Das große Heft
Roman
„Ihr zentrales Werk >Das große Heft<, legt die Nerven blank, es öffnet den Zugang zu Schrecken, Ekel und Schmerz, doch rührt es ebenso an unsere Fähigkeit zu Liebe und Freiheit.“ - Süddeutsche Zeitung
Das große Heft — Inhalt
Ergreifend und ungeschönt protokolliert Agota Kristof in ihrer preisgekrönten und auch verfilmten Geschichte eine Kindheit, die nichts Idyllisches hat. Sie zeichnet das Schicksal zweier im Krieg heranwachsender Zwillingsbrüder, die in einer schlechten Welt auf erstaunlich mutige Weise ums Überleben kämpfen. Zur Großmutter aufs Land geschickt, betteln, hungern, schlachten, stehlen, töten sie, stellen sich taub, blind und bewegungslos − die Brüder haben gelernt, was sie zum Überleben brauchen.
Leseprobe zu „Das große Heft“
Die Ankunft bei Großmutter
Wir kommen aus der Großen Stadt. Wir sind die ganze Nacht gereist. Unsere Mutter hat rote Augen. Sie trägt einen großen Karton und jeder von uns beiden einen kleinen Koffer mit seinen Kleidern, außerdem das große Wörterbuch unseres Vaters, das wir uns weitergeben, wenn unsere Arme müde sind.
Wir gehen lange. Das Haus von Großmutter ist weit vom Bahnhof, am andern Ende der Kleinen Stadt. Hier gibt es keine Straßenbahn, weder Busse noch Autos. Es verkehren nur ein paar Militärlastwagen.
Es gibt wenige Passanten, die Stadt ist [...]
Die Ankunft bei Großmutter
Wir kommen aus der Großen Stadt. Wir sind die ganze Nacht gereist. Unsere Mutter hat rote Augen. Sie trägt einen großen Karton und jeder von uns beiden einen kleinen Koffer mit seinen Kleidern, außerdem das große Wörterbuch unseres Vaters, das wir uns weitergeben, wenn unsere Arme müde sind.
Wir gehen lange. Das Haus von Großmutter ist weit vom Bahnhof, am andern Ende der Kleinen Stadt. Hier gibt es keine Straßenbahn, weder Busse noch Autos. Es verkehren nur ein paar Militärlastwagen.
Es gibt wenige Passanten, die Stadt ist still. Wir hören das Geräusch unserer Schritte; wir gehen, ohne zu sprechen, unsere Mutter in der Mitte, zwischen uns beiden.
Vor der Tür zu Großmuttes Garten sagt unsere Mutter:
– Wartet hier auf mich.
Wir warten ein bißchen, dann betreten wir den Garten, gehen um das Haus herum, wir kauern uns unter ein Fenster, aus dem Stimmen kommen. Die Stimme unserer Mutter:
– Es gibt nichts mehr zu essen bei uns, weder Brot noch Fleisch, noch Gemüse, noch Milch. Nichts. Ich kann sie nicht mehr ernähren.
Eine andere Stimme sagt:
– Und da hast du dich an mich erinnert. Zehn Jahre hast du dich nicht erinnert. Du bist nicht gekommen, du hast nicht geschrieben.
Unsere Mutter sagt:
– Sie wissen genau, warum. Ich, ich liebte meinen Vater.
Die andere Stimme sagt:
– Ja, und jetzt erinnerst du dich, daß du auch eine Mutter hast. Du kommst her und bittest mich, dir zu helfen.
Unsere Mutter sagt:
– Ich bitte um nichts für mich. Ich möchte nur, daß meine Kinder diesen Krieg überleben. Die Große Stadt wird Tag und Nacht bombardiert, und es gibt nichts mehr zu essen. Man evakuiert die Kinder aufs Land, schickt sie zu Verwandten oder zu Fremden, irgendwohin.
Die andere Stimme sagt:
– Du hättest sie zu Fremden schicken sollen, irgendwohin.
Unsere Mutter sagt:
– Es sind Ihre Enkel.
– Meine Enkel? Ich kenne sie nicht mal. Wieviel sind es?
– Zwei. Zwei Jungen. Zwillinge.
Die andere Stimme fragt:
– Was hast du mit den andern gemacht?
Unsere Mutter fragt:
– Welchen andern?
– Hündinnen werfen vier oder fünf Junge auf einmal. Man behält ein oder zwei, die andern ersäuft man.
Die andere Stimme lacht sehr laut. Unsere Mutter sagt nichts, und die andere Stimme fragt:
– Haben sie wenigstens einen Vater? Du bist nicht verheiratet, soviel ich weiß. Ich bin zu deiner Hochzeit nicht eingeladen worden.
– Ich bin verheiratet. Ihr Vater ist an der Front. Ich habe seit sechs Monaten keine Nachricht.
– Dann kannst du gleich ein Kreuz drüber machen.
Die andere Stimme lacht erneut, unsere Mutter weint. Wir gehen wieder vor die Gartentür.
Unsere Mutter kommt mit einer alten Frau aus dem Haus.
Unsere Mutter sagt zu uns:
– Das ist eure Großmutter. Ihr werdet eine Weile bei ihr bleiben, bis der Krieg aus ist.
Unsere Großmutter sagt:
– Das kann lang dauern. Aber ich sorge schon dafür, daß sie arbeiten, keine Bange. Auch hier ist das Essen nicht umsonst.
Unsere Mutter sagt:
– Ich werde Ihnen Geld schicken. In den Koffern sind ihre Kleider. Und in dem Karton Laken und Decken. Seid brav, meine Kleinen. Ich werde euch schreiben.
Sie küßt uns und geht weinend fort.
Großmutter lacht sehr laut und sagt zu uns:
– Laken, Decken! Weiße Hemden und Lackschuhe! Ich werde euch zeigen, wie man lebt!
Wir strecken unserer Großmutter die Zunge raus. Sie lacht noch lauter und schlägt sich dabei auf die Schenkel.
Großmutters Haus
Großmutters Haus ist fünf Minuten Fußmarsch von den letzten Häusern der Kleinen Stadt entfernt. Danach kommt nur noch die staubige Straße, bald von einer Barriere durchschnitten. Es ist verboten, weiter zu gehen, ein Soldat hält dort Wache. Er hat eine Maschinenpistole, ein Fernglas, und wenn es regnet, stellt er sich in einem Schilderhaus unter. Wir wissen, daß es hinter der Barriere, durch Bäume verborgen, einen geheimen Militärstützpunkt gibt und, hinter dem Stützpunkt, die Grenze und ein anderes Land.
Großmutters Haus ist von einem Garten umgeben, hinter dem ein Fluß fließt, dann kommt der Wald.
Der Garten ist mit allerlei Gemüse und Obstbäumen bepflanzt. In einer Ecke ist ein Kaninchenstall, ein Hühnerstall, ein Schweinestall und ein Verschlag für die Ziegen. Wir haben versucht, auf den Rücken des dicksten Schweins zu steigen, aber es ist unmöglich, darauf sitzen zu bleiben.
Das Gemüse, das Obst, die Kaninchen, die Enten, die Hühner werden von Großmutter auf dem Markt verkauft, auch die Eier der Hühner und Enten und der Ziegenkäse. Die Schweine werden an den Metzger verkauft, der sie mit Geld bezahlt, aber auch mit Schinken und geräucherten Würsten.
Es gibt auch einen Hund, um Diebe zu jagen, und eine Katze, um Mäuse und Ratten zu jagen. Man darf ihr nichts zu fressen geben, damit sie immer Hunger hat. Großmutter besitzt auch einen Weinberg auf der andern Seite der Straße.
Man betritt das Haus durch die Küche, die groß und warm ist. Das Feuer brennt den ganzen Tag im Holzofen. Am Fenster steht ein riesiger Tisch und eine Eckbank. Auf dieser Bank schlafen wir. Von der Küche führt eine Tür zu Großmutters Zimmer, aber es ist immer abgeschlossen. Nur Großmutter geht abends hinein, um zu schlafen.
Es gibt noch ein anderes Zimmer, in das man hinein kann, ohne durch die Küche zu gehen, direkt vom Garten aus. Dieses Zimmer wird von einem fremden Offizier bewohnt. Seine Tür ist ebenfalls abgeschlossen.
Unter dem Haus gibt es einen Keller voll eßbarer Sachen und unter dem Dach eine Kammer, in die Großmutter nicht mehr hinaufsteigt, seit wir die Leiter angesägt haben und sie sich beim Fallen weh getan hat. Der Eingang zur Dachkammer befindet sich genau über der Tür des Offiziers, und wir klettern an einem Seil hinauf. Dort oben verstecken wir das Aufsatzheft, das Wörterbuch unseres Vaters und die andern Dinge, die wir verbergen müssen.
Bald fertigen wir einen Schlüssel an, der alle Türen öffnet, und wir bohren Löcher in den Fußboden der Dachkammer. Dank dem Schlüssel können wir uns frei im Haus bewegen, wenn niemand da ist, und dank den Löchern können wir Großmutter und den Offizier in ihren Zimmern beobachten, ohne daß sie es merken.
Großmutter
Unsere Großmutter ist die Mutter unserer Mutter. Bevor wir zu ihr zogen, wußten wir nicht, daß unsere Mutter noch eine Mutter hatte.
Wir nennen sie Großmutter.
Die Leute nennen sie die Hexe.
Sie nennt uns „Hundesöhne“.
Großmutter ist klein und mager. Sie hat ein schwarzes Tuch auf dem Kopf. Ihre Kleider sind dunkelgrau. Sie trägt alte Militärschuhe. Wenn schönes Wetter ist, geht sie barfuß. Ihr Gesicht ist voll Runzeln, brauner Flecke und Warzen, aus denen Haare sprießen. Sie hat keine Zähne mehr, wenigstens keine sichtbaren Zähne.
Großmutter wäscht sich nie. Sie wischt sich den Mund mit dem Zipfel ihres Kopftuchs ab, wenn sie gegessen hat oder wenn sie getrunken hat. Sie trägt keine Unterhose. Wenn sie urinieren muß, bleibt sie stehen, wo sie sich gerade befindet, macht die Beine breit und pißt auf die Erde unter ihren Röcken. Natürlich tut sie es nicht im Haus.
Großmutter zieht sich nie aus. Wir haben abends in ihr Zimmer geschaut. Sie zieht ihren Rock aus, es ist ein anderer Rock darunter. Sie zieht ihre Bluse aus, es ist eine andere Bluse darunter. So legt sie sich hin. Sie nimmt ihr Kopftuch nicht ab.
Großmutter spricht wenig. Außer abends. Abends holt sie eine Flasche von einem Regal, sie trinkt direkt aus der Flasche. Bald fängt sie an, in einer Sprache zu reden, die wir nicht kennen. Es ist nicht die Sprache, die die fremden Soldaten sprechen, es ist eine ganz andere Sprache.
In dieser unbekannten Sprache stellt Großmutter sich Fragen und antwortet darauf. Manchmal lacht sie, oder sie wird wütend und schreit. Am Schluß beginnt sie fast immer zu weinen, sie torkelt in ihr Zimmer, sie fällt auf ihr Bett, und wir hören sie in der Nacht lange schnarchen.
Die Arbeiten
Wir müssen einige Arbeiten für Großmutter verrichten, sonst gibt sie uns nichts zu essen und läßt uns die Nacht draußen verbringen.
Anfangs wollen wir ihr nicht gehorchen. Wir schlafen im Garten, wir essen Obst und rohes Gemüse.
Morgens, vor Sonnenaufgang, sehen wir Großmutter aus dem Haus kommen. Sie spricht nicht mit uns. Sie füttert die Tiere, sie melkt die Ziegen, führt sie dann zum Fluß, wo sie sie an einen Baum bindet. Dann gießt sie den Garten und pflückt Gemüse und Früchte, die sie auf ihren Schubkarren lädt. Sie stellt auch einen Korb Eier darauf, einen kleinen Käfig mit einem Kaninchen und einem Huhn oder einer Ente mit zusammengebundenen Beinen.
Sie geht auf den Markt, ihren Schubkarren schiebend, dessen Gurt, um den mageren Hals gelegt, ihren Kopf herabdrückt. Sie schwankt unter der Last. Die Unebenheiten des Wegs und die Steine bringen sie aus dem Gleichgewicht, aber sie geht mit einwärts gedrehten Füßen, wie die Enten. Sie geht in die Stadt bis zum Markt, ohne stehenzubleiben, ohne ihren Schubkarren ein einziges Mal abzusetzen.
Wenn sie vom Markt zurückkommt, macht sie eine Suppe aus dem Gemüse, das sie nicht verkauft hat, und Marmelade aus den Früchten. Sie ißt, sie geht in ihren Weinberg, um dort Mittagsruhe zu halten, sie schläft eine Stunde, dann kümmert sie sich um den Weinberg oder kehrt, wenn es dort nichts zu tun gibt, ins Haus zurück, sie hackt Holz, sie füttert erneut die Tiere, sie führt die Ziegen zurück, sie melkt sie, sie geht in den Wald und bringt Pilze und trockenes Holz mit, sie macht Käse, sie trocknet Pilze und Bohnen, anderes Gemüse weckt sie ein, sie gießt erneut den Garten, schafft Sachen in den Keller, und so weiter, bis es Nacht wird.
Am sechsten Morgen, als sie das Haus verläßt, haben wir den Garten schon gegossen. Wir nehmen ihr die schweren Eimer mit dem Schweinefutter aus den Händen, wir führen die Ziegen zum Fluß, wir helfen ihr, den Schubkarren zu beladen. Als sie vom Markt zurückkommt, sind wir dabei, Holz zu sägen.
Beim Essen sagt Großmutter:
– Ihr habt verstanden. Dach und Nahrung müssen verdient werden.
Wir sagen:
– Das ist es nicht. Die Arbeit ist anstrengend, aber jemand zuzuschauen, der arbeitet, ohne selber was zu tun, ist noch anstrengender, besonders wenn er alt ist. Großmutter feixt:
– Hundesöhne! Wollt ihr sagen, ihr habt Mitleid mit mir gehabt?
– Nein, Großmutter. Wir haben uns über uns selbst geschämt.
Am Nachmittag holen wir Holz im Wald.
Von nun an tun wir alle Arbeiten, die wir tun können.
Der Wald und der Fluß
Der Wald ist sehr groß, der Fluß ist ganz klein. Um in den Wald zu gehen, muß man den Fluß überqueren. Wenn er wenig Wasser führt, können wir ihn überqueren, indem wir von einem Stein zum andern springen. Aber manchmal, wenn es stark geregnet hat, reicht uns das Wasser bis zur Taille, und dieses Wasser ist kalt und schlammig. Wir beschließen, eine Brücke aus den Backsteinen und Brettern zu bauen, die wir rings um die zerbombten Häuser finden.
Unsere Brücke ist fest. Wir zeigen sie Großmutter. Sie probiert sie aus, sie sagt:
– Sehr gut. Aber geht nicht zu weit in den Wald. Die Grenze ist nah, die Militärs werden auf euch schießen. Und verirrt euch bloß nicht. Ich würde euch nicht suchen.
Als wir die Brücke bauten, haben wir Fische gesehen. Sie verstecken sich unter den dicken Steinen oder im Schatten der Büsche und Bäume, deren Zweige sich stellenweise über dem Fluß berühren. Wir suchen die größten Fische aus, wir fangen sie und legen sie in die mit Wasser gefüllte Gießkanne. Am Abend, als wir sie ins Haus bringen, sagt Großmutter:
– Hundesöhne! Wie habt ihr sie gefangen?
– Mit den Händen. Es ist leicht. Man muß bloß still bleiben und warten.
– Also, dann fangt viele. Soviel ihr könnt.
Am nächsten Tag lädt Großmutter die Gießkanne auf ihren Schubkarren und verkauft unsere Fische auf dem Markt.
Wir gehen oft in den Wald. Wir verirren uns nie; wir wissen, auf welcher Seite sich die Grenze befindet. Bald kennen uns die Wachtposten. Sie schießen nie auf uns. Großmutter bringt uns bei, die eßbaren Pilze von den giftigen zu unterscheiden.
Aus dem Wald bringen wir Reisigbündel auf dem Rücken mit, Pilze und Kastanien in Körben. Wir stapeln das Holz ordentlich an den Hauswänden unter dem Vordach, und wir rösten Kastanien auf dem Herd, wenn Großmutter nicht da ist.
Einmal, tief im Wald, am Rand eines großen Lochs, das eine Bombe gerissen hat, finden wir einen toten Soldaten. Er ist noch ganz, nur die Augen fehlen ihm wegen der Raben. Wir nehmen sein Gewehr, seine Patronen, seine Handgranaten: das Gewehr in einem Reisigbündel versteckt, die Patronen und die Handgranaten in unseren Körben, unter den Pilzen.
Bei Großmutter angekommen, packen wir diese Gegenstände sorgsam in Stroh und Kartoffelsäcke, und wir vergraben sie unter der Bank vor dem Fenster des Offiziers.
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