden Söhne versuchten seit einiger Zeit halbherzig, das Anwesen zu verkaufen. Ihre Preisvorstellungen hatten allerdings wenig mit der Realität gemein. Es hieß, sie hätten Geld genug und wären nicht drauf angewiesen, ihr Elternhaus zu verschleudern. Der Hof verfiel unterdessen. Das hatte schon vor dem Tod des alten Claasen angefangen, und seit niemand mehr dort wohnte, schritt der Verfall noch schneller voran.

Das Dach war undicht, im Scheunenbereich an einer Stelle sogar eingestürzt, in vielen Fenstern fehlten die Scheiben – ein Werk der ortsansässigen Jugend. Die Türen waren schon vor Jahren aufgebrochen worden, das Inventar zum größten Teil zertrümmert oder geklaut. Eine Zeit lang wurde die Polizei mehrmals in der Woche zu dem abgelegenen Gehöft gerufen. Inzwischen hatte sich das wieder gelegt. Heutzutage hing die Dorfjugend lieber am Marktplatz oder vor den Geschäften rum. Die Kids brauchten Licht, um sich zu zeigen.

Oliver parkte quer auf der Auffahrt. Kaum, dass der Wagen stand, zog er Viktoria auf seinen Schoß, er seufzte wohlig und leckte mit der Zunge über die weiche Haut in ihrem Nacken. Er hätte gar nicht in Worte fassen können, wie gut sie sich anfühlte, weich und trotzdem glatt und fest.

„ Wenn ich es mir recht überlege, bin ich doch froh, dass Renke nicht selbst gefahren ist. “ Er lachte leise. Kaum zu fassen, aber keiner der Kollegen ahnte etwas davon, dass er regel­mäßig mit Viktoria schlief, mit der Frau, auf die alle im Revier scharf waren. Nicht mal Renke hatte was gemerkt, dabei hielt der sich immer für den Obercrack, weil er früher bei der Kripo gearbeitet hatte. Wirklich schade, dass Oliver keinem davon erzählen durfte. Sie würden ihn beneiden, alle, auch Renke, und das hätte er zu gern erlebt.

Als er versuchte, ihre Uniformjacke zu öffnen, schlug Viktoria seine Hände fort. „ Jetzt nicht. Nachher sieht uns jemand. “

„ Hier ist doch keiner, Süße. “ Seine rechte Hand glitt zwischen ihre Beine. Er würde sie schon auf Touren bringen, wenn sie ihn nur machen ließ.

„ Finger weg, ich will jetzt nicht. Kapiert ? “ Mit einer energischen Bewegung rutschte sie auf ihren eigenen Sitz und warf den langen Zopf über die Schulter. Die Haarspitzen streiften dabei seine Wange.

In gewisser Weise war sie unberechenbar, mal schüchtern wie eine Fünfzehnjährige, dann wieder wild und hemmungslos. Zickig konnte sie auch sein, so wie jetzt. Aber gerade das reizte ihn, machte ihn an, diese Ungewissheit, wie sie drauf war, wie weit er gehen durfte.

Sie betätigte den elektrischen Fensterheber und ließ die Scheibe auf ihrer Seite bis zur Hälfte runter. „ Hier soll jemand sein ? Wer will das denn gesehen haben ? Ist doch stockfinster. Und es gibt keine Nachbarn. “

„ Was weiß ich. Irgendeiner, der hintenrum nach Hankensfehn wollte, ist doch egal. Mach das Fenster wieder zu, es regnet rein. “ Seufzend zog Oliver den Zündschlüssel ab. „ Wir warten zwei Minuten, vielleicht hört der Scheißregen ja auf. Dann gehen wir los. “ Er beugte sich nach rechts und holte eine große Stabtaschenlampe aus dem Handschuhfach, dabei streifte er absichtlich ihr Bein. Keine Reaktion. Okay, dann eben nicht. Was zum Teufel hatte er eigentlich verbrochen, dass Viktoria ihn so behandelte ? Sonst konnte sie seine Hose gar nicht schnell genug aufkriegen. Weiber.

Angestrengt starrte er zum Haus hinüber. Der Regen sammelte sich auf der Frontscheibe, und er konnte nichts erkennen, außer dass es dunkel war und sich da draußen scheinbar nichts bewegte. „ Ist sowieso keiner mehr da, falls überhaupt jemand hier gewesen ist. Aber nachsehen müssen wir trotzdem. “ Inzwischen war Oliver ziemlich sauer. Auf denjenigen, der für das Wetter verantwortlich war, wer immer das sein mochte. Auf den Blödmann, der die Polizei angerufen hatte. Auf Renke Nordmann, der sich jetzt bestimmt schon auf dem Heimweg befand, und natürlich auf Viktoria, die keine Lust verspürte, die Situation auszunutzen.

Die beiden Polizisten stiegen aus und schlossen leise die Autotüren. Warum leise ? Das sollte Oliver sich für den Rest seines Lebens fragen: Ob alles anders gekommen wäre, wenn er die Autotür mit Schwung zugeknallt hätte ?

Viktoria streckte ihre Hand nach vorn und lächelte ihn an. „ Es regnet gar nicht mehr. “

Aber das reichte nicht aus, um seine Laune zu verbessern. „ Du wirst sehen, dass hier keiner ist. Bei dem Scheißwetter geht doch niemand freiwillig vor die Tür. “

„ Oder da ist einer, der uns gehört hat und sich jetzt versteckt “, flüsterte sie.

Auf einmal wirkte sie gar nicht mehr cool, eher wie ein kleines, ängstliches Mädchen, das beschützt werden wollte. So gefiel sie ihm gleich sehr viel besser. So waren sie, die Neuen, große Klappe, voller Eifer, überall witterten sie Schwerverbrecher, aber wenn’s drauf ankam, machten sie sich in die Hose. Umständlich fingerte Oliver die Taschenlampe aus dem Hosen­bund. Kein Mond, keine Sterne, Dunkelheit und ein heftiger Wind, der an seiner Jacke zerrte. Der Boden war bedeckt mit einer dicken Schicht Herbstlaub, die jedes Geräusch verschluckte. Der Lichtschein seiner Lampe huschte über die Backsteinfassade des Hauses. Bei Nacht wirkte Claasens Hof wie verwundet, das kaputte Dach, die leeren Fenster, die scheinbar lautlos um Hilfe riefen. Richtig unheimlich.

„ Hier ist keiner “, wiederholte er stur und stapfte sehr entschieden Richtung Haus, immer dem Lichtkegel der Taschenlampe folgend, vielleicht, um Viktoria zu imponieren, oder einfach, weil die Dienstvorschrift es so verlangte.

Hinter seinem Rücken zog Viktoria ihre Waffe aus dem Holster. Dass sie die Heckler & Koch sogar entsicherte, was er absolut lächerlich fand, erkannte er an dem typischen Geräusch.

„ Willst du Kaninchen schießen ? “, fragte er spöttisch, drehte sich aber nicht um. Hoffte einfach, dass Viktoria den Lauf der Pistole auf den Boden richtete und nicht auf seinen Rücken. Das hatten sie ihr ja wohl in der Ausbildung beigebracht. „ Ich mag Kaninchen am liebsten in Rotwein geschmort, mit Zwiebeln und ganz viel Thymian. “

„ Ostfriesisch ist das aber nicht. “ Viktorias Stimme klang angespannt. Sie hatte tatsächlich Angst. Hey, Kleine, wie wär’s mit einem starken Mann, dachte er. Und dass sich vielleicht doch noch was aus der Situation machen ließ, wenn sie erst wieder im Wagen saßen.

Vor ihm bewegte sich etwas. „ Hallo ? Hier ist die Polizei. “ Oliver leuchtete zur hinteren Hausecke. Da stand jemand, eine einzelne Person.

Hinter ihm schnappte Viktoria heftig nach Luft, wie ein Schwimmer, der gerade aus dem Wasser aufgetaucht war, um seine Lungen mit Sauerstoff zu füllen. Die macht sich gleich ins Hemd, dachte er amüsiert, und er freute sich schon darauf, sie hinterher damit aufzuziehen. Er beschleunigte seine Schritte, wollte so schnell wie möglich abklären, wer sich um diese Zeit bei Claasen aufhielt, und warum, damit er sich angenehmeren Dingen widmen konnte. Und dann passierte alles auf einmal. Sein rechter Fuß trat in ein Loch, ein Maulwurfsloch vermutlich, er rutschte aus, knickte ein, ging zu Boden, und ein unglaublicher Schmerz überrollte ihn, als wäre sein Knöchel in ein Tellereisen geraten.

„ Scheiße  ! “, brüllte er und dann: „ Pass auf ! “, um Viktoria vor dem unebenen Boden zu warnen. In derselben Sekunde hörte er den Knall, laut und hart. Ein Schuss, das wusste er sofort.

Viktoria hatte ihre Waffe abgefeuert. Als Nächstes nahm er das Stöhnen wahr, das eindeutig von der Hausecke kam, das entsetzliche Stöhnen, das zu einem langen Seufzer wurde, der ganz unvermittelt erstarb. Danach hörte er nur noch seinen eige­nen keuchenden Atem und seinen Herzschlag, der dumpf in seinen Ohren dröhnte.

Bei dem Sturz war ihm die Taschenlampe aus der Hand gefallen und einen halben Meter weitergerollt. Sie beleuchtete jetzt den Boden, das Laub, das sein Unterbewusstsein, warum auch immer, als Blätter von Kastanie und Ahorn identifizierte.

„ Bist du verletzt ? “, wimmerte Viktoria. „ Was ist mit dir, sag doch was, bitte ! “ Sie kniete neben Oliver und drehte seinen Kopf so, dass er sie ansehen musste.

„ Ich bin doch bloß umgeknickt “, brüllte er. „ Bist du wahnsinnig geworden ? Was ballerst du hier in der Gegend rum ? “ Den Schmerz ignorierend rappelte er sich hoch, schnappte die Lampe und humpelte zur Hausecke, dorthin, wo er eine Gestalt auf dem Boden liegen sah, erfüllt von der Ahnung, dass soeben etwas Schreckliches passiert war.

In beinahe zwanzig Dienstjahren war Polizeioberkommissar Oliver Dellbrink dem Tod oft genug begegnet, meist bei Verkehrsunfällen oder Selbstmorden. Noch während er seine zitternde Hand ausstreckte, wusste er bereits, dass er einen Toten berühren würde. Warm noch, aber bereits ohne Seele. „ Bist du wahnsinnig geworden ? Wahnsinnig ? “, wiederholte er wieder und wieder, weil er einfach nicht glauben konnte, glauben wollte, was hier passiert war.

Die Kugel aus Viktorias Dienstwaffe hatte dem Toten das halbe Gesicht weggerissen. Dennoch erkannte Oliver ihn sofort, allein schon an dem alten Bundeswehrparka, den keiner von den jungen Leuten in Martinsfehn sonst trug. Auf dem Boden lag Rouven Kramer, der Sohn des Pastors, erschossen von einer durchgeknallten Polizistin. Die Beine sackten ihm weg.

Neben ihm kauerte sich Viktoria ins nasse Herbstlaub. „ Du hast gerufen: Pass auf ! “ Fassungslos schaute sie auf ihre Hände, dann ließ sie mit angewiderter Miene die Waffe fallen. „ Warum hast du Pass auf ! gerufen ? “

Was sollte er jetzt sagen ? Etwa, dass er sie nur vor einem blöden Maulwurfsgang warnen wollte ? Dass Rouven Kramer wegen eines allzu eifrigen Maulwurfs sein Leben verloren hatte ? Krampfhaft versuchte Oliver, sich zu erinnern. Wie war sein Tonfall, hatte er aufgeregt geklungen, vielleicht sogar panisch ? Konnte Viktoria daraus wirklich den Schluss ziehen, dass sich ihr Leben in Gefahr befand ? Ihr Leben oder seins ?

„ Warum hast du nur: Pass auf ! gerufen ? “, schluchzte sie ­neben ihm. „ Du bist umgefallen. Ich dachte doch, der hat ’ne Waffe. Wie konntest du mir solche Angst einjagen ! O Gott, was hab ich getan ? “

Verzweifelt versuchte Oliver, einen klaren Gedanken zu fassen, einen einzigen klaren, vernünftigen Gedanken, der ihm jetzt weiterhalf. Stattdessen kamen ihm die unsinnigsten Dinge in den Sinn. Der Wagen musste dringend zur Inspektion, er wusste nicht, was er Christine zu Weihnachten schenken sollte, die Glühbirne im Kühlschrank war kaputt, und der Lottoschein steckte noch in seiner Brieftasche. Er dachte an Christine, die Frau, mit der er seit über zehn Jahren verheiratet war und die er gerade eben noch betrügen wollte, zum wiederholten Mal, obwohl er überzeugt war, seine Frau zu lieben. Er erinnerte sich an seinen Dienstantritt, den ersten Tag als Polizist, wie stolz er damals war, auch daran, wie Renkes Vorgänger ihm ein paar Wochen später einen kräftigen Einlauf verpasst hatte, weil er seiner Ansicht nach zu forsch gegen einen pöbelnden Jugendlichen vorgegangen war. Der damalige Revierleiter empfahl einen Lehrgang über Deeskalation, und Oliver hatte sich umgehend zu dieser Fortbildung angemeldet. Ansonsten war seine Karriere bei der Polizei makellos verlaufen. Und jetzt so ein Desaster.

„ Das ist Rouven Kramer, der älteste Sohn von unserem Pastor. Wir müssen die Kollegen anrufen. “ Er sagte das völlig emotionslos, weil er nichts fühlte, wirklich gar nichts. „ Das gibt ein Ermittlungsverfahren. “ Für Viktoria, die frisch gebackene Kommissarin, dürfte die Polizeikarriere damit wohl beendet sein, das wussten beide. Was für ihn selbst dabei herauskam, ließ sich schwer einschätzen. Hatte er einen Fehler gemacht ? Hätte er diesen Unfall verhindern können ? Verflucht, er wusste es nicht, er wusste gar nichts mehr, nur dass er alles dafür geben würde, wenn er die Uhr zurückdrehen könnte, nur ein paar Minuten.

Viktoria brach in hysterisches Schluchzen aus. „ Nein ! Bitte nicht. “ Am ganzen Körper bebend würgte sie ein paar Worte hervor. „ Mein Vater … mein Großvater … mein Onkel … alle Polizisten … Wie soll ich … je wieder nach Hause fahren … ihnen ins Gesicht sehen ! “

Das wusste Oliver auch nicht. Er wusste ja nicht mal, wie er sich selbst jemals wieder in die Augen schauen sollte, Christine, Renke Nordmann und vor allem Rouvens Eltern.

„ Es hilft doch nichts, Mädchen. Wir müssen die Kripo verständigen. Das gibt ’ne ganz normale Todesermittlung. “

„ Bitte, bitte, bitte nicht “, wimmerte sie. » Bitte Oliver, es kann dir doch nicht egal sein, was aus mir wird. Nicht nach ­allem, was zwischen uns war. « Aufschluchzend warf sie sich gegen seinen Oberkörper, ihre Arme umklammerten seinen Rücken, ihr tränennasses Gesicht presste sich gegen seinen Hals: „ Du musst mir helfen, du musst mir einfach helfen, lass mich jetzt nicht im Stich, Oliver, bitte ! “

Als er nicht reagierte, richtete sie sich auf. „ Schon kapiert. Du hast nur eine zum Vögeln gebraucht, weil deine heilige Christine dich nicht mehr ranlässt. Stimmt’s ? Ich bin dir doch total egal. “

„ Natürlich bist du mir nicht egal “, sagte er automatisch, merkte aber selbst, wie wenig überzeugend das klang.

„ Was hat der hier überhaupt gemacht ? “ Sie sprang hoch, ihre Hände wischten über ihre Hose. Dann griff sie erneut nach ihrer Pistole. „ Vielleicht war er gar nicht allein ? Ich sehe besser mal nach. “

„ Warte, ich komm mit und leuchte. Und nimm die Waffe runter. “ Bevor du noch einen abknallst, aber das sagte er nicht laut. Mühsam humpelte er Viktoria hinterher. Der Schmerz war kaum zu ertragen, vor allem, wenn seine Fußspitze den Boden berührte, zuckte es wie ein elektrischer Schlag durch seinen gesamten Körper. Nach ein paar Metern ließ sich Oliver auf den Boden fallen, er rollte den Strumpf runter und erwartete, Blut zu sehen, aber es gab keine offene Wunde, nur ein stark angeschwollenes Gelenk, das sich bereits steinhart anfühlte. Am liebsten wäre er einfach so liegen geblieben, um abzuwarten, egal, auf wen oder was. Dann aber fiel ihm ein, dass Viktoria die Waffe in der Hand hielt. Er durfte sie nicht allein lassen, nicht in dieser Verfassung und mit der Heckler & Koch. „ Komm her, du musst mich stützen. “

Mit erstaunlicher Kraft zog sie ihn auf die Beine. „ Leg den Arm um meine Schulter, keine Angst, ich schaff das schon. “

Gemeinsam untersuchten sie die Rückseite von Claasens Haus. Das große, doppelflügelige Stalltor, dessen grüne Farbe schon bis zur Unkenntlichkeit verblasst war, hatte jemand mit einem stabilen Vorhängeschloss gesichert. Das Holz wirkte aller­dings sehr morsch, vermutlich hätte ein Fußtritt genügt, um in den Stall zu gelangen. Den Platz davor hatte der alte Claasen mit grauen Betonsteinen gepflastert, die jetzt, genau wie das restliche Grundstück, von einer dicken Lage Herbstlaub bedeckt waren.

Gegenüber vom Haus stand eine große Remise. Sie war leer bis auf ein paar halb verrottete Ballen Stroh. Hier hatte Rouven sich ein Lager gebaut. Sie entdeckten einen Schlafsack, darunter eine alukaschierte Isomatte, einen leeren Emaillebecher, eine ungeöffnete Flasche Sekt und ein Glas mit einer Kerze darin, noch warm. Sogar Feuerholz hatte der Junge aufgeschichtet, aber nicht angezündet. Kein Hinweis auf eine weitere Person. An einem Balken hing ein totes Kaninchen, noch nicht ganz kalt, die Kehle aufgeschnitten. Das Blut tropfte im gleichmäßigen Takt auf den Boden, ganz langsam, daneben steckte ein Ausbeinmesser im Holz, und an einem Pfosten lehnte eine Schrotflinte.

„ Ein Gewehr ! “, schrie Viktoria triumphierend, und obwohl sie allein waren, hätte Oliver ihr am liebsten den Mund zugehalten. „ Er war bewaffnet. Was hat der hier gemacht ? Was war das überhaupt für ein komischer Vogel ? “

Mit der Schulter gegen einen Balken gelehnt, das rechte Bein vor dem linken gekreuzt, um den verletzten Fuß zu entlasten, erzählte Oliver, was er über den Jungen wusste. Dass Rouven Kramer, der keine zehn Meter entfernt tot auf dem Boden lag, das Gesicht von einer Kugel zerfetzt, davon geträumt hatte, einmal zu Fuß über die Alpen zu wandern. Ganz allein.

„ Der hat sich schon mal ein Kaninchen geschossen und über dem Lagerfeuer gebraten. Wollte ganz allein klarkommen. Dass er hier bei Claasen campiert hat, wusste keiner. Nicht mal Renke, sonst hätte er bei dem Anruf sicher gleich geschaltet. “

„ Wie ? Euch war bekannt, dass dieser Junge ein Gewehr hat, damit wildert, und ihr habt nichts unternommen ? “ Es klang fassungslos.

Ja, wenn man es so deutlich aussprach, konnte man es wirklich kaum glauben. „ Du kennst ja Renke “, murmelte Oliver. „ Er hat beschlossen, dass Rouven Kramer harmlos ist. “

„ Renke Nordmann ist ein selbstherrliches Arschloch. Aber jetzt könnte das Gewehr unsere Rettung sein “, erklärte Viktoria mit erstaunlich fester Stimme.

Er kapierte nicht, was sie damit sagen wollte. Fragend schaute er sie an.

„ Ja was denn ? Du kommst doch auch nicht ungeschoren davon. Am Ende wird es heißen, dass zwei Polizisten einen harmlosen Jugendlichen abgeknallt haben, den Sohn des Pastors auch noch. Was deine Christine wohl sagen wird ? “

„ Lass Christine aus dem Spiel. “

Sie lachte, und es klang kalt und hässlich. War das hier wirklich die Frau, die seit Wochen sein ganzes Denken ausfüllte, die ihn zum Ehebrecher gemacht hatte, die Frau, die ihn beim Sex mühelos dorthin brachte, wo er mit Christine nie hinkommen würde, und die gleichzeitig so sanft und liebevoll sein konnte, dass es außerhalb seiner Vorstellungskraft lag, sie jemals wieder aufzugeben ? Bei dem Gedanken an den toten Jungen wollte er sich nur noch hinsetzen und weinen. Und Viktoria benahm sich, als hätte sie aus Versehen den Hund des Försters erschossen.

Mit einem energischen Ruck entwand sie ihm die Taschenlampe und leuchtete damit mitten in sein Gesicht. „ Los, Oliver, reiß dich zusammen. Den Jungen können wir nicht mehr lebendig machen. Aber unsere Haut, die können wir vielleicht retten. Wir brauchen das Gewehr und den Sekt. “ Sie klemmte die Lampe zwischen ihre Knie, holte ein paar Einmalhandschuhe aus ihrer Hosentasche, zog sie an und streifte darüber die Fingerhandschuhe aus dunkelroter Wolle, die sie neben Rouvens Schlafsack gefunden hatte. Auf dem ­Handrücken war sehr sorgfältig ein sternförmiges Muster gestickt. Ein Werk seiner Großmutter, das erkannte Oliver sofort, weil er selbst ganz ähnliche Handschuhe besaß, allerdings in Dunkelgrün. Die Handschuhe, die die Mutter des Pastors scheinbar pausenlos strickte, galten auf dem alljährlichen Weihnachtsbasar der Kirche als der absolute Renner.

Es schien blasphemisch, Viktoria in den Handschuhen zu sehen, die die Großmutter für ihren Enkel gestrickt hatte, und Oliver spürte den Drang, Viktoria die Handschuhe zu entreißen. Er schaffte es aber nicht, sich zu rühren. Immer noch stand er an den Pfosten gelehnt, das linke Bein nutzte er als Standbein, das rechte mit dem schmerzenden Gelenk wagte er nicht zu belasten. Stumm schaute er zu, wie Viktoria die Sektflasche öffnete, gekonnt und ohne einen Tropfen zu verschütten, und etwas davon in den Emaillebecher goss, der neben Rouvens Lager auf dem Boden stand. Dann zerrte sie den Mili­tär­ruck­sack zu sich rüber und wühlte darin herum. „ Hier ist eine Art Tagebuch. Wahnsinn. Der hat alle Kaninchen aufgelistet, die er im letzten Jahr geschossen hat. Ein Fasan war auch dabei, noch einer … ein Wilderer, sag ich doch. “

Inzwischen hatte sich der Schmerz in seinem Knöchel verschlimmert. Mit einem leisen Stöhnen ließ er sich auf den Boden sinken und vergrub den Kopf in den Händen. Als er wieder aufblickte, sah er, wie Viktoria mit einem Filzstift ICH HASSE EUCH ALLE ! über die letzten beiden Seiten von Rouvens Buch schrieb, mit großen, ungelenken Druckbuchstaben.

Barbara  Wendelken

Über Barbara Wendelken

Biografie

Barbara Wendelken wurde 1955 in Schwanewede bei Bremen geboren. Die gelernte Kinderkrankenschwester veröffentlicht seit 1996 regelmäßig Kinderbücher, Kriminalromane sowie zahlreiche Kurzgeschichten in Anthologien. Wenn sie nicht schreibt, genießt die Autorin mit ihrem Mann das Landleben in...

Pressestimmen
www.gedankenspinner.de

„Der Roman fesselt mit einem ungewöhnlichen Plot und Gänsehaut ist nicht nur wegen der frostigen Temperaturen garantiert, denen die Romanfiguren ausgesetzt sind.“

Nordlicht - Anzeiger für Harlingerland

„Ein Krimi, der mit charakterstarken und glaubwürdigen Protagonisten überzeugt. Die Story ist klug und schlüssig und bleibt bis zum Schluss spannend.“

http://krimikiosk.blogspot.de

„Absolute Leseempfehlung für Leser, die atmosphärische Krimis mit interessanten Personen ohne allzu viel Blutvergießen lieben.“

http://hallo-buch.de

„Unterhaltsamer Auftakt einer neuen Krimireihe, die uns Ostfriesland nicht nur als Tatort näherbringt. Seien wir gespannt auf Weiteres!“

http://thrillertante.blogspot.de

„Das ›Dorf der Lügen‹ ist ein hochspannender Kriminalroman. Es geht um Schuld, Misstrauen, Moral und Lügen. Krimifans kommen hier voll auf ihre Kosten!“

Radio Bremen

„Treffend und mitunter boshaft beschreibt Barbara Wendelken die Normalität eines Dorfes von heute. Spannend und anschaulich erzählen kann die Autorin unbedingt.“

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