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Das Haus am Deich – Sicherer Hafen (Das Haus am Deich 3) Das Haus am Deich – Sicherer Hafen (Das Haus am Deich 3) - eBook-Ausgabe

Regine Kölpin
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Roman

— Gefühlvoller Nordsee-Roman

„Das lässt sich flott lesen und rundet die Geschichte ab.“ - Kreiszeitung Wesermarsch

Alle Pressestimmen (5)

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Das Haus am Deich – Sicherer Hafen (Das Haus am Deich 3) — Inhalt

Die Stürme des Lebens: dramatisch, voller Gefühl und frischer Nordsee-Luft 

In „Das Haus am Deich – Sicherer Hafen“ führt SPIEGEL-Bestsellerautorin Regine Kölpin die Schicksale ihrer Protagonistinnen Frida und Erna in den 1960er und 1970er Jahren zu einem großartigen Höhepunkt. Denn der 3. Band ihrer Familiensaga führt nach Berlin in Zeiten des Mauerbaus und an die Nordseeküste zur Zeit der dramatischen Sturmflut von 1962.  


1961: Der Mauerbau droht die langjährigen Freundinnen Frida und Erna zu trennen. Denn Erna lebt jetzt in Berlin, wo sie eigentlich neue Freiheit zu finden hoffte. Als ihr und ihrer Familie die Flucht in den Westen gelingt, erweist sich Frida als starke Stütze. Dabei ist auch deren Leben voller Schicksalsschläge: Als ein Jahr später eine schwere Sturmflut die Nordseeküste trifft, wachsen in ihr Zweifel, ob sie an diesem Ort, geprägt von Wind und Meer, alt werden will. Doch in den Stürmen des Lebens geben ihr letztlich nur zwei Dinge Halt: ihre Freundschaft zu Erna und das Haus am Deich, ihr sicherer Hafen. 

Vor der atmosphärischen Kulisse Norddeutschlands entfaltet sich in „Das Haus am Deich“ das Schicksal zweier Frauen und ihrer Familien: wahrhaftig, atmosphärisch und bewegend!


Band 1: Das Haus am Deich – Fremde Ufer
Band 2: Das Haus am Deich – Unruhige Wasser
Band 3: Das Haus am Deich – Sicherer Hafen

€ 12,00 [D], € 12,40 [A]
Erschienen am 24.02.2022
384 Seiten, Broschur
EAN 978-3-492-31735-1
Download Cover
€ 9,99 [D], € 9,99 [A]
Erschienen am 24.02.2022
320 Seiten
EAN 978-3-492-99985-4
Download Cover

Leseprobe zu „Das Haus am Deich – Sicherer Hafen (Das Haus am Deich 3)“

Die wichtigsten Personen:

Margret Köhle – Fridas Mutter

Stine von Geest – Ernas Mutter

Frida Köhle – Tochter der Köhles

Erna von Geest – Tochter der von Geests

Herold von Geest – Ernas Bruder

Horst Hinrichs – Lebensmittelhändler

Focko Ewert – Fischer

Meike Hinrichs – Fridas Tochter

Peter Hinrichs – Fridas Sohn

Sanne von Geest – Ernas Tochter

Dr. Wilfried Hansen – Kinderarzt

Weitere wichtige Personen:

Hanne – Fockos Mutter

Wiebke von Geest – Herolds Frau

Dr. Heiko Mansfeld – Kollege von Wilfried

Annemarie Meißner – Freundin von Erna

Hauke – Bootsmann von Focko


1960

Kapitel [...]

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Die wichtigsten Personen:

Margret Köhle – Fridas Mutter

Stine von Geest – Ernas Mutter

Frida Köhle – Tochter der Köhles

Erna von Geest – Tochter der von Geests

Herold von Geest – Ernas Bruder

Horst Hinrichs – Lebensmittelhändler

Focko Ewert – Fischer

Meike Hinrichs – Fridas Tochter

Peter Hinrichs – Fridas Sohn

Sanne von Geest – Ernas Tochter

Dr. Wilfried Hansen – Kinderarzt

Weitere wichtige Personen:

Hanne – Fockos Mutter

Wiebke von Geest – Herolds Frau

Dr. Heiko Mansfeld – Kollege von Wilfried

Annemarie Meißner – Freundin von Erna

Hauke – Bootsmann von Focko


1960

Kapitel 1

Das Meer zeigte sich genauso aufgewühlt, wie Frida sich fühlte. Obwohl die Sonne vom klarblauen Himmel schien, warfen sich die Wellen an den Strand, und die Wasseroberfläche wurde von Schaumkronen geschmückt. Es herrschte eine steife Brise, die den sonnigen Maitag mit ihren Böen herunterkühlte und Frida frösteln ließ.

Sie schaute in den Spiegel, ordnete ihr Haar und konnte sich einfach nicht entscheiden, ob sie es gleich unter dem Schleier hochstecken oder lieber offen tragen wollte.

Es war der letzte Tag, an dem sie Frau Hinrichs genannt werden würde. In etwa einer Stunde hieß sie Frau Dr. Hansen und wurde nach jahrelangem Hin und Her endlich Wilfrieds Ehegattin. Drei Jahre waren sie jetzt schon verlobt, aber es hatte gedauert, ehe sie sich zu einer Hochzeit hatten durchringen können. Zu viel war passiert, zu viel hatte dagegengesprochen.

Der Hauptgrund hieß Focko Ewert. Er war der Vater ihres Sohnes Peter und Fridas heimliche Liebe. Sie hatte lange auf seine Heimkehr gewartet, doch er fuhr nach wie vor übers Meer, nachdem er, klammheimlich und ohne einen Grund zu nennen, verschwunden war.

Peters Vater schickte seinem Sohn oft bunte Karten aus fernen Ländern, die den Jungen immer wieder übers ganze Gesicht strahlen ließen, doch das nützte Frida überhaupt nichts.

Frida freute sich aber für Peter, der jedes Mal mit Wonne durch die Küche hüpfte und rief: „Mein Papa hat geschrieben! Mir, nur mir!“

Es tat ihr weh, dass es so war, andererseits half es ihrem Sohn, dass sein Vater ihn nicht vergessen hatte, und darüber war Frida dankbar.

Ihr Herz war seinetwegen in große Scherben zersprungen, doch sie zersplitterten in immer kleinere Stücke und waren inzwischen so winzig, dass sie vor zwei Monaten beschlossen hatte, sie endgültig zusammenzufegen und wegzuwerfen. Focko liebte die See offenbar mehr als sie, und das musste sie akzeptieren. Ihr Herz sollte für Wilfried frei sein. Frida reckte das Kinn. Sie würde ein gutes Leben an seiner Seite haben.

„Mama, darf ich mich schon umziehen?“, rief Meike, Fridas zehnjährige Tochter, von unten und riss sie aus ihren Überlegungen.

„Nun sei nicht so ungeduldig, aber meinetwegen“, antwortete Frida schmunzelnd, denn Meike konnte die Hochzeit kaum erwarten. Sie liebte Wilfried fast abgöttisch. „Pass nur auf, dass du dich nicht schon vor der Trauung schmutzig machst.“

„Bestimmt nicht. Ich will doch hübsch aussehen“, rief sie.

„Ist Peter denn schon fertig?“, fragte Frida und kämmte sich das Haar erst nach vorn und dann wieder nach hinten. Teilte es mit einem Scheitel und band es dann doch wieder fest.

„Keine Ahnung, der schmollt wieder. Bestimmt hat er sich vom Acker gemacht und ist zu Oma Hanne geradelt. So wie immer, wenn ihm was nicht passt.“

Frida seufzte. Peter wehrte sich nach wie vor mit Händen und Füßen gegen die Heirat mit Wilfried, weil er nur Focko als Vater akzeptierte. Deshalb verschwand er nach der Schule ziemlich oft zu seiner anderen Großmutter, die allerdings keinen guten Einfluss auf ihn hatte. Sie lebte in Fedderwardersiel in einem kleinen Fischerhaus und hielt sich seit dem Tod ihres Mannes und Fockos Verschwinden mehr schlecht als recht über Wasser. Mal pulte sie Krabben, dann wieder flickte sie Netze oder verkaufte selbst gestrickte Sachen, wofür sie auch die Wolle spann.

„Bitte schau, ob du Peter nicht doch auf dem Hof finden kannst“, rief Frida jetzt. „Ich möchte, dass wir alle fertig sind, wenn die Kutsche kommt. Und er soll sich vorher waschen und umkleiden.“

Er muss sich fügen, dachte Frida. Ich habe ein Anrecht auf ein kleines bisschen Glück.

„Mach ich!“

Frida hörte, wie die Tür zuschlug und Meike nach ihrem Bruder rief.

Frida freute sich auf ihre Zukunft. Sie brauchte eine starke Schulter, an die sie sich lehnen konnte, einen Mann an ihrer Seite, auf den sie sich verlassen konnte. Außerdem redeten die Leute schon. Eine geschiedene Frau mit zwei Kindern und einem Dauerverlobten – das war auf einem Dorf Zündstoff, zumal allen bekannt war, dass Meike und Peter zwei Väter hatten. Ihr Sohn sah Focko einfach zu ähnlich.

„Peter!“, hörte sie Meike rufen. „Ach, da bist du ja. O nein, wie siehst du denn aus? Mama wird schimpfen. Jetzt komm rein, wasch dich und zieh dich um! Ich sag das sonst Oma!“

„Oma hat das schon gesehen“, ertönte Margrets strenge Stimme. „Antraben, mien Jung!“

„Ich komm ja schon!“

Wieder ging unten die Tür. Kurz darauf hörte Frida die Toilettenspülung, und ihr Sohn musste sich weitere Schimpftiraden seiner Großmutter anhören.

Es wird Zeit, dass mein Leben in geordnete Bahnen kommt, dachte Frida. Ein Vater, der bei ihnen lebte, wird dem Jungen guttun. Wilfried war ein Macher, und er kümmerte sich um alles mit großer Beharrlichkeit. Für Frida war es eine immense Erleichterung, dass sie nicht ständig für alles allein sorgen musste, sondern jemanden hatte, der auch ihr einmal etwas abnahm.

Sie hatten in Eckwarden ein Haus gebaut und wollten dort heute ihre Hochzeitsnacht verbringen. Es war im Augenblick leicht, günstige Kredite zu bekommen, und so hatten sie beschlossen, sich ein eigenes Nest zu schaffen. Das Schönste daran war, dass Frida in unmittelbarer Nähe zu ihrer besten Freundin Erna wohnen würde. Sie lebte zwei Straßen weiter mit ihrer Mutter, Tochter und ihrem Bruder samt Frau in einem anderen Neubau.

Frida zog den Lidstrich nach und war mit dem Ergebnis zufrieden. Jetzt die Haare etwas strähnig nach vorn, dann müsste es gut aussehen, wenn der Schleier gesteckt wurde.

Sie wollte eine schöne Braut sein und sich den Tag durch nichts vermiesen lassen. Weder von Peters schlechter Laune noch von ihren eigenen nagenden Gedanken.

„Es ist jetzt, wie es ist“, sagte sie mit Nachdruck, weil es ihr schwerfiel, das kleine Haus am Deich zu verlassen. Sie schaute sich ein bisschen wehmütig um, denn die Kate war immer ihr Zufluchtsort gewesen. Auch wenn ihr Traum, Pianistin zu werden, in Butjadingen gescheitert war, hatte ihr dieses Häuschen immer Halt und ein Zuhause gegeben.

Aus alter Gewohnheit guckte Frida noch einmal aus dem Fenster, von wo aus sie bis zum Deich blicken konnte. Er zog sich wie ein grüner Wall die Nordseeküste entlang, und für sie gab es nichts Schöneres, als von dort aus über den Jadebusen zu schauen. Den Blick in die Weite gerichtet, umweht vom ewigen norddeutschen Wind und dem Kreischen der Möwen.

Das würde sie zukünftig nicht mehr so ohne Weiteres tun können. Zwar war auch Eckwarden nicht weit entfernt, aber wollte sie mal eben am Abend ans Wasser, musste das fortan geplant werden.

„Frida?“ Von unten ertönte jetzt die Stimme ihrer Mutter.

„Ja?“

„Bist du so weit, dass ich dir ins Kleid helfen kann?“ Ihre Mutter rief nicht, sie trällerte, denn Margret Köhle war überglücklich, dass Frida endlich in die Ehe mit Wilfried eingewilligt hatte. Es war ihr eigener persönlicher Glückstag!

„Ja, du kannst gleich kommen!“ Ein letzter prüfender Blick in den Spiegel. Frida nickte ihrem Konterfei aufmunternd zu und stand auf. Alles war gut und richtig, was sie tat.

Ihr Hochzeitskleid hing auf einem Bügel an der Tür. Ein Traum aus weißer Spitze, mit engem Oberteil und einem weit ausgestellten Rock, der ihr bis zu den Waden reichte. Ihre Mutter kam ins Zimmer, und Frida fragte: „Ist Peter auch gewaschen und umgezogen?“

„Jo, dem hab ich eben Beine gemacht“, antwortete Margret. „An einem Tag wie heute hat er zu gehorchen. Wo kommen wir denn sonst hin? Du heiratest!“

Kaum hatte sie das gesagt, schaute Peters roter Schopf um die Ecke. „Ich bin fertig“, verkündete er und klebte eine lose Haarsträhne mit etwas Spucke an der Kopfseite fest. Er sah niedlich aus in seinem grauen Anzug mit Weste, selbst wenn die Hose ein bisschen zu kurz war und über dem Knöchel endete. Dafür war das Sakko zu weit und dessen Ärmel zu lang. Unten ragten gerade so seine Fingerspitzen heraus. Frida unterdrückte ein Grinsen. Da war ihre Mutter mal wieder gewohnt geizig gewesen und hatte an allen Ecken und Enden gespart. Wahrscheinlich hatte sie sich die Teile des Anzugs irgendwo in der Nachbarschaft ausgeliehen, würde sie nach dem Fest ausbürsten, glätten und stiekum zurückbringen.

„Das ist schön, Peter. Ich freue mich“, lobte Frida ihn, aber sein Gesichtsausdruck blieb stur.

„Vater wäre überglücklich“, sagte ihre Mutter und griff nach dem Kleid. „Er tanzt sicher vor Freude in seinem Grab, weil du eine so gute Partie mit diesem wunderbaren Mann machst.“

Bis auf Peter waren sich alle einig, dass diese Ehe unter einem guten Stern stand. Frida wollte das gern glauben und hoffte, dass es wirklich so war und diese Ehe nicht in demselben Desaster endete wie ihre erste mit Horst Hinrichs. Der Mann war allerdings ein echter Filou gewesen, was man von Wilfried wirklich nicht behaupten konnte. Er liebte sie tief und aufrichtig. Sonst hätte er niemals so lange auf sie gewartet. Frida hoffte, ihn nicht zu enttäuschen.

Peter schob gerade bockig die Unterlippe vor und erklärte mit fester Stimme: „Ich komm nicht mit zur Kirche.“ Er saß blass und in sich gekehrt am Küchentisch und pulte an seinen Fingernägeln.

Margret war sichtlich drauf und dran, eine Schimpftirade loszulassen, doch der warnende Blick ihrer Tochter ließ sie verstummen.

„Peter, du würdest mir aber eine große Freude machen“, wandte sich Frida an ihn, doch ihr Sohn schüttelte vehement den Kopf. „Ich mag Wilfried nicht und will ihn auch nicht zum Stiefvater haben. Deshalb werde ich auch nicht mitfeiern.“

„Peter“, wies ihn seine Großmutter nun doch zurecht. „Es steht dir keineswegs zu, so mit deiner Mutter zu sprechen! Und es steht dir erst recht nicht zu, ihre Feier zu torpedieren.“

„Also, ich freue mich auf die Hochzeit.“ Meike war ebenfalls hinzugetreten und fixierte ihren Bruder mit verächtlichem Blick. Sie hatte schon ihr Festkleid an. Es bestand aus beigefarbener Spitze mit hellblauem Saum. Darüber trug sie ein kurzes Jäckchen – farblich abgestimmt. Erna hatte beides genäht und sich dabei selbst übertroffen. „Wir können froh sein, dass Wilfried unser Papa wird“, fuhr Meike belehrend fort und sonnte sich sichtlich darin, wie sehr sie ihrer Mutter zur Seite stand. Wenn sie so dozierte, wirkte sie oft etwas altklug, und sie erreichte bei ihrem Bruder meist das Gegenteil von dem, was sie wollte.

Am liebsten hätte Frida sie jetzt unterbrochen, aber Meike hatte sich in Fahrt geredet und war nicht mehr zu stoppen. Wie ein Wasserfall sprudelte es aus ihr heraus: „Mein richtiger Vater gratuliert mir nicht einmal zum Geburtstag, und deiner hat sich aus dem Staub gemacht. Er meldet sich ebenfalls nicht bei dir. Also: Warum bitte sollten wir Wilfried doof finden?“ Sie verschränkte ihre Arme, genau wie ihre Oma, vor der Brust und nahm dieselbe herausfordernde Haltung ein.

„Kommt, lasst das Thema“, sagte Frida versöhnlich. „Wir wissen, dass wir unterschiedlicher Meinung sind, aber wir haben auch gelernt, damit umzugehen.“

Peter hielt sich die Ohren zu und krauste zornig die Stirn. „Ich habe einen richtigen Vater“, schnaubte er – wie jedes Mal. „Und er wird zurückkommen, mich mitnehmen und mit mir die Welt erkunden.“ Er stampfte trotzig auf.

Nun wurde es Margret offenbar doch zu viel. „Schluss jetzt!“, unterbrach sie die Diskussion. „Das führt zu nichts. Heute ist die Hochzeit eurer Mutter, und ihr reißt euch zusammen. Ich will jetzt nichts mehr hören – und schon gar keinen Streit!“

Frida schwieg, denn ihre Mutter hatte ja recht. Es stimmte sie jedes Mal traurig, wenn sich ihre Kinder Wilfrieds wegen so angifteten.

„Und jetzt raus, ich will eurer Mama ins Kleid helfen!“ Mit einem Händeklatschen scheuchte sie die Kinder hinaus.

*

An der Reling des Frachtschiffes Orkania stand Focko Ewert und starrte auf die offene See. Die letzte Nacht war furchtbar gewesen, weil er von Frida geträumt und ihn das nicht wieder hatte einschlafen lassen. Das war so lange nicht mehr passiert. Inzwischen waren ihm Mittel und Wege geläufig, seine große Liebe aus den Gedanken zu verbannen und sie woandershin zu lenken.

Am besten halfen ihm Arbeit und Zerstreuung am nächsten Hafen, wobei er Bier und Gin den Frauen vorzog, denn ließ er sich mit einer ein, quälte ihn die Sehnsucht nach Frida anschließend noch viel stärker. Die Begegnungen mit anderen Frauen verursachten meist eine große Leere. Erst schmeckte alles aufregend, dann süß und am Ende so bitter, als hätte er Galle im Mund.

Focko rieb sich die Wange, weil der Traum noch so entsetzlich präsent war: Frida hatte mit einem weißen Spitzenkleid auf einem Felsen gesessen und mit ihrer vollen dunklen Stimme in einem auf- und abschwellenden Singsang nach ihm gerufen. Wie eine Seejungfrau, die ihr sehnsüchtiges Lied über das Meer schickte. „Focko! Focko! Focko, was soll ich tun?“

War sie etwa in Gefahr?

Er lachte bitter auf und flüsterte: „Sie wird diesen Doktor heiraten oder hat es längst getan. Ganz so, wie es ihre Mutter gewünscht hatte. Sie braucht dich armen Seemann nicht mehr.“

Focko hatte noch das wütende und entschlossene Gesicht von Margret Köhle vor Augen, als sie ihn an dem Novemberabend abgefangen und zum Teufel gejagt hatte.

„Geschichte“, beschwichtigte er sich leise. „Aus und vorbei.“

Er schaute zum Himmel, der sich in strahlendem Blau präsentierte und Leichtigkeit suggerierte. Ein Gefühl, das Focko schon lange nicht mehr hatte. Wann war ihm zuletzt unbeschwert zumute gewesen? Seit er Butjadingen verlassen hatte, kein einziges Mal. Und war auch nur ein Anflug gekommen, drängte sich Fridas Bild sofort wieder vor sein inneres Auge, und jegliche Fröhlichkeit wurde mit dem Seewind davongeblasen.

Manchmal hasste sich Focko dafür, dass er diese Frau so sehr liebte und er es zuließ, nicht ohne sie glücklich werden zu können.

„Moin, Focko, bist ja wieder ganz in dich gekehrt.“ Sein Kumpel Hein klopfte ihm auf die Schulter. Ihm hatte Focko mal kurz von Frida erzählt.

„Heute Abend laufen wir den Hafen von Nyborg an. Fünen soll eine fantastische Insel sein. Und nachher kommst du mit, wenn wir die Stadt unsicher machen und uns richtig volllaufen lassen. Bestimmt finden wir eine Spelunke, wo das auch in Dänemark möglich ist.“ Hein stieß ihn in die Seite. „Heute Abend erwarten uns mit Sicherheit wunnerbaare Däninnen. Ich kann es kaum erwarten.“

Focko stieß es ab, wenn Hein so redete.

„Kein Interesse, das weißt du.“

„Deine Frida kommt auch nicht zurück, wenn du hier den Mönch spielst“, sagte Hein. „Du musst endlich wieder leben, Focko. Was nützt es denn, wenn du dich immer zurückziehst? Eines Tages ist alles vorbei, und das Einzige, auf das du verweisen kannst, ist: Du warst einer Ollen treu, die dich gar nicht wollte, sondern lieber ’nen Doktor genommen hat.“

Zack, das hatte gesessen, aber niemals wollte Focko zugeben, dass Hein recht hatte.

Frida verschwendete an ihn vermutlich nur halb so viele Gedanken wie er an sie. Wenn sie überhaupt noch an ihn dachte.

„Es ist schön hier“, brummte Focko und versuchte Hein damit abzulenken. Sie durchquerten gerade den Großen Belt. Der Frachter schob sich steuerbord an Fünen vorbei. Focko musste sich jetzt losreißen, denn er wurde beim Anlegemanöver gebraucht. Er würde gleich Ärger bekommen, wenn er sich nicht sputete. Und schon tickte ihn Hein an.

„Du solltest hier nicht allzu lange rumstehen. Das gibt unnötigen Krach mit den anderen, die sowieso meinen, du träumst zu viel und vergisst deine Arbeit und sie müssten für dich mitschuften.“

Hein fingerte nach einer seiner Zigaretten, die er stets lose in der weiten Hose aufbewahrte. Sie war schon etwas zerknickt, aber mit einem geschickten Griff brachte er sie wieder in Form und suchte nun das Feuerzeug.

„Dafür reicht es aber noch. Auch eine?“

Focko schüttelte den Kopf. Er rauchte nicht, auch wenn es fast alle taten.

Hein zündete sich die Fluppe an und nahm den ersten Zug. „Du musst wirklich aufpassen, Focko. Ich krieg so einige Dinge mit. Über dich wird viel geredet. Weil du dich selbst zum Außenseiter machst.“

„Ich arbeite genauso hart wie der Rest“, entgegnete Focko mit gepresster Stimme. „Und was ich sonst mache, geht wohl keinen was an. Ich bin eben nicht so gesellig und brauch ab und zu meine Ruhe.“

„Ich versteh das ja.“ Hein schmauchte einen Kringel. „Aber ich finde, du solltest wissen, was so erzählt wird.“

„Nun weiß ich das“, sagte Focko. „Ich komm gleich.“ Er warf einen Blick nach steuerbord. „Wir legen auch bald an.“

Hein klopfte ihm noch einmal freundschaftlich auf die Schulter. „Komm schon und hör auf, von deiner Deern zu träumen. Wir finden sicher was Hübsches für dich. Die Frauen warten schon! Die freuen sich auf uns, das kannst du mir glauben.“

Focko sog die Luft tief ein. Es war wirklich unklug, sich immer zu verkriechen. Hein hatte im Grunde recht. Er machte sich zum Außenseiter und bekam Frida trotzdem nicht zurück. So langsam sollte er sich an den Gedanken gewöhnen und mit dem Leben beginnen.

„Na gut, Hein! Ich bin heute dabei, und wir machen später die Kneipen von Nyborg unsicher.“

„So gefällst du mir schon besser!“ Hein nahm noch einmal einen kräftigen Zug, schnippte die Zigarette dann auf den Boden und trat sie mit dem Ballen aus.

„Wir sehen uns!“ Hein hob die Hand zum Gruß, und Focko winkte ihm nach.

„Bis später!“

Er schaute noch einmal über den Belt. Es war, wie es war. Er würde heute Abend in einer Bar zu viel trinken, danach in den Armen einer fremden Frau liegen und Frida für ein paar Stunden vergessen können. Bis die Erinnerung ihn erneut heimsuchte.


Kapitel 2

Frida genoss die letzten Augenblicke vor der Hochzeit mit sich allein, nachdem ihre Mutter das Zimmer verlassen hatte. Sie sah an sich hinunter und fand sich in ihrem Brautkleid wunderschön. Es betonte ihre Figur, und unter dem knielangen Rock ragten ihre schlanken, wohlgeformten Beine heraus.

Das Dekolleté war ebenfalls vorteilhaft. Gekonnt um-
spielte es ihre nicht ganz so üppige Oberweite. Gemeinsam mit Erna hatte sie in Bremerhaven bei Karstadt passende Pumps erstanden, in denen sie sogar bequem laufen und später auch tanzen konnte. Schließlich würde sie als Braut häufig auf die Tanzfläche müssen. Ihr Schleier reichte bis knapp über die Schultern, so wie es Mode war. Das Aufstecken hatte ihr dann doch etwas Mühe bereitet, aber schließlich saß er so, wie es ihren Vorstellungen entsprach. Vorn lugte eine Haarsträhne heraus, die sie in Form gezupft und mit etwas Festiger fixiert hatte. Noch ein letzter Griff zum Lippenstift – und fertig war sie.

Frida wurde vom Hufgetrappel aus ihren Gedanken gerissen. Das musste die weiße Hochzeitskutsche sein, auf die Wilfried bestanden hatte.

„Ich möchte eine Traumhochzeit, mit allem, was dazugehört“, hatte er gesagt, und Frida wollte ihn gewähren lassen, weil es ihn froh stimmte, ihr eine Freude zu machen.

Sie atmete einmal tief durch, straffte den Rücken, ging mit klopfendem Herzen zur Tür und blieb am Treppenabsatz stehen. Wie viele Jahre war sie nun diese alte Treppe hinuntergelaufen? Wie oft hatte sie in diesem Haus gelacht und geweint? Sie würde es jetzt verlassen und nur noch wiederkommen, wenn sie ihre Mutter besuchte. Es war ein eigenartiges Gefühl. Frida gab sich einen Ruck.

Unten wartete schon ihre Mutter mit den beiden Kindern. Rechts hatte sie Peter an der Hand, links Meike.

Beide sahen in der festlichen Kleidung ungewohnt aus. Obwohl sie Peter schon im Anzug gesehen hatte, wirkte er jetzt fremd auf sie, eigentlich kannte Frida ihn nur mit seinen geflickten Hosen und der Joppe, weil er sich weigerte, etwas anderes anzuziehen.

Er schaute betreten zu Boden, aber seiner Mutter war sein störrischer Blick nicht entgangen.

Ihr Herz begann zu rasen, denn nun wurde es ernst.

Langsam schritt Frida die Stufen hinunter. Ihre Mutter blickte ihr mit Tränen in den Augen entgegen.

Sie sah sich um, ob Wilfried womöglich schon ins Haus gekommen war. Frida wusste, dass ihre Mutter einen genau ausgeklügelten Plan hatte, wie das erste Aufeinandertreffen stattfinden sollte.

„Bitte warte hier! Dein Zukünftiger soll dich draußen als seine Braut im Empfang nehmen, und da erhältst du den Brautstrauß.“

Frida war froh, dass die erste Begegnung mit Wilfried im intimen Kreis stattfand, alle anderen Gäste würden an der Eckwarder Kirche warten.

Ernas Bruder Herold stand schon an seinem Wagen, um Fridas Mutter und die Kinder einzuladen.

Ihre Mutter zupfte noch ein bisschen an Schleier und Kleid herum, ehe sie ihrer Tochter gestattete, dem Bräutigam gegenüberzutreten.

Wilfried war bereits von der Kutsche gestiegen und stand neben den beiden Schimmeln, die wie ergeben den Kopf senkten, als Frida auf das Gefährt zutrat.

Er wischte sich tatsächlich vor Rührung mit dem Ärmel über die Augen, als er seine Zukünftige sah.

„Du bist die schönste Braut der Welt“, sagte er mit belegter Stimme, während er ihr den üppigen Brautstrauß reichte.

Frida wurde warm ums Herz. „Was für schöne Blumen“, sagte sie, als ihr der zart-süße Rosenduft in die Nase kroch. Sie strich mit dem Zeigefinger sacht über die roten Blüten, die zusammen mit den Pfingstrosen und den etwas dunkler gehaltenen Callas ein prächtiges Bild abgaben. Der Strauß war kurz gebunden und würde zu ihrem Kleid einen großartigen Kontrast bilden.

„Ach, Frida“, flüsterte Wilfried. „Frida, du machst mich zum glücklichsten Mann der Welt.“

Sie lächelte ihrem Zukünftigen zu. „Der Brautstrauß ist um so vieles schöner, als ich erwartet habe. Allein der zauberhafte Duft! Ich freue mich auch.“

Schon als die Worte aus ihr heraussprudelten, wusste sie, dass sie etwas anderes hätte sagen sollen. Wilfried sprach über Liebe, sie über Blumen.

Frida spürte, dass sie rot anlief, und versuchte, ihren Fauxpas wiedergutzumachen. „Es ist alles so aufregend, da fehlen mir die richtigen Worte. Verzeih mir.“

Wilfried reichte ihr die Hand. „Die werden wir auch noch finden.“

„Ja, es wird alles gut“, bestätigte sie schnell. „Nun komm, lass uns zur Kirche fahren! “

Um einzusteigen, benötigte Frida die Hilfe ihrer Mutter, denn sie wollte weder das Kleid beschmutzen noch zerknittern. Margret hatte der kurzen Unterhaltung gelauscht und zupfte mit griesgrämigem Gesichtsausdruck am Stoff herum. „So, jetzt könnt ihr fahren.“ Sie wandte sich an Herold. „Wollen wir auch?“

„Da ich die Trauung nur ungern verpassen würde, halte ich das für eine großartige Idee. – Viel Glück euch beiden“, sagte Herold zum Brautpaar. „Das wird sicher eine wunderbare Feier nachher.“

Frida fürchtete sich allerdings ein bisschen davor. Wilfried hatte eine Tanzkapelle mit vier Musikern engagiert. Die Gruppe würde im Eckwarder Hof mit Gitarre, Akkordeon, Schlagzeug und Bass für Stimmung sorgen.

Auch zu essen würde reichlich aufgetischt werden, so wie es bei einer Hochzeit auf dem Land üblich war.

Genau wie das halbe Dorf nebst nahen Verwandten und Freunden eingeladen war und auch etliche Kollegen aus Wilfrieds Klinik. Inzwischen war er Chefarzt, und deshalb kamen zahlreiche Gäste mit Rang und Namen. Ihre Hochzeit war das Ereignis in der Region!

Die Kirchenglocken läuteten, und Frida fuhr ein Schauer über den Rücken, als sie von der Kutsche stieg und schon von draußen sah, dass die Kirche bis zum letzten Platz gefüllt war. Wilfried reichte ihr die Hand, damit sie das Gefährt unbeschadet verlassen konnte.

Als Trauzeugin fungierte Fridas beste Freundin Erna, und Wilfried stand sein Freund und Kollege Doktor Heiko Mansfeld bei. Sie warteten schon auf das Brautpaar. Erna hatte sich ein wunderschönes Kleid aus hellblauem Chiffon genäht. Ihr Haar trug sie neuerdings gelockt und kinnlang. Wie immer strahlte sie wie die aufgehende Sonne.

Pastor Wilfers wartete neben dem Kirchenportal auf sie. „Dann wollen wir mal den Schritt in die richtige Richtung machen“, sagte er. „Sind Sie so weit?“

Frida war erstaunt gewesen, dass der Pfarrer keine Schwierigkeiten gemacht hatte, denn sie war schließlich eine geschiedene Frau. Allerdings hatte sie Horst damals nicht kirchlich geheiratet.

Wilfried und Frida nickten synchron und mussten sich das Lachen verkneifen, weil es wirkte wie das Nicken der Hühner ihrer Mutter beim Körnerpicken.

Pastor Wilfers in seinem schwarzen Talar schritt würdevoll voran.

Frida streckte den Rücken und schloss kurz die Augen. Sie hatte sich zum Einzug eines ihrer Lieblingsstücke, den Kanon in D-Dur von Pachelbel, gewünscht. Ihr Herz klopfte in freudiger Erwartung, als der Organist die ersten Töne anspielte, während sie das Kirchenschiff betraten und sich alle Gäste erhoben.

In Gedanken glitten bei jedem Ton ihre Finger mit über die Tasten und schlugen die Töne an. Sie passte ihren Schritt dem Rhythmus an, und Wilfried drückte kurz ihren Arm, weil sie beinahe tanzte. Sie konnte es einfach nicht lassen, in Gedanken bei ihrem Klavierspiel zu sein, wenn sie Musik hörte.

Frida riss sich zusammen, schließlich wollte sie nicht unangenehm auffallen und zum Gespött der Hochzeitsgesellschaft werden.

Vor dem Altar standen für das Brautpaar zwei hochlehnige Stühle, daneben je einer für die Trauzeugen.

Frida setzte sich mit zitternden Knien und bemerkte, dass auch der Brautstrauß vor Aufregung vibrierte.

Ihr kroch der typische Kirchenduft in die Nase. Dieser leicht süßliche Geruch vermischte sich mit dem von Kerzen. Frida wollte jede Sekunde in ihre Gedanken brennen, jedes Wort konservieren, und doch bekam sie von der Zeremonie nicht viel mit. Ständig schweiften ihre Gedanken ab und beschäftigten sich mit der anstehenden Obsternte und ob ihre Mutter das überhaupt allein schaffte.

Kam sie in die Realität zurück, schlug ihr Herz so heftig, dass sie befürchtete, die anderen müssten es laut pochen hören.

Frida zuckte zusammen, als sie gewahr wurde, dass sich die Zeremonie dem Ende zuneigte und sie gleich die alles entscheidende Frage beantworten musste.

Wilfried nahm ihre Hand, als er aufstand, und drückte sie fest. Frida erkannte die Sorge darin, dass sie es sich vielleicht doch in allerletzter Sekunde anders überlegen könnte. Deshalb erwiderte sie seinen Druck. Sofort entspannten sich seine Gesichtszüge.

Sie sah dem Pastor fest in die Augen, als er sie fragte: „Möchten Sie, Frida Hinrichs geborene Köhle, diesen Mann, Doktor Wilfried Hansen, zu Ihrem angetrauten Ehemann nehmen? Ihn lieben und ehren in guten und in schlechten Tagen, so antworten Sie mit ›Ja, mit Gottes Hilfe‹.“

„Ja, mit Gottes Hilfe“, sagte Frida mit glasklarer Stimme, die keine Zweifel daran ließ, dass es ihr sehr ernst war.

Auch Wilfrieds Stimme war kräftig, aber sie zitterte vor Aufregung.

Heiko Mansfeld reichte ihnen die Ringe.

Frida war froh, dass es ihr mit den zitternden Fingern gelang, Wilfried den Ring überzustülpen, ohne dass er hinunterfiel.

Ihr traten Tränen in die Augen, als die Gemeinde das Lied Lobet den Herren, anstimmte. Frida war so gerührt, dass sie selbst kaum mitsingen konnte. Wenn eine Liebe so viele Dinge überdauerte, so vielen Stürmen standhielt und der Mann weiter um sie warb, obwohl sie zauderte und zauderte, so konnte es nur bedeuten, dass sie es gemeinsam schaffen würden. Es wurde für Frida Zeit, dass sie in einen sicheren Hafen einlief.

Vor der Kirche standen etliche Menschen, die drinnen keinen Platz mehr gefunden hatten, ihnen jetzt aber freudig zuwinkten.

„Gleich tanzen wir uns ins Glück“, verkündete Wilfried.

Sie wurden von allen Seiten mit Gratulationen überhäuft, und Frida war froh, dass ihr die Mutter die vielen Blumen und Päckchen abnahm.

„So sieht ein gesegneter Anfang aus“, flüsterte Wilfried seiner Frau ins Ohr.

Plötzlich ertönte eine keifende Stimme, die sich mit jedem Wort in noch schrillere Höhen schraubte. „Verflucht sei sie! Verflucht! Und wie dieses Weibsstück verflucht sein soll! Zur Hölle soll sie fahren, dem Satan soll sie die Füße schrubben und sich dabei verbrennen!“

Die Menge der Gäste fuhr verschreckt auseinander, und Hanne Ewert bahnte sich energisch ihren Weg. Schon im Laufen ballte Fockos Mutter und Peters Oma die Faust, hörte aber zumindest mit dem Geschrei auf. Doch ihr Schweigen war fast noch bedrohlicher, denn ihr Blick wirkte vollkommen irre. Das war sicher auch ihrem Aussehen geschuldet. Das Haar lugte wirr unter dem grauen Kopftuch hervor. Ihr schwarzer Rock bauschte sich beim Laufen und gab die dünnen Beine frei, die in einer schwarzen, durchlöcherten Wollstrumpfhose steckten. Ihre Lederschuhe waren schlammverkrustet.

Alle waren wie gelähmt, und keiner hielt sie auf, als sie sich vor Frida aufbaute und mit ihrem ausgestreckten knöchernen Zeigefinger auf das frisch getraute Paar zeigte. Sie holte einmal tief Luft, bevor sie erneut mit schriller Stimme kreischte: „Frida, ich verfluche dich und deine Ehe. Ich verfluche jedes Kind bis ins übernächste Glied, das du noch bekommen solltest. Du hast mir zweimal meinen Sohn genommen, weil du ihn verhext und an dich gebunden hast.“ Ihre Worte klangen messerscharf und akzentuiert. „Auch dein Peter wird dich verlassen, damit du denselben Schmerz verspürst wie ich. Du sollst wissen, wie es sich anfühlt, wenn eine Mutter ihren Sohn verliert.“ Jetzt schraubte sich die Stimme in schwindelerregende Höhen, und den letzten Satz spie sie regelrecht heraus: „Du sollst dafür bluten, was du angerichtet hast, denn du bist und bleibst eine Hure …“

Genau wie Wilfried und die Gäste ließ Frida diese Tirade völlig erstarrt über sich ergehen. Sie bekam nur am Rande mit, dass endlich jemand die alte Frau Ewert fortzog und ihr den Mund zuhielt.

Es war Pastor Wilfers.

„Wir leben doch nicht mehr im Mittelalter, dass man einer alten Hexe Glauben schenkt“, hörte Frida.

„Na ja, immerhin ist es die zweite Ehe, und die Kinder haben auch verschiedene Väter …“, erhob sich eine Stimme. Und schon tropfte der böse Tratsch zwischen den Gästen umher und war nicht mehr aufzuhalten.

„Ein bisschen was ist dran“, raunte eine Frau. „Immerhin hat sie Focko gleich zweimal auf See geschickt und Horst Hinrichs verlassen. So ganz unrecht hat Hanne nicht.“

Frida wollte sich wehren, losschreien, wie ungerecht das alles war. Schließlich hatte Horst sie ständig betrogen. Focko aber war für sie da gewesen. Sie war keine Hure, und hätte Hannes Sohn sich nicht einfach aus dem Staub gemacht, stünde sie jetzt wohl mit ihm hier. Sie wollte doch nur ein kleines bisschen Glück – und Wilfried versprach es ihr. Aber nicht einmal das war ihr vergönnt.

Frida kam sich vor wie in einem Pulk von Hyänen, die sie gleich zerfleischen würden.

Wilfried versuchte, Frida fortzuziehen. „Komm, lass die Leute reden. Wir gehen jetzt feiern.“

Frida nickte und schaffte es weiterzugehen.

„Alles in Ordnung?“, fragte ihr Mann.

„Ja, geht schon. Ich habe mich nur sehr erschrocken“, sagte sie tapfer, obwohl nichts in Ordnung war. „Wer rechnet schon mit so etwas?“ Sie bemühte sich um ein Lächeln, doch da blieb diese dunkle Wolke, die einen mächtigen Schatten auf ihr vorsichtiges Glück geworfen hatte.

Dann zuckte sie zusammen. Mit zitterndem Kinn sah sie Peter, der sich die graue Anzugjacke auszog und seiner Großmutter folgte, die mit gebeugter Haltung den Friedhof verließ. Frida öffnete den Mund, doch ihr kam kein Ton über die Lippen.

*

Margret stand erschrocken neben dem Glockenturm und schaute Hanne Ewert nach. Ihre Worte hingen noch immer unheilschwanger in der Luft. Was, wenn solche Verwünschungen doch eintraten und Fridas Glück nun gefährdet war?

Margret stützte sich am Backstein der Kirchenmauer ab, weil ihr kurzzeitig übel wurde. Ein paarmal musste sie tief durchatmen, bevor sie in der Verfassung war, ihre Gedanken zu sortieren.

Eine Amsel flog keckernd an ihr vorbei, aber Margret bedachte sie nicht einmal mit einem Blick.

Du darfst an solche Verwünschungen nicht glauben, ermahnte sie sich. Alles würde gut werden, und es war richtig gewesen, sich einzumischen und Focko Ewert in die Flucht zu schlagen. Es hatte Zeiten gegeben, in denen sie ihn durchaus als Traumschwiegersohn gesehen hatte, aber da waren die Bedingungen noch vollkommen anders gewesen. Nach dem Desaster ihrer Ehe mit Horst hätte Frida nichts Besseres als Wilfried passieren können. Er liebte sie, trug ihre Tochter auf Händen und konnte ihr eine gesicherte Zukunft bieten. Auch wenn für ihn das Feuer in Frida nicht ganz so hoch loderte, wie es für Focko gebrannt hatte, so war ihre Tochter dem Kinderarzt doch von ganzem Herzen zugetan und würde langfristig zufrieden mit ihm leben können. Manchmal musste man den jungen Menschen eben zu ihrem Glück verhelfen. Hanne Ewert sollte sich mal nicht so haben, schließlich hätte Focko ja auch Katrine heiraten können. Immerhin waren sie verlobt gewesen, und die Entscheidung, zur See zu fahren und sein Leben in Butjadingen hinter sich zu lassen, hatte er ganz allein getroffen. Daran trug Frida keine Schuld.

Margret atmete einmal tief durch und schaute sich um. Doch sie war allein, die Gäste waren weitergegangen. Sie hoffte, Frida würde sich rasch beruhigen und diesen dummen Zwischenfall schnell vergessen.

Wichtig war einzig, dass ihre Tochter niemals von ihrem Gespräch mit Focko erfuhr, denn diese Einmischung würde Frida ihr sicher nie verzeihen.

„Margret?“

Sie fuhr zusammen. „Ach, Herold. Hast du mich erschreckt“, antwortete sie lächelnd.

„Das hat dich eben getroffen, stimmt’s?“, fragte er.

„Und wie! Wie konnte Hanne so etwas tun?“

Herold zuckte mit den Schultern und strich sich das blonde Haar zurück, weil sich die gegelte Tolle etwas gelöst hatte. „Sie ist nach dem Tod ihres Mannes allein und hat alle Hoffnungen auf Focko gesetzt. Ich kann durchaus verstehen, dass sie sehr einsam ist und nach jemandem sucht, den sie verantwortlich machen kann. In Frida hat sie eine Schuldige gefunden.“ Er umfasste Margrets Handgelenk und drehte sie sacht zu sich. „Was ich aber auf keinen Fall toleriere und akzeptiere, ist die Art und Weise, wie sie ihrer Wut Luft gemacht hat. Wie kann sie nur Fridas Hochzeit verderben?“

Dankbar sah Margret Ernas Bruder an. Er war zu einem gut aussehenden Mann geworden, nachdem er sich von der jahrelangen Kriegsgefangenschaft in Sibirien, aus der er erst vor sieben Jahren als Spätheimkehrer zurückgekommen war, erholt hatte und sich bei der Bank sicher in Lohn und Brot wusste.

„Das frag ich mich auch“, gab Margret zurück. „Du glaubst gar nicht, wie ich mich das frage.“

„Aber nun komm. Wir können es am besten wiedergutmachen, wenn wir einfach so tun, als wäre nichts gewesen, und jetzt mit Frida und Wilfried feiern.“

Margret zögerte, und Herold nahm ihren Arm. „Sind denn schon alle los?“

„Der Saal wird bereits voll sein. Komm, lassen wir den Kaffee nicht kalt und den Kuchen nicht trocken werden.“

Seine Worte entlockten Margret ein leichtes Lächeln. Er hatte recht. Je mehr sie auf diesen Zwischenfall gaben, desto schlimmer würde es werden.

Sie verließen das Kirchenareal, überquerten die Straße und steuerten auf die Gaststätte zu.

„Dann lass uns die Hochzeit gebührlich feiern“, sagte Margret.

„Egal, was alte Hexen so von sich geben, das werden wir tun.“ Herold feixte. „Es ist ein Glückstag für Frida und Wilfried, und den sollten wir uns von nichts und niemanden kaputt machen lassen.“

Margret gab sich einen Ruck. Ja, heute war ein Glückstag. Ein wunderbarer Glückstag. Und sie würde ihn genießen. „Kein Mensch wird je erfahren, was ich getan habe“, murmelte sie vor sich hin, biss sich aber sogleich auf die Zunge, als sie merkte, dass sie den Satz nicht nur gedacht hatte.

„Hast du was gesagt?“, fragte Herold.

Margret schüttelte energisch den Kopf. „Nein, da hast du dich verhört.“ Sie reckte das Kinn und rang sich ein Lächeln ab. „Horch, wie alle schnacken und sich freuen.“

Regine Kölpin

Über Regine Kölpin

Biografie

Regine Kölpin, geb. 1964 in Oberhausen (Nordrhein-Westfalen). Die Autorin lebt seit ihrer Kindheit in Friesland an der Nordsee. Regine Kölpin schreibt für namhafte Verlage (mit Gitta Edelmann auch unter dem Pseudonym Felicitas Kind) Romane, Geschenkbücher und Kurztexte. Ihre Bücher waren mehrere...

Pressestimmen
Sommerleses Bücherkiste

„Regine Kölpin hat ihrer Haus am Deich-Trilogie mit "Sicherer Hafen" einen stimmigen Abschluß der Reihe verschafft, bei dem man am Ende zufrieden das Buch schließt.“

reise-magazin.de

„Mit viel Empathie erzählt die Autorin die Geschichte zweier ungleicher Frauen, die beide auf der Suche nach einer Heimat sind und den Mut nicht verlieren.“

Kreiszeitung Wesermarsch

„Das lässt sich flott lesen und rundet die Geschichte ab.“

katikatharinenhof

„Ein wundervoller Abschluss der Romanserie, in der die Leser:innen die Figuren durch die Stürme des Lebens begleiten und mit ihnen gemeinsam an den Entscheidungen wachsen.“

nadine_dietz

„Es war wie ein "Nach-Hause-Kommen". Die Freundschaft der beiden wird immer wieder auf eine harte Probe gestellt und die Autorin schaffte wieder mit ihrer bildhaften, lockeren und berührenden Schreibweise, dass ich den Roman kaum aus der Hand legen wollte.“

Kommentare zum Buch
Das Haus am Deich - Sicherer Hafen
Edeltraud Hoenig am 15.07.2022

Ein gelungener Abschluss der Trilogie. Gut zu lesen im Urlaub an der Küste, egal ob im Strandkorb oder bei Schmuddelwetter!

"Verzeihen ist Freiheit" (Frida)
katikatharinenhof am 24.02.2022

Eigentlich soll die Hochzeit von Wilfried und Frida ein Freudentag sein, doch Hanne schiebt dicke graue Wolken über das Glück, in dem sie einen Fluch ausspricht. Sie ahnt nicht, dass dieser Fluch schon bald seine Wirkung entfalten und für Aufruhr am Nordseestrand sorgen wird. Erna, immer noch heimlich in Wilfried verliebt, entschließt sich, nach Ost-Berlin zu gehen. Schon bald merkt sie, dass ihre Beziehung genauso einengend ist wie der Staat, in dem sie jetzt lebt. Ob mit dem Bau der Mauer der Rückweg nach Butjadingen endgültig versperrt wird ?   Erneut öffnet das Haus am Deich seine Klönschnacktür für die Leser:innen und lädt sie ein, Frida und Erna durch glückliche Tage und aufregende Zeiten zu begleiten. Regina Kölpin spinnt die Lebensgeschichte der beiden Freundinnen weiter, erzählt von Sehnsüchten, unterdrückten Gefühlen und Entscheidungen, die auf den Abzweigungen des Lebens getroffen werden und weitreichende Auswirkungen haben.   Begleitet wird die Rahmenhandlung von den historischen Ereignissen der 1960er Jahre - Mauerbau und Sturmflut - und diese sorgen nicht nur für spannende, sondern auch sehr emotionale Momente. Auch Peters Alleingang hat mehr als nur eine Schrecksekunde zur Folge, in der Hoffen und Bangen ganz nah beieinander liegen.   Die Figuren haben sich allesamt weiterentwickelt und zeigen hier die Spuren des Lebens, die sich in ihr Herz und ihre Seele eingegraben haben. Immer im Vordergrund die so unerschütterlich erscheinende Freundschaft zwischen Erna und Frida, die bisher allen Wirbelstürmen getrotzt hat. Aber gegen Gefühle sind auch die besten Freundinnen machtlos und sie müssen lernen, auf ihr Herz zu hören, ohne dabei zugrunde zugehen, denn ein tiefer Riss macht sich breit.   Margrets zunehmender geistiger Verfall belastet Frida und es tut mir in der Seele weh, ihr nicht zur Seite stehen zu können, wenn sie schweren Herzens die Entscheidung trifft, ihre Mutter in ein Pflegeheim zu geben. Der Abschied von Margret ist sehr gefühlsbetont und die Szene, in der sie ihrem Ulrich die Hände reicht, lässt die Tränen ungehindert fließen.   Regine Kölpin meistert den Spagat zwischen Abschied und Neubeginn, Gehen oder Bleiben, Vernunft oder Liebe mit Bravour und bietet ihren treuen Leser:innen immer wieder die Möglichkeit, sich zwischendurch im Haus am Deich aufzuwärmen, wohlzufühlen und in den gemütlichen vier Wänden einen festen Ankerplatz zu finden. Genau wie Frida, die lernt, auf ihr Herz zu hören und im Haus am Deich ihre Freiheit findet, in dem sie verzeiht und sich von alten Kletten löst.   Ein wundervoller Abschluss der Romanserie, in der die Leser:innen die Figuren durch die Stürme des Lebens begleiten und mit ihnen gemeinsam an den Entscheidungen wachsen.

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