Das Geheimnis des magischen Spiegels (Das Haus auf Hoarder Hill 2) - eBook-Ausgabe
Das Geheimnis des magischen Spiegels (Das Haus auf Hoarder Hill 2) — Inhalt
Magische Herbstferien auf Hoarder Hill
Zwei Jahre nach ihrem ersten Abenteuer auf Hoarder Hill verbringen Hedy und Spencer erneut die Ferien bei ihren Großeltern. Als Opa John eine Einladung zur Fantastikhana erhält, der jährlichen geheimen Zusammenkunft der Magier, überreden ihn die beiden, ihn dorthin begleiten zu dürfen. Opa John hofft, auf der Versammlung mehr über ein mysteriöses Familienerbstück zu erfahren. Bei ihren Recherchen wird Hedy jedoch mit einem Zauber belegt und findet sich mitten in einer gefährlichen Schatzsuche wieder. Unerwartete Hilfe erhält sie von ihren tierischen Freunden Doug und Stan.
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Leseprobe zu „Das Geheimnis des magischen Spiegels (Das Haus auf Hoarder Hill 2)“
Kapitel 1
EINE KLEINE VERÄNDERUNG
„Spencer! Pass auf!“
Spencer van Beer riskierte während seines Fluges einen Blick hinter sich. Der steinerne Greif näherte sich ihm, seine Flügel schlugen schnell. Noch schlimmer war die ausgestreckte Kralle, die auf seinen Knöchel zielte. Er jaulte auf, zog seine Beine an, bevor der Greif ihn packen konnte, trieb seine eigenen Flügel zu einem schnelleren Schlag an und sauste in Richtung der Bäume.
Das schrille Pfeifen seines Verfolgers verstummte, als er den Waldrand umrundete. Eine Minute später tauchte er zwischen die [...]
Kapitel 1
EINE KLEINE VERÄNDERUNG
„Spencer! Pass auf!“
Spencer van Beer riskierte während seines Fluges einen Blick hinter sich. Der steinerne Greif näherte sich ihm, seine Flügel schlugen schnell. Noch schlimmer war die ausgestreckte Kralle, die auf seinen Knöchel zielte. Er jaulte auf, zog seine Beine an, bevor der Greif ihn packen konnte, trieb seine eigenen Flügel zu einem schnelleren Schlag an und sauste in Richtung der Bäume.
Das schrille Pfeifen seines Verfolgers verstummte, als er den Waldrand umrundete. Eine Minute später tauchte er zwischen die Baumstämme und flog wahllos nach links, rechts, oben und unten, um den Greifen von seiner Spur abzuschütteln. Mit seinen Flugmanövern wirbelte er das Herbstlaub auf.
Als er schon nicht mehr zählen konnte, wie oft er sich gedreht hatte, spähte Spencer über seine Schulter. Er war inzwischen im schattigen Herzen des Waldes. Ein Vogel flog durch die Luft, aber es war kein Greif zu sehen. Vielleicht hatte er ihn abgeschüttelt. Ich muss zurück zu den anderen, dachte er nervös. Mit Argusaugen schlängelte er sich bis an den Rand des Waldes und wagte dann den Endspurt in Richtung Sicherheit.
Da waren sie, winkten ihm wild zu. Doch als er nur noch ein paar Meter entfernt war, flitzte der Greif aus den Bäumen hervor. Er schoss direkt auf ihn zu, und Spencer spürte, wie ihm vor Panik die Kontrolle über seine Flügel entglitt. Er taumelte, sein Flügelschlag geriet aus dem Takt. Den Sieg witternd, streckte der Greif mit einem jubelnden Kreischen eine Kralle nach ihm aus. Spencer überschlug sich in der Luft und ließ sich schwerfällig und außer Atem auf die Erde fallen. Er spuckte ein Mundvoll Gras aus. Der Greif landete auf ihm und krächzte: „Erwischt!“
Die anderen lachten.
„Geht’s dir gut?“, fragte seine ältere Schwester Hedy und hielt ihm die Hand hin, um ihm auf die Beine zu helfen. „Du sahst aus, als wärst du mitten in der Luft gestolpert.“
„Gut geflogen, Rotschopf-Recke!“, rief Jelly, seine Cousine.
„Rotschöpfe sind die besten Recken“, sagte Spencer. Mit einem genervten Blick auf den Greifen fügte er hinzu: „Ich kann nicht glauben, dass sie schon wieder gewonnen haben. Hey, Max, hat der Greif geschummelt?“
Auf die Anschuldigung hin pfiff der Steingreif entrüstet und ließ sich von seinem jüngsten Cousin Max streicheln. „Ich glaub’ nicht“, sagte Max. „Also hat Hedy immer noch die meisten Punkte.“
Natürlich hat sie das, dachte Spencer, während er die verzauberten Flügel abschnallte, die sie sich von seinem Großvater geliehen hatten.
„Na ja, noch habe ich ja keine Runde am Himmel gedreht“, sagte Doug, der sprechende Bärenteppich. Er spuckte den Tausendfüßler aus, den er heimlich vom Boden aufgeschleckt hatte.
„Ich erinnere mich deutlich daran, dass du mal gesagt hast, wenn du zum Fliegen bestimmt wärst, wärst du mit einem Schnabel geboren worden“, sagte Stan, der ausgestopfte Hirschkopf.
„Nur weil ich nicht dazu geboren wurde, heißt das nicht, dass ich es nicht kann“, grummelte Doug. „Übrigens, du siehst lächerlich aus. Was um alles in der Welt hat Jelly dir angetan?“
Jelly hockte sich zufrieden auf ihre Fersen. „Das ist nur ein bisschen Lipgloss. Und ein bisschen Glitzer auf dem Geweih. Und ein Strassstein zum Aufkleben zwischen den Augen. Das geht wieder ab, keine Sorge. Es sei denn, du willst es dran behalten, Stan?“ Sie hielt Stan einen kleinen Spiegel hin, damit er sein Spiegelbild betrachten konnte.
„Hmm. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob der Effekt … die notwendige Eleganz ausdrückt“, murmelte Stan zweifelnd.
„Aber auffallend ist es“, sagte Jelly. „Ist das nicht, was du wolltest? Es ist genau wie bei mir und Hedy. Hedy sieht umwerfend aus, nicht wahr? Jetzt fällt sie total auf!“
Hedy berührte zaghaft den Strassstein, den Jelly zwischen ihre glitzerbestäubten Augen geklebt hatte, die ziemlich im Widerspruch zu ihrem verblichenen Sweatshirt und den abgewetzten Turnschuhen standen.
„Es gibt verschiedene Arten, auf die man auffallen kann: Entweder weil man ein Vierzehnender-Geweih hat und sich nicht scheut, es zu zeigen, oder weil man ein fetter Bienenstich auf dem Hinterteil eines Wiesels ist“, sagte Doug. „Also, Spencer, fliegen wir jetzt los?“
Als die Sonne sich langsam am Himmel senkte, fuhr die außergewöhnliche Gruppe mit ihren Fahrrädern zurück ins Dorf: Marberry’s Rest. Sie hatten sich schon seit Wochen auf diese gemeinsame Zeit in den Herbstferien gefreut. Spencer, Hedy und ihre Mutter waren zu Besuch, während ihr Vater auf einer langen Fahrradtour war, um Geld für eine Hilfsorganisation zu sammeln. Sobald der Plan beschlossen worden war, hatten die Kinder darum gebeten, dass Ihre Cousins Jelly und Max auch zu Besuch kamen.
„Kannst du mir noch einmal erzählen, wie du Tante Rose gefunden hast?“, fragte Max.
„Nicht schon wieder!“ Jelly stöhnte auf. „Max, das hast du doch schon mindestens achtundsiebzigtausendmal gehört.“
Aber Hedy blickte lächelnd über ihre Schulter zu Max. Sie wurde nicht müde, ihm zu erzählen, wie sie und Spencer vor fast zwei Jahren das Rätsel um ihre verschwundene Großmutter Rose gelöst und sie vor dem Kaleidos gerettet hatten.
Am liebsten hörte Max immer wieder, wie Spencer und Hedy Hilfe von den zahlreichen magischen Gegenständen und Bewohnern bekommen hatten, die Opa John über die Jahre gehortet und geheim gehalten hatte. Neben Doug und Stan gab es die Holzspione, die durch die hölzernen Oberflächen des Hauses wanderten, und die kleinen Steinstatuen, die man Grotesken nannte und die oben auf Opa Johns Dach saßen, um ihn vor Eindringlingen zu schützen.
Doug war jetzt in eine Getränkekiste auf dem Gepäckträger von Spencers Fahrrad gequetscht. Stan war an Hedys Lenker geschnallt und der Greif und der Gargoyle saßen in den Fahrradkörben von Jelly und Max. Niemand in Marberry’s Rest sollte wissen, dass Opa John magische Artefakte sammelte. Seit die Ladenbesitzerin des Dorfes, Mrs Sutton, Hedy einmal beim Fliegen beobachtet hatte – und von Oma Rose davon überzeugt werden musste, dass sie wohl einen riesigen Vogel mit einem Menschen verwechselt hatte –, hatten sie die strikte Anweisung, Opa Johns Flügel nicht in Sichtweite der Nachbarn zu benutzen.
Im Dorf verhielten sich Doug und Stan genauso, wie es sein sollte – unbeweglich, ohne zu blinzeln und schweigsam –, aber die Grotesken vergaßen immer wieder stillzuhalten und mussten von den Kindern regelmäßig zum Schweigen gebracht werden.
„Wartet hier draußen“, sagte Hedy, als sie ihr Fahrrad vor Suttons Gemischtwarenladen abstellte. Das Schaufenster war für Halloween dekoriert, mit geschnitzten Kürbissen, riesigen schwarzen Spinnen und einer lustigen Spielzeughexe auf einem Besenstiel. „Ich hole den Kuchen.“
Ein älteres Ehepaar kam um die Ecke, und die Kinder schlurften den Bürgersteig entlang, um Platz zu machen. Spencer hatte sie noch nie gesehen und vermutete, dass sie zu Besuch in der Gegend waren.
„Guten Tag“, sagte der Mann, lächelte die Kinder an und starrte auf Stan und Doug. „Eine ziemliche Sammlung habt ihr da. Hier in der Gegend kann man wohl gut jagen, was?“
Er scherzte natürlich, aber die Jagd war ein sehr sensibles Thema für die Tiere. Spencer konnte spüren, wie Doug tief in seiner Kehle grummelte, und er sah, wie sich Stans Nasenlöcher aufblähten.
„Wir dürfen keine Haustiere haben“, erklärte Spencer, „also nehmen wir stattdessen diese hier mit.“
„Oh, aber wie ich sehe, ist euch zumindest ein Haustier erlaubt“, sagte die Frau zu Max. Sie blinzelte Richtung Gargoyle in seinem Korb und runzelte die Stirn. „Oje, was für eine merkwürdig aussehende Katze.“ Mit „merkwürdig“ meinte sie eindeutig hässlich.
Anstatt stillzuhalten und sie glauben zu lassen, er sei eine Statue, die die Kinder zum Spaß herumkarrten, zischte der Gargoyle die Frau an, sodass die nach Luft schnappte und den Arm ihres Mannes umklammerte.
„Es tut mir so leid“, sagte Jelly hastig. Sie unterdrückte ein Lachen und tätschelte dem Wasserspeier heftig den Kopf. Er ließ sich in den Korb sinken und grinste. „Wir haben ihn erst vor Kurzem aus einem Tierheim geholt und er ist nicht sehr gut trainiert.“
Zum Glück klingelte die Ladentür und Hedy trat mit einer großen Kuchenschachtel heraus. Die leutselige Mrs Sutton stand direkt hinter ihr.
„Hallo Spencer, Angelica, Max!“, trillerte sie. „Ihr geht mit euren Lieblingen spazieren, wie ich sehe!“ Mrs Sutton hatte ihnen vorbehaltlos ihre Geschichte abgekauft, dass sie keine echten Haustiere haben durften, und war es gewohnt, die Bande mit Doug, Stan und den Grotesken herumfahren zu sehen. Sie richtete ihre Aufmerksamkeit auf die Neuankömmlinge. „Willkommen in unserem Dorf! Woher sind Sie zu Besuch? Wollen Sie nicht hereinkommen …?“
Das ältere Ehepaar, immer noch verblüfft von der fauchenden „Katze“, konnte ihrem freundlichen Geplapper nicht widerstehen und wurde nach drinnen gezogen. Die Kinder verabschiedeten sich von Mrs Sutton und verschwanden.
Hoarder Hill war zu dieser Jahreszeit ganz anders als bei Spencers und Hedys erstem Besuch. Die Gärten waren mit neuen Sträuchern und blühenden Pflanzen bepflanzt. Im Haus war Großvater Johns Gerümpel mit viel mehr Sorgfalt verstaut worden und Großmutter Rose hatte alle „modernen“ Haushaltsgeräte mit großer Neugierde angenommen.
Zur Freude der Kinder parkte ein alter Milchwagen in der Einfahrt, was bedeutete, dass Frau Pal und Soumitra zum Abendessen gekommen waren. Sie radelten in den hinteren Garten, von wo es für die Grotesken am sichersten war, auf das Dach zurückzukehren, ohne von Fremden gesehen zu werden.
„Du solltest die Leute nicht anfauchen“, schimpfte Spencer mit dem Gargoyle, woraufhin dieser finster dreinblickte. „Wenn du so was machst, lässt dich Opa John bestimmt nicht mehr mit uns mitkommen.“
Der finstere Blick des Gargoyles vertiefte sich weiter, als er aus dem Korb kletterte. Seine einzige Antwort für Spencer war ein Steinkügelchen, das er mürrisch aus dem Hintern ausstieß. Sich zu entschuldigen lag nicht in der Natur einer Groteske.
„Hat Fluffy noch einen gemacht?“ Max klatschte. Er sammelte die Steinkügelchen, und sein beharrlicher Drang, den Grotesken kindliche Namen zu geben, führte oft zu noch mehr mürrischen Ausscheidungen.
Der Greif ließ seine eigenen Steinkugeln los (eher zur Unterstützung des Gargoyle als aus Freundlichkeit Max gegenüber), dann flatterten die beiden zeternd zum Dach des Hauses hinauf.
„Die mächtigen Wettstreiter sind zurückgekehrt!“, rief Opa John, als er vom unteren Ende des Gartens heraufgelaufen kam. An seiner Seite waren Frau Pal, die Besitzerin eines Zauberladens namens „Palisade“, und ein junger Mann – ihr Enkel Soumitra. Die Kinder rannten los, um sie zu umarmen.
„Wer hat gewonnen?“, fragte Soumitra.
„Die Grotesken, schon wieder. Nur Hedy kann sie manchmal beim Fliegen schlagen“, stöhnte Spencer.
„Versuch es einfach weiter und du wirst sie einholen“, grinste Soumitra. „Wer liefert mir die Höhepunkte des Rennens? Stan?“
Stan, der von Jelly getragen wurde, strahlte. „Es ist mir ein Vergnügen, und ich kann nur hoffen, dass meine Betrachtungen das heroische Geschehen des Turniers adäquat wiedergeben!“
„Das ist vielleicht das erste Mal, dass jemand die Grotesken als heroisch bezeichnet“, sinnierte Opa John.
Als Hedy, Jelly und Max mit Soumitra zum Haus vorausgingen, hielt Opa John Spencer einen Moment lang zurück.
„Was ist los?“, fragte Spencer.
„Es tut mir leid, Spencer“, sagte Frau Pal, „aber wir müssen deinen Besuch in der Palisade verschieben. Ich habe eine Veranstaltung, zu der ich gehen muss. Wir finden einen anderen Termin, versprochen.“
Spencer versuchte, seine Enttäuschung zu verbergen. Er hatte die Idee gehabt, seine Polaroidkamera auf eine besondere – nun ja, ein bisschen magische – Weise zu modifizieren, und er konnte sich niemanden vorstellen, die besser geeignet war, ihm dabei zu helfen, als Mrs Pal. „Wo gehen Sie denn hin?“
„Auf das Fantastikhana“, sagte Mrs Pal.
Ein Kribbeln durchlief Spencer und die Haare in seinem Nacken stellten sich auf. „Darf ich mitkommen?“
„Du weißt doch gar nicht, was das ist“, brummte Opa John.
„Aber es hört sich gut an. Was ist es?“
„Es ist eine Versammlung von muffigen alten Leuten wie mir“, sagte Opa John.
Mrs Pal aber grinste und sagte: „Es gibt einen Jugendwettbewerb für Zauberei. Und Workshops, in denen Kinder zusammenkommen und basteln können. Ein bisschen wie diese Bastel-Workshops in den Schulferien.“
Spencers Gedanken wirbelten durcheinander. „Aber mit Magie?“
„Einfache Magie, nehme ich an, nicht die Art aufregender Zauber, die du immer suchst“, sagte Opa John.
„Aber es klingt perfekt!“, rief Spencer. „Können wir hingehen, bitte?“
Opa John wandte sich sauertöpfisch an Mrs Pal. „Haben Sie das geplant?“
„Es scheint die perfekte Gelegenheit zu sein, Mr Sang“, sagte sie unschuldig.
Spencer hüpfte um seinen Großvater herum. „Bitte? Ich möchte wirklich lernen, wie man Sachen macht wie Frau Pal. Vielleicht kann ich die Palisade leiten, wenn ich groß bin.“ Er brach plötzlich ab und fragte sich, ob er zu weit gegangen war. „Ich meine, wenn Soumitra das nicht will.“
„Ach du meine Güte!“ seufzte Opa John. „Ich dachte, das könnte ein Hobby werden, nicht dein Lebensziel.“
Ups, dachte Spencer und verzog das Gesicht, um es wie einen Scherz wirken zu lassen. Wie konnte er nur Opa John davon überzeugen, zu diesem Fantastikhana zu gehen und ihn und die anderen mitzunehmen?
„Willst du dich nicht mit anderen Magiern unterhalten?“, fragte er.
Opa John schüttelte entschieden den Kopf. „Nicht, wenn es sich vermeiden lässt.“
Kapitel 2
DIE EINLADUNG
„Zum Geburtstag viel Glück!“
Frau Pal holte tief Luft, um die Kerzen auszublasen, aber ein Windstoß kam ihr zuvor.
Alle lachten. Es war ein schöner Herbstabend, und so aßen sie auf der hinteren Terrasse unter fröhlich bunten Lichterketten, während Doug über einem Stuhl hing und Stan zwischen Mama und Soumitra eingekeilt war. Die Kinder saßen auf der Steinbank, auf der einst Opa Johns ehemalige Köchin, Mrs Vilums, und ihre Schwestern als Statuen gesessen hatten.
„Onkel John, zünde mit etwas Magie die Kerzen wieder an!“ Max drängte.
„Streichhölzer reichen völlig aus, Max“, sagte Opa John. Obwohl er immer noch Artefakte sammelte, bestand Opa John hartnäckig darauf, jegliche Ausübung von Magie zu meiden.
„Kannst du nicht ab und zu mal die Regeln etwas lockern?“, fragte Hedy. „Wie wär’s mit einem magischen Windschutz? Das würde doch niemandem schaden.“
„Wenn ich wüsste, wie“, sagte Spencer, „würde ich Geburtstagskerzen machen, die nicht ausgehen, es sei denn, die Person, die sie ausbläst, hat sich etwas gewünscht.“
Frau Pal tippte sich ans Kinn. „Die Schwierigkeit dabei wäre, die Energie, die Wünsche erfüllt, zu finden und zu bündeln.“
„Wie könnte man das tun?“, fragte Jelly.
„Oh, bitte“, sagte Opa John, „wir wollen Spencer nicht dazu ermutigen, mit Dschinns oder magischen Fischen oder solchem Unsinn zu experimentieren. Schon der Volksmund lehrt uns, dass das Unheil bringt.“
„Wie läuft’s im Laden, Rani?“ fragte Großmutter Rose.
„Seit ein paar Wochen herrscht Flaute im Geschäft“, sagte Mrs Pal. „Aber das ist nicht weiter verwunderlich, denn an diesem Wochenende wird immer viel gehandelt.“
„Jemand hat vor einer Woche versucht einzubrechen“, sagte Soumitra düster.
„Das ist ja furchtbar“, rief Hedy. „Was ist passiert?“
„Mein Sicherheitssystem hat sie abgeschreckt, bevor sie eindringen konnten“, versicherte Mrs Pal. „Wer auch immer es war, ist hinten vom Dach gestürzt, konnte aber fliehen.“
„Vielleicht ist es an der Zeit, den Laden aus dieser Gegend zu verlegen“, schlug Opa John vor.
Mrs Pal wischte seine Besorgnis mit einer Handgeste weg. „Es gibt Gründe, warum ich dort bin.“
„Dieses Wochenende wird viel gehandelt, sagten Sie?“, fragte Stan. „Heißt das, dass das Fantastikhana stattfinden wird?“
Hedy spitzte die Ohren. „Was ist das?“
Opa John warf Stan einen verärgerten Blick zu. „Wie ich zu Spencer sagte, ist es ein Treffen von muffeligen alten Leuten wie mir, die ihre besten Magier-Jahre schon hinter sich haben.“
„Aber du hast gesagt, es gibt Workshops, in denen wir magisches Kunsthandwerk machen können“, erinnerte ihn Spencer.
„Und das ist noch nicht alles“, sagte Stan. „Ich war einmal auf einem Fantastikhana, bei dem ich von einem Besitzer zum anderen gewechselt habe. Es wird getauscht, es gibt viele Verkaufsstände, und es gibt einen Wettbewerb für Kinder, die so alt sind wie Hedy oder älter. Die Kinder müssen Zauberkunststücke vollbringen, um zu gewinnen.“
Alle vier Kinder fingen an, durcheinanderzureden. Alle wollten unbedingt zu dieser Veranstaltung mit dem komischen Namen gehen. Schließlich hob Opa John die Hand. „Das ist nicht der Ort, an den ich euch mitnehmen möchte. Bei einem Fantastikhana gibt es zu viele Unwägbarkeiten.“ In seiner Vorstellung war „unwägbar“ gleichbedeutend mit „gefährlich“.
„Aber werden sie die gefährlichen Dinge nicht unter Verschluss halten?“ fragte Jelly.
Opa John grunzte. „Du würdest dich wundern, wie inkompetent sie sein können.“
„Frau Pal findet es in Ordnung!“, sagte Spencer.
„Und wenn es in Ordnung ist, dass andere Kinder hingehen und an Wettkämpfen teilnehmen, dann muss es auch in Ordnung sein, dass wir hingehen und zusehen“, sagte Hedy. „Bitte, können wir nicht einmal etwas wirklich Lustiges gemeinsam als Familie machen?“
„Eure Großmutter will nicht hingehen“, sagte Opa John scharf, „also schlagt es euch aus dem Kopf.“
Die Kinder verstummten.
Oma Rose gab sich keine Mühe, den verärgerten Blick zu verbergen, den sie in Opa Johns Richtung warf. „Ich setze Teewasser auf.“ Sie streckte Hedy die Hand entgegen. „Leistest Du mir Gesellschaft?“
Auf dem Weg in die Küche hielt Hedy die Hand ihrer Großmutter fest. Das hätte sie mit ihren Eltern nie getan, jetzt, wo sie dreizehn Jahre alt war. Aber sie spürte, dass ihre Großmutter Trost darin fand, und hier, auf Hoarder Hill, fand Hedy es nicht peinlich.
Tatsächlich waren viele Dinge hier nicht peinlich, die es in der Außenwelt aber sehr wohl waren. Hedy hatte das auf schmerzhafte Weise gelernt. Die Regeln hatten sich geändert und sie hatte es nicht mitbekommen. Ihrer besten Freundin zu erzählen, dass sie einen sprechenden Bärenteppich und Hirschkopf kannte und einem Geisterpianisten begegnet war – und dass sie Ihre Großmutter aus einer magischen Kiste gerettet hatte –, war in der Grundschule okay gewesen. Im Gymnasium macht dich das zu einer Spinnerin, und auf einmal musst du neue Freunde finden und das Interessanteste in deinem Leben geheim halten und dich möglichst „ganz normal“ geben.
Oma Rose pflückte eine dicke schwarze Karte von der Kühlschranktür. „Er wurde zum Fantastikhana eingeladen, weißt du“, sagte sie. „Das ist seine Einladung. Aber er hat sie ausgeschlagen. Er traut dieser Gruppe von Leuten immer noch nicht – aber der Hauptgrund, warum er nicht hingeht, ist, dass er mich nicht allein lassen will.“
„Aber du wärst nicht allein“, sagte Hedy fröhlich. „Nicht, wenn wir alle zusammen gehen.“
Oma Rose verzog das Gesicht. „Ich will nicht die ganze Zeit Fragen beantworten müssen. Sie wissen, dass ich gefunden wurde, nachdem ich dreißig Jahre lang verschwunden war. Sie werden wissen wollen, wo ich war.“
„Du bist also so etwas wie eine Prominente?“, fragte Hedy. „Das ist cool.“
„Ich will nicht angeglotzt werden, Hedy“, sagte Oma Rose sanft. „Und ich bin nicht bereit, über das, was ich im Kaleidos erlebt habe, zu sprechen.“
Hedy starrte auf die Fantastikhana-Einladung. Sie war silbern bedruckt, stammte von einer Gruppe namens „Die Volte“ und war auf den „Erstaunlichen John Sang“ ausgestellt. Als Hedy mit dem Finger über das kunstvolle F am unteren Rand fuhr, hörte sie ein schwaches Geräusch, wie auf einem Jahrmarkt: viele Stimmen, die sich undeutlich unterhielten, Musik, Glockengeläut, Applaus aus der Ferne.
In Gedanken versunken bemerkte Hedy nicht, wie Opa John und Mrs Pal in die Küche kamen. Aber dann streichelte Opa John ihre Wange. „Es tut mir leid, dass ich so reagiert habe“, sagte er.
„Ist schon gut.“
Hedy half Oma Rose, den Tee auf die Terrasse zu tragen, und alle bedienten sich am Kuchen. Dann kündigte Hedy aus einer Laune heraus an, Opa John und Mrs Pal holen zu wollen.
Die Tür zum Arbeitszimmer war, wie erwartet, geschlossen. Nach Monaten alltäglicher Gespräche über Bands und Liebeskummer und Hausaufgaben und Fußballtraining merkte Hedy, dass sie sich auf eine ganz eigene Weise ausgehungert fühlte: ausgehungert danach, etwas über Magie zu hören, das Gefühl zu haben, Teil von etwas Besonderem und Bedeutendem zu sein. Sie wusste, dass es falsch war zu lauschen, aber sie legte ihr Ohr trotzdem an die Tür. Doch die Worte waren gedämpft.
Ich sollte einfach klopfen, dachte Hedy. Sie hob die Hand, aber bevor sie anklopfen konnte, erschien eine Beule im Holz, die sanft ihre Wange streichelte. Es war der kleinste Holzspion.
„Hallo“, flüsterte sie. Sie brauchte nicht einmal zu fragen. Der Holzspion wusste genau, was sie sich in diesem Moment aus tiefstem Herzen wünschte. Er zog zuvorkommend ein winziges Stück der Tür vom Rahmen weg – genug, um einen Spalt zu schaffen, durch den Hedy das Gespräch hören konnte.
„Ich bin froh, dass Rosie mich dazu gebracht hat, Ordnung zu schaffen und meine Sachen zu katalogisieren“, sagte Opa John. „Ich habe seit Jahren kaum an diesen Spiegel gedacht.“
Hedy hielt ihr Auge an den Spalt in der Tür. Sie sprachen von einem kleinen runden Stück Metall, etwa so groß wie eine Untertasse. Auf der einen Seite war ein kunstvolles Muster in die Oberfläche graviert und die andere Seite war schlicht und verspiegelt.
„Also, Brock Rabble will sich dieses Wochenende mit dir und mir treffen.“
„Brock Rabble!“, rief Opa John aus.
Mrs Pal nickte. „Er muss irgendwie gehört haben, dass du den Spiegel hast. Er behauptet, er habe Informationen darüber.“
Opa John sah hin- und hergerissen aus. „Ich habe bereits die Einladung der Volte abgelehnt, und ich habe dabei kein Blatt vor den Mund genommen, was meine Meinung über sie angeht. Wenn ich jetzt auftauche, werden sie sich fragen, warum ich meine Meinung geändert habe.“
„Bring die Kinder mit“, schlug Mrs Pal vor. „Das ist eine glaubwürdige Ausrede – du hast sie dorthin gebracht, um den Wettbewerb zu sehen.“
„Ich will Rose hier nicht allein lassen.“
„Und wenn jemand hier bei ihr bleibt?“
Hedy flüsterte dem Holzspion ihren Dank zu und huschte mit rasenden Gedanken wieder nach draußen. Die einzige Möglichkeit, wie Opa John akzeptieren würde, ihre Großmutter allein zu lassen, bestand darin, dass Oma Rose es selbst vorschlug und Hedys Mutter, Olivia, als Gesellschaft hatte. Und da Papa auf der Wohltätigkeitsradtour war, war es auch für Mama das perfekte Arrangement. Hedy schlüpfte zwischen Oma Rose und Mama und flüsterte auf sie ein, sodass alles geklärt war, als Opa John an den Tisch zurückkehrte.
„Es ist unfair, dich hier festzuhalten, John“, sagte Oma Rose. „Warum machen Olivia und ich uns nicht ein Mädchenwochenende, während du mit den Kindern zum Fantastikhana fährst?“
Am Morgen wachten Hedy, Jelly, Spencer und Max sehr früh auf. Sie bemühten sich – und scheiterten –, ihr aufgeregtes Geplapper auf ein Flüstern zu beschränken. Das Fantastikhana lief über drei Tage, also würden sie zwei Nächte lang mit Opa John weg sein.
Sie beeilten sich mit dem Frühstück und dem Abwasch und schauten dann – wie jeden Morgen auf Hoarder Hill – in Dougs und Stans Zimmer vorbei, um Doug seine tägliche „Massage“ zu geben, die in Wirklichkeit ein sanftes Staubsaugen seines Fells war.
Stan sah Doug mit einem kritischen Blick an. „Der dekadenteste Kaiser Roms hat nie eine solche Behandlung genossen.“
„Ich wette, der dekadenteste Kaiser Roms wurde nie zu einem Teppich verarbeitet“, sagte Doug. „Oder vom Hals bis zum Rumpf rasiert. Oder hat seinen Schwanz abgehackt bekommen. Ich denke, ich darf ab und zu ein bisschen verwöhnt werden.“
„Kinder“, sagte Stan mürrisch, „auf dem Fantastikhana wird es Stände geben, die alle möglichen Dinge verkaufen. Wenn ihr etwas findet, das Fell wachsen lässt, würdet ihr dann etwas für den rasierten Streifen auf Dougs Rücken mit nach Hause bringen? Der Märtyrer will ja nicht in vornehmer Stille leiden und ich möchte ihn lieber nicht weiter leiden hören.“
Jellys Augen funkelten angesichts der Möglichkeiten. „Eine Einkaufsliste! Warum ist mir das nicht eingefallen?“
„Wenn wir doch auch mitkommen könnten“, seufzte Stan. „Wäre das nicht großartig? Es wäre so schön, sich alles richtig anzusehen, ohne die Erniedrigung, verschachert zu werden.“
„Ich wünschte auch, ihr könntet mitkommen“, sagte Hedy und tätschelte Stans Kopf. „Hat einer von euch schon mal von der Volte gehört?“
„Du meinst so etwas wie ›Karten-Volte‹?“, fragte Max. „Das sind Kartentricks und diese Zaubertricks in Nahaufnahme.“
Hedy zuckte mit den Schultern. „Opa Johns Einladung zum Fantastikhana kam von der Volte, also klingt das nach einer Gruppe von Leuten.“
„Ich glaube, die Volte ist eine Gruppe von, nun ja, Zauberern“, sagte Stan. „Ranghöchste Magier, soviel ich weiß.“
Das erregte Spencers Aufmerksamkeit. „Meinst du Bühnenmagier oder echte Magier?“
„Echte“, sagte Stan.
„Und was macht die Volte?“, fragte Hedy.
„Das weiß ich nicht. Doug, weißt du etwas über sie?“
Doug zuckte mit einem Ohr. „Ich habe nur einmal gehört, wie sie erwähnt wurden … im Haus eines früheren Meisters. Und daraus schließe ich, dass die Volte eine Gruppe von Magiern ist, die zusammenkommen, um sich und anderen auf die Nerven gehen.“
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