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Das englische Mädchen (Gabriel-Allon-Reihe 13)

Das englische Mädchen (Gabriel-Allon-Reihe 13)

Daniel Silva
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Thriller

„So wird der 13. Thriller der Allon-Reihe wieder zu einem packenden Stück Unterhaltungsliteratur mit einem guten Schuss Grusel aus der Wirklichkeitsflasche.“ - Westfalenpost

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Das englische Mädchen (Gabriel-Allon-Reihe 13) — Inhalt

Madeline Hart ist jung, schön und zudem die Geliebte des britischen Premierministers. Als sie auf Korsika verschwindet, geht in der Downing Street 10 ein Erpresservideo ein, dessen skandalöser Inhalt Großbritanniens Regierung zu Fall bringen könnte. Der MI-5 schaltet sich ein und bittet Kunstrestaurator und Geheimagent a. D. Gabriel Allon um Hilfe: Er soll die junge Engländerin finden und den Erpressern das Handwerk legen. Dazu bleiben ihm allerdings nur sieben Tage, denn danach werden die Entführer die Geliebte des Premierministers töten und das Video veröffentlichen.

€ 14,00 [D], € 14,40 [A]
Erschienen am 19.10.2015
Übersetzt von: Michael Bayer
544 Seiten, Broschur
EAN 978-3-492-30773-4
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Leseprobe zu „Das englische Mädchen (Gabriel-Allon-Reihe 13)“

1

Piana, Korsika

Sie holten sie sich Ende August auf der Insel Korsika. Den genauen Zeitpunkt würde man nie herausfinden – irgendwann zwischen Sonnenuntergang und Mittag des nächsten Tages, besser konnte es keiner ihrer Mitreisenden eingrenzen. Bei Sonnenuntergang hatten sie sie zum letzten Mal gesehen, als sie auf einem roten Motorroller die Einfahrt der Villa hinunterbrauste, wobei ihr durchscheinender Baumwollrock um ihre sonnengebräunten Schenkel flatterte. Am nächsten Mittag merkten sie, dass ihr Bett außer einem halb ausgelesenen Schundroman, der [...]

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1

Piana, Korsika

Sie holten sie sich Ende August auf der Insel Korsika. Den genauen Zeitpunkt würde man nie herausfinden – irgendwann zwischen Sonnenuntergang und Mittag des nächsten Tages, besser konnte es keiner ihrer Mitreisenden eingrenzen. Bei Sonnenuntergang hatten sie sie zum letzten Mal gesehen, als sie auf einem roten Motorroller die Einfahrt der Villa hinunterbrauste, wobei ihr durchscheinender Baumwollrock um ihre sonnengebräunten Schenkel flatterte. Am nächsten Mittag merkten sie, dass ihr Bett außer einem halb ausgelesenen Schundroman, der nach Kokosnussöl und ganz leicht nach Rum roch, leer war. Erst nach weiteren vierundzwanzig Stunden rangen sie sich dazu durch, die Gendarmen zu rufen. Es war eben in jeder Beziehung ein heißer Sommer und Madeline war die Sorte Mädchen, die genau dazu passte.

Sie waren vor vierzehn Tagen auf Korsika angekommen, vier hübsche Mädchen und zwei ernsthafte junge Männer, alles treue Diener der britischen Regierung oder eher der Partei, die diese gegenwärtig leitete. Sie verfügten über ein einziges Auto, einen Renault mit Schrägheck, gerade groß genug, wenn auch nicht wirklich bequem, für fünf Personen. Außerdem hatten sie den roten Motorroller, der ganz allein für Madeline bestimmt war und den sie mit einem fast selbstmörderischen Wagemut über die engen Inselstraßen steuerte. Ihre ockerfarbene Villa stand am Westrand des Dorfes auf einer Klippe direkt über dem Meer. Sie war sauber und kompakt, die Sorte Anwesen, die Immobilienmakler gewöhnlich als „reizvoll“ beschreiben. Sie hatte allerdings auch einen Swimmingpool und einen ummauerten Garten mit Rosmarinbüschen und Pfefferbäumen. Nur Stunden nach ihrer Ankunft waren sie in den seligen Zustand der sonnenbrandgefährdeten Halbnacktheit übergegangen, den alle britischen Touristen erstreben, egal, wohin sie ihre Reisen führen. Obwohl die Jüngste der Gruppe, war Madeline doch ihre inoffizielle Anführerin, eine Rolle, die sie ohne Protest akzeptierte. Madeline hatte nicht nur die Villa angemietet, sondern organisierte auch die ausgedehnten Mittagsmahlzeiten, die späten Abendessen und die Tagesausflüge in das wilde Innere von Korsika, wobei sie mit ihrem Motorroller immer vorausfuhr und den anderen den Weg über die tückischen Bergsträßchen wies. Dabei musste sie kein einziges Mal auf ihre Landkarte schauen. Ihr enzyklopädisches Wissen über Geografie, Geschichte, Kultur und Küche der Insel hatte sie sich in Vorbereitung der Reise durch wochenlanges intensives Studium angeeignet. Madeline hatte offensichtlich nichts dem Zufall überlassen. Aber das tat sie ohnehin selten.

Zwei Jahre zuvor hatte sie in der Parteizentrale in Millwall zu arbeiten begonnen, nachdem sie ihr Studium an der Universität Edinburgh mit einem Abschluss in Volkswirtschaft und Sozialpolitik beendet hatte. Trotz ihres zweitklassigen Bildungswegs – die meisten ihrer Kollegen hatten die renommiertesten Privatschulen und danach Oxford oder Cambridge besucht – stieg sie sehr rasch auf. Nach einer Reihe von Verwaltungsposten wurde sie zur Direktorin für Öffentlichkeitsarbeit und Gemeinschaftskontakte befördert. Ihr Job war es nach eigenen Worten, in denjenigen britischen Gesellschaftsklassen Wähler aufzutun, die eigentlich keinerlei Veranlassung hatten, die Partei, ihr Programm oder ihre Kandidaten zu unterstützen. Alle waren sich einig, dass dies nur eine Durchgangsstation auf ihrem Weg nach oben war. Madeline hatte eine hell leuchtende Zukunft – „hell leuchtend wie eine Sonneneruption“, drückte es Pauline aus, die den Aufstieg ihrer jüngeren Kollegin mit einem gewissen Maß an Neid beobachtete. Laut Gerüchteküche hatte irgendeine Parteigröße Madeline unter ihre Fittiche genommen. Jemand, der dem Premierminister nahestand. Vielleicht sogar der Premierminister selbst. Bei ihrem telegenen Aussehen, scharfen Intellekt und ihrer grenzenlosen Energie stand zu erwarten, dass Madeline einen Parlamentssitz und ein eigenes Ministerium ergattern würde. Es war nur eine Frage der Zeit. So hieß es jedenfalls.

In Anbetracht all dessen war es umso unverständlicher, dass Madeline Hart mit ihren siebenundzwanzig Jahren ihr Herz offensichtlich noch nicht vergeben hatte. Wenn man sie nach ihrem fehlenden Liebesleben fragte, erklärte sie, dass sie für einen Mann viel zu beschäftigt sei. Fiona, eine leicht bösartige dunkelhaarige Schönheit aus dem Kabinettsbüro, hielt diese Erklärung jedoch für ziemlich zweifelhaft. Stattdessen glaubte sie, dass Madeline ihnen allen etwas vormachte, wobei Arglist und Täuschung zu Fionas eigenen hervorstechendsten Eigenschaften gehörten, weswegen sie sich auch für Parteipolitik interessierte. Um ihre Theorie zu stützen, wies sie darauf hin, dass Madeline normalerweise gar nicht aufhören könne, sich über Gott und die Welt auszulassen, jedoch in dem Augenblick ausgesprochen wortkarg werde, wenn es um ihr Privatleben ging. Sicherlich gebe sie gelegentlich ein paar unverfängliche Einzelheiten über ihre schwierige Kindheit zum Besten: der triste Sozialbau in Essex, der Vater, an dessen Gesicht sie sich kaum noch erinnern könne, oder der Alkoholiker-Bruder, der in seinem ganzen Leben keinen einzigen Tag gearbeitet habe. Alles andere halte sie jedoch hinter einem regelrechten Steinwall verborgen. „Unsere Madeline könnte eine Axtmörderin oder ein Edelflittchen sein“, schloss Fiona, „und keiner von uns würde etwas davon mitbekommen.“ Alison, eine kleine Angestellte im Innenministerium, der man schon oft das Herz gebrochen hatte, vertrat jedoch eine andere Theorie. „Das arme Lämmchen ist verliebt“, erklärte sie eines Nachmittags, als sie beobachtete, wie Madeline in der winzigen Bucht direkt unter der Villa wie eine Meeresgöttin dem Wasser entstieg. „Ihr Problem ist nur, dass der fragliche Mann ihre Gefühle nicht erwidert.“

„Und warum nicht?“, fragte Fiona schläfrig unter dem Rand eines riesigen Sonnenvisiers hervor.

„Vielleicht kann er das nicht.“

„Verheiratet?“

„Natürlich.“

„Bastard.“

„Hattest du das noch nie?“

„Eine Affäre mit einem verheirateten Mann?“

„Ja.“

„Erst zweimal, aber ich denke über eine dritte nach.“

„Du wirst in der Hölle schmoren, Fi.“

„Das hoffe ich.“

An diesem Nachmittag ihres siebten Urlaubstags fassten die drei Mädchen und beiden Jungs, die die Mietvilla an der Küste von Piana mit Madeline Hart teilten, auf der Grundlage dieser eher schmalbrüstigen Indizien den Beschluss, ihrer Mitbewohnerin einen Liebhaber zu suchen. Aber nicht einfach irgendeinen Liebhaber, betonte Pauline. Er müsse altersmäßig zu ihr passen, gut aussehen, eine anständige Kinderstube und ein helles Köpfchen haben und finanziell gut situiert sein. Außerdem dürfe er keine Leichen im Keller und keine anderen Frauen im Bett haben. Fiona hielt dies mit ihrer ganzen Erfahrung in Herzensdingen für ein unmögliches Unterfangen. „So einen gibt es nicht“, erklärte sie mit der resignierten Abgeklärtheit einer Frau, die schon lange nach einem derartigen Musterexemplar suchte. „Und wenn es ihn doch gibt, ist er entweder verheiratet oder dermaßen von sich eingenommen, dass er gar keine Zeit für die arme Madeline hat.“

Trotz ihrer Bedenken stürzte sich Fiona sofort mit ganzem Elan auf diese Aufgabe. Eine solche kleine Intrige machte ihren Urlaub erst richtig interessant. Glücklicherweise herrschte an möglichen Zielpersonen kein Mangel. Fast die Hälfte der Bewohner Südostenglands schien ihre feuchte Insel gegen die korsische Sonne eingetauscht zu haben. Da gab es die Kolonie der Finanzleute aus der Londoner City, die sich die stattlichsten Anwesen am Nordende des Golfs von Porto gesichert hatten. Dann waren da noch diese Künstler, die wie Zigeuner in einem Bergstädtchen in der Castagniccia hausten, die Schauspieler, die sich am Strand von Campomoro einquartiert hatten, und nicht zuletzt die Gruppe von Oppositionspolitikern, die in einer Villa auf den Klippen von Bonifacio ihre Rückkehr an die Macht planten. Fiona benutzte ihre Zugehörigkeit zum Kabinettsbüro als Türöffner, um in schneller Folge eine Reihe von „zwanglosen geselligen Veranstaltungen“ zu organisieren. Bei jeder dieser Gelegenheiten, seien es nun eine Dinner-Party, eine kleine Bergwanderung oder ein feuchtfröhlicher Nachmittag am Strand, pickte sie den „qualifiziertesten“ männlichen Kandidaten heraus und platzierte ihn neben Madeline. Keinem von ihnen gelang es jedoch, bei dieser zu landen, nicht einmal dem jungen Schauspieler, der gerade erst höchst erfolgreich die Hauptrolle im erfolgreichsten Westend-Musical dieser Saison gespielt hatte.

„Es hat sie ganz offensichtlich schwer erwischt“, räumte Fiona ein, als sie eines späten Abends zu ihrer Villa zurückkehrten, wobei ihnen Madeline wie gewöhnlich auf ihrem roten Motorroller den Weg durch die Dunkelheit wies.

„Wer, glaubst du, ist es?“, fragte Alison.

„Keine Ahnung“, erwiderte Fiona gedehnt. In ihrer Stimme schwang Neid mit. „Aber er muss etwas ganz Besonderes sein.“

Ein paar Tage vor ihrer geplanten Rückreise nach London fing Madeline plötzlich an, immer mehr Zeit ganz allein zu verbringen. Sie verließ die Villa früh am Morgen, gewöhnlich bevor die anderen überhaupt aufgestanden waren, und kehrte erst spätnachmittags zurück. Wenn die anderen fragten, wo sie gewesen sei, antwortete sie vage und ausweichend. Beim Abendessen wirkte sie oft übel gelaunt oder besorgt. Natürlich befürchtete Alison wieder einmal das Schlimmste und vermutete, dass ihr Liebhaber, wer immer das sein mochte, Madeline den Laufpass gegeben hatte. Als Fiona und Pauline jedoch am nächsten Tag von einer Einkaufstour in die Villa zurückkehrten, erklärten sie freudig, dass sich Alison getäuscht habe. Anscheinend war Madelines Liebhaber nach Korsika gekommen. Fiona besaß einige Fotos, die genau das bewiesen.


Sie hatten die beiden nachmittags um zehn nach zwei auf der Außenterrasse des Les Palmiers am Quai Adolphe Landry in Calvi entdeckt. Madeline saß an einem Tisch direkt am Hafenkai. Ihren Kopf hatte sie ganz leicht in Richtung Meer gedreht, als ob sie den Mann auf dem Stuhl gegenüber überhaupt nicht wahrnehmen würde. Eine große dunkle Sonnenbrille verdeckte ihre Augen. Ein Sonnenstrohhut mit einer kunstvollen schwarzen Schleife beschattete ihr makelloses Gesicht. Pauline wäre gerne zu ihnen hinübergegangen, aber Fiona spürte die angestrengte Vertraulichkeit der Szene und schlug deshalb einen schnellen Rückzug vor. Sie ließ es sich jedoch nicht nehmen, zuvor mit ihrem Handy ein erstes Beweisfoto zu machen. Madeline hatte anscheinend davon nichts mitbekommen. Dies galt jedoch nicht für den Mann. Gerade als Fiona auf den Auslöser drückte, fuhr sein Kopf herum, als hätte er instinktiv gespürt, dass jemand gerade sein Bild elektronisch einfing.

Nachdem sie in eine benachbarte Brasserie geflüchtet waren, schauten sich Fiona und Pauline das Foto des Mannes sorgfältig an. Sein Haar war graublond, windzerzaust und immer noch von jugendlicher Fülle. Es fiel ihm in die Stirn und rahmte ein kantiges Gesicht ein, das von einem kleinen, ziemlich grausam aussehenden Mund beherrscht wurde. Seine Kleidung hatte einen leicht maritimen Einschlag: weiße Hose, blau gestreiftes Oxford-Baumwollhemd, eine große Taucherarmbanduhr und Segeltuch-Slipper, die auf dem Deck eines Schiffes keine Spuren hinterlassen würden. Genau das charakterisierte ihrer Meinung nach diesen Mann: einen Mann, der niemals Spuren hinterließ.

Sie hielten ihn für einen Briten, obwohl er auch Deutscher oder Skandinavier oder nach Paulines Ansicht ein polnischer Adelsspross sein könnte. Geld hatte er offensichtlich genug. Das bewies schon die sündteure Flasche Champagner, die in dem silbernen Eiskübel schwitzte, der am Tischrand verankert war. Sein Vermögen habe er nicht geerbt, sondern selbst verdient, entschieden sie, und das auf nicht ganz saubere Weise. Er war ein Spieler. Besaß Bankkonten in der Schweiz. Reiste an gefährliche Orte. Hauptsächlich war er jedoch äußerst diskret. Seine Geschäfte hinterließen wie seine Bootsschuhe aus Segeltuch keine Spuren.

Am meisten aber überraschte sie Madelines Aussehen. Sie war nicht mehr das Mädchen, das sie aus London kannten und mit dem sie in den letzten anderthalb Wochen eine Villa geteilt hatten. Es schien, als ob sie ihre Persönlichkeit komplett ausgetauscht hätte. Sie war jetzt eine Schauspielerin in einem völlig anderen Film. Die andere Frau. Fiona und Pauline beugten sich wie zwei Schulmädchen übers Handy und schrieben den Dialog, der den Darstellern Fleisch und Blut verlieh. In ihrer Version der Geschichte hatte die Affäre unschuldig genug mit einer zufälligen Begegnung in einem exklusiven Luxusgeschäft in der New Bond Street begonnen. Die Flirtphase war lang und der letztendliche Liebesvollzug genau geplant. Das Ende der Geschichte war ihnen im Augenblick noch nicht bekannt, da es im wahren Leben ja erst geschrieben werden musste. Allerdings waren sie sich einig, dass es tragisch sein würde. „Diese Geschichten enden immer so“, sagte Fiona aus Erfahrung. „Mädchen trifft Jungen. Mädchen verliebt sich in den Jungen. Das Mädchen wird verletzt und setzt dann alles daran, um den Jungen zu vernichten.“

Fiona schoss an diesem Nachmittag noch zwei weitere Fotos von Madeline und ihrem Liebhaber. Auf dem einen spazierten sie im strahlenden Sonnenlicht die Uferpromenade entlang, wobei sich ihre Fingerknöchel gerade so berührten. Auf dem zweiten gingen sie auseinander, ohne sich auch nur einen einzigen Kuss zu geben. Der Mann kletterte in ein Zodiac-Dinghi und steuerte es ins Hafenbecken hinaus. Madeline stieg auf ihren roten Motorroller und fuhr zur Villa zurück. Als sie dort ankam, hatte sie den Sonnenhut mit der kunstvollen schwarzen Schleife nicht mehr dabei. Als sie sich am Abend ihre nachmittäglichen Erlebnisse erzählten, erwähnte Madeline nichts von einem Besuch in Calvi oder einem Essen mit einem wohlhabend aussehenden Mann im Les Palmiers. Fiona hielt das für eine ziemlich beeindruckende Vorstellung. „Unsere Madeline ist eine hervorragende Lügnerin“, erklärte sie Pauline. „Vielleicht ist ihre Zukunft wirklich so vielversprechend, wie immer behauptet wird. Wer weiß? Vielleicht wird sie eines Tages sogar Premierministerin.“


An diesem Abend planten die vier hübschen Mädchen und die zwei ernsthaften jungen Männer, in der benachbarten Stadt Porto essen zu gehen. Madeline nahm in ihrem Schulfranzösisch die Reservierung vor und beschwatzte den Besitzer des Lokals, ihnen den besten Tisch draußen auf der Terrasse zu geben, von dem aus man die gesamte Felsenbucht überblicken konnte. Eigentlich wollten sie wie gewöhnlich alle zusammen mit ihrem Renault und dem Motorroller ins Restaurant fahren. Kurz vor neunzehn Uhr verkündete Madeline jedoch, dass sie zuvor einen Abstecher nach Calvi machen würde, um dort mit einem alten Studienfreund aus Edinburgh etwas zu trinken. „Ich treffe euch dann im Restaurant!“, rief sie ihnen über die Schulter zu, bevor sie die Einfahrt hinunterbrauste. „Und versucht um Himmels willen, endlich einmal pünktlich zu sein.“ Kurz darauf war sie verschwunden. Keiner der Mitreisenden dachte sich etwas dabei, als sie an diesem Abend nicht zum Abendessen erschien. Sie waren auch nicht weiter beunruhigt, als sie am Morgen darauf ihr Bett unbenutzt vorfanden. Es war eben in jeder Beziehung ein heißer Sommer und Madeline war die Sorte Mädchen, die genau dazu passte.



2

Korsika – London

Die französische Nationalpolizei erklärte Madeline Hart am letzten Augustfreitag um vierzehn Uhr offiziell für vermisst. Nach dreitägiger Suche hatten sie keine Spur von ihr gefunden außer ihrem roten Motorroller, den man mit zertrümmertem Scheinwerfer in einer abgelegenen engen Schlucht in der Nähe des Monte Cinto entdeckte. Am Ende der Woche hatte die Polizei kaum noch Hoffnung, sie lebend aufzufinden. In ihren öffentlichen Verlautbarungen bestand sie weiterhin darauf, dass es sich hier zuallererst um die Suche nach einer vermissten britischen Touristin handele. Intern suchte sie jedoch bereits nach ihrem Mörder.

Dabei gab es erst einmal keinen möglichen Beteiligten oder Verdächtigen außer dem Mann, mit dem sie am Nachmittag vor ihrem Verschwinden im Les Palmiers gegessen hatte. Aber wie Madeline schien auch dieser spurlos verschwunden zu sein. War er ein heimlicher Liebhaber, wie Fiona und die anderen vermuteten, oder hatten sich die beiden erst vor Kurzem auf Korsika kennengelernt? War er Brite? War er Franzose? Oder war er gar, wie ein frustrierter Ermittler vermutete, ein Außerirdischer aus einer fernen Galaxie, der sich in seine einzelnen Partikel aufgelöst und auf sein Mutterschiff zurückgebeamt hatte? Auch die Kellnerin im Les Palmiers war keine große Hilfe. Sie erinnerte sich nur, dass er mit dem Mädchen Englisch sprach, aber seine Bestellungen in perfektem Französisch aufgab. Die Rechnung hatte er bar mit frischen, sauberen Banknoten bezahlt, die er wie ein Spieler, der hohe Einsätze gewohnt war, auf den Tisch gelegt hatte. Er hatte ein gutes Trinkgeld gegeben, was dieser Tage im Europa der Wirtschaftskrise ziemlich selten vorkam. Am besten erinnerte sie sich jedoch an seine Hände. Sie waren kaum behaart, hatten keine Hautflecken oder Narben, und die Fingernägel waren tadellos sauber. Offensichtlich legte er auf gepflegte Nägel großen Wert. Sie mochte das an einem Mann.

Sein Foto, das ganz diskret in den besseren Bars und Restaurants der Insel herumgezeigt wurde, erntete nur gleichgültiges Schulterzucken. Scheinbar hatte ihn niemand gesehen, zumindest konnte sich niemand an sein Gesicht erinnern. Er sah eben aus wie alle anderen Poseure, die Sommer für Sommer Korsika überschwemmten: sonnengebräunt, mit einer teuren Sonnenbrille und einer übergroßen Schweizer Uhr am Handgelenk, die das aufgeblasene Ego ihres Besitzers widerspiegelte. Dabei war er ein Nichts mit einer Kreditkarte und einem hübschen Mädchen auf der anderen Seite des Tisches. Er war der Mann, den man sofort wieder vergaß.

Das galt vielleicht für die Geschäftsinhaber und Restaurantbesitzer in Calvi, aber nicht für die französische Polizei. Sie ließ sein Bild durch jede Verbrecherdatenbank in ihrem eigenen Arsenal und dann noch durch ein paar weitere laufen. Als dies jedoch nicht einmal den Anflug einer Übereinstimmung erbrachte, dachte man darüber nach, der Presse ein Foto von ihm zur Verfügung zu stellen, doch gerade auf höherer Ebene sprachen sich einige gegen einen solchen Schritt aus. Schließlich sei es durchaus möglich, dass der arme Kerl nur der ehelichen Untreue schuldig sei, was in Frankreich kaum als Verbrechen galt. Als jedoch weitere zweiundsiebzig Stunden ohne jeden nennenswerten Fortschritt vergingen, kamen sie zu dem Schluss, dass ihnen gar nichts anderes übrig blieb, als die Öffentlichkeit um Hilfe zu bitten. Sie übergaben der Presse zwei sorgfältig zugeschnittene Fotos. Auf dem einen saß der Mann im Les Palmiers, auf dem anderen ging er die Hafenpromenade entlang. Noch am selben Abend wurden die Ermittler mit Hunderten von Hinweisen überschüttet. Nachdem sie die offensichtlichen Verrücktheiten und Scherzmeldungen aussortiert hatten, konzentrierten sie sich auf die einigermaßen plausiblen Angaben. Aber keine von ihnen erwies sich als auch nur ansatzweise brauchbar. Eine Woche nach Madeline Harts Verschwinden war ihr einziger Verdächtiger immer noch ein Mann ohne Namen von unbekannter Nationalität.

Das Fehlen jedweder erfolgversprechenden Spur hielt die Polizei jedoch nicht davon ab, eine Theorie nach der anderen zu entwickeln. Eine Gruppe von Ermittlern hielt den Mann aus dem Les Palmiers für einen psychopathischen Sexualtäter, der Madeline in eine Falle gelockt habe. Eine andere Gruppe glaubte dagegen, er sei nur zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. Laut dieser Theorie war er verheiratet und konnte sich deshalb nicht bei der Polizei melden. Was Madeline anging, sei sie wahrscheinlich einem außer Kontrolle geratenen Raubüberfall zum Opfer gefallen. Eine junge Frau, die ganz allein auf einem Motorroller unterwegs war, gab schließlich ein lohnendes Ziel ab. Irgendwann würde ihr Leichnam schon auftauchen. Das Meer würde ihn ausspeien, ein Wanderer würde tief in den Bergen darüber stolpern oder ein Bauer würde ihn beim Pflügen seines Ackers freilegen. So war es eben auf dieser Insel. Korsika gab seine Toten immer wieder frei.

In Großbritannien boten die Misserfolge der Polizei einen guten Anlass, wieder einmal über die Franzosen herzuziehen. Meist jedoch schrieben selbst die Zeitungen, die der Opposition nahestanden, über Madelines Verschwinden, als handele es sich dabei um eine nationale Tragödie. Ihr bemerkenswerter Aufstieg aus einem Sozialbau in Essex wurde in allen Einzelheiten dargestellt, und zahlreiche Parteigrößen gaben Stellungnahmen ab, in denen sie bedauerten, dass eine vielversprechende Karriere auf diese Weise so abrupt beendet worden sei. Ihre in Tränen aufgelöste Mutter und ihr fauler, nichtsnutziger Bruder gaben ein einziges Fernsehinterview und verschwanden dann aus der Öffentlichkeit. Dasselbe galt für ihre Miturlauber auf Korsika. Nach ihrer Rückkehr nach England gaben sie gemeinsam noch auf dem Flughafen Heathrow eine Pressekonferenz, die von einigen Pressereferenten der Partei geleitet und überwacht wurde. Danach lehnten sie alle Interviewanfragen ab, selbst wenn diese mit einem lukrativen Geldangebot verbunden waren. In der Berichterstattung fanden sich keinerlei Hinweise auf einen Skandal. Es erschienen keine Artikel über Ferientrinkgelage, sexuelle Ausschweifungen oder tätliche Auseinandersetzungen, nur das übliche Gedöns über die Gefahren, die jungen Frauen drohten, die allein ins Ausland reisten. In der Parteizentrale beglückwünschte sich das Presseteam in aller Stille zu seiner geschickten Handhabung dieser Affäre, während die Politikabteilung einen deutlichen Anstieg der Umfragewerte des Premierministers bemerkte. Hinter vorgehaltener Hand sprach man vom „Madeline-Effekt“.

Allmählich wanderten die Artikel über ihr trauriges Schicksal von der Titelseite ins Zeitungsinnere. Ende September war Madeline ganz aus den Zeitungsspalten verschwunden. Es war Herbst und deswegen Zeit, zum eigentlichen Regierungsgeschäft zurückzukehren. Immerhin stand Großbritannien vor großen Herausforderungen: eine Wirtschaft in der Rezession, eine ums Überleben kämpfende Eurozone und eine lange Liste von unerledigten sozialen Problemen, die das gesellschaftliche Gefüge des Vereinigten Königreichs zu zerreißen drohten. Über allem hing die Aussicht auf eine baldige Wahl. Der Premierminister hatte schon mehrmals angedeutet, dass er noch vor Ende des Jahres eine Parlamentswahl anzusetzen gedenke. Er war sich dabei der politischen Gefahren eines Rückziehers voll bewusst. Jonathan Lancaster war nur deswegen der gegenwärtige britische Regierungschef, weil es sein Vorgänger trotz monatelanger entsprechender Ankündigungen versäumt hatte, die Wähler rechtzeitig zu den Wahlurnen zu rufen. Der damalige Oppositionsführer Lancaster hatte ihn deshalb als den „Hamlet der Downing Street 10“ bezeichnet und ihm damit eine tödliche Wunde versetzt.

Dies erklärte auch, warum der Pressesprecher des Premierministers, Simon Hewitt, in der letzten Zeit nicht mehr gut schlief. Dabei war sein Schlaflosigkeitsmuster immer das gleiche. Völlig erschöpft vom täglichen Stress seines Jobs schlief er, gewöhnlich mit einer Pressemappe auf der Brust, schlagartig ein, um dann bereits nach zwei oder drei Stunden wieder aufzuwachen. Sobald er wieder einigermaßen bei sich war, begann sein Geist zu rasen. Nach vier Jahren bei der Regierung schien er sich nur noch auf das Negative konzentrieren zu können. Dies war das übliche Los eines Regierungssprechers in der Downing Street. In Simon Hewitts Welt gab es keine Triumphe, sondern nur Katastrophen und Beinahe-Katastrophen. Wie bei den Erdbeben reichte ihre Stärke von winzigen, kaum spürbaren Erschütterungen bis zu seismischen Turbulenzen, die Gebäude zum Einsturz bringen und Leben fordern konnten. Von Hewitt erwartete man, dass er alles zukünftige Unheil voraussagen und den Schaden, wenn möglich, begrenzen würde. In letzter Zeit hatte er begriffen, dass es unmöglich war, diese Aufgabe zu erfüllen, was ihm in dunkleren Momenten sogar einen gewissen Trost spendete.

Einst war er selbst ein Mann gewesen, mit dem zu rechnen war. Als politischer Chefkolumnist der Times war Hewitt einer der einflussreichsten Leute in Whitehall. Mit ein paar Worten in seinem rasiermesserscharfen Schreibstil, seinem persönlichen Markenzeichen, konnte er ein politisches Vorhaben der Regierung versenken und gleichzeitig die Karriere des Ministers beenden, auf dessen Mist es gewachsen war. Hewitt genoss eine solche Machtstellung, dass keine Regierung jemals eine politische Initiative ergriffen hätte, ohne sich zuvor bei ihm nach seiner Meinung zu erkundigen. Kein Politiker, der von einer großen Zukunft träumte, wagte es damals, sich um einen führenden Parteiposten zu bewerben, ohne sich zuvor Hewitts Unterstützung zu sichern. Einer dieser Politiker war Jonathan Lancaster, ein Parlamentsabgeordneter und früherer Anwalt aus der City mit einem sicheren Wahlkreis in den Londoner Vororten. Zuerst hielt Hewitt nicht allzu viel von Lancaster. Er war ihm zu glatt, zu gut aussehend und zu privilegiert, als dass er ihn wirklich ernst nehmen konnte. Mit der Zeit lernte Hewitt Lancaster jedoch als begabten Ideenschmied kennen, der seine darniederliegende Partei und danach das ganze Land wiederaufrichten und umgestalten wollte. Hewitt merkte, dass er Lancaster tatsächlich mochte, was nie ein gutes Zeichen war. Je enger ihre Beziehung wurde, desto weniger Zeit verbrachten sie damit, die anstehenden politischen Winkelzüge in Whitehall durchzuhecheln. Lieber diskutierten sie darüber, wie man die zerbrochene britische Gesellschaft kitten könnte. Als Lancaster die Wahl mit der höchsten Parlamentsmehrheit seit einer ganzen Generation gewann, rief er am Wahlabend als einen der Ersten Hewitt an. „Simon“, säuselte er mit der ihm eigenen verführerischen Stimme. „Ich brauche Sie, Simon. Ich schaffe das nicht allein.“ Hewitt verfasste danach glühende Artikel über Lancasters hervorragende Erfolgsaussichten, wobei er sehr wohl wusste, dass er ein paar Tage später in der Downing Street für ihn arbeiten würde.

Jetzt öffnete Hewitt ganz langsam die Augen und starrte verdrossen auf die Nachttischuhr. Wie zum Hohn zeigten ihre Leuchtziffern 3.42 Uhr an. Neben der Uhr lagen seine Mobilgeräte, die voll aufgeladen auf den Presseansturm des nächsten Tages warteten. Er hätte sich gewünscht, seine eigenen Batterien genauso schnell wiederaufladen zu können, aber inzwischen hätte keine Menge an Schlaf oder tropischem Sonnenlicht den Schaden wiedergutmachen können, den er seinem nicht mehr ganz so jungen Körper angetan hatte. Er schaute zu Emma hinüber. Wie gewöhnlich schlief sie tief und fest. Früher hätte er über irgendeine lüsterne Art, sie aufzuwecken, nachgedacht, aber diese Zeiten waren vorüber. Ihr Ehebett war längst erkaltet. Zwar hatte Emma der vermeintliche Glanz von Hewitts Job in der Downing Street kurzzeitig geblendet, aber dann begann sie, ihm seine sklavische Ergebenheit, Lancaster betreffend, zu verübeln. Sie betrachtete den Premierminister fast als Sexualrivalen, und ihr Hass auf ihn hatte inzwischen einen irrationalen Grad erreicht. „Du bist zweimal so viel wert wie er“, hatte sie ihm am letzten Abend eröffnet, bevor sie ihm einen lieblosen Kuss auf die Hängebacke drückte. „Trotzdem verspürst du anscheinend aus irgendeinem Grund das Bedürfnis, seinen Handlanger zu spielen. Vielleicht wirst du mir eines Tages erklären, warum.“

Über Daniel Silva

Biografie

Daniel Silva war bis 1997 Top-Journalist des CNN und verbrachte lange Jahre als Auslandskorrespondent im Nahen Osten und am Persischen Golf. Heute ist er einer der erfolgreichsten amerikanischen Thrillerautoren und seine Bücher sind in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt. Wie kein anderer versteht...

Pressestimmen
BuchMarkt

„Sehr konzentriert und trotzdem ausführlich genug erzählt, dazu von glaubwürdiger Beschaffenheit.“

Westfalenpost

„So wird der 13. Thriller der Allon-Reihe wieder zu einem packenden Stück Unterhaltungsliteratur mit einem guten Schuss Grusel aus der Wirklichkeitsflasche.“

Mannheimer Morgen

„Ein spannendes, aktuelles Buch auf gewohnt hohem Niveau.“

Booklist

„Wie immer nimmt Silva den Leser von der ersten Seite an als Geisel.“

Denver Post

„Das ist Thriller-Literatur auf höchstem Niveau. Eine dichte Handlung, glaubwürdige Charaktere und eine Auflösung, die auch gewiefte Leser nicht kommen sehen.“

Huffington Post

„Allon ist ein großer Geheimagent, aber Silva ist ein noch größerer Schriftsteller.“

New York Journal of Books

„Silva ist ein ausgezeichneter Geschichtenerzähler.“

Kirkus Reviews

„Erstklassige Action.“

People Magazine

„Nervenaufreibende Intrigen und provokante Charaktere machen dieses Buch zu einer grandiosen Weiterentwicklung einer herausragenden Serie.“

TVStar

„Thriller voller Sprengstoff.“

Kommentare zum Buch
Das englische Mädchen
minori / LovelyBooks am 30.10.2015

Endlich wieder ein Silva erster Sahne! Wer Gabriel Allon liebt, wird bei diesem Buch nicht enttäuscht! Dieser Leseeindruck ist ursprünglich auf www.lovelybooks.de erschienen.

Das englische Mädchen
klaraelisa / LovelyBooks am 19.10.2015

Wieder ein hervorragender Thriller meines Lieblingsautors. Realistisch, überaus glaubwürdig, sehr empfehlenswert. Dieser Leseeindruck ist ursprünglich auf www.lovelybooks.de erschienen.

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