Das Gespür für den Augenblick - eBook-Ausgabe
Mein Weg in den Profiradsport und wieder hinaus
Das Gespür für den Augenblick — Inhalt
Mehr als nur Radsport
Der Tour de France-Rekord-Etappensieger Marcel Kittel erzählt sein Leben
Sein Weg in den Radsport schien vorgezeichnet: Als Sohn eines Radamateurs und einer Leichtathletin brachte Marcel Kittel vieles mit, was ein Profi braucht. Doch die Entscheidung musste er selbst treffen und sich die Erfolge hart erarbeiten. Er gewann deutsche Meisterschaften und drei Weltmeistertitel im Zeitfahren, bevor er sich als Sprinter profilierte. Am Ende standen u.a. 14 Etappensiege bei der Tour de France, vier beim Giro und einer bei der Vuelta. Von der Schönheit des perfekten Sprints, den Qualen am Berg und der Lust auf ein neues Leben erzählt er anschaulich, offen und reflektiert.
Leseprobe zu „Das Gespür für den Augenblick“
Vorwort
Christian Prudhomme, Direktor der Tour de France seit 2007
Marcel Kittel gehört dank seiner Fähigkeiten und seiner 14 Etappensiege auf den Straßen der Tour de France zu den größten Sprintern in der Geschichte dieses Rennens. Wir dürfen nicht vergessen, dass er sich zu seiner Zeit mit einem der erfolgreichsten Sprinter aller Zeiten messen musste, mit dem Briten Mark Cavendish. Und den hat Marcel Kittel bei der Tour oft genug geschlagen, insbesondere 2013 und 2014 am jeweils ersten Tag des Rennens sowie 2017 am ersten Tag, der für die Sprinter [...]
Vorwort
Christian Prudhomme, Direktor der Tour de France seit 2007
Marcel Kittel gehört dank seiner Fähigkeiten und seiner 14 Etappensiege auf den Straßen der Tour de France zu den größten Sprintern in der Geschichte dieses Rennens. Wir dürfen nicht vergessen, dass er sich zu seiner Zeit mit einem der erfolgreichsten Sprinter aller Zeiten messen musste, mit dem Briten Mark Cavendish. Und den hat Marcel Kittel bei der Tour oft genug geschlagen, insbesondere 2013 und 2014 am jeweils ersten Tag des Rennens sowie 2017 am ersten Tag, der für die Sprinter reserviert war – mit Kraft und Eleganz. Das ist bemerkenswert und zeigt die fahrerische Klasse dieses deutschen Ex-Profis.
Wenn ich nun meine Augen schließe und an Marcel Kittel denke, sehe ich einen Menschen mit großer Geschwindigkeit und einer großen Statur vor mir. Aber ehrlich gesagt sehe ich ihn sogar eher jubelnd und winkend auf einem Podium der Tour stehen, als dass ich ihn vor meinem inneren Auge dabei beobachte, wie er einen Sprint gewinnt. Ich sehe ihn dort oben, nachdem er die erste Etappe der Tour de France 2014 im englischen Harrogate gewonnen und damit das Gelbe Trikot erobert hatte. Ich sehe ihn strahlend und leuchtend gelb wie einen Sonnenschein in einem Meer von Menschen. Ich sehe, wie er einem Journalisten erklärt, dass er emotional berührt ist, weil er neben Kate und William auf dem Podium stehen durfte, dem britischen Kronprinzenpaar.
Für mich war dieses Podium eines der großartigsten der gesamten Tour-de-France-Geschichte, weil wir darauf einen famosen Champion und die königliche Familie gesehen haben. Überdies ist dieses Bild – Marcel Kittel inmitten der englischen Königsfamilie in Yorkshire im Rahmen der Tour de France – ein Paradebeispiel für die Internationalisierung der Frankreich-Rundfahrt. Für mich ist das absolut phänomenal. Schon 2013 war Marcel Kittel derselbe Coup gelungen: Er gewann auf Korsika die erste Etappe der 100. Tour und erhielt somit als erster Fahrer dieser besonderen Auflage der Frankreich-Rundfahrt das Gelbe Trikot. Auch das war ein ganz besonderer Moment der Tour-Geschichte.
Die Tour hatte, bevor Marcel Kittel 2012 erstmals an ihr teilnahm, schwere Zeiten zu überstehen, vor allem in Deutschland. Mit einem Mann wie Marcel Kittel jedoch hat sich das Bild gewandelt. Insofern haben seine Siege und sein freundliches, zuvorkommendes, höfliches Auftreten ohne jeden Zweifel auch für eine Entwicklung des Radsports in Deutschland gesorgt – hin zu mehr Vertrauen und Glaubwürdigkeit, für die Marcel Kittel offensiv einsteht. Auch das macht seine Geschichte ganz gewiss zu einer spannenden Erzählung.
Noch mal zur deutschen Komponente: Aus all den oben genannten Gründen war es für uns als Organisatoren der Tour de France eine große Ehre, mit unserem Rennen 2017 zu Ihnen nach Deutschland zu kommen, zum Grand Départ der Tour in Düsseldorf. Dass der Radsport in jener Zeit in Deutschland wieder so populär war, lag auch an den Siegen und der Persönlichkeit von deutschen Fahrern wie Marcel Kittel, André Greipel oder Tony Martin. Für die Organisatoren der Tour de France war der Besuch in Düsseldorf auch deshalb eine besondere Erfahrung, weil die Tour davor zuletzt 1987 in Deutschland begonnen hatte, in Westberlin, inmitten eines geteilten Landes, beobachtet vor Ort von Frankreichs damaligem Premierminister Jacques Chirac und von Hans-Dietrich Genscher, dem einstigen deutschen Außenminister. Wie sich die Zeiten doch ändern.
In Düsseldorf die große Freude der Menschen zu sehen, die trotz mäßigen Wetters so zahlreich erschienen sind, ihr Lächeln, ihre Zufriedenheit, das hat mich sehr stolz gemacht. Es war zudem ein starkes Zeichen für eine gelebte deutsch-französische Freundschaft, die ich als sehr bedeutend empfinde. Denn klar ist, wir Franzosen kommen einfach nur von der anderen Seite des Rheins. Aus all diesen Gründen träume ich davon, dass die Tour de France sehr bald wieder von Deutschland aus startet.
Dass es dann Marcel Kittel war, der in jenem Jahr nach dem Prolog in Düsseldorf die erste Etappe von Düsseldorf nach Lüttich gewonnen hat, war nun auch für mich etwas Besonderes – dass es ein Deutscher war, empfand ich als speziell, und dass es Marcel Kittel war, dieser charismatische Botschafter des Radsports, erst recht. Man schaut hin, wenn man ihn sieht – und man sieht ihn gerne, in Deutschland und überall sonst auf der Welt.
Und ganz gewiss gilt das auch für die Geschichte und die Geschichten, die er in diesem Buch erzählen wird: Auch darauf wird man gewiss mit Vergnügen schauen.
Einleitung
Marcel Kittel: Sprint Royal
Wir erklimmen 90 Kilometer vor dem Ziel einen kleinen Pass namens Buttertubs im Norden von Yorkshire, und ich kann die Straße nicht mehr sehen. Die auf ihr postierten Menschen lassen uns nur einen schmalen Spalt, um sie zu passieren. Die Hügel nebenan sind seit Stunden gefüllt mit Fahnen schwenkenden, enthusiastischen, tanzenden Menschen, die sich hier, im welligen Norden Englands, versammelt haben, um uns hüpfend, jubelnd und schreiend willkommen zu heißen. Natürlich ist die Tour de France das größte und wichtigste Radrennen des Jahres, aber was wir gerade im Nirgendwo der englischen Provinz erleben, erleben dürfen, ist die größte Menschenansammlung am Straßenrand, die ich in meiner Zeit als Radprofi jemals mitbekommen habe.
Weiter geht es auf der Strecke, dem Ziel in Harrogate entgegen. Und immer wieder stehen an neuralgischen Stellen Menschen in Siebener-, Achter-, Neuner-, Zehnerreihen hintereinander auf den Bordsteinen der malerischen Dörfer, die wir passieren. Sie jubeln und kreischen, und wir sind gerührt, aber auch zunehmend aufgeputscht von dieser Form der Anerkennung und Aufmunterung. Sind wir in einer Zeitschleife gelandet und rasen gerade an Woodstock vorbei? Sieht zumindest so aus. Das ist sensationell. Was für ein Abenteuer. Auch die Profis, die ansonsten kaum eine Regung zeigen, sind über die Maßen fasziniert und begeistert.
Später habe ich in einem Video gesehen, dass an einer Stelle, mitten in einem Feld, Abertausende Zuschauer picknicken, um eine riesige Leinwand gruppiert, auf der das Rennen zu sehen ist, die erste Etappe der Tour 2014.
Wir hatten uns auf meinen Wunsch hin Anfang April 2014 die Strecke angeschaut, Tom Veelers, Albert Timmer, Koen de Kort, Bert De Backer, John Degenkolb und ich. Die ersten drei beinharte Niederländer, Bert ein cleverer Belgier, und sie waren genauso wie der gebürtige Thüringer John Degenkolb Teil meines Sprintzuges bei Giant-Shimano. Wir wollten wissen, was uns auf der 190,5 Kilometer langen ersten Etappe auf dem Weg von Leeds nach Harrogate erwartet. Wir waren fasziniert von dem, was wir an anmutiger Landschaft zu sehen bekamen, aber auch sehr beeindruckt von dem welligen Kurs, der schwer zu werden versprach, zumindest für einen Sprinter, wie ich es bin: 1,90 Meter groß, 90 Kilo schwer. Für mich ist jeder Berg eine echte Herausforderung, auch der Buttertubs mit seiner Höhe von 526 Metern, der im Frühling auf einer fast gar nicht frequentierten Straße verlassen in der Landschaft schlief.
Als wir die Strecke erkundeten, waren die äußeren Bedingungen miserabel: Strömender Regen empfing uns im Startbereich von Leeds und Harewood. Wir fuhren weiter durch die Nässe des Tages, um uns den langen Mittelteil anzusehen und vor allem das Finale in Harrogate. Die letzten drei, vier Kilometer würden ebenfalls alles andere als leicht für Sprinter sein: Die Strecke war dort sehr hügelig, zuletzt wartete ein Anstieg auf ein Plateau, auf dem die Etappe hoffentlich im Sprint entschieden würde. Mir wurde klar, dass ich auf den letzten 4000 Metern besonders auf die Arbeit und Hilfe meiner Teamkollegen angewiesen sein würde, wenn ich eine Chance auf den Tagessieg haben wollte. Genau deshalb waren wir sechs Profis dort, im April, wir wollten jedes Detail kennenlernen, jede Kurve sehen und die Beschaffenheit des Asphalts studieren. Und schon zu diesem Zeitpunkt versuchte ich mich in das Finale hineinzudenken: Fahren im Pulk, Tempo am Anschlag, Hektik, weil jedes Team für seinen Top-Sprinter den großen Preis in Empfang nehmen möchte, der neben dem Etappensieg ausgelobt ist – das Gelbe Trikot.
Denn der Schnellste des ersten Tages würde gleichzeitig der Beste in der Gesamtwertung sein. Auch das erklärt unsere akribische Vorbereitung im Regen. Aber, ganz wichtig: Es war still. Die Gegend war verlassen. Die Sicht war frei.
Was ich an jenem regnerischen Tag im Frühjahr überhaupt nicht antizipieren konnte, war das, was sich dann während des Rennens am ersten Samstag im Juli abspielte, auch wenn es sich bei der Präsentation schon angedeutet hatte. Denn die endete nach einer Fahrt durch das überfüllte Leeds in der First Direct Arena, die normalerweise Platz bietet für 14000 Zuschauer. An diesem Donnerstag jedoch, zwei Tage vor der ersten Etappe, saßen die Menschen so dicht beieinander, dass bestimmt viel mehr als 14000 Radsportfans im Inneren waren. Draußen warteten jubelnde Engländer an den Absperrgittern, sie winkten uns zu und feuerten uns an. Drinnen waren das Geschrei und der Jubel der enthusiastischen Menge surreal laut, wir alle empfanden das teamübergreifend als fantastisch. Weil es in dieser Form und Lautstärke außergewöhnlich war. So etwas hatte keiner von uns zuvor erlebt.
Am 5. Juli selbst stimmte jedes Detail. Kate, William und Harry waren kurz vor dem Start neben dem Harewood House in Leeds ganz vorne zu sehen. Die Herzogin schnitt die Schnur durch, hinter der wir Radprofis uns versammelten. Vorher hatte es noch eine Ansprache gegeben, dass wir uns um Himmels willen bloß ordentlich benehmen sollten im Umfeld und im Schatten der Royals. Und dann begann der wohl spektakulärste Tag, den ich je im Rahmen eines Radrennens erleben durfte. Vor dem ersten Pedaltritt übermannten mich Nervosität und Hochspannung, weil ich einer der Favoriten auf den Tagessieg war und weil ich hier, in England, in Yorkshire, auf meinen großen britischen Sprinterrivalen Mark Cavendish treffen würde, dessen Mutter obendrein noch in der Nähe des Zielortes in Harrogate wohnt.
Diese Zuschauermassen. Das konnten wir nicht fassen. Schon während der neutralen Einrollphase, die im Zentrum von Leeds begann und vor Harewood House endete, standen die Menschen links und rechts von uns in riesigen Mengen auf den Bordsteinen, einige Zuschauer hatten sich auf Ampelmasten und Bäume gesetzt, ihre Beine baumelten über uns. Und aus den Häusern der im Tour-de-France-Look mit gelben Fahrrädern und blau-weiß-roten Wimpeln geschmückten Straßen winkten uns die Menschen beinahe schon hysterisch zu. Was war hier bloß los?
Das alles führte dazu, dass die Luft in Leeds vibrierte, wie sie noch nie bei einem Start der Tour de France vibriert hatte. Das bestätigen alle meine Kollegen, die dabei waren und zuvor schon mehrere Male einem Grand Départ des größten Radrennens der Welt beigewohnt hatten. Es war phänomenal. Episch. Etwas für die Geschichtsbücher dieses Rennens.
Und so ging es weiter. Der überfüllte Buttertubs-Pass ist ja nur ein winziger Ausschnitt einer phänomenalen Ansammlung von Radsportenthusiasten an diesem Samstag.
Zwei Kilometer vor dem Ziel, das Feld ist kompakt beisammen, das Finale hat schon richtig begonnen, müssen wir ein steiles Stück auf der ohnehin ansteigenden Straße meistern. Koen de Kort ist vor mir, er hält mir den Weg in diesem Anstieg frei, ich trete schon mit voller Kraft, um bloß nicht den Anschluss zu verlieren. Einmal habe ich mich umgeschaut und auch mal nach oben geblickt, um den Rennverlauf zu verstehen – da sehe ich wieder Menschen auf Ästen sitzen, die über die Straße reichen. Dazu herrscht infernalischer Lärm. Das, was unsere sportlichen Leiter uns über die Kopfhörer mitteilen wollen, ist längst nicht mehr zu verstehen, dazu wummert es in der Luft, als hämmerte ein gigantischer Bass aus überdimensionierten Boxen. Ich spüre, wie die Aufregung dieser Menschenmenge auf mich überschwappt, die Zuschauer wissen ja, dass wir um alles fahren, um den Sieg, um das Gelbe Trikot, um unser Leben. Und sie hoffen auf ihren Matador, auf Mark Cavendish, das reißt sie mit. Uns natürlich auch. Und auf einmal fällt es mir leichter, im schweren Gang die Steigung hinaufzujagen.
Auf dem letzten Kilometer gibt es einen Angriff von Fabian Cancellara, dem viermaligen Zeitfahr-Weltmeister und Klassiker-Champion aus der Schweiz. Das ist ein heftiger Antritt, Cancellara hat schnell einen satten Vorsprung. Gleichzeitig haben sich schon die Sprintzüge von Cavendishs Omega-Pharma-Quick-Step-Team, von André Greipels Lotto-Belisol-Mannschaft und von meiner Giant-Shimano-Auswahl gruppiert. Doch mit Cancellaras Antritt wird es chaotisch und unübersichtlich. Ich sehe nur, dass wir nun auf einer Straße rasen, die einem begradigten Fluss gleicht, wobei links und rechts Deiche aus Menschenkörpern herausragen.
Gut 300 Meter vor dem Ziel können wir Cancellara stellen. Ich bin glänzend positioniert am Hinterrad von Koen de Kort, der sich an jenem Samstag im Juli selbst übertrifft und mich großartig in Zielnähe chauffiert. Dann aber knallt es im Feld, mitten im schon längst begonnenen finalen Sprint. Cavendish, offenbar deutlich übermotiviert, rammt mit seiner linken Schulter in dem verzweifelten Bemühen, schneller nach ganz vorne zu kommen, den Australier Simon Gerrans. Mit der Folge, dass beide hart auf dem Asphalt aufschlagen. Ein Massensturz kann gerade noch vermieden werden. Ich bekomme davon nur wenig mit, denn der Sturz ereignet sich auf der linken Seite der Straße, ich rase hinter Koen her, der sich rechts einsortiert hat.
Kurz darauf bin ich auf mich allein gestellt, kein Kollege kann mir mehr helfen, das Ziel kommt immer näher, die Tonlage wird immer lauter und schriller. Die Stimmung baut sich auf, als stünde eine Explosion bevor. Und dann, 150 Meter vor dem Ziel, weiß ich, dass nun meine Sekunde kommt. Vor mir sind nur noch der Slowake Peter Sagan und, etwas überraschend, der Litauer Ramunas Navardauskas. Der Weg ist frei, ich fahre 60 Meter im Windschatten von Sagan, dadurch kann ich noch ein bisschen Kraft sparen. Dann jage ich nach vorne, bin plötzlich allein im Wind, ich hämmere auf meine Pedalen im höchsten Gang, die Ziellinie, eben nur verschwommen zu erahnen, ist plötzlich real und direkt vor mir. Links und rechts weder Sagan noch Navardauskas, es reicht! Ich kann mich aufrichten und jubeln. Sieg.
Die Lautstärke entlädt sich während meiner Zielpassage in einem finalen Mega-Kreischen des Publikums, das ich immer noch im Ohr habe. Mir schießt es durch den Kopf: Ich habe gewonnen. Die erste Etappe. Es ist wahr. Dazu das Gelbe Trikot. Vor dieser Kulisse. Meine Gefühlslage wechselt von zurückhaltend-vorsichtig zu einer außerhalb jeder Norm liegenden Glückseligkeit. Ich jubele nicht nur, ich schreie.
Wenn ich jetzt noch mal die Fotos von diesem Triumph betrachte, die Arme nach links und rechts ausgebreitet, sieht es so aus, als würde ich von einem riesigen, unsichtbaren Druck erlöst. Denn der war enorm, der Kampf Kittel gegen Cavendish und auch gegen Greipel, meinen deutschen Konkurrenten, hatte die Vorberichterstattung der Tour in den beiden vergangenen Tagen beherrscht. Für mich war es doppelt herausfordernd, denn ich war einer der Favoriten in Harrogate, und ich war auch eine Art Titelverteidiger. Denn ein Erfolg am Ende der ersten Etappe der Tour de France und die Eroberung des Gelben Trikots waren mir schon im Vorjahr auf Korsika gelungen. Dass ich diesen Coup nun wiederholen konnte, zeigte mir, dass ich nicht nur dem Druck der Erwartungen und einem medialen Kleinkrieg trotzen konnte, sondern vor allem, dass ich definitiv angekommen war im elitären Kreis der allerbesten Sprinter der Welt. Ich war so stolz wie noch nie zuvor. Auf mein Team, darauf, dass wir gemeinsam diese schwere Aufgabe gemeistert haben, auf alle Helfer im Hintergrund – und auch auf mich, denn ich hatte schon eine Menge von Erwartungen mit im Gepäck, gewiss nicht nur meine eigenen.
Es hatte sich letztlich als genau richtig erwiesen, dass wir uns im Frühjahr die Strecke angeschaut haben, auch wenn das Wetter damals so furchtbar war. Ich wusste, was auf mich zukommt. Und das gesamte Team wusste zudem, wie wir die Anforderungen auf den letzten Kilometern zu bewältigen hatten. Ich konnte dem Start deutlich ruhiger und mit großer Sicherheit entgegenblicken. Ich war bestens vorbereitet.
Nicht nur für mich, sondern für alle meine Kollegen war das, was wir an jenem 5. Juli 2014 im wahrsten Sinne erfahren haben, gigantisch. Und jetzt, wenn ich daran denke, bin ich emotional so berührt wie damals, als wir Profis uns vor und während des Rennens immer mal wieder unsere Arme zeigten, auf denen sich stets aufs Neue eine Gänsehaut bildete.
In Harrogate fühlte sich mein Tagessieg nicht nur wegen der Bestätigung meines Triumphs aus dem Vorjahr besonders an, sondern vor allem auch wegen der Umstände im Zusammenhang mit der Siegerehrung. Denn inzwischen waren die Royals im Zielbereich angekommen. Ich traf Kate, William und Harry hinter dem Podium, sie freuten sich mit mir und gratulierten sehr höflich. Es erfolgte vonseiten der Tour und einer royalen Begleitung eine Einweisung für mein Verhalten auf dem Podium: „Nicht die Herzogin küssen, wenn sie Ihnen das Gelbe Trikot anzieht.“ Den Dress überstreifen ja, mehr aber geht nicht. Ich weiß noch, dass Kate sehr, sehr gut gerochen hat. Und dass ich William zugeblinzelt habe, weil er viel größer ist, als man so glaubt. Deshalb habe ich auch gar nicht daran gedacht, aus dem Protokoll auszuscheren und Kate ein Küsschen zu geben.
William überreichte mir danach das Grüne Trikot, das ist für den punktbesten Fahrer reserviert, der ich ebenfalls war. Insgesamt drei Mal wurde ich auf das Podium in Harrogate gebeten, denn für den Tagessieg durfte ich ja auch noch mal die höchste Stufe des Podests erklimmen. Was für ein Tag.
Dieser Erfolg, dieser Sprint Royal vor den Royals, verbunden mit der Eroberung des Podiums, war für mich der Höhepunkt meiner Karriere als Radprofi. Diese Karriere dauerte insgesamt neun Jahre, von 2011 bis 2019. Es war ein prägender und sehr lehrreicher Abschnitt für mein gesamtes Leben, diese Zeit half mir auch, mich besser zu verstehen und zu erkennen, was ich im Leben brauche und was nicht, wann ich am stärksten sein kann und was sich negativ auf mein Gemüt und damit auch auf meine Leistung auswirkt. Denn im Sommer 2014 mag ich den Höhepunkt meiner Karriere erlebt haben, exakt ein Jahr später jedoch war ich an einem Tiefpunkt angelangt. 2015 hatte ich mit gesundheitlichen Problemen und einer persönlichen Krise zu kämpfen, meine Form stellte sich nicht ein – und ich wurde nicht für die Frankreich-Rundfahrt nominiert. Obwohl ich in den beiden Jahren zuvor dort acht Etappen gewonnen hatte.
Aber ich habe dieses Tief aufgearbeitet und bin gestärkt aus ihm hervorgegangen. In den beiden folgenden Jahren gewann ich für ein anderes Team noch mal sechs Etappen bei der Tour, ich war wieder ganz oben. Nur um nach einem weiteren Wechsel der Mannschaft erneut in eine Krise zu stürzen, die mich dann, 2019, zum Rücktritt bewogen hat. Ich hatte ja alles gezeigt: dass ich mit Druck umgehen kann, dass ich ein Champion bin, dass ich zurückkommen kann, dass ich akute Phasen der Baisse aktiv aufgearbeitet und nicht ignoriert hatte. Dass ich in der Lage bin, Widerständen zu trotzen, dass ich auf die Kraft einer Mannschaft gesetzt habe, also Erfolge nicht nur für mich reklamiert, sondern sie mit dem gesamten Team geteilt habe.
Ich habe eine ganze Menge Gutes und phasenweise Schlechtes erlebt, alles in allem genug, um mit meinen Erfahrungen ein Beispiel dafür sein zu können, wie die Karriere eines Radprofis verlaufen kann. Ich habe erlebt, wie wichtig es ist, dass das Umfeld einen Fahrer versteht und dass ein Profi immer darauf bestehen sollte, dass sich beide Parteien möglichst viel Mühe dabei geben, sich mit aller Offenheit zu begegnen, um leistungshemmende Faktoren auszuschließen. Man muss sich gegenseitig annehmen und akzeptieren, sonst kann der beste Fahrer der Welt keine Leistung bringen.
Davon, wie sich all das bei mir entwickelt und gefügt hat, wer ich bin, wie ich bin und wie ich wurde, was ich während und nach meiner Karriere bin, davon möchte ich nun erzählen.
Stephan Klemm
Jubel auf der Zielgeraden – diesmal ohne Rad
Am französischen Nationalfeiertag des Jahres 2019 macht die Tour de France Station in Brioude, einer pittoresken Kleinstadt in der Auvergne. Die für Fernsehen und Rundfunk arbeitenden Menschen in der Technikzone dieser Wanderbühne haben sich in den üblichen Mittags-Siesta-Modus begeben. Die Arbeit ist fürs Erste erledigt, die Übertragungswagen stehen an ihren Plätzen, viele Kilometer Kabel sind verlegt, die Reporterkabinen eingerichtet, und die Radprofis, für die diese Kulisse aufgebaut worden ist, erreichen die gleich nebenan aufgemalte Ziellinie der neunten Etappe an diesem 14. Juli frühestens in fünf Stunden. Es ist also Zeit für Entspannung und Muße. Und die nehmen sich die Leute auch, sie schlummern in Liegestühlen, sie lesen oder sie sitzen mit Kollegen an Esstischen.
Auf einmal taucht in diesem sonnendurchfluteten Bereich ein großer blonder Mann mit beigen Bermudashorts und hellblauem Leinenhemd auf und provoziert ein Raunen, das einhergeht mit einer ganzen Menge Fragen: Ist das nicht dieser Sprinter? Dieser Deutsche, der gerade eine Pause einlegt? Der vor zwei Jahren gleich fünf Etappen gewonnen hat? Ist das nicht Marcel Kittel?
Als er erkannt wird von den Fernseh- und Radiojournalisten aus Frankreich, den Niederlanden, aus Belgien, Großbritannien, Kolumbien und den USA, ist die Aufregung groß, ein Summen und Murmeln setzt ein, Hektik bricht aus, die Neugier steigt – und noch mehr Fragen kommen auf: Was macht der denn jetzt hier? Ist das ein Hinweis auf sein Comeback?
Marcel Kittel hatte gut zwei Monate zuvor, am 9. Mai, bekannt gegeben, seinen Vertrag mit dem Katusha-Alpecin-Team aufgelöst zu haben, mitten in der Saison, nach langen Sitzungen mit sich selbst und seiner niederländischen Frau Tess von Piekartz, die gefüllt waren mit kreisenden Gedanken voller Zweifel und Überlegungen, was sich an seiner Gegenwart für ihn so verbessern lässt, dass er in der Zukunft etwas davon hat. Leicht gemacht hatte sich dieser sehr reflektierte Radprofi aus Thüringen die Entscheidung, sich zunächst einmal vom Rennbetrieb zurückzuziehen, gewiss nicht. Seine Überlegungen mündeten in drei zentralen Sätzen: „In den letzten zwei Monaten hatte ich das Gefühl, erschöpft zu sein. Momentan kann ich nicht auf höchstem Niveau trainieren und Rennen fahren. Aus diesem Grund habe ich beschlossen, mir eine Pause zu nehmen, über meine Ziele nachzudenken und einen Plan für meine Zukunft zu machen.“
Nun aber taucht Kittel wieder auf, mittendrin, bei der Tour, bei der er 14 Etappensiege feiern durfte, dem Rennen, in dem er das Gelbe und Grüne Trikot getragen hat. Und das ihn berühmt gemacht hat in Frankreich, den Niederlanden, Belgien, Großbritannien, Kolumbien, den USA und natürlich in Deutschland, bei dessen übertragendem Sender ARD er zu Gast ist, um bei deren Radiostationen und beim Fernsehen seine Gedanken zu erläutern. Denn noch hat er sich nicht zu seiner Zukunft geäußert. Setzt er seine Karriere mit Beginn des neuen Jahres fort? Tritt er zurück? Was hat er vor?
Die ARD kann diesen Besuchs-Coup nicht im Ansatz für sich behalten, dafür sind Marcel Kittel und seine Etappensiege im Sommer 2019 noch zu präsent und die Rätsel um seine Pläne zu groß. Weil immer neue Interviewanfragen bei der ARD-Tour-Programmleiterin Gabi Bohr eingehen, entschließt sich die Sendeanstalt nach der eigenen Befragung von Kittel und der Auswertung seiner Situation dazu, eine Pressekonferenz einzuberufen. Kittel spricht vor internationalem Publikum in perfektem Englisch und wiederholt entspannt, gut gelaunt mit dem ihm eigenen freundlichen Kittel-Lächeln und -Charme das, was er zuvor dem ARD-Hörfunkteam, dem ARD-Tour-TV-Team sowie der Sportschau und deren Internet-Dienst erklärt hat: dass er sich noch nicht darüber im Klaren sei, ob er weitermache oder ganz aufhöre. Dass es aber wundervoll sei, wieder bei der Tour de France zu sein, der größten Messe des Radsportjahres.
Danach sollte es nicht mehr möglich sein, mit Kittel zu sprechen, Vorgabe der ARD. Doch die Fotofrage ist nicht geklärt, also frage ich Marcel Kittel, ob wir nicht zusammen an die nahe gelegene Ziellinie gehen könnten, um ein paar iPhone-Bilder zu machen. Kittel stimmt zu. Wir kennen uns schon seit 2012, als er sich im Startort Lüttich erstmals als Tour-Teilnehmer präsentiert hat. Es folgten viele weitere Treffen bei Radrennen und Gespräche am Telefon. Marcel Kittel ist mir als sehr kluger und ehrlich antwortender, reflektierter Profi aufgefallen, in Situationen des Gelingens genauso wie in den Phasen eines Leistungstiefs.
Wir erreichen die Ziellinie. Tatsächlich macht Marcel Kittel alles mit, erfüllt jeden Motivwunsch, lächelt, winkt und dreht sich nach links und rechts. Auf dem Weg zu dieser neuralgischen Stelle wird er erneut erkannt. Die Zuschauer, die sich schon jetzt auf beiden Straßenseiten postiert haben, rufen seinen Namen, fordern ihn zur Rückkehr auf, wollen Selfies mit ihm machen und Autogramme haben. Zwei Jahre ist seine Triumphfahrt bei der Tour her, im Vorjahr blieb er erfolglos – und dennoch umjubeln ihn die Menschen hier, das verursacht Gänsehaut bei Kittel: „Das ist schon der Wahnsinn. Und cool.“
Die Ziellinie zu sehen – das habe ihn berührt und emotional gepackt. Wir passieren das Siegerpodium, die simple Frage: „Und?“ beantwortet Kittel gerührt: „Das ist heftig, das alles wiederzusehen. Und schön. Ach was, das ist geil.“
Diesmal erkennen ihn die Menschen, die rund um das Podest arbeiten, sie wünschen ihm viel Glück und alles Gute und geben ihm zu verstehen, wie froh sie sind, ihn endlich wiederzusehen. Und dann kehrt Kittel zurück in die Technikzone, dort empfangen ihn erneut die fragenden Blicke des Journalistentrosses.
Das alles war für mich die Bestätigung dessen, was ich schon ahnte und nach meinen Begegnungen mit Marcel Kittel gespürt habe: dass es sich um einen ganz besonderen Menschen handelt, beliebt sowieso, aber dass er auch eine Person ist, deren scharfsinnige Aussagen zum Nachdenken anregen. Dass er obendrein eine spannende Geschichte zu erzählen hat, deren Inhalt nicht nur für Radsportfans von Interesse sein könnte. Denn Marcel Kittel war schon einmal nach herausragend erfolgreichen Jahren an einem solchen Punkt seiner Karriere angelangt, als nichts mehr zu gehen schien. Das war 2015.
Kittels Weg vom Nachwuchsfahrer, der bereits mit 17 als Junioren-Weltmeister im Zeitfahren auf sich aufmerksam machte, hinauf zum König der Tour-Sprinter 2017 mit seinen fünf Etappensiegen in einem Sommer ist eine außergewöhnliche Geschichte. Richtig spannend wird sie gerade dadurch, dass Kittel 2016 nach einer großen körperlichen und mentalen Krise des Jahres 2015 wieder zurückgekehrt ist an die Spitze seines Fachs. Doch die Jahre 2018 und 2019 brachten ihn erneut so sehr an seine Grenzen, dass er sich zum Rücktritt entschloss.
Wir haben im Rahmen unserer vielen Gespräche, die der Entstehung dieses Buches vorausgegangen sind, auch über diesen Tag und seine Umstände gesprochen. Die Tour, diese reibungslos laufende Maschine, mal von der anderen Seite gesehen zu haben, als Experte für Radio und Fernsehen, habe ihn beeindruckt und ihm viel gegeben, erzählt Kittel. Er habe sich testen wollen, „was alles mit mir passiert, wenn ich bei der Tour bin“, sagte er. Jetzt berichtet und ergänzt er das, was er damals noch nicht ausgesprochen hat: „Es war alles sehr spannend und interessant bei meinem Tour-Besuch. Aber das hat mich nicht so gekickt, dass ich sagen würde, das will ich noch mal als Aktiver erleben. Zu diesem Zeitpunkt, das habe ich gemerkt, war ich geheilt von der Tour. Meine Entscheidung war in Brioude fast schon gefallen.“ Die Entscheidung, die er so lange hinausgezögert hatte, verkündete er am 23. August 2019: Abstieg vom Rad. Er hört auf. Karriere-Ende mit 31 Jahren, nach 89 Profisiegen seit 2011. Er konnte nicht mehr.
Kittels Erlebnisse gehören zu den spannendsten Geschichten der gegenwärtigen Radsportwelt. Wir beide haben daraus das Projekt entwickelt, seine Story in allen Facetten aufzubereiten. Verbunden mit Marcel Kittels großem Wunsch, tiefe und persönliche Einblicke in das Leben eines Radsportlers zu gewähren, das Glück, das es mit sich bringt, und die Sorgen, Krisen und Ängste, die es auch provoziert.
Kapitel 1
Student in Konstanz
In seiner Zeit als Profi war Marcel Kittel einer der besten Sprinter in der Welt des professionellen Radsports. Die ihm gegebene Fähigkeit, mit den Wattzahlen eines Kraftwerks der Ziellinie mit über 70 Stundenkilometern entgegenrasen zu können, war sein Markenzeichen und oft genug ein Garant für Triumphe. Nach dem Jubel auf dem Rad trat Kittel mit Charme und Charisma auf, locker in den Siegerinterviews und viel lächelnd, während er besonnene Antworten gab. Das alles gemischt mit seiner äußeren Erscheinung – blond, blauäugig, fast 1,90 Meter groß – verlieh ihm die Aura eines Siegers.
Doch dieses Leben, seine insgesamt 89 Erfolge, seinen Sport, sein Dasein als Profi hat Kittel nun hinter sich gelassen. Lange Ausflüge mit dem Rennrad unternimmt er immer noch, aber nur noch dann, wenn er es möchte, und nicht, weil er es muss. Die Prioritäten in seinem Leben haben sich eben verschoben. Anstelle des von klein auf Gewohnten traten neue Dinge: Familie, Studium, neue Jobs – kurz das richtige Leben.
Von meiner Wohnung in Kreuzlingen ist es nicht weit bis hinunter an den Bodensee. Dort gibt es einen Grillplatz, viele Biergärten und vor allem eine fabelhafte Aussicht von der Schweiz auf das deutsche Ufer und die Stadt Konstanz. Zu sehen ist dort ein großer Schornstein und gleich rechts daneben die Universität der Stadt, mein Studienort.
Seit dem Wintersemester 2019/2020 bin ich in Konstanz für das Fach Wirtschaftswissenschaften eingeschrieben. Das Thema hat mich immer schon interessiert, weil ich den Wunsch habe, einmal selbstständig zu arbeiten.
Der Weg von meiner Wohnung zur Uni ist nicht sehr idyllisch, mit dem Fahrrad jedenfalls habe ich die Strecke noch nicht zurückgelegt, viel zu weit. Dafür nehme ich den Bus oder mein Auto. So schnell verschieben sich also die Prioritäten bei der Wahl des Fortbewegungsmittels. Doch das passt ins Bild meines neuen Lebens. Inzwischen beschäftige ich mich nicht mehr mit Ernährungstabellen oder Trainingsplänen, sondern mit dem Lernen der wirtschaftlichen und mathematischen Grundlagen der Wirtschaftswissenschaften.
An der Uni bin ich, als Vertreter des Jahrgangs 1988, deutlich älter als die Studierenden, die gleich nach dem Abitur oder kurz danach den Weg ins Studium gefunden haben. Neben meinen vielen 18- bis 19-jährigen Kommilitonen steche ich aus der Masse heraus, auch wenn ich mich nicht als alt bezeichnen würde und mich erst recht nicht so fühle. Das klassische Studentenleben erlebe ich zwar nicht, aber trotzdem sitze ich oft wie meine Kommilitonen morgens übermüdet in der Vorlesung. Ich habe allerdings die Nacht nicht in Studentenklubs durchgefeiert, sondern in dieser Zeit eher Windeln gewechselt. Denn kurz nach meinem Einstieg ins Studentenleben wurde ich Vater, Lex wurde am 2. Dezember 2019 geboren.
Hin und wieder hat mich meine Frau Tess mit dem Kleinen auch mal an der Uni besucht. Wir sind dann gemeinsam in die Mensa gegangen, wo es für junge Familien wie uns eine speziell eingerichtete Ecke gibt. Insgesamt hat mir das alles das Gefühl eines guten Starts in mein neues Leben vermittelt, in dem zwar das Rennrad weiterhin eine Rolle bei meinen Freizeitaktivitäten spielt. Aber es steht nicht mehr im Mittelpunkt meines Lebens, wie es das bis April 2019 tat, als ich noch ein Profi war. Es ist schon eine verrückte Vorstellung, dass ich ein halbes Jahr nach meinem letzten Rennen als Berufsfahrer in der Uni-Bibliothek saß, Lerninhalte nachschlug, Bücher las oder Aufgaben löste. Mit diesem Schritt machte ich mir selbst ganz deutlich, dass ich ein wichtiges Kapitel meines Lebens abgeschlossen hatte. Ich fühlte mich sehr wohl dabei. Das änderte sich bei mir auch nicht mit der coronabedingten Verlegung des Uni-Lebens vom Campus ins Homeoffice. Auch dort bin ich voller Leidenschaft dabei.
Mein Leben hat sich nach meinem offiziell verkündeten Rücktritt im August 2019 schon sehr deutlich verändert. Für mich steht nun ganz klar und mit oberster Priorität die Familie im Zentrum meines Lebens, nicht mehr der Sport. Tess, Lex und seine am 12. Mai 2021 geborene Schwester Lizzy vervollkommnen unser gemeinsames Glück. Außerhalb dieser Kittel-Blase bin ich allerdings durchaus aktiv. Neben meinem Studium bin ich Repräsentant für Rose-Bikes sowie für den schottischen Radbekleidungshersteller Endura und die Firma Sigma-Sport, die Radcomputer und -beleuchtung herstellt. Außerdem bin ich Experte für das ZDF und Botschafter der Deutschlandtour. Das ist schon mal eine Menge und alles wie geschaffen für mich. Zumal sich meine Leidenschaft für den Radsport und das Radfahren mit meinem Karriere-Ende ja nicht gelegt hat. Ich bin froh, dass sich das alles verbinden lässt.
Und manchmal, wenn ich daran denke, fühlt sich meine Zeit auf dem Rad an wie der Ausflug in eine schon ganz lange beendete Epoche in meinem Leben. Das ist unglaublich.
Kapitel 2
Neue Freiheit, neues Erleben, neue Leidenschaft – was mir der Radsport und das Rennrad bedeuten
Die Rennräder, die Profis fahren, sind ganz besonders wertvolle Ausrüstungsgegenstände, deren Entwicklung Jahr für Jahr voranschreitet. Mittlerweile surren die Ketten beinahe lautlos, die Schaltung funktioniert bei Bedarf elektronisch, der Rahmen ist aus leichtem, aber stabilem Karbon, und gestoppt werden die Räder in der Regel nicht mehr von Klötzen, die an die Felgen reiben, sondern von Scheibenbremsen, die sich immer mehr durchsetzen. Bis zu 12000 Euro kostet so ein Wettkampfrad, und es ist klar, dass Profis diese Maschinen rücksichtsvoll behandeln. Viele Fahrer erblicken zudem einen tieferen, metaphysischen Sinn in ihrem Sport und dem dazugehörigen Rennrad, das für sie mehr ist als ein Fortbewegungsmittel, sondern, wie im Fall von Marcel Kittel, der Ausdruck von Freiheit. Ein Gefühl, das er erstmals an einem heißen Augusttag des Jahres 2001 wahrgenommen hat, irgendwo in Thüringen. Kittel war damals 13 Jahre alt.
Der besondere Moment, da es geschah, dass ich ein Radsportler geworden bin, hat etwas auf sich warten lassen. Eigentlich war alles dafür geebnet, es schien nahezuliegen, dass der Sohn des Radsportlers Matthias Kittel auch den Weg in dieses Metier findet. Doch das Naheliegende ist manchmal nicht gleich sichtbar.
Dass mein Vater regelmäßig auf dem Rennrad gesessen und fleißig trainiert hat, habe ich durchaus wahrgenommen. Das ist mir vor allem aufgefallen, wenn er an einem vermeintlich entspannten Sonntagmorgen um acht Uhr bei Nieselregen losgefahren ist – unter Verzicht auf ein Frühstück mit uns, seiner Familie. Da habe ich mich schon gefragt, wie er darauf nur Lust haben kann. Ich erinnere mich auch noch an die Geschichten, die er aus alten Zeiten erzählt, der Urgewalt, die er bei seinen Rennen in den 1980er-Jahren erlebt hat, als er gegen die DDR-Radsportamateure Olaf Ludwig, Mario Kummer oder Uwe Raab gefahren ist. Diese drei Männer waren Stars des Ostens. Nach der Wende haben sie den Sprung zu den Profis geschafft, mit großem Erfolg sogar. Mein Vater musste im Frühjahr 1984 mit gerade einmal 23 Jahren seine Karriere beenden. Eine Mikronarbe im Gehirn, die er sich als Kleinkind bei einem Sturz von einem Tisch zugezogen hatte, verursachte bei ihm als Leistungssportler gelegentlich heftigste Kopfschmerzen. Zweimal ist er bei extremen Bedingungen im Rennen umgefallen. Noch im Frühjahr 1984 fuhr er seinen besten Leistungstest, hat dann aber wegen seiner Vorgeschichte aufgehört, um zu studieren.
Diese Zeit hat meinen Vater sehr geprägt. Der Radsport hat ihn bis heute nicht losgelassen. Nach seiner Karriere als Leistungssportler in der DDR hat er sich als großer Fan stundenlang Etappen des Giro d’Italia und der Tour de France im Fernsehen angesehen, dazu alles, was sonst noch mit Radrennen zu tun hatte. Für mich war das nichts. Nach zehn Minuten fand ich das als vielleicht Zehnjähriger schon extrem langweilig. Bei meinem Vater jedoch ging das so weit, dass er sogar während unseres Dänemark-Urlaubs 1997 zusammen mit meinen Onkeln vor dem Fernseher hockte, um Jan Ullrich zum Tour-Sieg zu schreien. Auf mich haben diese Erwachsenen wie Radsportzombies gewirkt. Wir als mitgereiste Kinder spielten lieber draußen – bei herrlichem Sonnenschein. Die Radsportwelt war für mich ein anderer, exotischer Planet.
Von meinem Vater wurde ich also nicht in einer Art ritueller Sportlertaufe auf ein Rennrad gesetzt und nach vorne geschubst. Er hielt sich an einen seiner Grundsätze und versuchte, meinen Bruder Martin und mich nicht zu überreden, seine Leidenschaft mit ihm zu teilen.
Mein Desinteresse am Radsport bedeutete aber nicht, dass ich nicht sportlich war. In der Grundschule gehörte ich im Fach Sport zu den Besten. Dieses Können war die Grundlage dafür, einen fast fließenden Übergang in den Leichtathletikverein SG Motor Arnstadt zu finden, bei dem meine Mutter Elke beste Kontakte zu Trainer Hubertus Triebel unterhielt, wobei ich auch von Falko Becher trainiert wurde. Irgendwohin musste meine ganze Energie ja entweichen. Leichtathletik ist ein perfekter Ort dafür, weil es so viele verschiedene Disziplinen gibt, an denen man sich versuchen kann und die dazu geeignet sind, sich komplett auszutoben. Mir lagen von Anfang an die Disziplinen, für die Schnellkraft nötig ist: 50 Meter Sprint, 60 Meter Hürden, Staffellauf, Weitsprung und Hochsprung. Ausdauersport und die dafür nötige Neigung zur Selbstfolter waren überhaupt nichts für mich. Was für eine Ironie des Schicksals, dass ich den Hauptteil meiner Karriere als Profisportler im härtesten Ausdauersport der Welt verbracht habe, auf dem Rad. Vielleicht hat mir aber dafür genau der frühe Fokus auf die Disziplin Sprint in der Leichtathletik geholfen.
Nach einer Weile gehörte ich in meiner Altersklasse zu den Schnellsten auf der Tartanbahn in Thüringen. Ich hatte das Glück, neben meinen physischen Möglichkeiten auch noch eine gewisse psychische Stärke zu besitzen – und die Kombination dieser Fähigkeiten bescherte mir eine Reihe von Siegen. Gerade die Augenblicke, während ich im Startblock hing und auf das Signal des Kampfrichters und seinen anschließenden Startschuss wartete, waren pure Aufregung und faszinierender Nervenkitzel für mich. Bloß nicht zucken, um keinen Frühstart hinzulegen – darum ging es. Wenn der Startschuss dann fiel, lagen zehn Sekunden voller Kraft in Richtung Ziel vor mir, die Konkurrenten waren in meinen Augenwinkeln sichtbar. Zwischen uns lagen nur Millimeter. Großartig war das. Solche engen Rennen haben mir einen riesigen Spaß bereitet.
Ich muss letztlich sehr überzeugend bei dem gewirkt haben, was ich im Training und im Wettkampf so zeigte, denn ich erhielt gleich zweimal eine Einladung, an das Erfurter Pierre-de-Coubertin-Sportgymnasium zu wechseln, die ich jeweils ablehnte. Ein Grund für die Absage war, dass ich spürte, dass die Leichtathletik nicht wirklich meine größte Leidenschaft war. Mir wurde das Training zu langweilig, das war 2001, da war ich 13 Jahre alt.
Meine Mutter Elke war früher Hochspringerin, sie war eine begeisterte Leichtathletin, und ihr beichtete ich als erster Person, dass ich nicht mehr zum Training gehen wollte. Das nahm sie sehr erstaunt, aber widerspruchslos zur Kenntnis. Ich aber stand zu meiner Entscheidung und fand es faszinierend, plötzlich von der Pflicht befreit zu sein, das Immergleiche scheinbar freiwillig zu erledigen. Erledigen zu müssen. Das war die Empfindung. Denn das Training hatte durchaus etwas Zwanghaftes. Ich ging hin, weil ich es immer so gemacht hatte. Aber warum es diesen Automatismus gab, das wusste ich plötzlich nicht mehr. Spaß jedenfalls hatte ich zuletzt keinen mehr empfunden beim Sprinten auf der Bahn. Und das war keine gute Basis für eine Beschäftigung, mit der ich meine Freizeit verbrachte. Ich brauchte Abstand. Und ging nicht mehr zum Training. Die neue Freiheit nutzte ich im folgenden Sommer aus: Treffen mit Freunden. Erlebnisse. Abenteuer. Ich war oft im Freibad mit meinen Kumpels.
In den Sommerferien 2001 unternahmen meine Eltern, mein Bruder und ich eine Ferienreise nach Tirol. Es war ein schöner Urlaub, weil auch meine Tanten und Onkel mit ihren Kindern dabei waren. Das aufregendste Erlebnis in dieser Tiroler Zeit war ein Erdbeben der Stärke 5,7 in unserer direkten Umgebung. Zum Glück passierte uns allen nichts, allerdings hatte unser Ferienhaus einen riesigen Riss in einer Außenwand.
Auf dem Heimweg standen wir vor einem Tunnel eine Stunde im Stau. Ich saß neben meinem Vater auf dem Beifahrersitz, wir hatten alle Langeweile. Plötzlich überkam mich der Wunsch, meinen Vater nach einem Rennrad zu fragen. Als Sportgerät. Offenbar war ich neugierig darauf, zu erfahren, was mein Vater da so machte, denn auch im Urlaub hatte er fast jeden Tag auf dem Rad gesessen. Kurioserweise entwickelte sich mein Wunsch, es mit Radfahren zu versuchen, als ich meinen Vater bei seinen Einheiten in den Bergen beobachtete. Ein Terrain, das sich später als mein natürlicher Feind herausstellte. Als ob das Schicksal Sarkasmus mag. Aus den Gedanken, die ich mir bei der Beobachtung meines Vaters so machte, ergab sich eine Frage, von der ich nicht ahnte, dass sie mein Leben verändern würde: „Papa, könntest du mir vielleicht ein Rennrad besorgen?“
Mein Vater wurde von meinem Rennrad-Wunsch überrascht, wahrscheinlich sogar überrumpelt. Die Frage kam für ihn aus heiterem Himmel, ohne irgendein Vorzeichen von meiner Seite. Seine Reaktion war eine Mischung aus Begeisterung und dem Versuch, diese Freude bloß nicht zu sehr zu zeigen. Er wusste ja viel besser als ich, dass ich es sehr schnell wieder sein lassen könnte mit dem Radsport, sobald meine naive Vorstellung vom Radfahren bei Rückenwind und Sonnenschein auf die Realität prallen würde, in der es häufig auch mal regnete und in der der Wind bisweilen heftig von vorne blies. Hinzu kam eine Spur väterlichen Schutzinstinkts. Er wusste ja, wie fordernd dieser Sport sein kann. Das änderte aber nichts an der Tatsache, dass er sofort seinen besten Freund Michael Beckert anrief, einen seiner Gefährten aus Radsportzeiten, um ihn zu fragen, ob er mir ein gebrauchtes Rennrad besorgen könne.
Diese Anfrage hatte höchste Priorität. Denn mein Vater war stolz darauf, endlich alles in Bewegung setzen zu können, um seinem ältesten Sohn die Chance zu ermöglichen, es in dem Sport zu versuchen, den er selbst so liebte. Trotz seiner anfänglichen Skepsis meinem Rennrad-Wunsch gegenüber hat mein Vater sich stets um alles für mich gekümmert. Innerhalb von Tagen besaß ich eine solide Grundausstattung mit kurzer Radkleidung, Helm, Schuhen und meinem blauen „Veto“-Rennrad mit Aluminiumrahmen. Michael Beckert im Übrigen wurde später mein Juniorentrainer. Die Radsportwelt in Thüringen ist klein.
Und so kam es, dass wir an einem heißen Augusttag im Sommer 2001 zu unserem ersten gemeinsamen Ausflug auf dem Rennrad aufbrachen, mein Vater und ich. Ich war 13 Jahre alt. Und dieser Ausflug entwickelte sich zu etwas ganz Großem für mich.
Mein erstes Jugendfahrrad war übrigens blau gewesen, und ich war sehr stolz, es zu besitzen. Mit meinen Freunden Michael und Tom war ich gerne gemeinsam mit diesem Rad unterwegs, auf kleinen Touren. Wir veranstalteten mit großer Freude spontane Wettrennen, hinten am Schwimmbad von Ichtershausen, meinem Wohnort. Wir rasten eine Straße immer wieder hoch und runter. Einmal rutschte ich dabei auf einem anderen Rad mit meinem rechten Bein von der Pedale aufs Kettenblatt. Daraus entstand die erste meiner beiden Narben, die aus meiner Anfangszeit auf dem Rad geblieben sind. Die zweite kam auf dem Schulweg nach Arnstadt hinzu, als ich spontan mit dem Rad von meinem Onkel fuhr. Ich dachte, dass es kein Problem sei, in einer Kurve an der Bremse zu ziehen. Es war aber doch ein Problem. Ein richtiger Anfängerfehler. Denn mein Onkel hat die Bremsgriffe verkehrt am Rad befestigt. Die Vorderbremse war rechts und nicht links angebracht. Außer meinem Onkel und meinem späteren Profikollegen Tony Martin kenne ich niemanden, der so etwas macht. Ich war völlig überrascht. Ich rutschte jedenfalls heftig, und die Folge war ein blutendes Kinn. Was sollte ich machen? Ich war alleine unterwegs und fuhr also zur Schule weiter. Dort erschreckten sich die Lehrer sehr und riefen einen Krankenwagen, der mich sofort ins Krankenhaus chauffierte.
Das Radfahren, das Erleben auf dem Sattel, die vielen Eindrücke, die auf mich einströmten – das alles faszinierte mich sofort. Die intensive, 30 Kilometer kurze Fahrt in der Augusthitze gab mir viel mehr als die gesamte Leichtathletik. Plötzlich konnte ich die Natur intensiv spüren, eine mir unbekannte und ungeahnte Weite öffnete sich vor mir, eine neue Welt mit bleibenden Eindrücken, die für mich viel mehr bedeutete als der kleine Ausschnitt einer Tartanbahn, den ich bisher mit Spikes unter den Schuhen bei meinem Training mitbekommen hatte.
Als wir beide nach dieser ersten Ausfahrt in der Hitze wieder daheim ankamen, blieb mir vor Erschöpfung nichts anderes übrig, als mich halb benommen auf die kalten Küchenfliesen zu legen und meine brennenden Beine an die Wand zu drücken. Es war der verzweifelte Versuch, Abkühlung zu finden. Gleichzeitig empfand ich die Müdigkeit, die meine Beine durchzog, als wohltuend. Eine von Endorphinen getränkte Entspannung strömte durch meinen Körper, die alle Anstrengungen vergessen ließ. Dieses Gefühl in den Beinen ist für mich heute noch einer der Hauptgründe dafür, aufs Rad zu steigen. Fortan stand für mich fest: Das alles wollte ich noch mal erleben. Und noch mal. Und noch mal. Ich wollte es mit dem Radsport versuchen.
Mich faszinierte das gesamte Phänomen, das mit dieser Sportart zusammenhängt. Draußen unterwegs zu sein, den Wind zu spüren, die Welt zu sehen, zu riechen und zu entdecken. Auf dem Rad zu sitzen, das war für mich eine Form von Freiheit: Ich allein, der Landschaft ausgesetzt. Ich musste mich auf schlechten Straßen behaupten. Gegen den Wind. Gegen hupende Autofahrer. Gegen die Launen des Wetters, das in Form von Regen, Hagel, Gewittern oder Kälte das Element der Qual in mein Leben brachte. Es war großartig.
Ich entdeckte neue Landschaften für mich, zunächst in der näheren Umgebung von Ichtershausen. Bis dahin war ich niemals selbstständig mobil gewesen. Ich war mit dem Bus zur Schule gefahren. Oder war als Mitfahrer im Auto meiner Eltern unterwegs. Bevor ich Rad gefahren bin, konnte ich das Leben draußen in der Weite nur hinter Scheiben wahrnehmen. Nun öffnete sie sich mir real, und meine Sinne bekamen Nahrung.
Später im Jahr hatte ich noch ein ganz besonderes Erlebnis auf dem Rennrad. Denn Radsportler machen auch im Winter keine Pause, zumindest dann nicht, wenn sie ihre Freizeitbeschäftigung so intensiv betreiben wie mein Vater. Er stellte mir für die kalte Jahreszeit 2001/2002 ein altes Winterrad zur Verfügung mit Schutzblech und Beleuchtung samt Nabendynamo. Es war unglaublich schwer, hatte eine Rahmenschaltung und sah sehr uncool aus. Mir wurde direkt mitgegeben: Beklag dich nicht, das ist nun mal so, also setz dich drauf und fahr, ganz egal, wie das aussieht oder wie es sich anfühlt. Bequemlichkeit gibt es nicht bei Radsportlern, es zählt vielmehr ein archaischer Dreisatz: Schweigen. Akzeptieren. Losfahren. Und, Regel vier: bloß nicht jammern. Und so saß ich gleich in meinem ersten Radsportwinter auf einem absolut nicht aerodynamischen Bock von Winterrad, mitten in der Kälte der thüringischen Weite, und zwar mit meinem Vater und seiner Trainingsgruppe, die aus lauter fanatischen Radsportkäuzen bestand, für die keine Anstrengung zu groß zu sein schien. Und die alten Männer versuchten zudem jedes Mal, irgendeinen Berg in die Trainingsrunde einzubauen, um sich gegenseitig das Leben auf dem Sattel schwer zu machen. Auch mitten im Winter.
Die Männer trafen sich in der kalten Jahreszeit vorzugsweise bei Sonnenaufgang in Traßdorf zwischen Arnstadt und Ilmenau. Während der ersten Trainingseinheiten mit diesen Veteranen musste ich feststellen, dass mein Vater berüchtigt war: Er liebte es, mit großem Kettenblatt zu fahren, er trat die dicke Mühle am liebsten mit ruhigen 60 Umdrehungen pro Minute. In diesem Drehzahlbereich habe ich später am Berg Krafttraining gemacht. Mein Vater gehörte dem eher unangenehmen Typ Trainingspartner an, der sich nichts macht aus dem Prinzip: „Auf gleicher Lenkerhöhe fahren“. Wenn er mal wieder konstant 20, 30 Zentimeter vorfuhr, war das ein Zeichen dafür, dass wir ihm eindeutig zu langsam unterwegs waren. Wenn er aber, ganz vorne fahrend, die Geschwindigkeit bestimmen konnte, legte er sein „Ekeltempo“ vor, das für uns kaum zu halten war. Es war so horrend schnell, dass wir uns beschweren mussten. Das sorgte regelmäßig für zwei Dinge in der Gruppe: Anerkennung und Frust. Ich wiederum hatte auf den 15 Kilometern Fahrt von daheim in Ichtershausen bis zum Treffpunkt der Gruppe in Traßdorf immer die große Freude, das hohe Tempo meines Vaters von Anfang an mitgehen zu müssen.
Insgesamt kamen mir die Aktivitäten meines Vaters und seiner Freunde vor wie eine Fitnessschau. Mit mir als Praktikanten. Das Ziel dieser Übung war, dass jeder dem anderen zeigte, dass seine körperliche Verfassung immer besser wurde, je mehr Tage ins Land zogen. Diese Kerle waren Gefangene ihrer Leidenschaft. Und dazu gehörte: Kilometer fressen, und zwar mit Genuss. Meinen Vater und seine Gefährten, Leute, die ich ohne Rad als normal wahrnahm, erkannte ich an diesem Wintermorgen nicht mehr wieder. Die grauen Panther drückten aufs Tempo wie junge, jagende Geparden. Schauten beseelt nach vorne. Lächelten. Waren zufrieden. Nein: glücklich. Und dieser Ausflug wurde immer anstrengender. Ich dachte mir nur: Das macht ihr als Hobby?
Bei meiner ersten Winterausfahrt in diesem Kreis schwebten dunkle Wolken über uns, es regnete in der Kälte des Morgens, aber das störte niemanden. Die Männer ließen sich von nichts irritieren, sondern ihre Ketten weiter laut surren und machten mir klar, dass wir heute so um die 90 Kilometer fahren würden. 90 Kilometer waren für mich mit 13 Jahren schon sehr viel, aber 90 Kilometer durch diesen Mist von Wetter?
Der Regen schlug bald in Schnee um, es wurde immer kälter. Ich sah, wie sich Eispanzer auf den Thermojacken meiner erwachsenen Begleiter bildeten, und an ihren Helmen klebten Eiszapfen. Gefrorene Jacken und Eiszapfen vor der Stirn! Mein Vater war so fürsorglich und überließ mir seine dicken Winterhandschuhe, weil meine Grundausrüstung bei Schneeregen nicht mehr so richtig funktionierte. Aber wir waren auf halber Strecke, was sollte ich machen? Ich hielt durch. Irgendwie.
Doch kaum waren wir wieder daheim angekommen, ging es mir sofort besser. Zumal ich mich als Held fühlte, der seine Schnee- und Eistaufe bestanden hatte. Aber auch Helden heulen manchmal leise, wenn ihre durchgefrorenen Hände und die eiskalt gefrorenen Füße in der heißen Dusche wieder auftauen. Danach legte ich mich auf die Couch, meine Mutter brachte mir einen Tee – und es fühlte sich großartig an. Nicht nur die plötzliche Wärme und Behaglichkeit, sondern die Erinnerung an das Abenteuer auf dem Rad, mitten im eiskalten Thüringen. Dieses Gefühl habe ich später häufig erlebt: dass ich die Zeit draußen mitten in einem Wetterinferno zwischenzeitlich als unerträglich empfand, aber die Erlösung später zu Hause oder im Teambus als beinahe übersinnliches Erlebnis wahrnahm. Denn wenn Körper und Geist langsam wieder zur normalen Form finden, spürst du: Das, was du da gerade erlebt hast, ist es, was den Unterschied zu allem Gewöhnlichen ausmacht. Für einen Teenager war das ein großes Abenteuer. Und dieses Abenteuer ist das, was das Erlebnis auf dem Rad zu etwas Großartigem für mich macht. Das ist das, was ich immer wieder haben möchte.
Als mein Vater merkte, dass ich da durchkomme, diesen Widrigkeiten der Natur und den Wetterextremen trotzen kann und nicht aufgebe, wusste er: Alles klar, das könnte was geben mit dem Jungen und dem Radsport. Die Winterrunde war also auch ein Test, ob die Disziplin Straßenradsport wirklich was für mich war. Mein Vater wollte mir zeigen: Du musst diese harten Momente überstehen und Widerstandskraft entwickeln. Wenn du da keine Lust drauf hast, wenn es dir zu viel oder zu kalt wird, dann musst du es sein lassen. Aber so weit ist es bei mir ja zum Glück nie gekommen. Ich kann durchaus sagen, auch wenn es paradox klingt: Ich habe es geliebt. In der Hitze. Und in der Kälte. Ja, das sollte mein Sport werden. Unbedingt.
Tatsächlich fuhr ich schon im Spätsommer und im Herbst 2001 erste Rennen, allerdings auf dem Mountainbike. Eigentlich hatte ich mich ja dem RSV Adler Arnstadt angeschlossen, auch weil mein Vater dort Mitglied war und man so klassischerweise seinen ersten Verein findet. Doch bei den Adlern gab es keine Abteilung für Straßenradsport in meiner Altersklasse. Wohl aber eine fürs Mountainbiken, weshalb ich zunächst auf einem solchen Rad Rennen fuhr, und zwar unter der Anleitung der Trainer Helmut Böttner und Jens, seinem Sohn. Hinter der auf den ersten Blick kontaktlosen Sportart Radsport steckt oft ein rohes, brutales Monster, das dir alles abverlangt im Wettkampf. Mal wegen des Wetters, mal wegen der Konkurrenten oder der Rennstrecke oder einfach, weil du in den Nahkampf mit dir selbst eintreten musst. Für jede Unaufmerksamkeit zahlst du bei einem Sturz bisweilen sogar blutiges Lehrgeld. Das hatte einerseits abschreckende Wirkung, andererseits war dieses latente Risiko für mich etwas, das meinen Sport einzigartig und faszinierend machte. Nicht, dass ich es toll gefunden hätte, zu stürzen. Aber während eines Radrennens und allen damit verbundenen Gefahren fühlte ich mich deutlich lebendiger als auf einer immer gleichen Tartanbahn im reglementierten Ein-Meter-Abstand. Hinzu kam der Wunsch, sich beweisen zu wollen mit dem Ziel, zu gewinnen. Das hat für mich beim Radsport immer mit dazugehört. Von Anfang an.
Mein Ziel war es aber, Rennen auf der Straße zu fahren. Bei einem Trainingslager in Kroatien, an dem ich auf Einladung des Thüringer Radsportverbandes teilnehmen konnte, lernte ich meine künftige Trainingsgruppe mit den Zwillingen Maximilian und Sebastian May, mit Marten Kreienbrock und Daniel Erdmann kennen. Sie wohnten passenderweise auch in Arnstadt in meiner direkten Umgebung, und sie hatten mit Erwin Erdmann sogar einen richtigen Trainer für die Straßeneinheiten. Wir trugen allerdings nicht dasselbe Vereinstrikot, denn die Jungs fuhren für den BC 07 Arnstadt.
Erwin hatte sich deshalb gleich nach unserer Rückkehr aus Kroatien dafür eingesetzt, dass ich trotzdem in seiner Gruppe trainieren und wir Radrennen gemeinsam fahren konnten. Und in den Rennen waren wir als Trainingsgruppe ein Team, nur das zählte für uns. Wir harmonierten sofort und fuhren uns gegenseitig die Sprints an. Da stellte sich heraus, dass ich über eine besondere Gabe in diesem Bereich verfügte. Ich war der Schnellste unserer Gruppe, denn ich gewann fast immer die Ortsschildsprints. Die anderen fuhren deshalb bald für mich an, und unser Teamwork machte uns erfolgreich.
Insofern war Sprinten schon mit 13, 14 Jahren ein Thema für mich. Nie im Leben aber hätte ich gedacht, dass ich damit mal Geld verdienen würde. Damals haben wir uns auch schon mit einem gewissen John Degenkolb gemessen. Ihn kannten wir, weil er im benachbarten Nordbayern für Furore sorgte. Natürlich wollten wir uns diesen Degenkolb, von dem alle sprachen, mal im Rennen anschauen. Haben wir dann auch gemacht. Und ja, ich habe ihn bezwungen. Was sollte er auch machen gegen eine Gruppe von fünf Kerlen?
Das, was wir gemeinsam erlebten, war etwas Besonderes. Menschlich vor allem, aber auch sportlich, weil wir spürten, dass unser Trainer Erwin Erdmann eine klare Linie vorgab, an der wir uns orientieren konnten. Wir haben viel gelernt, uns gemeinsam durchgesetzt und Spaß gehabt. Dadurch wurden wir immer besser. Max und Sebastian May gehören übrigens immer noch zu meinen besten Freunden.
Nach dem Training war ich immer völlig erschöpft, die Beine waren schwer, der Nacken schmerzte, Muskelkater kündigte sich an, ich hatte Hunger und habe es gerade noch auf die Couch geschafft. Doch ich fühlte mich sofort und immer wieder wie nach meinem ersten Winterausflug: großartig. Ein Gefühl tiefen Glücks durchströmte meinen erschöpften Körper. Eben weil ich es wieder geschafft hatte, eine harte Einheit zu bestehen. Das habe ich extrem genossen. Und immer wieder schoss mir dabei durch den Kopf: Ein 60-Meter-Training auf der Tartanbahn ist etwas anderes als drei Stunden durch die Natur zu fahren, mit deinem Tempo, mit deinem Willen, mit deiner Kraft. Es geht dir dabei auch mal schlecht, aber vor allem auch gut, du hältst mal beim Bäcker, stoppst für eine kalte Cola an der nächsten Tankstelle oder entdeckst wieder ein neues thüringisches Panorama. Es passiert so viel bei Touren mit dem Rennrad, mir wurde dabei jedenfalls nie langweilig.
Ich habe also auf ganz besondere Art und Weise zum Radsport gefunden. Ich hatte kein Fernseh-Erweckungserlebnis, ich habe bis heute kein Idol oder Vorbild, ich bin damals auch nicht mit Eddy-Merckx-Aufklebern auf meinem Rad durch die Gegend gefahren. Ich war schlicht neugierig und wollte mal schauen, was mein Vater da so in seiner Freizeit unternimmt.
Er hat mir übrigens auch vermittelt, was ich alles richtig und falsch machen kann auf meinem Rennrad. Das fing damit an, dass er mir erklärt hatte, welche Sattelhöhe und -position für mich die richtige war, was es bei den Klickpedalen zu beachten gab und dass ich beim Treten bloß die Knie immer an das Oberrohr zu nehmen hatte. Denn das sah nicht nur besser aus, sondern verhinderte auch später schmerzhafte Knieprobleme. Genauso wichtig war ihm, dass ich mein Rad richtig pflegte, also gut putzte und immer für ausreichend Öl auf der Kette sorgte. Dazu kamen als Ausrüstung noch der obligatorische Helm und das Ersatzzeug, wenn ich unterwegs war. Den Reifenwechsel haben wir zu Hause vorher gemeinsam geübt. Das klingt banal, waren aber am Anfang wertvolle Tipps, die mir sehr geholfen und an die ich mich immer gehalten habe.
Siege haben mich stets neu motiviert, ich wollte unbedingt wieder oben auf dem Podium stehen. Als junger Fahrer und schließlich als Profi habe ich es sehr genossen, die Anerkennung nicht nur von außen zu bekommen, durch Zuschauer, Fans oder Medien, sondern vor allem durch das Team. Das war für mich das Wertvollste am Radsport und den Wettkämpfen, die ich bestritten habe: dass wir diese Erfolge als Mannschaft erreicht haben, dass wir sie gemeinsam teilen und erleben konnten, egal, wer von uns gewonnen hatte. Wie das eine Gruppe zusammenfügt und prägt, sie zu einer Einheit wachsen lässt, die zusammenhält, sich ergänzt und hilft, das hat mich vom ersten Moment an begeistert.
Wenn du schließlich tatsächlich eine Etappe bei der Tour de France gewinnst, einem Meilenstein deiner Karriere, stehst du abends im Speisesaal des Hotels mit der ganzen Mannschaft zusammen. Du bist zwar der Sieger, aber letztlich abhängig vom Einsatz und der Zusammenarbeit des gesamten Teams. Und so stoßen wir stolz mit einem Glas Champagner auf den Erfolg an: Wir Profis, aber auch die sportlichen Leiter, die Mechaniker, die Physiotherapeuten, die Teamchefs und Trainer. Alle. Die ganze Equipe. Garniert mit typischen Trinksprüchen wie „Zicke zacke zicke zacke hoi hoi hoi“, die im Prinzip keinen Sinn ergeben. Aber das ist egal. Das kollektive Brüllen stärkt die Zusammengehörigkeit. Und erhebt uns zumindest an jenem Tag über die anderen, die wir bezwungen haben. Das Gemeinsame, die Gemeinschaft, das Gefühl, dass alles ineinandergreift, weil wirklich jeder sein Bestes für den anderen gegeben hat – das war einer der schönsten Aspekte für mich im Radsport. Es war sogar so: Diese gelebte Gruppendynamik ist für mich immer wieder der Hauptbestandteil meiner Motivation gewesen. Ich war immer schon ein Herdentier. Die Rolle des einsamen Leitwolfs lag mir nie.
Als Profi bekam ich von jedem Team, für das ich gefahren bin, um die sieben Räder: Zwei Trainingsräder, zwei Zeitfahrräder und drei Wettkampfräder. Bei Quick-Step verfügten wir sogar über noch mehr Räder für die Rennen. Wir konnten zwischen einem leichten Bergrad und einem schnellen Aero-Rad für flache Teilstücke wechseln. Im Laden zu kaufen gab es die fertig montierten Räder, die wir benutzten, nicht. Oft haben unsere Mechaniker spezielle Teile wie etwa Prototypen bei den Reifen, besondere Kugellager für Schaltung oder Tretlager neu eingebaut. Die Rahmen hatten teilweise eine andere Geometrie für eine tiefere und aerodynamischere Position und an einigen Stellen noch etwas mehr Karbon für mehr Steifigkeit. Ich bekam ab und zu einen speziellen Rahmen in der Farbe meines Wertungstrikots – Rosa, Grün oder Gelb. Das verlieh mir noch mal 100 Watt extra. Kurz vor der Tour 2016 stellte mir unser Radsponsor Specialized einen aerodynamischen Venge-Vias-Rahmen mit Speziallackierung zur Verfügung. Das Rad sollte mit seinen bunten Farben die Explosivität eines Sprints darstellen.
Die Räder für Profis sind die Top-Modelle mit Voll- und Spezialausstattung eines Herstellers, deshalb auch sehr teuer. Da zerbrechen bei einem Massensturz sehr schnell mal 10000 bis 12000 Euro – pro Rennrad. Der Preis erklärt sich durch das hohe Maß an Innovation, das in einer solchen Maschine steckt, und durch die Entwicklungskosten. Letztlich ist das Sponsoring der Profiteams für die Radhersteller mit einem großen finanziellen Aufwand verbunden, denn neben dem Werbeeffekt sollen die Rennräder von den Mannschaften und in den Rennen auch unter Extrembedingungen getestet werden.
Es ist bemerkenswert, wie sehr sich die Rennräder in der Zeit meiner Karriere verändert haben: Es gab Innovationen wie die Einführung der elektronischen Schaltung, eine verbesserte Integration für das „Verstecken“ von Kabeln und anderen Kontaktflächen vor dem Fahrtwind. Das bewirkt eine aufgeräumte Optik und vor allem mehr Geschwindigkeit. Hinzu kommen eine besondere Aerodynamik sowie die Einführung der Scheibenbremsen. Die Rennräder der Profis sind dadurch technisch immer besser geworden. Ich bin besonders stolz darauf, dass ich als erster Profi eine Grand-Tour-Etappe mit Scheibenbremsen gewinnen konnte – auf dem zweiten Teilstück der Tour de France 2017 auf dem Weg von Düsseldorf nach Lüttich.
Radprofis sind eher konservativ, sie mögen es nicht, wenn ihre Arbeitsgeräte verändert werden. Innovationen, die sich bewähren, setzen sich aber durch. Scheibenbremsen sind ein Beleg dafür. Erst wurden sie eher abgelehnt, nun haben sie fast alle World-Tour-Teams im Repertoire.
Zurzeit habe ich zwei Rennräder bei mir im Keller, dazu ein Gravelbike, ein Mountainbike und ein Fixie-Rad mit starrem Gang. Ich trainiere nach meinem Karriere-Ende weiterhin sehr gerne und fahre im Schnitt so zwischen 4000 und 6000 Kilometer im Jahr.
Das Erleben auf dem Rad, sei es bei einem schweren, gnadenlosen Rennen, das mich so gefordert hat, dass ich im Ziel meine Beine nicht mehr spürte, oder während einer harten Trainingseinheit, ist sehr intensiv. Es öffnet sich ein Panoptikum des Leidens, du lehnst dich gegen Widerstände auf, eine Kraftkrise, schlechtes Wetter, Sturzpech, du trotzt den Mahnern in deinem Kopf, die dir raten, abzusteigen, weil der Anstieg viel zu steil ist, um weiterzufahren. Du widerstehst den Wetterphänomenen Hitze, Schnee, Regen und Wind, von denen du glaubst, dass sie nur erfunden wurden, um dich zu ärgern. Du marterst dich selbst mit serpentinenreichen Bergen in deiner Trainingsrunde.
Du merkst später nicht nur, wie schön es ist, all das überstanden zu haben. Sondern auch, dass sich deine Lebenseinstellung wandelt. Dass du mit Widerständen im Alltag besser umgehen kannst. Wenn du dich beim Kochen schneidest und unbeeindruckt von allen Schmerzen dein Verbandszeug aus dem Schrank holst und dich damit stumm versorgst, weil du schon sehr viel schlimmere Wunden nach Stürzen hinnehmen musstest. Dass du darüber lachen kannst, wenn dein Auto nicht anspringt oder wenn du vor einem Berg voller Arbeit stehst. Wenn du eine Mathematik-Aufgabe in deinem Studium der Wirtschaftswissenschaften nicht auf Anhieb verstehst und erst einmal nicht weiterweißt. In solchen Momenten erinnerst du dich, dass du all das in anderer Form schon einmal auf dem Rennrad erlebt hast. Nur viel, viel härter. Und dass du es überstanden hast. Das erdet dich nicht nur. Das gibt dir die Energie, alle Probleme des Lebens mit Nonchalance und Zuversicht zu meistern. Das ist etwas Bleibendes, was mir der Radsport gegeben hat. Und auch jetzt noch gibt, obwohl ich längst kein Profi mehr bin.
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